Unheil der Reisenden: Jérôme Ferrari

J’annonçai à ma mère que j’avais décidé de partir et que je déposerais ma candidature pour enseigner à l’étranger, dans n’importe quel pays que le fléau du tourisme épargnait encore. J’avais peur de lui faire de la peine. Je pensais qu’elle aurait peut-être voulu me garder auprès d’elle. Mais elle ne tenta pas même de me dissuader.

Tu as bien raison, me dit-elle. Va-t’en. Ici, il n’y a plus rien.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Ich erzählte meiner Mutter, dass ich mich entschieden hatte, wegzugehen, und dass ich mich als Lehrer im Ausland bewerben würde, in egal welchem Land, das noch von der Tourismusplage verschont war. Ich hatte Angst, dass ich ihre Gefühle verletzen würde. Ich dachte, dass sie mich vielleicht gerne bei sich behalten würde. Aber sie versuchte nicht einmal, mich davon abzubringen.

„Du hast sehr recht“, sagte sie zu mir. „Geh einfach weg. Hier gibt es nichts mehr.“

Die nicht mal hundert Sentinelesen sind das letzte Volk unserer Erde, das seine Isolation gegenüber der Moderne und ihren Vernetzungszumutungen durchsetzen konnte, notfalls auch mit Gewalt. Der neueste Roman von Jérôme Ferrari, der nach der Insel dieses Volks Nord Sentinelle betitelt ist (auch wenn Ferrari die Korsen mit der Welt vermischt, u.a. bereits mit dem Titel und dem orientalistischen Erzählrahmen um Kapitän Burton), er trägt den programmatischen Untertitel „Die Geschichte vom Einheimischen und vom Reisenden“: Indigene und Autochthone sind im Lateinischen und Griechischen gewissermaßen das Gegenteil des Barbaren, es sind die originären Urbewohner einer Landschaft. Im Kontext des Kolonialismus meint es diejenigen, die bereits vor der Eroberung durch Fremde dort angestammt waren, die eine enge Bindung an ihren Lebensraum leben, emotional und spirituell, schließlich auch bezogen auf ihre ethnisch-kulturelle Identität:

S’oppose à nos émissaires la figure inversée des indigènes, tous regroupés derrière une même opacité exotique, mais présents à la photographie selon deux modalités distinctes : d’abord en tant que curiosité pacifique qui suscite l’étonnement, l’inquiétude, le désir d’élucidation et même un genre d’estime inavouée, de projection mélancolique (le romantisme tenace des modes de vie supposément immémoriaux, authentiques, refoulés ou inconnus de nous).

Jérôme Ferrari, À fendre le cœur le plus dur, 2015.

Im Gegensatz zu unseren Abgesandten steht die umgekehrte Figur der Einheimischen, die alle hinter einer gemeinsamen exotischen Undurchsichtigkeit versammelt sind, aber in der Fotografie auf zwei verschiedene Weisen präsent sind: zunächst als friedliche Neugier, die Erstaunen, Besorgnis, den Wunsch nach Aufklärung und sogar eine Art uneingestandene Wertschätzung, eine melancholische Projektion (die hartnäckige Romantik vermeintlich unvordenklicher, authentischer, verdrängter oder uns unbekannter Lebensweisen) hervorruft.

Eine solche Perspektive ist im neuesten Roman von Jérôme Ferrari expliziter und zentraler als in den bisherigen Büchern. „Nord Sentinelle“ bezeichnet ein Archipel, dessen Bewohner sich bis heute gegen Kontakt mit anderen Völkern wehren: North Sentinel Island, Teil der zu Indien gehörenden Inselgruppe der Andamanen im Indischen Ozean. Sie verkörpern das andere Extrem des Overtourism, dieser Sprengung aller Kapazitätsgrenzen einer Gegend durch den Einfall des Massentourismus, so wie am Mount Everest, in Santorin, Barcelona und Mallorca, in Venedig, Dubrovnik – oder auf Korsika, hier bei Ferrari mit einer neu hereinbrechenden Touristenwelle nach der Corona-Pause. Übertourismus ist die Steigerungsform von Massentourismus, noch weiter befördert von Medienberichten aus den Hotspots, von Airbnb-Unterkünften, Mobilität durch Billigflüge und Tagestouristen auf Kreuzfahrt. Nord Sentinelle soll eine Trilogie eröffnen, mit der Ferrari die Begegnung mit dem Andersartigen erzählen will.

Freilich lässt sich der kleine orientalische Prolog des Buchs wie eine ethnopluralistische Antimigrationserzählung lesen, wenn man es darauf anlegt, auch wenn ein politisches Programm ausdrücklich zurückgewiesen wird:

Nul besoin de prophétie pour savoir que le premier voyageur apporte toujours avec lui d’innombrables calamités. Peu importe qu’il fût une brute sanguinaire, un aventurier cupide, un soudard conquérant, un suppliant en larmes ou un homme comme le capitaine Burton, dont la soif de connaissances consumait le cœur dans des proportions si monstrueuses qu’elle en devenait un vice, peu importe qu’il cherchât la guerre ou le repos, la conquête ou la rédemption : le premier qui pose le pied sur le rivage, fût-il animé des intentions les plus pacifiques et les plus louables, fût-il un saint, fût-il le sauveur du monde en personne, il faudrait le tuer, lui et tous ceux qui l’accompagnent, sans distinction d’âge ou de sexe – les vieillards, les femmes, les hypothétiques enfants, toute la horde angélique des chérubins. En suivant cette simple règle, l’humanité se serait évité, au prix d’un crime minuscule, une atroce et interminable litanie de massacres, d’épidémies, d’asservissements et de mutilations ainsi que quelques autres abjections mineures au rang desquelles il faut compter la chanson coloniale, les missions évangéliques et, bien évidemment, la pratique intensive du tourisme. Il a pu m’arriver, je ne le nie pas, de défendre, en plus d’une occasion, cette intéressante théorie avec un enthousiasme quelque peu excessif, le plus souvent au cours de repas familiaux trop arrosés ; mais il aurait dû être clair aux yeux de tous qu’elle relevait davantage de la spéculation contrefactuelle ou de l’uchronie que du programme politique et qu’elle était, en dépit de sa radicalité, parfaitement fondée aussi bien du point de vue de l’histoire que de celui de la logique.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass der erste Reisende immer viel Unheil mit sich bringt. Es spielt keine Rolle, ob er ein blutrünstiger Raufbold ist, ein gieriger Abenteurer, ein erobernder Soldat, ein weinender Bittsteller oder ein Mann wie Kapitän Burton, dessen Wissensdurst sein Herz so sehr verzehrt hat, dass er zu einem Laster geworden ist; es ist gleichgültig, ob er Krieg oder Frieden, Eroberung oder Erlösung sucht; es ist gleichgültig, ob es sich um einen Mann wie Kapitän Burton handelt, dessen Wissensdurst sein Herz so ungeheuer verzehrt hat, dass er zum Laster geworden ist; es ist gleichgültig, ob es sich um Krieg oder Frieden, Eroberung oder Erlösung handelt: Der erste, der seinen Fuß an die Küste setzt, und sei er auch in den friedlichsten und löblichsten Absichten, sei er ein Heiliger, sei er der Erlöser der Welt in Person, er muß getötet werden, er und alle, die ihn begleiten, ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts – die Alten, die Frauen, die hypothetischen Kinder, die ganze Engelsschar der Cherubim. Hätte die Menschheit diese einfache Regel befolgt, hätte sie sich mit einem kleinen Verbrechen eine schreckliche und endlose Litanei von Massakern, Epidemien, Versklavungen und Verstümmelungen erspart, sowie einige andere kleinere Abscheulichkeiten, zu denen auch das Koloniallied, die evangelischen Missionen und natürlich der intensive Tourismus gehören. Ich leugne nicht, dass ich diese interessante Theorie bei mehr als einer Gelegenheit mit etwas übertriebenem Enthusiasmus vertreten habe, meist bei allzu feuchtfröhlichen Familienessen, aber es hätte jedem klar sein müssen, dass es sich dabei eher um eine kontrafaktische Spekulation oder Uchronie als um ein politisches Programm handelt und dass sie trotz ihrer Radikalität sowohl historisch als auch logisch vollkommen gerechtfertigt ist.

Jérôme Ferrari lit un extrait de son roman, Nord Sentinelle.

Um Missverständnisse politischer Vereindeutigung und ideologischen Verdachts gegenüber dem Autor nicht aufkommen zu lassen: In Le Sermon sur la chute de Rome wurde von Ferrari die multikulturelle Utopie einer Touristenbar entworfen, in der Vielfalt als konfliktfreies Fest gefeiert wird:

Au mois d’août, avant son départ pour l’Algérie, Aurélie vint passer une quinzaine de jours au village avec celui qui partageait encore sa vie et elle fut stupéfaite d’y trouver le jaillissement d’une vie bouillonnante et désordonnée qui déferlait sur toute chose mais prenait manifestement sa source dans le bar de son frère. On y trouvait une clientèle hétéroclite et joyeuse, qui mêlait les habitués, des jeunes gens venus des villages alentour et des touristes de toutes nationalités, incroyablement réunis dans une communion festive et alcoolisée que ne venait troubler, contre toute attente, aucune altercation. On aurait dit que c’était le lieu choisi par Dieu pour expérimenter le règne de l’amour sur terre et les riverains eux-mêmes, d’habitude si prompts à se plaindre des moindres nuisances, au premier rang desquelles il fallait compter la simple existence de leurs contemporains, arboraient le sourire inaltérable et béat des élus.

Jérôme Ferrari, Le Sermon sur la chute de Rome, 2012.

Im August, vor ihrer Abreise nach Algerien, verbrachte Aurélie zwei Wochen im Dorf mit dem Mann, der immer noch ihr Leben teilte, und war überrascht, ein quirliges, ungeordnetes Leben vorzufinden, das alles überflutete, aber offensichtlich seinen Ursprung in der Bar ihres Bruders hatte. Die Gäste waren bunt gemischt und fröhlich: Stammgäste, Jugendliche aus den umliegenden Dörfern und Touristen aller Nationalitäten, die sich zu einer unglaublich feier- und trinkfreudigen Gemeinschaft zusammenfanden, die wider Erwarten von keinem Streit gestört wurde. Es schien, als hätte Gott diesen Ort auserwählt, um die Herrschaft der Liebe auf Erden zu erproben, und selbst die Einheimischen, die sich sonst so schnell über die kleinste Belästigung beschweren, zu der auch die bloße Existenz ihrer Mitmenschen gehört, hatten das unveränderliche, selige Lächeln der Auserwählten aufgesetzt.

Auch für seine eigenen Deutschlandbezüge betont Ferrari selbstkritisch zum Entstehungshintergrund des Heisenberg-Romans Das Prinzip und den nötigen Recherchen im fremden Land, er habe keine touristische Erfahrung von Deutschland gemacht, und er habe generell Sorge, eurozentrisch zu denken und womöglich kulturelle Differenzen zu verfehlen:

C’est un peu plus compliqué. D’abord, c’est un vieux projet, Le Principe. Je n’aurais jamais pensé pouvoir le faire. C’est un livre qui a été rendu possible parce que je suis écrivain. Je m’explique. En fait, j’ai été amené, à partir de 2010, à aller souvent en Allemagne grâce aux traductions de mes romans, et j’ai noué des liens là-bas. C’est un pays dans lequel je n’avais jamais mis les pieds – sauf quand j’étais petit, je crois – et maintenant je dois y aller deux ou trois fois par an. Du coup, avoir cette expérience de l’Allemagne, qui n’est pas une expérience touristique, m’a permis d’envisager l’écriture d’un roman sur un Allemand, ce que je n’aurais jamais fait avant parce que j’avais toujours peur de l’ethnocentrisme, du décalage culturel, etc. Vraiment, j’ai saisi une opportunité. Et puis mon éditeur m’a aidé à faire des recherches, il m’a fait rencontrer le fils de Heisenberg, enfin, des choses de ce genre-là, qui ont été déterminantes.

Les mondes possibles de Jérôme Ferrari: entretiens sur l’écriture avec Pascaline David, 2020.

Es ist ein bisschen komplizierter. Zunächst einmal ist es ein altes Projekt, Das Prinzip. Ich hätte nie gedacht, dass ich es machen könnte. Es ist ein Buch, das nur möglich war, weil ich Schriftsteller bin. Ich erkläre mich selbst. Tatsächlich bin ich ab 2010 durch die Übersetzungen meiner Romane häufig nach Deutschland gereist und habe dort Verbindungen geknüpft. Das ist ein Land, in dem ich noch nie gewesen war – außer als Kind, glaube ich – und jetzt muss ich zwei- oder dreimal im Jahr dorthin reisen. Diese Erfahrung mit Deutschland, die keine touristische Erfahrung ist, hat es mir ermöglicht, einen Roman über einen Deutschen zu schreiben, was ich vorher nie getan hätte, weil ich immer Angst vor Ethnozentrismus, Kulturverschiebung usw. hatte. Wirklich, ich habe eine Gelegenheit ergriffen. Und dann half mir mein Verleger bei den Recherchen, er brachte mich mit Heisenbergs Sohn zusammen, na ja, solche Dinge, die ausschlaggebend waren.

Tourismus selbst ist kulturhistorisch einem Wandel der Urlaubsstile und -ziele unterworfen, wie Ferrari am Übergang vom reinen hedonistischen Sonnenanbeter zum Sinn suchenden Kulturtouristen nachzeichnet:

À la fin des années 1990, après s’être exclusivement consacrés au bronzage sur les plages, ils commencèrent à penser – ou plus probablement quelqu’un pensa pour eux – qu’il serait bon de diversifier leurs activités, de se rapprocher de la nature et de s’intéresser aux cultures indigènes et ils décidèrent de partir en quête de l’authenticité que nous étions bien sûr tout disposés à leur vendre.
Ils se mirent donc à arpenter en masse les chemins de randonnée, troquant avantageusement leurs coups de soleil, piqûres d’oursins et hydrocutions pour des ampoules, des morsures de punaises de lit, des entorses et des chutes mortelles au fond de ravins oubliés.
Ils exigèrent de manger local. D’écouter de la musique locale. Ils tenaient absolument à ce que leurs vacances aient du sens.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Ende der 1990er Jahre, nachdem sie sich ausschließlich am Strand gesonnt hatten, begannen sie zu denken – oder wahrscheinlich dachte jemand für sie –, dass es gut wäre, ihre Aktivitäten zu diversifizieren, näher an der Natur zu sein und sich für die indigenen Kulturen zu interessieren, und sie beschlossen, sich auf die Suche nach der Authentizität zu machen, die wir ihnen natürlich verkaufen wollten.
Sie begannen in Scharen die Wanderwege zu bevölkern und tauschten Sonnenbrand, Seeigel-Bisse und Wassereinbrüche gegen Blasen, Wanzenbisse, Verstauchungen und tödliche Stürze in vergessene Schluchten.
Sie verlangten, lokal zu essen. Lokale Musik zu hören. Sie wollten unbedingt, dass ihr Urlaub einen Sinn hat.

In Le Principe (2015) bemerkt der Erzähler nebenbei, dass die stolze alte Festungsstadt „durch den Tourismus zu einem Badeort degradiert wurde“ 1, die Touristen werden zu einer kollektiven, gesichtslosen Masse mit lächerlichen Zügen, als Gegenfolien zu mythisch-archaischen Bildern zappeln sie im Hintergrund:

Mais je ne sais rien du sang, si ce n’est le goût de celui qui coule de mes narines et que je recueille du bout de la langue, avec un sourire béat, sur le parking d’une boîte de nuit dans laquelle des touristes dansent et sautent en rythme en levant les bras au ciel. Je pense de moins en moins au roman que je voulais écrire. Je me consacre tout entier à l’observation puérile de ma déchéance qui, au fond, m’emplit de fierté en même temps qu’elle apaise mes velléités créatrices car j’imagine qu’elle ressemble, jusque dans son ignominie, à celles que décrivent les romans russes. Je ne vois pas le Christ en croix saigner dans la fraîcheur des églises qui ouvrent leur bouche d’ombre sur les rues écrasées de soleil. Je ne vois pas mon père et ses amis mener leur guerre invisible et dérisoire, qui n’empêche même pas les touristes de sauter en rythme sur les pistes de danse, les bras levés au ciel, bien qu’elle dure depuis mille ans, sans fin, sans raison et sans gloire, avec ses victimes et ses assassins que la lassitude a rendus indiscernables, réunis dans le même oubli, les cérémonies machinales de ses deuils, et elle ne cessera jamais parce que jamais elle n’a eu ni n’aura aucune conséquence sur l’avenir du monde qui pèse sur vous de tout son poids intolérable.

Jérôme Ferrari, Le Principe, 2015.

Aber ich weiß nichts von Blut, außer dem Geschmack des Blutes, das mir aus den Nasenlöchern rinnt und das ich mit einem seligen Lächeln auf dem Parkplatz eines Nachtclubs, in dem Touristen rhythmisch tanzen und springen und die Arme in den Himmel strecken, mit der Zungenspitze auffange. Ich denke immer seltener an den Roman, den ich schreiben wollte. Ich widme mich ganz der kindischen Beobachtung meines Verfalls, der mich im Grunde genommen mit Stolz erfüllt und gleichzeitig meinen kreativen Drang stillt, weil ich mir vorstelle, dass er bis in seine Schändlichkeit hinein den in russischen Romanen beschriebenen ähnelt. Ich sehe nicht, wie Christus am Kreuz in den kühlen Kirchen blutet, die ihren schattigen Mund auf die von der Sonne zermalmten Straßen öffnen. Ich sehe nicht, wie mein Vater und seine Freunde ihren unsichtbaren und lächerlichen Krieg führen, der nicht einmal die Touristen davon abhält, mit zum Himmel erhobenen Armen rhythmisch über die Tanzflächen zu hüpfen, obwohl er seit tausend Jahren andauert, ohne Ende, ohne Grund und ohne Ruhm, mit ihren Opfern und Mördern, die der Überdruss ununterscheidbar gemacht hat, vereint in ein und demselben Vergessen, den maschinellen Zeremonien ihrer Trauer, und sie wird niemals aufhören, weil sie niemals irgendwelche Konsequenzen für die Zukunft der Welt hatte oder haben wird, die mit ihrem ganzen unerträglichen Gewicht auf Ihnen lastet.

Noch ausdrücklicher wird in Le Principe dem Wimmeln immenser Städte aus Glas, Marmor und Stahl mit „Touristen, Geschäftsleuten und Finanziers, Prinzen, Sklaven und Prostituierten“ eine vormoderne Stille gegenübergestellt, während die Nachkommen der Beduinen hinter den getönten Scheiben ihrer Luxusautos lässig durch den Wüstensand gleiten:

L’ancien silence vibre du murmure incessant des climatiseurs, il résonne jour et nuit de toutes les langues du monde. Le soir, le disque pâle du soleil descend lentement sur un horizon hérissé de grues et de panneaux publicitaires.

Jérôme Ferrari, Le Principe, 2015.

Die alte Stille vibriert vom unaufhörlichen Rauschen der Klimaanlagen, sie hallt Tag und Nacht wider in allen Sprachen der Welt. Abends senkt sich die bleiche Scheibe der Sonne langsam über den von Kränen und Reklametafeln übersäten Horizont.

Lesen wir die Romane von Jérôme Ferrari mit einem Abstand zu ihren jeweiligen Plots, fallen Leitthemen auf, so wie der Raum Korsika natürlich, auch wenn der Autor in Paris geboren wurde, bestimmt die Herkunft der Eltern und Vorfahren die Szenerie einiger Texte, verbunden damit ein dezentrierter Blick auf Frankreich und den europäischen Kontinent, der etwa im Tourismus die Tradition und Identität der Korsen gefährdet. In Le Principe zeichnet Ferrari ein Bild der Medien, das für die ökonomisch wichtigen Touristen die Wahrheit der Gewalt bewusst beschönigt: „Hier veröffentlicht die Zeitung nie ein Foto der Leichen, schon gar nicht in der Touristensaison.“ 2 Der Tourismus wird Synonym für einen oberflächlich-banalen Blick, so wie im 2015 mit Oliver Rohe gemeinsam verfassten Essay À fendre le cœur le plus dur – über ein Bildarchiv des Schriftstellers und Kriegsberichterstatters Gaston Chérau aus dem italienisch-ottomanischen Konflikt in Libyen ab 1911-1912 –, das mit dem Thema der Gewalt auch einen weiteren Leitstrang seines Schreibens aufruft:

La gêne à ajouter notre parole, fût-elle sollicitée, à ces photographies témoignait surtout de notre relation d’éblouissement avec l’image terrible. Notre regard était un regard pieux, dévolu à la seule vision de l’horreur. Sanctuarisée, d’avance protégée des corruptions du discours, imposant ainsi à ses spectateurs retenue et silence, elle excluait de surcroît les autres éléments constitutifs de l’archive, dont l’existence même – en soi signifiante – pouvait servir de supplément, de contraste ou de contrepoint à l’hégémonie de la pendaison. Ces photographies de rivages et d’oasis, de soldats et de corps expéditionnaires, ces rues, cette lumière, cette foule et ces visages de Tripoli que nous négligions jusque-là avaient pourtant toute leur place dans le champ du visible, parmi la réserve de sens que recèle l’archive. Le secours de toutes ces photographies délaissées, y compris les plus touristiques d’entre elles, les plus banales et les plus innocentes, où nichent parfois les indices les plus riches, restituait en quelque sorte un peu mieux les pendus à leur condition historique, inscrivait leur épouvantable destin pénal dans une trame narrative plus vaste, un réseau de faits et de signes intelligible. Il n’y a pas de violence qui puisse s’abstraire de la structure politique et sociale dont elle n’est qu’un des moments, à défaut d’en être toujours l’aboutissement.

Jérôme Ferrari, À fendre le cœur le plus dur, 2015.

Das Unbehagen, unser Wort zu diesen Fotografien hinzuzufügen, so sehr es auch erbeten war, zeugte vor allem von unserem Verhältnis des Geblendetseins zu diesem schrecklichen Bild. Unser Blick war ein andächtiger, der allein dem Anblick des Grauens gewidmet war. Das Bild war heilig, von vornherein vor der Verfälschung des Diskurses geschützt, und zwang seine Betrachter zur Zurückhaltung und zum Schweigen. Darüber hinaus schloss es andere Elemente des Archivs aus, deren Existenz – die an sich schon bedeutsam war – als Ergänzung, Kontrast oder Kontrapunkt zur Übermacht der Hängung hätte dienen können. Diese Fotografien von Ufern und Oasen, von Soldaten und Expeditionskorps, diese Straßen, dieses Licht, diese Menschenmengen, diese Gesichter von Tripolis, die wir bis dahin vernachlässigt hatten, hatten ihren Platz im Feld des Sichtbaren, inmitten des Bedeutungsvorrats, den das Archiv birgt. Mit Hilfe all dieser vernachlässigten Fotografien, auch der touristischsten unter ihnen, der banalsten und unschuldigsten, in denen sich manchmal die reichhaltigsten Indizien verbergen, wurden die Erhängten gewissermaßen in ihren historischen Zustand zurückversetzt, ihr schreckliches Strafschicksal in einen größeren narrativen Rahmen eingefügt, in ein verständliches Netz von Fakten und Zeichen. Es gibt keine Gewalt, die von der politischen und sozialen Struktur abstrahiert werden kann, von der sie nur ein Moment ist, wenn auch nicht immer das Ergebnis.

Touristen stören den Bedeutungsrahmen der Bilder: In Ferraris À son image (2008) ruiniert ein namenloses Touristenpaar eine Fotoaufnahme, indem es unbekümmert ins Bildmotiv eindringt, kurz bevor der Mann des Paares von Pascal angegriffen wird, gedemütigt und blutig geschlagen vor den Augen der eigenen Kinder. In Dans le secret (2007) überlegt José nach den Komplimenten einer der Touristinnen, mit denen er Sex hat, ob er nicht Darsteller für Pornovideos werden möchte. Und Antoine denkt im Moment seines Schwächeanfalls über die Touristenplage nach, die mit dem Sommer über die eigene Landschaft hereinbricht und nicht nur diese beschmutzt, sondern auch die Einheimischen:

Il haleta dehors sous le soleil. Il ne put s’empêcher d’apprécier encore la chaleur du soleil sur sa peau. Il alla s’asseoir par terre au fond du parking entre deux voitures. Si le médecin vient maintenant, il ne me trouvera pas, pensa-t-il. Bien fait pour ma gueule, pensa-t-il. Il adorait les journées d’hiver ensoleillées. Comment peut-il faire beau aujourd’hui ? pensa-t-il. Il fait si beau. Le beau temps et la mort sont deux phénomènes que ne relie aucune chaîne causale. Il ferait beau, qu’Agathe vive ou qu’elle meure, le mois de janvier finirait quand même, et le printemps arriverait et puis l’été avec des cohortes de touristes qui envahiraient la ville et souilleraient les montagnes et la mer, et leurs propres âmes, et les nôtres aussi, il ferait une chaleur abjecte et le soleil chaufferait durement la dalle d’un caveau vide ou la dalle du même caveau dans lequel Agathe deviendrait liquide et poussiéreuse, tandis que son père servirait à boire à des salauds enjoués et malfaisants, et trahirait sa peine en continuant à vivre, qu’Agathe vive ou meure, il continuerait d’une manière ou d’une autre à mener une longue vie de trahisons et de bassesses, pendant un certain nombre de mois de janvier et d’étés qui finiraient par effacer jusqu’au souvenir de cette journée et de toute chose.

Jérôme Ferrari, Dans le secret (2007).

Er keuchte draußen in der Sonne. Er konnte nicht anders, als die Wärme der Sonne auf seiner Haut zu genießen. Er setzte sich am Ende des Parkplatzes zwischen zwei Autos auf den Boden. Wenn der Arzt jetzt kommt, wird er mich nicht finden, dachte er. Geschieht mir recht, dachte er. Er liebte sonnige Wintertage. Wie kann das Wetter heute so schön sein, dachte er. Es ist so schönes Wetter. Das schöne Wetter und der Tod sind zwei Phänomene, die durch keine Kausalkette miteinander verbunden sind. Es wäre schön, ob Agathe lebte oder starb, der Januar würde trotzdem zu Ende gehen, und der Frühling würde kommen, und dann der Sommer, mit Kohorten von Touristen, die in die Stadt einfallen und die Berge und das Meer und ihre eigenen Seelen und auch unsere Seelen beschmutzen würden, und es würde bitter heiß sein, und die Sonne würde die Platte eines leeren Grabes oder die Platte desselben Grabes, in dem Agathe flüssig und staubig werden würde, hart aufheizen, während ihr Vater, die Mutter und die Kinder in der Stadt bleiben würden, Ob Agathe lebte oder starb, er würde so oder so ein langes Leben voller Verrat und Niedertracht führen, eine Anzahl Januar- und Sommermonate lang, die schließlich bis zur Erinnerung an diesen Tag und an alles verblassen würden.

Im Gespräch mit Pascaline David über das eigene Schreiben stellt Ferrari zwei Zustände Korsikas einander in ähnlicher Weise wie die Zustände im Wüstenstaat gegenüber, eine antimodern-archaische und eine massentouristische:

Marco et moi, on était très sensibles – d’autant qu’on la vivait douloureusement – à cette espèce de schizophrénie saisonnière qui nous faisait passer d’une forme de désert glacé à deux ou trois mois de frénésie complète où il était plus question de boîte de nuit, de tourisme de masse, de drogue et de fornication que de vendetta et de bandits d’honneur.

Les mondes possibles de Jérôme Ferrari: entretiens sur l’écriture avec Pascaline David, 2020.

Marco und ich waren sehr empfänglich für diese Art von saisonaler Schizophrenie – zumal wir sie als schmerzhaft erlebten –, die uns von einer Art Eiswüste in zwei oder drei Monate des vollständigen Rausches führte, in denen es mehr um Nachtclubs, Massentourismus, Drogen und Unzucht als um Blutrache und Ehrenmorde ging.

Die saisonale Schizophrenie herrscht auch im jüngsten Roman von Ferrari. Die eigentliche Geschichte des jüngsten Romans, der gleichwohl die Zeitebenen vermischt, lässt sich schnell zusammenfassen: Der junge Alexandre Romani ersticht den 23-jährigen Medizinstudenten Alban Genevey wegen einer Weinflasche, die dieser illegal in sein Restaurant geschmuggelt hat.

Mais Alexandre, lui, avait cessé de dormir et ne s’était pas senti fatigué en arpentant sans relâche les ruelles de la haute ville à la poursuite de celui qu’il ne laisserait pas s’échapper, il s’était faufilé entre les groupes de touristes plus ou moins éméchés en cette heure tardive, dont la plupart avaient enlevé leurs masques chirurgicaux ou les avaient abaissés sur le menton, laissant apparaître la chair humide de leurs lèvres roses et, me dirait-il encore pendant ma visite à la maison d’arrêt, sa volonté était à ce point farouche et inébranlable, et si pure sa rage, que s’il n’avait pas fini par trouver Alban Genevey, il aurait frappé au hasard en choisissant n’importe lequel de ces salauds.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Aber Alexander hatte nicht geschlafen, er war nicht müde gewesen, als er unermüdlich durch die Gassen der Oberstadt gelaufen war, auf der Suche nach dem, den er nicht entkommen lassen würde, als er sich durch die Gruppen von Touristen geschlängelt hatte, die zu dieser späten Stunde mehr oder weniger betrunken waren und von denen die meisten ihre chirurgischen Masken abgenommen oder unter das Kinn gezogen hatten, Und, wie er mir bei meinem Besuch im Gefängnis erzählte, war sein Wille so wild und unerschütterlich und seine Wut so rein, dass er, wenn er nicht endlich Alban Genevey gefunden hätte, wahllos zugeschlagen und sich einen dieser Bastarde ausgesucht hätte.

Die Sippe der korsischen Familie Romani stellt den Mörder der Geschichte, selbst im Tourismusbezug des Familienepos ist hier Niedergang und Melancholie zwischen vergangener Eleganz und Geschmacklosigkeit der Gegenwart in einem Souvenirladen eingeschrieben:

Finalement, je n’ai pas pu me résoudre à me débarrasser du masque et je ne le regrette pas. Trente années ont passé. Aujourd’hui, dans le magasin de souvenirs jadis tenu par la vieille Eugénie Romani, dont les os noircissent depuis bien longtemps dans l’humidité du caveau familial, les artefacts offerts à la convoitise perverse des touristes ne se contentent plus d’être laids et de mauvaise qualité : ils dépassent tout ce que l’on peut imaginer en termes d’infamie graveleuse si bien que, comparé aux t-shirts floqués d’ânes entourés de pin-up en extase sirotant un cocktail sur la plage, ou aux slips noirs arborant en grandes capitales blanches des inscriptions vantant le volume de leur contenu (que Philippe vend sans vergogne au prétexte, fort spécieux, qu’il se contente de profiter, tout en la réprouvant vigoureusement à titre personnel, d’une débilité générale dont on ne saurait le tenir pour responsable), le masque mortuaire encore posé sur mon bureau semble l’élégant vestige d’une époque de splendeurs révolues.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Letztendlich konnte ich mich nicht dazu durchringen, die Maske loszuwerden, und ich bereue es nicht. Dreißig Jahre sind vergangen. Heute, im Souvenirladen, der einst von der alten Eugénie Romani geführt wurde, deren Knochen schon lange in der Feuchtigkeit der Familiengruft schwarz geworden sind, begnügen sich die der perversen Lust der Touristen angebotenen Artefakte nicht mehr damit, hässlich und von schlechter Qualität zu sein: Sie übertreffen alles, was man sich an schamloser Infamie vorstellen kann, so sehr, dass sie im Vergleich zu T-Shirts mit Eseln, die von ekstatischen Pin-Ups umgeben sind, die am Strand Cocktails schlürfen, oder schwarzen Slips, die mit Aufschriften in großen weißen Versalien versehen sind, die die Größe ihres Inhalts anpreisen (die Philipp schamlos unter dem sehr durchsichtigen Vorwand verkauft, dass er lediglich von einer allgemeinen Debilität, für die er nicht verantwortlich gemacht werden kann, profitiert, während er sie aus persönlicher Sicht energisch missbilligt), im Vergleich dazu scheint die Totenmaske, die noch auf meinem Schreibtisch liegt, das elegante Überbleibsel einer Epoche längst vergangener Pracht zu sein.

Aber lesen wir genauer, so ist auch die Genealogie der korsischen Sippe als geschichtsvergessener Fake désavouiert, die Romani (sozusagen die Römer schlechthin) sind auf lächerliche Weise größenwahnsinnig, die lustvolle Groteske in der Begegnung mit dem erloschenen Heroen François Romani lässt sich auch als Satire auf großsprecherische Identitätsinszenierungen und Geschichtspolitiken der Gegenwart interpretieren:

Les Romani traversaient tous l’existence avec la douce certitude d’appartenir, depuis des temps immémoriaux, à une race élue de seigneurs – Philippe croyait ainsi avec la plus désarmante bonne foi que les quelques mégalithes grossiers constituant le misérable patrimoine archéologique de la région avaient été érigés, quand l’or scintillait déjà aux portes sculptées des palais de Mycènes, par ses lointains ancêtres, lesquels avaient certainement dû surgir dans toute leur gloire du sein même de la terre nourricière au lieu de se contenter, comme ceux du commun des mortels, de descendre plus modestement, couverts de loques et de poux, d’un rafiot ligure ou baléare échoué sur une plage. Le fait désolant que leurs premiers-nés mâles reçoivent systématiquement des prénoms de rois, d’empereurs ou de héros antiques est sans doute un symptôme particulièrement transparent de leur mégalomanie comme de leur absence totale de sens du ridicule : les Romani portant haut, et qui plus est fièrement, l’étendard de l’inculture, ils ignoraient évidemment tout de l’origine exacte des personnages, historiques ou légendaires, qui rendirent ces noms illustres et il ne leur parut jamais étrange, comme l’atteste leur grotesque généalogie, qu’un Hector pût engendrer un Achille, ou qu’Hamilcar fût le grand-père de Scipion – ce qui me permet d’affirmer, sans crainte d’un démenti, que l’heureuse séquence Philippe-Alexandre ne peut être que le fruit du hasard ou le résultat d’une intervention de Catalina. Rien ne put jamais ébranler la haute opinion qu’ils se faisaient d’eux-mêmes ; seul comptait ce qu’ils étaient, non ce qu’ils faisaient. Quelles que fussent leurs turpitudes, la supériorité de leur essence inaltérable les préservait du remords ou du déshonneur. On raconte ainsi qu’un grand-oncle de Philippe, François Romani – dont j’avais si peur, quand j’étais enfant, que je ne pouvais m’empêcher de le regarder avec une fascination morbide, immobile dans son haut fauteuil de velours pourpre au milieu de l’immense salon de la maison de famille, les doigts crispés sur les accoudoirs élimés, la faïence de ses yeux de poupée ouverts sur le vide effroyable et la bave coulant de sa bouche édentée sur la mâchoire pendante qu’une main ridée de vieille femme essuyait machinalement à intervalles réguliers à l’aide d’un mouchoir de dentelles tout raidi de crasse tandis que Philippe et moi tentions d’attendrir les gâteaux rassis de notre goûter en les laissant tremper dans nos bols de café au lait – on raconte donc que François, avant qu’une rupture d’anévrisme le cloue pour toujours à son fauteuil, avait pu mener une fière existence d’ivrogne professionnel sans que quiconque dans sa famille s’en offusquât ; il avait ainsi passé l’essentiel de son temps à se saouler dans tous les bars et cabarets de la ville, titubant d’un établissement à l’autre depuis la citadelle jusqu’au port, pissant à plein jet contre le mur de l’église en hurlant des insanités et finissant immanquablement par s’endormir à même le pavé, vautré dans ses propres vomissures, jusqu’à ce qu’une patronne de bordel compatissante ou un quelconque Samaritain le hisse tant bien que mal sur sa mule, penché sur l’encolure ou allongé en travers de l’échine comme un sac de farine, afin que la brave bête le ramène cuver chez lui jusqu’au lendemain soir. Si quiconque trouvait à redire au comportement de François ou évoquait pudiquement les notions de décence ou de dignité, sa mère se contentait de hausser les épaules avec mépris et disait seulement : on sait qui il est.

Jérôme Ferrari, Nord Sentinelle, 2024.

Die Romani lebten alle mit der süßen Gewissheit, dass sie seit Urzeiten einem auserwählten Herrschergeschlecht angehörten – so glaubte Philipp mit entwaffnender Leichtgläubigkeit, dass die wenigen groben Megalithen, die das armselige archäologische Erbe der Region ausmachen, von seinen entfernten Vorfahren errichtet worden waren, als das Gold bereits an den geschnitzten Türen der Paläste von Mykene glitzerte, die in ihrer ganzen Pracht aus dem Schoß der Mutter Erde hervorgegangen sein mussten, anstatt wie die gewöhnlichen Sterblichen zerlumpt und verlaust von einem ligurischen oder balearischen Schiff an den Strand gespült worden zu sein. Die traurige Tatsache, dass ihre männlichen Erstgeborenen systematisch nach Königen, Kaisern oder antiken Helden benannt werden, ist wohl ein besonders durchsichtiges Symptom ihres Größenwahns und ihres völligen Mangels an Sinn für Lächerlichkeit: Da die Romani das Banner der Unkultur hoch hielten und noch dazu stolz darauf waren, wussten sie natürlich nichts über die genaue Herkunft der historischen oder legendären Persönlichkeiten, die diese Namen berühmt machten, und es kam ihnen nie seltsam vor, wie ihre groteske Genealogie belegt, dass ein Hektor einen Achilles zeugen konnte, oder dass Hamilkar der Großvater von Scipio war – was mir erlaubt, ohne Angst vor Widerspruch zu behaupten, dass die glückliche Reihenfolge Philipp-Alexander nur das Ergebnis eines Zufalls oder das Ergebnis einer Intervention Catalinas sein kann. Nichts konnte jemals ihre hohe Meinung von sich selbst erschüttern; es zählte nur, wer sie waren, nicht, was sie taten. Welche Schandtaten sie auch begingen, die Überlegenheit ihres unveränderlichen Wesens bewahrte sie vor Reue oder Schande. So wird von einem Großonkel Philippes, François Romani, berichtet – vor dem ich mich als Kind so sehr fürchtete, dass ich nicht anders konnte, als ihn mit morbider Faszination zu betrachten, wie er reglos in seinem hohen purpurroten Samtsessel in der Mitte des riesigen Wohnzimmers des Familienhauses saß und seine Finger um die abgewetzten Armlehnen krallte, die Fayencen seiner Puppenaugen, die auf eine schreckliche Leere gerichtet waren, und der Geifer, der aus seinem zahnlosen Mund auf den herabhängenden Kiefer tropfte, den eine faltige alte Frauenhand in regelmäßigen Abständen mechanisch mit einem schmutzigen Spitzentaschentuch abwischte, während Philippe und ich versuchten, die altbackenen Kuchen unseres Snacks aufzuweichen, indem wir sie in unsere Schalen mit Milchkaffee tunken ließen – es wird also erzählt, dass François, bevor ihn ein geplatztes Aneurysma für immer an den Stuhl fesselte, ein stolzes Leben als Berufstrunkenbold geführt hatte, ohne dass jemand in seiner Familie etwas dagegen einzuwenden hatte; er hatte die meiste Zeit damit verbracht, sich in allen Bars und Kneipen der Stadt zu betrinken, war von der Zitadelle bis zum Hafen von einem Lokal zum nächsten getorkelt, hatte gegen die Kirchmauer gepisst, Unflätigkeiten gebrüllt und war schließlich unweigerlich auf dem Pflaster eingeschlafen, bis eine mitfühlende Bordellbesitzerin oder ein Samariter ihn auf ihr Maultier hievte, so gut es ging, auf den Hals oder quer über den Rücken wie einen Sack Mehl, damit das tapfere Tier ihn bis zum nächsten Abend nach Hause bringen konnte, um seinen Rausch auszuschlafen. Wenn jemand etwas an François‘ Verhalten auszusetzen hatte oder verschämt Begriffe wie Anstand oder Würde erwähnte, zuckte seine Mutter bloß verächtlich mit den Schultern und sagte nur: Wir wissen, wer er ist.

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. „afin que je lui apporte mon aide dans la gestion de son restaurant, ouvert sur les remparts surplombant le port d’une vieille ville fortifiée, que la lèpre du tourisme a dégradée en station balnéaire.“ Jérôme Ferrari, Le Principe, 2015.>>>
  2. „Ici, le journal ne publie jamais la photo des cadavres, surtout pas pendant la saison touristique.“ Jérôme Ferrari, Le Principe, 2015.>>>