Hybride Objekte, die mit den Genres spielen: Scribes

Man bespricht einzelne Texte, Autoren und ihr Gesamtwerk, auch Herausgeberprogramme, aber Buchreihen sind in der Regel nicht Thema der Literaturkritik und selten auch der Literaturwissenschaft. Die langjährige Reihe „L’Infini“ des jüngst verstorbenen Philippe Sollers bei Gallimard etwa ist mit seiner Person und einer bestimmten Idee von Literatur verbunden. Gallimard hat nun eine Reihe begründet, „Scribes“ – betreut von Clément Ribes, der vorher Herausgeber beim Verlag Christian Bourgois war. Buchreihen sind wie Gattungen Abstraktionen, die das Verständnis des Einzeltextes mitsteuern, Erwartungshaltungen, Statements zu dem, was gegenwärtig erscheint. Ribes nennt die Reihe ein Label, und sein kleines Exposee wählt doch weite Begriffe der Gegenwärtigkeit, Labor, Spiel, Pluralität, unbekanntes Terrain:

Pourquoi créer aujourd’hui un nouveau label littéraire ?
Pour défendre :
Une littérature qui cherche ses mots sans certitude de les trouver.
Des textes qui n’ont pas peur d’arpenter des territoires encore inconnus.
Des romans qui nous touchent par ce qu’ils racontent mais aussi par leur style.
Des propositions qui ouvrent de nouveaux chemins.
Des espaces de laboratoire.
Des objets hybrides qui se jouent des genres.
La pluralité des esthétiques.

Dix livres par an : littératures française & étrangère, roman & non-fiction avec toujours le même souci : des voix fortes et originales..

Clément Ribes, Éditeur de Scribes

Warum wird heute ein neues Literaturlabel gegründet?
Um zu verteidigen:
Eine Literatur, die ihre Worte sucht, ohne die Gewissheit, sie zu finden.
Texte, die sich nicht davor scheuen, unbekanntes Terrain zu betreten.
Romane, die uns durch das, was sie erzählen, aber auch durch ihren Stil berühren.
Vorschläge, die neue Wege eröffnen.
Räume, die als Labor dienen.
Hybride Objekte, die mit den Genres spielen.
Die Pluralität der Ästhetiken.

Zehn Bücher pro Jahr: französische & ausländische Literatur, Roman & Sachbuch, immer mit dem gleichen Ziel: starke und originelle Stimmen.

Editions Scribes incl. Vorstellung Vassilidis.

Das erste Programm enthält u.a. Mathias Howald, Cousu pour toi. Die Metapher des Patchwork erinnert an die großen Decken aus Stoffresten, die zur Erinnerung an die Toten der AIDS-Epidemie genäht wurden. Der Text, der Erzählung, Autofiktion und Tagebuch mischt, webt selbst ein Gewebe, um an die Verbindung von Tod und Liebe zu erinnern, die aus dieser Zeit herrührt.

Mathias Howald, Cousu pour toi.

Außerdem von Natan Valmy, 22H. Das Buch erzählt rückblickend von einem tödlich verunglückten, faszinierenden Mann, Ago, der mit drei Männern leidenschaftliche Beziehungen hatte. Monsieur V hatte sich als älterer Mann um ihn gekümmert, Flint und Proust treffen sich zehn Jahre nach dem Tod und suchen gemeinsam danach, wer dieser Mann war: „22H sprengt die Codes des traditionellen Romans und vermischt nach Belieben die Zeit, die Räume und die Szenen. Es ist ein Text, der die Szenerien und Zeremonien des Verlangens, der Liebe und des Todes erkundet.“ 1

C’est monstrueux, il dit après son retrait, en acquiesçant et – le corps délié – en larmes.

*

Ça n’a pas toujours été ainsi. Au début il y avait les images, les couleurs, les attentes et puis surtout le temps n’était pas passé. Maintenant Ago se méfie de l’histoire qu’il raconte. Il se la raconte toujours, comment faire autrement, au mieux il se fait sourire. Restent les odeurs, la crasse dans les yeux et le choc blanc qui un instant fait oublier la suite. Lorsque le choc disparaît, sourd, Ago disparaît aussi. La suite donc. Un sourire avec de fausses dents et de fausses lèvres. De nouvelles images en couleurs, la 1 la 2 la 3 la 4, ni bonnes ni mauvaises, qui bougent. Le mal est fait. Il faut refaire tourner la machine à images. C’est un travail qui se prépare longtemps à l’avance. Les chocs répétés empêchent les images de se fixer et tombent comme des tombes fragiles. Longtemps Ago a cru être en avance. À ce point en retard.

Natan Valmy, 22H

Es ist ungeheuerlich, sagte er nach seinem Rückzug, nickte und – mit gelöstem Körper – weinte.

*

Es war nicht immer so. Am Anfang waren da die Bilder, die Farben, die Erwartungen und dann vor allem die Zeit, die nicht verstrichen war. Jetzt misstraut Ago der Geschichte, die er erzählt. Er erzählt sie sich immer selbst, wie könnte es anders sein, bestenfalls bringt er sich selbst zum Lächeln. Es bleiben die Gerüche, der Schmutz in den Augen und der weiße Schock, der einen Moment lang alles andere vergessen lässt. Wenn der Schock dumpf verschwindet, verschwindet auch Ago. Die Fortsetzung also. Ein Lächeln mit falschen Zähnen und falschen Lippen. Neue Farbbilder, Nummer 1, 2, 3 und 4, weder gut noch schlecht, die sich bewegen. Der Schaden ist angerichtet. Die Bildmaschine muss wieder in Gang gesetzt werden. Dies ist eine Arbeit, die lange im Voraus geplant werden muss. Wiederholte Erschütterungen verhindern, dass sich die Bilder festsetzen und fallen wie zerbrechliche Gräber um. Lange Zeit dachte Ago, er sei zu früh. So spät dran.

Mathieu Lauverjat, Client mystère. Der namenlose Erzähler liefert mit dem Rad Mahlzeiten aus, wird dabei von einem Auto angefahren. Die Algorithmen verweigern ihm im Folgenden den Zugang zur Anwendung, für die er arbeitet (eine Art Lieferando). So ist er gezwungen, in dieser Arbeitswelt der „Uberisierung“ als vorgeblicher Kunde die Leistung von Unternehmensmitarbeitern zu bewerten. Eine entmenschlichte Welt des digitalen Konsumismus ist der Hintergrund solcher neuer Geschichten.

Mon vélo à pignon fixe, lui, avait eu moins de chance. Il était fracassé, la roue avant voilée, le cadran carbone en mode plié angle droit. J’ai ensuite aperçu mon sac de livraison isotherme éventré en chou-fleur derrière la diode électroluminescente qui clignait, affolée, l’air d’un cyclope épileptique. Quant à elle, la quattro formaggi gisait devant, encore fumante, décomposée en lambeaux. C’est l’image de cette pizza lacérée en vrac qui s’est gravée dans mon souvenir, curieusement. Les traînées filandreuses de mozzarella sur le bitume jonché de tomates concassées, la base de pâte déformée, oblongue, les ricochets de gorgonzola en monticules épars innervés de tranchées bleues, les câpres explosées façon puzzle et les olives éparpillées en étoile. Je revois les serviettes de papier imbibées de pluie fine, les sauces dispersées, le litre de soda agonisant en spasmes et déversant sa mousse sucrée vers le caniveau. Un beau chaos, mets et boissons entremêlés. Si j’avais eu un appareil photo sur moi, j’aurais capturé la composition, fixé la nature morte. Au lieu de ça, je me suis senti coupable. C’est étrange mais j’ai tout de suite pensé à ce couple qui n’aurait pas son dîner prépayé à temps, à cette foutue commande jamais livrée. J’ai imaginé leur soirée streaming, l’attente vautrée dans le canapé, la salivation impatiente de ces cadres supérieurs typiques des livraisons dominicales – trente, trente-cinq, quarante minutes d’attente et toujours rien, bon, prise de décision, coup de fil irrité au restaurant napolitain, incompréhension de Fabiola qui baisse à ce moment le store métallique de la trattoria, veuillez patienter un instant, ne quittez pas je me renseigne, et pour finir la stupéfaction face à mon intraçabilité soudaine. Car à cet instant précis je m’étais volatilisé, dérobé par collision, déconnecté par accident. Je ne produisais plus de données. En informatique, j’avais disparu du logiciel de dispatch. J’avais failli à ma mission à deux cents mètres près. On allait me retenir le prix de la course pour dégradation du plat. C’était la règle. En outre, j’étais en tort. J’avais coupé la route, j’étais responsable de l’accident.

Mathieu Lauverjat, Client mystère.

Mein Fahrrad mit festem Zahnkranz hatte weniger Glück. Es war zertrümmert, das Vorderrad war verbogen und das Karbonrad war im rechten Winkel verbogen. Dann sah ich meine zu einem Blumenkohl aufgeplatzte Kühltasche hinter der Leuchtdiode, die panisch blinkte und wie ein epileptischer Zyklop aussah. Die Quattro Formaggi lag davor, noch dampfend und in Stücke zerfallen. Es war das Bild der zerfetzten Pizza, das sich seltsamerweise in meine Erinnerung brannte. Die fadenbildenden Spuren von Mozzarella auf dem mit zerkleinerten Tomaten übersäten Asphalt, der verzerrte, längliche Teigboden, die Gorgonzola-Flocken in verstreuten Hügeln, die von blauen Gräben durchzogen sind, die Kapern, die wie ein Puzzle explodiert sind und die Oliven, die sternförmig verstreut sind. Ich erinnere mich an die Papierservietten, die vom feinen Regen getränkt waren, an die verstreuten Soßen, an den Liter Soda, der in Krämpfen starb und seinen süßen Schaum in den Rinnstein entleerte. Ein schönes Chaos, Speisen und Getränke durcheinander. Wenn ich eine Kamera dabei gehabt hätte, hätte ich die Komposition eingefangen und das Stillleben festgehalten. Stattdessen fühlte ich mich schuldig. Es ist seltsam, aber ich dachte sofort an das Paar, das sein im Voraus bezahltes Abendessen nicht rechtzeitig bekommen würde, an die verdammte Bestellung, die nie geliefert wurde. Ich stellte mir ihren Streaming-Abend vor, das Warten auf dem Sofa, den ungeduldigen Speichelfluss dieser typischen Sonntagslieferungen von Führungskräften – dreißig, fünfunddreißig, vierzig Minuten Wartezeit und immer noch nichts, gut, Entscheidungsfindung, irritierter Anruf beim neapolitanischen Restaurant, Unverständnis von Fabiola, die in diesem Moment die Metalljalousie der Trattoria herunterlässt, bitte warten Sie einen Moment, bleiben Sie dran, ich erkundige mich, und schließlich die Verblüffung über meine plötzliche Unauffindbarkeit. Denn in diesem Moment hatte ich mich in Luft aufgelöst, war durch einen Zusammenstoß entzogen und durch einen Unfall getrennt worden. Ich produzierte keine Daten mehr. In der Informatik war ich aus der Dispatch-Software verschwunden. Ich hatte meine Mission auf 200 Meter genau verfehlt. Man würde mir den Preis für die Fahrt wegen Beschädigung der Mahlzeit abziehen. Das war die Regel. Außerdem war ich im Unrecht. Ich hatte die Straße geschnitten und war für den Unfall verantwortlich.

Mathieu Lauverjat, Client mystère.

Alexandre Valassidis, Au moins nous aurons vu la nuit. In einer gelangweilten Banlieue verschwindet unter rätselhaften Umständen Dylan. Der Erzähler steht in der Tradition des sozialen Roman noir, wenn er dieses Verschwinden untersucht, die unausgesprochene Komplizenschaft der beiden jungen Männer, ihre nächtlichen Beobachtungszüge der Menschen in fremden Häusern, schließlich das Eindringen, „zwischen Traum und Realität, zwischen Erzählung und poetischer Prosa“, wie der Verlag das Buch ankündigt. „Die ganze Zeit über waren es Tage wie heute. Tage im weichen Bauch des Sommers. An denen der Himmel absinkt. Und sich mit langen lila und schwarzen Streifen bedeckt. Mit großen, traurigen Blumen.“ 2

Ils l’auraient poussé dans le coffre d’une voiture, Dylan. Un utilitaire bleu nuit. Aux plaques probablement maquillées. Les 0 et les O, surtout. Auxquels ils auraient ajouté une ligne horizontale, au milieu. Qui transformerait les uns en B, et les autres en 8. C’était une habitude, chez eux. Ça, je l’avais appris avant toute autre chose, à leur sujet. Qu’ils maquillaient les plaques des véhicules volés. Sur les parkings des grands magasins, la nuit. Ou le dimanche, lorsqu’ils étaient à peu près déserts. Mais jamais en journée. Équipés le plus souvent d’un simple tournevis. Ou sur les aires d’autoroute. Là où ils rôdaient, pour ainsi dire. À deux ou trois, maximum. Dans un camion blanc.

Et après, on n’a plus revu Dylan. C’était comme s’il avait été effacé. Comme ça, d’un coup de baguette magique. Comme s’il avait été rayé de tous les endroits qu’il fréquentait. Au moins ceux où l’on se retrouvait tous les deux. Parce que quand on ne se voyait pas, je ne savais pour ainsi dire pas ce qu’il devenait. S’il était heureux. Ni où, ni avec qui il pouvait bien traîner.

Il y avait sa tante, dont je connaissais l’adresse. Mais sans que l’on m’ait jamais invité à franchir la porte de chez elle. Pour l’une ou l’autre raison. Et quelques autres lieux. Mais je peux dire qu’il avait été rayé de tous les endroits où l’on se rencontrait, lui et moi. Comme si on avait gommé son nom de tout un tas de fiches. Que ça ne lui donnait plus accès à rien. Parce que des gens très haut placés auraient décidé que pour lui c’était stop. Terminus. Plus de discussion possible.

Alexandre Valassidis, Au moins nous aurons vu la nuit.

Sie hätten ihn in den Kofferraum eines Autos gestoßen, Dylan. Ein dunkelblauer Lieferwagen. Mit wahrscheinlich gefälschten Nummernschildern. Vor allem die 0 und O. Sie hätten eine horizontale Linie in der Mitte hinzugefügt. Diese würde die einen zu Bs und die anderen zu 8en machen. Das war bei ihnen üblich. Das hatte ich vor allen anderen Dingen über sie gelernt. Dass sie die Nummernschilder von gestohlenen Fahrzeugen fälschten. Nachts auf den Parkplätzen der Kaufhäuser. Oder an Sonntagen, wenn diese fast menschenleer waren. Aber niemals tagsüber. Meistens mit einem einfachen Schraubenzieher ausgestattet. Oder auf Autobahnraststätten. Dort, wo sie sozusagen herumstreiften. Höchstens zu zweit oder zu dritt. In einem weißen LKW.

Und dann sahen wir Dylan nie wieder. Es war, als ob er ausgelöscht worden wäre. Einfach so, wie ein Zauberstab. Als ob er von allen Orten, an denen er sich aufhielt, gestrichen worden wäre. Zumindest an den Orten, an denen wir uns beide trafen. Denn wenn wir uns nicht sahen, wusste ich so gut wie nie, was aus ihm wurde. Ob er glücklich war. Oder wo oder mit wem er sich herumtrieb.

Es gab seine Tante, deren Adresse ich kannte. Aber ich wurde nie eingeladen, durch ihre Tür zu gehen. Aus dem einen oder anderen Grund. Und einige andere Orte. Aber ich kann sagen, dass er von allen Orten, an denen er und ich uns trafen, gestrichen worden war. Es war, als ob sein Name von einer ganzen Reihe von Einträgen gestrichen worden wäre. Dass er dadurch keinen Zugang mehr zu irgendetwas hatte. Weil hochrangige Leute entschieden haben, dass für ihn Schluss ist. Das war’s. Keine Diskussion mehr möglich.

Die Reihe ist explizit auch für fremdsprachige Literatur offen, etwa Vincenzo Latronico, Les perfections. Das italienische Buch (Le perfezioni, dt. Die Perfektionen) lässt ein italienisches Paar nach Berlin ziehen, die gentrifizierte Stadt wird ebenso beobachtet wie die Fassaden der sozialen Netzwerke. Der Verlag sieht hier den grausamen Blick des Insektenforschers, der wie in einer Hommage an Perecs Les Choses (der das Motto des Buches gibt) für diese Zeit die scheinhaften Perfektionen in ihrer Auflösung beobachtet.

Alla parte opposta dell’infilata c’è una camera da letto. Un materasso matrimoniale ad altezza doppia è appoggiato su un riquadro di tatami. La testiera è nascosta da quattro cuscini gonfi e il piumone è coperto da un quilt antico, unica chiazza cromatica fra il lino grezzo delle federe e dei copripiumoni, il bianco delle pareti, il giallo pallido dei tatami. Ci sono due punti luce, sottili cilindri metallici da cui sboccia una lampadina a filamento; due servimuti simmetrici attorno a un baule da viaggio; un materassino da yoga arrotolato in un angolo, accanto alle dumbbell e alla fascia da estensione. Le immagini sono tutte a fuoco e ben illuminate, ma una di questa stanza la mostra al buio, con le tende tirate, le pareti striate dalle chiazze di luce arancione che filtrano quando ci si sveglia tardi, e il sole è già alto, e forse è domenica, o forse no.

La vita promessa da queste immagini è tersa e concentrata, facile.

In questa vita, in primavera e in estate, si beve il caffè sul balcone approfittando del sole da est, scorrendo i titoli del New York Times e gli aggiornamenti dei social sullo schermo di un tablet. Si annaffiano le piante, come parte di una routine che comprende lo yoga e una prima colazione arricchita da vari tipi di semi. Si lavora dal laptop, certo, ma col ritmo di un pittore più che di un impiegato: a uno scatto di concentrazione intensa alla scrivania si intervalla una passeggiata, una videochiamata con un amico che propone un progetto, uno scambio di battute sui social, un salto al mercato biologico dietro casa. Le giornate sono lunghe – le ore lavorate, alla fine, sono probabilmente più di quelle di un impiegato. Però al contrario di quest’ultimo le ore non si contano, perché in questa vita il lavoro svolge un ruolo importante senza essere un’oppressione o un ricatto. Al contrario: il lavoro è una fonte di crescita e stimolo creativo, il ritmo di fondo per la melodia del piacere.

Vincenzo Latronico, Le perfezioni.

Am anderen Ende der Reihe befindet sich ein Schlafzimmer. Eine doppelt so hohe Matratze liegt auf einem Tatami-Rahmen. Das Kopfteil wird von vier bauschigen Kissen verdeckt und die Bettdecke wird von einer antiken Steppdecke bedeckt, dem einzigen Farbfleck zwischen dem rauen Leinen der Kissen- und Bettbezüge, dem Weiß der Wände und dem blassen Gelb der Tatamis. Es gibt zwei Lichtpunkte, dünne Metallzylinder, aus denen eine Glühbirne sprießt; zwei symmetrische Diener um einen Reisekoffer; eine Yogamatte, die in einer Ecke zusammengerollt ist, neben den Hanteln und dem Dehnungsband. Die Bilder sind alle scharf und gut beleuchtet, aber eines der Bilder zeigt diesen Raum im Dunkeln, mit zugezogenen Vorhängen, die Wände sind von den orangefarbenen Lichtflecken durchzogen, die durchdringen, wenn Sie spät aufwachen und die Sonne bereits aufgegangen ist, und vielleicht ist es Sonntag, vielleicht auch nicht.

Das Leben, das diese Bilder versprechen, ist kurz und konzentriert, einfach.

In diesem Leben trinkt man im Frühling und Sommer Kaffee auf dem Balkon und nutzt die Sonne aus dem Osten, während man auf einem Tablet-Bildschirm durch die Schlagzeilen der New York Times und die sozialen Updates scrollt. Sie gießen Pflanzen, als Teil einer Routine, die Yoga und ein mit verschiedenen Samen angereichertes Frühstück umfasst. Natürlich arbeiten Sie an Ihrem Laptop, aber eher im Tempo eines Malers als eines Büroangestellten: Ein Ausbruch intensiver Konzentration an Ihrem Schreibtisch wird unterbrochen von einem Spaziergang, einem Videoanruf mit einem Freund, der ein Projekt vorschlägt, einem Austausch von Witzen in den sozialen Medien, einem Ausflug zum Biomarkt hinter dem Haus. Die Tage sind lang – die Arbeitsstunden sind am Ende wahrscheinlich länger als die eines Büroangestellten. Aber im Gegensatz zu letzterem werden die Stunden nicht gezählt, denn die Arbeit spielt in diesem Leben eine wichtige Rolle, ohne eine Unterdrückung oder Erpressung zu sein. Im Gegenteil: Arbeit ist eine Quelle des Wachstums und der kreativen Anregung, der Hintergrundrhythmus für die Melodie des Vergnügens.

Claire-Louise Bennett, Caisse 19. Das aus dem Englischen übersetzte Buch (Checkout 19) wählt die Kasse eines Supermarkts als Ausgangspunkt der jungen Studentin, die später auf ihr Leben zurückblickt, als Leserin und Schriftstellerin, in einem modernistischen Stil, den sie beiläufig auch thematisiert:

At the end of term the English department sought to recoup all the books that had been gamely issued to each pupil at the start of term. Books hardly any of the pupils had bothered to look at in the meantime, yet now, at the end of term, they felt no compulsion whatsoever to bring them back. This must have been infuriating for the department. The pupils simply had no interest. Not in reading books, nor returning them. Their principal interest, right up until the very last bell, was to disrupt the flow of information and ideas, which the teachers attempted each lesson to set in motion, With all kinds of never-ending pranks. Though, actually, their repertoire, despite being perseverant, was not especially varied. Every term in fact the pupils became fixated on a particular stunt and took great delight in pulling it off in just the same way day after day for most of the term’s duration. It was quite perverse. Like performers in the avant-garde tradition they were alert to the ways sustained repetition produces subtle and absurd variations that are as transfixing as they are subversive. Such recursive hijinks were most often deployed in the science labs, where the pupils‘ incendiary hands might easily alight upon and combine a spectrum of appliances and substances that could be counted on to interact with each other in a palpable and fairly predictable fashion — though the exact scale of the ensuing reaction could not be quite so reliably gauged.

Claire-Louise Bennett, Checkout 19.

Am Ende des Schuljahres versuchte die Englischabteilung, alle Bücher zurückzubekommen, die zu Beginn des Schuljahres an jeden Schüler ausgegeben worden waren. Kaum einer der Schüler hatte sich in der Zwischenzeit die Mühe gemacht, die Bücher anzuschauen, doch jetzt, am Ende des Schuljahres, sahen sie sich nicht gezwungen, sie zurückzubringen. Das muss für die Abteilung sehr ärgerlich gewesen sein. Die Schüler hatten einfach kein Interesse. Weder daran, die Bücher zu lesen, noch sie zurückzugeben. Ihr Hauptinteresse bestand bis zum letzten Klingeln darin, den Informations- und Ideenfluss, den die Lehrer in jeder Stunde in Gang zu setzen versuchten, mit allerlei nicht enden wollenden Streichen zu stören. Allerdings war ihr Repertoire, obwohl sie ausdauernd waren, nicht besonders abwechslungsreich. Jedes Schuljahr waren die Schüler auf einen bestimmten Streich fixiert und hatten großen Spaß daran, ihn Tag für Tag auf die gleiche Art und Weise auszuführen. Das war ziemlich pervers. Wie die Künstler der Avantgarde-Tradition waren sie sich bewusst, dass die ständige Wiederholung subtile und absurde Variationen hervorbringt, die ebenso fesselnd wie subversiv sind. Solche rekursiven Späße wurden am häufigsten in den naturwissenschaftlichen Labors gemacht, wo die zündenden Hände der Schüler leicht eine Reihe von Geräten und Stoffen anfassen und miteinander kombinieren konnten, die in einer spürbaren und ziemlich vorhersehbaren Weise miteinander interagierten – auch wenn das genaue Ausmaß der daraus resultierenden Reaktion nicht ganz so zuverlässig abzuschätzen war.

Ob die Buchreihe ein literarisches Programm entwickelt (heute überhaupt entwickeln kann), ist eine Frage, die sich erst mit der Zeit wirklich beurteilen lässt. Die ersten Texte von „Scribes“ bilden jedoch eine Gruppe von Fiktionen, die die Wirklichkeiten der Gegenwart in eine eigene Form bringen wollen.

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. 22H fait exploser les codes du roman traditionnel et mélange à loisir les temporalités, les espaces, les scènes. Procédant par échos, par variations, par jeux de voix, c’est un texte qui explore les scénographies et les cérémonies du désir, de l’amour, de la mort.“ Verlagsankündigung.>>>
  2. „Toute cette époque, c’étaient des jours comme aujourd’hui. Des jours du ventre mou de l’été. Où le ciel s’affaisse. En se couvrant de longues traînées mauve et noir. De grandes fleurs tristes.“>>>