Russland als Albtraummaschine des Westens

Giuliano da Empoli ist in Frankreich geboren, lebt in Paris und unterrichtet hier an der Sciences Po. Le mage du Kremlin (2022) ist sein erster Roman, mit seinen italienischen Wurzeln beriet er Matteo Renzi und war in Florenz und in Mailand politisch aktiv. Der Roman nimmt Putins Berater Wladislaw Surkow als Vorbild für seine Politfiktion, die es auf die erste Auswahlliste des Goncourtpreises geschafft hat, als Roman über das gegenwärtige Russland. Implizit ist natürlich der Ukrainekrieg bei der Bewertung mitzudenken, der im Roman auch zur Darstellung kommt:

« Cette guerre ne se combat pas dans la réalité, Alexandre, elle se combat dans la tête des gens. L’importance de vos actions sur le champ de bataille ne se mesure pas aux villes que vous prenez, elle se mesure aux cerveaux que vous conquérez. Pas ici. À Moscou, à Kiev, à Berlin. Pense à nos compatriotes russes qui, grâce à vous, retrouvent le sens héroïque de la vie, de la lutte entre le bien et le mal et qui admirent le Tsar, qui défend nos valeurs contre les nazis ukrainiens et la décadence des Occidentaux. Nos jeunes n’ont pas connu le chaos des années quatre-vingt-dix, quelqu’un devait leur rappeler que Poutine incarne la stabilité et la grandeur de la mère patrie. Ensuite, pense aux Ukrainiens qui, grâce à vous, comprennent l’erreur qu’ils ont commise : ils espéraient que la révolution orange les amène en Europe et en fait elle les a ramenés au Moyen Âge, à l’anarchie et à la violence sans fin. Et pense aux Occidentaux qui, grâce à vous, se sont remis à respecter, et jusqu’à craindre, la Russie. Ils avaient cru à la fin de l’histoire, ils mesurent maintenant la dimension de leur erreur. Nous, nous n’avons pas oublié ce que ça signifie d’être des hommes, de lutter, d’être prêts à mourir. Nous n’avons pas peur de nous salir les mains. Il y a une belle différence entre vivre et chercher à ne pas mourir. Eux l’ont oublié, mais pas nous. Nous sommes ici pour le leur rappeler, Alexandre. »

Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin

„Dieser Krieg wird nicht in der Realität gekämpft, Alexander, er wird in den Köpfen der Menschen gekämpft. Die Bedeutung Ihrer Handlungen auf dem Schlachtfeld bemisst sich nicht an den Städten, die Sie einnehmen, sondern an den Gehirnen, die Sie erobern. Das gilt nicht hier. In Moskau, in Kiew, in Berlin. Denken Sie an unsere russischen Landsleute, die dank Ihnen den heroischen Sinn für das Leben, den Kampf zwischen Gut und Böse wiederentdecken und den Zaren bewundern, der unsere Werte gegen die ukrainischen Nazis und die Dekadenz des Westens verteidigt. Unsere jungen Leute haben das Chaos der neunziger Jahre nicht erlebt, jemand musste sie daran erinnern, dass Putin die Stabilität und Größe des Mutterlandes verkörpert. Dann denke an die Ukrainer, die dank dir den Fehler verstehen, den sie begangen haben: Sie hofften, dass die orangefarbene Revolution sie nach Europa bringen würde, und tatsächlich hat sie sie ins Mittelalter, in die Anarchie und die endlose Gewalt zurückgeworfen. Und denken Sie an die Menschen im Westen, die dank Ihnen Russland wieder respektieren und sogar fürchten. Sie hatten an das Ende der Geschichte geglaubt, jetzt ermessen sie das Ausmaß ihres Irrtums. Wir hingegen haben nicht vergessen, was es bedeutet, Menschen zu sein, zu kämpfen und bereit zu sein, zu sterben. Wir haben keine Angst davor, uns die Hände schmutzig zu machen. Es ist ein großer Unterschied, ob man lebt oder versucht, nicht zu sterben. Sie haben das vergessen, aber wir nicht.“

„Die einzig wahre Pflicht am Hof ist es, anwesend zu sein. Dort zu sein, immer, jedes Mal, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass der Blick des Herrschers auf Sie fällt.“ 1 Angesichts solcher Sätze sah die französische Kritik – wie Jérôme Garcin im Nouvel Observateur – in dem Buch eine neue Form der französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts enthalten. These von Giuliano da Empolis politischer Schrift Les ingénieurs du chaos (2019) war, dass der Populismus bzw. seine Anführer in Europa zunehmend auf die Zuarbeit von Spin-Doktoren, Ideologen, Wissenschaftlern und Big-Data-Experten zurückgreifen. Hierunter zählt für ihn auch Surkow, und man kann den Roman nun als fiktional-freie Analyse seiner Biographie und des russischen Politikbetriebs in der Figur des tschetschenisch-stämmigen Wadim Baranow lesen. Die Frankreichbezüge sind offensichtlich, so wird mit Bezug auf Marquis Astolphe de Custines Russland-Buch aus dem 19. Jahrhundert eine Kontinuität hergestellt. Und die politischen Prinzipien, die in Versailles vorherrschten und sich im Weißen Haus oder im Élysée-Palast fortsetzen, verstärken sich in Russland:

Grand-père détestait le « Voyage en Russie ». Et pourtant il était fasciné. « Ce maudit Français est le meilleur interprète de la Russie, disait-il, parce qu’ici la Cour a toujours été la seule façon d’arriver au pouvoir et aux richesses. S’appuyer sur les passions populaires en Russie ne sert à rien : à la fin celui qui gagne fonde toujours son pouvoir sur la Cour. C’est pourquoi le meilleur moyen est l’adulation, pas le talent, le silence, pas l’éloquence. Custine voit les nobles de Pétersbourg se promener sans manteau en hiver pour aduler le tsar. Et ils meurent. Il n’y a pas de café pour commenter des journaux qui n’existent pas et les nouvelles changent toujours selon celui qui les raconte à mi-voix. Pays de muets, pays de la belle endormie, merveilleux mais sans vie parce qu’y manque le souffle de la liberté. Aujourd’hui comme hier. »

Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin

Großvater hasste die „Reise nach Russland“. Und doch war er fasziniert. „Dieser verfluchte Franzose ist der beste Interpret Russlands“, sagte er, „denn hier war der Hof immer der einzige Weg, um zu Macht und Reichtum zu gelangen. Sich auf die Leidenschaften des Volkes in Russland zu stützen, ist sinnlos: Am Ende gründet der Sieger seine Macht immer auf den Hof. Deshalb ist das beste Mittel die Lobhudelei, nicht das Talent, das Schweigen, nicht die Beredsamkeit. Custine sieht, wie die Adligen in Petersburg im Winter ohne Mantel herumlaufen, um den Zaren zu verehren. Und sie sterben. Es gibt kein Café, um Zeitungen zu kommentieren, die es nicht gibt, und die Nachrichten ändern sich immer, je nachdem, wer sie mit halber Stimme erzählt. Land der Stummen, Land der schlafenden Schönen, wunderbar, aber leblos, weil der Atem der Freiheit fehlt. Heute wie gestern.“

Die fiktionalisierte Biographie wird allerdings von realen russischen Personen begleitet, unter anderem erzählt der Roman die Verwandlung Putins in „den Zaren“:

En effet, après un bref passage par le secrétariat, nous fûmes introduits dans un cabinet qui aurait pu être le lieu de travail d’un chef de service du ministère des Postes. Son occupant, un blond pâle aux traits décolorés, portant un costume en acrylique beige, arborait une mine d’employé, veinée d’une imperceptible pointe de sarcasme. « Vladimir Poutine », dit-il en me serrant la main.

À cette époque, le Tsar n’était pas encore le Tsar : de ses gestes n’émanait pas l’autorité inflexible qu’ils acquerraient par la suite et, bien que dans son regard on devinât déjà la qualité minérale que nous lui connaissons aujourd’hui, celle-ci était comme voilée par l’effort conscient de la tenir sous contrôle. Cela dit, sa présence transmettait un sentiment de calme.

À son habitude, Boris le noya sous un fleuve de paroles qui allaient toutes plus ou moins dans la même direction : c’était à lui, Poutine, de prendre les rênes de la situation pour faire passer la Russie dans le nouveau millénaire.

Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin

Nach einem kurzen Gang durch das Sekretariat wurden wir in ein Büro geführt, das der Arbeitsplatz eines Abteilungsleiters des Postministeriums hätte sein können. Der Inhaber, ein blasser Blondschopf mit verblassten Gesichtszügen, trug einen beigen Acrylanzug und hatte die Miene eines Angestellten mit einem unmerklichen Hauch von Sarkasmus. „Wladimir Putin“, sagte er und schüttelte mir die Hand.

Damals war der Zar noch nicht der Zar: Seine Gesten strahlten nicht die unnachgiebige Autorität aus, die sie später erlangen sollten, und obwohl seine Augen bereits die mineralische Qualität erkennen ließen, die wir heute von ihm kennen, war sie durch das bewusste Bemühen, sie unter Kontrolle zu halten, wie verschleiert. Dennoch vermittelte seine Anwesenheit ein Gefühl der Ruhe.

Wie üblich ertränkte Boris ihn in einem Strom von Worten, die alle mehr oder weniger in dieselbe Richtung gingen: Er, Putin, müsse die Zügel in die Hand nehmen, um Russland ins neue Jahrtausend zu führen.

Wäre dieser Text 2021 erschienen, könnte man die folgende Szene bereits als prophetische Entlarvung eines diszipliert höflichen Machtstrategen lesen. Aber auch so ist darauf hinzuweisen, Le mage du Kremlin erschien am Tag nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine, beendet wurde er ein Jahr vor dem russischen Einmarsch!

Durant toute notre rencontre, Poutine avait fait preuve d’une courtoisie impeccable face à Boris. De déférence même, pendant qu’il écoutait les conseils de l’homme d’affaires. Et pourtant, quand Berezovsky s’adressait à lui, avec la familiarité qui lui était propre, il m’avait semblé percevoir une ombre d’agacement dans le regard du fonctionnaire. Et puis il y avait eu cet éclair d’ironie, à la fin, quand Boris lui avait promis de le guider pas à pas. Comme si la seule idée de pouvoir être guidé par cet homme était apparue du plus grand comique au chef du FSB.

Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin

Während unseres gesamten Treffens hatte Putin Boris gegenüber eine makellose Höflichkeit an den Tag gelegt. Er war sogar ehrerbietig, während er sich die Ratschläge des Geschäftsmannes anhörte. Doch als Beresowski ihn mit der ihm eigenen Vertrautheit ansprach, schien es mir, als hätte der Beamte einen Schatten der Verärgerung in seinen Augen gesehen. Und dann war da dieser ironische Blitz am Ende, als Boris ihm versprochen hatte, ihn Schritt für Schritt zu führen. Als ob der FSB-Chef allein die Vorstellung, von diesem Mann geführt zu werden, als äußerst komisch empfunden hätte.

Der Roman ist ein sehr europäischer Blick auf Russland und kann seine politologische Herkunft nicht ganz leugnen, so heißt es, Putin habe über Jahre die Fäden der russischen Geschichte wieder aufgenommen: „Das Russland von Alexander Newski, das Dritte Rom der Patriarchen, das Russland Peters des Großen, das Russland Stalins und das Russland von heute. Darin lag Putins Größe, doch dann war er der Versuchung erlegen, in der Kontinuität der Kraft die Handlung zu finden“. 2

Marc Lapon zog in seiner Buchbesprechung das Fazit über den Magier des Kremlin: „Sein diskreter Einfluss erstreckt sich auf einen ehemaligen FSB-Agenten, Wladimir Putin, der von einem ausgebluteten Jelzin kooptiert wurde. Kojève-Leser, Bewunderer der Sprengmeister des amerikanischen Mythos – Tupac Shakur, Allen Ginsberg oder Jackson Pollock –, der Machiavelli mit der Pelzmütze versteht die Politik als eine Mischung aus Gangsta-Rap und Neo-Sarismus. Kalte Analyse: Da Gewalt konstitutiv für das russische Ethos ist, kann man sie zynisch im Dienste eines bleichen Nachfahren von Iwan dem Schrecklichen manipulieren. Das System Putin, eine Mischung aus Trompe-l’oeil und imperialer Rückeroberung, dramatisiert die Realität mit kitschiger Mythologie, Fake News, abgrundtiefer Ungnade und Polonium-Morden. In Anlehnung an das zweite Prinzip der Thermodynamik stellt Surkow-Baranow ein Axiom auf, das sein Meister 2022 zu Ende führen wird: eine Gesellschaft zu konsolidieren, indem man ihren Anteil am Chaos in ein nahegelegenes Land exportiert. Das führt dazu, dass Enklaven als russisch beansprucht werden, Krim oder Donbass, und andere als Neonazis dämonisiert werden, wobei Stalins Geste gegenüber der Ukraine des Holocaust mit Schusswaffen beschworen wird: Der Schrecken hat den Trugschluss zur Tarnung, das Massaker ist eine Uchronie.“ 3 Damit wird auch klar, das Russlandbild des Romans ist europabezogen erzählt, Russland ist das Andere Europas. Und Giuliano da Empoli erzählt als neuer Custine eine russische Dekadenzgeschichte, die Putins Rede von westlicher Dekadenz spiegelt, so nennt etwa Paul Vacca den Roman ein „Epos des Chaos“: „Der Roman führt uns in das atemberaubende Epos der Macht Putins: von der Punk-Ekstase der Anfangszeit, in der „man rausgehen konnte, um Zigaretten zu kaufen, und zwei Tage später in einem Chalet in Courchevel halbnackt umgeben von schlafenden Schönheiten aufwachen konnte“, bis zur Vereisung einer Macht, die sich an ihrer absoluten Ausübung berauscht und sich ewig träumt, immer einsamer, mit einem Labrador als einzigem Ratgeber am Ende.“ 4

La Russie est la machine à cauchemars de l’Occident. À la fin du dix-neuvième, vos intellectuels ont rêvé la révolution. Nous l’avons faite. Du communisme, vous n’avez fait que parler. Nous l’avons vécu pendant soixante-dix ans. Puis est arrivé le moment du capitalisme. Et même en cela, nous sommes allés beaucoup plus loin que vous. Dans les années quatre-vingt-dix, personne n’a déréglé, privatisé, laissé de place à l’initiative des entrepreneurs plus que nous. Ici se sont bâties les plus grosses fortunes, parties de rien, sans règles et sans limites. Nous y avons vraiment cru, mais ça n’a pas marché.

Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin

Russland ist die Albtraummaschine des Westens. Am Ende des 19. Jahrhunderts träumten Eure Intellektuellen von der Revolution. Wir haben sie gemacht. Vom Kommunismus habt Ihr nur geredet. Wir haben ihn siebzig Jahre lang gelebt. Dann kam die Zeit des Kapitalismus. Und selbst dabei sind wir viel weiter gegangen als Ihr. In den neunziger Jahren hat niemand mehr dereguliert, privatisiert und der unternehmerischen Initiative Raum gelassen als wir. Hier wurden die größten Vermögen aufgebaut, aus dem Nichts, ohne Regeln und ohne Grenzen. Wir haben wirklich daran geglaubt, aber es hat nicht funktioniert.

Sollte dieser Roman den Prix Goncourt gewinnen, würde das wohl als ideologische Kriegspropaganda Europas gedeutet, aber die Fiktion erweist sich neben den genannten Themen auch als Hommage an die Geschichte eines Landes – und ist beiläufig auch ein Roman über die Kunst.

Kai Nonnenmacher

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Anmerkungen
  1. „La seule vraie obligation de la Cour est la présence. Y être, toujours, chaque fois qu’existe, aussi faible soit-elle, la possibilité que le regard du souverain se pose sur vous.“ Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin>>>
  2. „La Russie d’Alexandre Nevski, la Troisième Rome des patriarches, celle de Pierre le Grand, la Russie de Staline et celle d’aujourd’hui. En cela résidait la grandeur de Poutine, mais il avait ensuite cédé à la tentation de trouver, dans la continuité de la force, la trame qu’il cherchait […].“ Giuliano da Empoli, Le mage du Kremlin.>>>
  3. „Son ascendant discret s’exerce sur un ancien agent du FSB, Vladimir Poutine, coopté par un Eltsine exsangue. Infox, disgrâces, assassinats… Lecteur de Kojève, admirant les dynamiteurs du mythe américain – Tupac Shakur, Allen Ginsberg ou Jackson Pollock –, le Machiavel à toque de fourrure conçoit la politique comme un mélange de gangsta rap et de néotsarisme. Analyse froide : la violence étant constitutive de l’ethos russe, on peut la manipuler cyniquement au service d’un descendant blême d’Ivan le Terrible. Mélange de trompe-l’oeil et de reconquête impériale, le système Poutine théâtralise le réel à coups de mythologie kitsch, d’infox, de disgrâces abyssales et d’assassinats au polonium. S’inspirant du deuxième principe de la thermodynamique, Sourkov-Baranov pose un axiome que son maître va mener à son terme en 2022 : consolider une société en exportant sa part de chaos dans un pays proche. Cela conduit à revendiquer des enclaves comme russes, Crimée ou Donbass, et à en diaboliser d’autres comme néonazies, en invoquant la geste de Staline face à l’Ukraine de la Shoah par balles : l’horreur a pour atour le leurre, le massacre est une uchronie.“ Marc Lambron, „Poutine entre les lignes“, Le Point, 9. Mai 2022.>>>
  4. „Le roman nous entraîne dans l’épopée étourdissante du pouvoir poutinien : de l’exaltation punk des débuts où « vous pouviez sortir acheter des cigarettes et vous réveiller deux jours plus tard, dans un chalet de Courchevel à moitié nu entouré de beautés endormies » à la glaciation d’un pouvoir qui s’enivre de son exercice absolu et se rêve éternel, toujours plus solitaire avec à la fin pour seul conseiller, un labrador.“ Paul Vacca, „L’épopée du chaos“, Les Echos, 26. April 2022.>>>