Inhalt
Boualem Sansals jüngster Roman Vivre: le compte à rebours (Gallimard, 2024) erzählt eine dystopische Geschichte in einer apokalyptischen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass der Text voller Anspielungen auf die politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Algeriens ist. Durch seine metaphorische Erzählweise übt Sansal nicht nur Kritik an globalen Phänomenen wie Totalitarismus und Umweltzerstörung, sondern auch an spezifischen Missständen in seinem Heimatland. Angesichts des bevorstehenden Untergangs wird ein Raumschiff für vier Milliarden Passagiere als möglicher Retter der Menschheit eingeführt, der die Überlebenden vor einer unaufhaltsamen Katastrophe evakuieren könnte. Gleichzeitig steht das Raumschiff für Hoffnung und Flucht, aber ebenso für die Unmöglichkeit, den Folgen menschlicher Zerstörung zu entkommen. Es verweist auf die Sehnsucht nach Erlösung und einer neuen Existenz außerhalb der gegenwärtigen repressiven und chaotischen Realität. Die Idee, dass nur bestimmte „Berufene“ auf das Raumschiff gelangen dürfen, reflektiert die Willkür und Exklusivität autoritärer Machtstrukturen, die selektive Kontrolle über Leben und Tod ausüben:
— Si nous laissons la peur et l’intolérance posée comme dogme nous gouverner, personne n’embarquera, le vaisseau repartira vide, les musulmans ne veulent de personne, les juifs ne veulent pas des musulmans et de leurs amis, les Américains ne voudront pas des Chinois et de leurs clients et inversement, les Européens refuseront les Russes et vice versa, j’imagine que personne ne voudra des Africains, des Amérindiens, des Aborigènes, et de proche en proche on refusera les albinos, les mongoliens, les drogués, les handicapés, les LGBT++, les vieux, les repris de justice, etc. Si j’ai bien compté, cela représente 99,99 % de la population mondiale. À part les grands bouffis d’orgueil et les sataniques qui trouveront porte close devant eux, notre Seigneur ouvre ses bras et les portes du ciel à tous, aux croyants comme aux gentils, les petits, les pauvres, les malades, les possédés, les brigands, les fraudeurs et les prostituées. À tous, il sera pardonné. Les musulmans n’étaient pas nés en son temps mais Jésus les aurait pareillement accueillis, comme nous les accueillons aujourd’hui chez nous et les accueillerons demain dans notre nouvelle planète, y compris ceux qui se comportent mal avec nous, avec le temps et la force de nos prières, nous réussirons à en faire de vrais amis.
— C’est bel et bon tout ça, mais comment sélectionner, c’est de ça qu’on parle. La jauge du vaisseau est de quatre milliards de personnes au mieux.
— Nous demanderons aux gens de s’interroger en conscience et de décider entre eux qui partira et qui restera, l’homme sait aussi être altruiste et nos frères musulmans sauront l’être aussi, comme l’ont été le grand Saladin et le non moins immense émir Abdelkader, dont ils sauront sans doute s’inspirer.
Boualem Sansal, Vivre: Le compte à rebours (Gallimard, 2024).
– Wenn wir uns von Angst und Intoleranz regieren lassen, wird niemand an Bord gehen, das Schiff wird leer sein, die Muslime wollen niemanden, die Juden wollen die Muslime und ihre Freunde nicht, die Amerikaner werden die Chinesen und ihre Kunden nicht wollen und umgekehrt, die Europäer werden die Russen ablehnen und umgekehrt, ich nehme an, dass niemand die Afrikaner, die Ureinwohner Amerikas, die Aborigines haben will, und von einem zum anderen wird man Albinos, Mongoloide, Drogenabhängige, Behinderte, LGBT++, Alte, Strafgefangene usw. ablehnen. Wenn ich richtig gezählt habe, sind das 99,99 Prozent der Weltbevölkerung. Abgesehen von den aufgeblasenen Großen und den teuflischen Menschen, die vor verschlossenen Türen stehen werden, öffnet unser Herr seine Arme und die Tore des Himmels für alle, für Gläubige und Nicht-Gläubige, für die Kleinen, die Armen, die Kranken, die Besessenen, die Räuber, die Betrüger und die Prostituierten. Allen wird vergeben werden. Die Muslime wurden nicht zur Zeit Jesu geboren, aber er hätte sie genauso aufgenommen, so wie wir sie heute bei uns aufnehmen und sie morgen auf unserem neuen Planeten aufnehmen werden, auch diejenigen, die sich uns gegenüber schlecht benehmen, mit der Zeit und der Kraft unserer Gebete werden wir es schaffen, sie zu wahren Freunden zu machen.
– Das ist alles schön und gut, aber wie man auswählt, davon reden wir hier. Das Raumschiff hat eine Kapazität von vier Milliarden Menschen.
– Wir werden die Menschen bitten, ihr eigenes Gewissen zu befragen und gemeinsam zu entscheiden, wer geht und wer bleibt. Der Mensch kann auch altruistisch sein, und unsere muslimischen Brüder werden es auch sein, wie es der große Saladin und der nicht weniger immense Emir Abd el-Kader waren, von denen sie sich zweifellos inspirieren lassen werden.
Die Festnahme des Schriftstellers Boualem Sansal in Algerien am 16. November 2024 sorgt international für Aufsehen und stellt ein weiteres Kapitel in den angespannten Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich dar. Der 75-jährige Sansal, der auch in Deutschland als streitbarer Intellektueller und Kritiker des algerischen Regimes mit seinen Büchern bekannt ist – nicht zuletzt durch das nachhaltige Engagement des Merlin-Verlags –, wurde kurz nach seiner Ankunft am Flughafen von zivilen Sicherheitskräften verhaftet und wird seither festgehalten. Der Vorwurf lautet, er habe durch seine Äußerungen die „Einheit der Nation“ sowie die „territoriale Integrität Algeriens“ gefährdet – Anschuldigungen, die im schlimmsten Fall eine lebenslange Haftstrafe nach sich ziehen könnten. Sansal, bekannt für seine unerschütterliche Kritik an Korruption und Islamismus, hat sich als Schriftsteller einen Namen gemacht, der weder Kompromisse noch Selbstzensur kennt. Seit seinem literarischen Durchbruch mit Le serment des barbares (1999) ist er eine zentrale Figur des intellektuellen Widerstands. Sansal ist jedoch auch außerhalb der Literatur aktiv und äußert sich regelmäßig zu politischen und historischen Themen. Seine jüngsten Aussagen über die historischen Grenzen Algeriens – insbesondere die Behauptung, westliche Regionen des Landes hätten historisch zu Marokko gehört – wurden von der algerischen Regierung als Provokation und revisionistisch aufgefasst.
Zur Algerienkritik in Sansals Werk
Boualem Sansal setzt sich in seinen Werken seit gut einem Vierteljahrhundert intensiv mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Missständen Algeriens auseinander. Seine Romane und Essays analysieren scharf die algerische Realität, insbesondere Korruption, Totalitarismus und den Einfluss des Islamismus. In seinem Debütroman Le Serment des barbares (1999) beschreibt Sansal die Auswirkungen von Korruption und religiösem Fanatismus in Algerien. Der Roman spielt nach dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre und erzählt von einem Ermittler, der den Mord an einem algerischen Geschäftsmann aufklärt. Dabei wird ein Netzwerk aus politischer Korruption und Gewalt enthüllt. Sansal kritisiert in diesem Werk die zersetzende Rolle des Staates und die fehlende Gerechtigkeit. – In Dis-moi le paradis (2003) verwebt Sansal eine fiktive Erzählung mit Reflexionen über den Zustand Algeriens. Der Protagonist, ein Archäologe, reist durch das Land und beobachtet die Zerstörung des kulturellen und sozialen Erbes. Hier klagt Sansal an, dass Algerien seine Identität und seine Geschichte durch Vetternwirtschaft und politische Unterdrückung verliert. – Im Roman Le Village de l’Allemand ou le journal des frères Schiller (2008) verarbeitet Sansal die Themen Gewalt und Schuld in Algerien und verbindet sie mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus. Zwei Brüder entdecken, dass ihr Vater ein ehemaliger SS-Offizier war, und setzen sich mit den Parallelen zwischen totalitären Regimen in Deutschland und Algerien auseinander. Sansal kritisiert so den autoritären Charakter des algerischen Regimes und dessen Gewaltkultur. – Im Essay Gouverner au nom d’Allah (2013) analysiert Sansal die politische und gesellschaftliche Macht des Islamismus in Algerien. Er warnt vor der Zunahme radikaler Strömungen und zeigt, wie diese die Demokratie und die Rechte der Bürger untergraben. Seine Kritik ist explizit und richtet sich gegen die politische Instrumentalisierung der Religion. – In der dystopischen Allegorie 2084: La fin du monde (2015), inspiriert von George Orwells 1984, entwirft Sansal eine totalitäre Welt, in der eine theokratische Diktatur herrscht. Die Parallelen zu Algerien sind unverkennbar: Sansal prangert die Verquickung von Macht und Religion an und beschreibt die Auswirkungen eines repressiven Systems auf die Gesellschaft. – Im Dialog mit Boris Cyrulnik in L’Impossible Paix en Méditerranée (2017) diskutiert Sansal die politischen Spannungen und historischen Konflikte in der Mittelmeerregion. Algeriens isolierte und konfliktreiche Position wird hier als Hemmnis für regionale Stabilität beschrieben. – In der autobiografischen Reflexion Mon Algérie (2021) beschreibt Sansal seine Heimat als ein Land, das von Korruption und Misswirtschaft geprägt ist. Er verurteilt die historische Instrumentalisierung der Unabhängigkeitsbewegung und die mangelnde Bereitschaft des Regimes, sich der Wahrheit zu stellen. Sansal schreibt: „Die politische Klasse hat das Land in Geiselhaft genommen und die Träume der Menschen zerstört.“ Boualem Sansal legt in seinem Werk die Missstände seiner Heimat offen und fordert Aufklärung, Freiheit und Gerechtigkeit.
In den jüngeren Essays wird die Algerienkritik zunehmend mit einer universalistischen Perspektive verbunden: In France-Algérie, résilience et réconciliation en Méditerranée (2020) übt Sansal Kritik an Algeriens Weigerung, seine eigene Rolle in der Geschichte zu reflektieren, und an der Nutzung des kolonialen Narrativs zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen; er untersucht hierbei die komplexen und oft belasteten Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich und plädiert für eine ehrliche Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und eine Versöhnung auf Augenhöhe. Im Essay Où va la France ? (2021) wendet Sansal sich aber auch kritisch an Frankreich, zugleich weiterhin an Algerien. Er beschreibt die Auswirkungen der Migration und der unaufgearbeiteten Kolonialgeschichte auf die Identität beider Länder. Sansals Lettre d’amitié, de respect et de mise en garde aux peuples et aux nations de la terre (2021) mahnt Algerien, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen und aus seiner Isolation auszubrechen; der Brief kann als universeller Appell für Frieden und gegenseitigen Respekt verstanden werden, der Algerien als ein Beispiel für ein Land nennt, das sich aufgrund von Korruption und Missmanagement selbst isoliert. Der Essay Le français, parlons-en ! (2024) übt subtile Kritik an der algerischen Ablehnung der französischen Sprache, die als ideologische Waffe eingesetzt wird, obwohl sie kulturell und historisch tief verwurzelt ist. Zugleich ist Sansals Essay ein Plädoyer für die Bedeutung der französischen Sprache und ihre Rolle als Kulturgut. Er nutzt die Sprache als Symbol für die komplexen, oft widersprüchlichen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. In dem Buch L’humain au centre du monde – Pour un humanisme des temps présents et à venir. Contre les nouveaux obscurantismes (2024), herausgegeben von Daniel Salvatore Schiffer, ist Boualem Sansal mit einem Beitrag vertreten. Hier erweist er seine kontinuierliche Beschäftigung mit den Themen Freiheit, Gerechtigkeit und Humanismus. Während Algerien nicht explizit im Fokus steht, schwingt seine Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen seines Heimatlandes im Kontext der „neuen Obskurantismen“ deutlich mit. Das Werk kann daher als Erweiterung seiner bekannten Positionen verstanden werden, die Algeriens Herausforderungen in einen globalen Diskurs einbetten. Sansal prangert die Wiederkehr von Obskurantismus und Fanatismus in verschiedenen Teilen der Welt an, einschließlich Algerien. Er setzt sich kritisch mit der Rolle auseinander, die autoritäre Regime und die Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke spielen, und sieht darin eine Gefahr für die Menschlichkeit und den Fortschritt. Diese Thematik greift auch Algerien auf, das er in früheren Essays als Beispiel für die problematische Verbindung von Politik und Islamismus angeführt hat. Sansal plädiert für einen erneuerten Humanismus, der auf Freiheit, Dialog und kritischem Denken basiert. Diese Position steht in direktem Kontrast zu den repressiven Strukturen, die er in Algerien erlebt und kritisiert hat. Seine Forderung nach einer „Wiederzentrierung auf das Menschliche“ kann auch als impliziter Appell an Algerien verstanden werden, die Würde des Einzelnen und die Meinungsfreiheit zu respektieren. Obwohl der Beitrag Algerien nicht explizit in den Vordergrund stellt, verweist Sansals Ansatz, die „neuen Obskurantismen“ weltweit zu analysieren, auf Parallelen zur algerischen Realität. Seine Kritik an fehlender Transparenz, Korruption und ideologischer Unterdrückung ist universell formuliert, aber auch tief in seiner persönlichen Erfahrung mit dem algerischen Regime verwurzelt.
Zur Festnahme und den Reaktionen
Die Festnahme von Boualem Sansal fällt in eine Phase verschärfter Spannungen zwischen Algerien und Frankreich. Im Sommer 2024 erkannte Frankreich die Souveränität Marokkos über das umstrittene Gebiet der Westsahara an – eine Entscheidung, die Algerien als Affront wertete. Sansals Erklärungen zu den historischen Grenzen scheinen diese Konflikte weiter befeuert zu haben. Zusätzlich wird die Verhaftung von Sansal als Machtdemonstration des algerischen Militärs unter General Saïd Changriha interpretiert, der zunehmend autoritäre Züge zeigt. Sansal, der im Jahr 2024 die französische Staatsbürgerschaft annahm, ist seit Jahren eine Zielscheibe des algerischen Regimes. Seine Werke, obwohl international gefeiert, werden in seiner Heimat kritisch beäugt. Bereits 2014 löste seine Reise nach Israel in Algerien massive Kritik aus. Seine Verhaftung verdeutlicht die wachsenden Spannungen zwischen staatlicher Zensur und dem Streben nach intellektueller Freiheit.
Die Festnahme löste weltweit Empörung aus, insbesondere in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron äußerte sich „zutiefst besorgt“ und erklärte, die französische Regierung sei aktiv daran, die Situation zu klären. Kollegen wie Kamel Daoud, selbst ein prominenter Kritiker des algerischen Regimes, beschreiben Sansal als „die Stimme der Freiheit, die das algerische Volk nicht verlieren darf.“ Neben prominenten Intellektuellen der Frankophonie wie Leïla Slimani, Yasmina Khadra und Tahar Ben Jelloun haben weitere Persönlichkeiten und Institutionen Solidarität mit Boualem Sansal bekundet und seine Freilassung gefordert. Gallimard, Sansals Verlag, veröffentlichte einen offiziellen Aufruf zur „sofortigen Freilassung“ des Autors und brachte seine „tiefste Besorgnis“ über die Lage des Schriftstellers zum Ausdruck. PEN International forderte ebenfalls die Freilassung von Sansal und warnte vor der Zunahme von Repressionen gegen Intellektuelle in Algerien. „Die Festnahme von Boualem Sansal ist nicht nur ein Angriff auf die Freiheit eines herausragenden Schriftstellers, sondern auf die Meinungsfreiheit insgesamt“, so Najem Wali, Vizepräsident des PEN-Zentrums Deutschland und Writers-in-Prison-Beauftragter. „Boualem Sansal hat stets den Mut bewiesen, Missstände offen anzusprechen und die dunklen Kapitel der algerischen Geschichte zu beleuchten. Sein Schweigen unter Zwang darf nicht zum Symbol einer schleichenden Unterdrückung der Meinungsfreiheit werden.”
Die Festnahme von Sansal steht symbolisch für die langjährigen Spannungen zwischen Algerien und Frankreich, die tief in der Kolonialgeschichte verwurzelt sind. Sie wirft erneut ein Licht auf die systematischen Repressionen in Algerien gegen kritische Stimmen und verschärft die ohnehin angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
Sansals Vivre (2024): Algerienkritik in einem dystopischen Countdown
Die Handlung von Vivre ist in Form eines Countdowns strukturiert – eine numerische Abfolge von Tagen, die die Leser auf ein ungewisses, schicksalhaftes Ereignis hinführt. Diese Struktur könnte nicht zuletzt als Symbol für die Unsicherheit und den Stillstand verstanden werden, die in der algerischen Gesellschaft vorherrschen. Das wiederkehrende Motiv des „Wartens auf eine Katastrophe“ spiegelt das Gefühl wider, dass sich in Algerien seit Jahrzehnten wenig bewegt, während die Probleme – Korruption, Arbeitslosigkeit und politische Unterdrückung – weiterhin ungelöst bleiben. Im Roman fühlt sich der Protagonist zunehmend isoliert, während er Hinweise auf ein drohendes globales Ereignis zu entschlüsseln versucht. Diese Isolation mag als Metapher für Algeriens politische und kulturelle Position gesehen werden. Das Land, das einst für seine revolutionäre Befreiung gefeiert wurde, ist in der internationalen Gemeinschaft zunehmend isoliert, insbesondere durch seine autoritären Strukturen und die mangelnde Meinungsfreiheit. Gleichzeitig wird die Überwachung durch „höhere Mächte“ im Roman angedeutet, ein mögliches Echo auf die Allgegenwart staatlicher Kontrolle in Algerien.
Der Roman beschreibt wie in den früheren islamismuskritischen Büchern eine Welt, in der religiöse Symbolik und mystische Elemente verwendet werden, um die Menschen zu kontrollieren. Diese narrative Entscheidung kann als Anspielung auf die Art und Weise verstanden werden, wie religiöse Rhetorik in Algerien politisiert und zur Legitimierung repressiver Maßnahmen eingesetzt wird. In Vivre wird mehrfach betont, wie wichtig das Bewahren von Erinnerungen ist. Eine zentrale Passage lautet: „Oublier, c’est vivre comme un mort qui s’ignore“ („Vergessen heißt, wie ein toter Mensch zu leben, der von sich nicht weiß“). Dies lässt sich auch lesen als Kommentar zu Algeriens Umgang mit seiner kolonialen und postkolonialen Geschichte. Das Regime wird kritisiert, weil es die Unabhängigkeitsbewegung glorifiziert, während es gleichzeitig versäumt, sich mit den internen Konflikten und den Fehlern der Revolution auseinanderzusetzen. Der Roman mahnt an, dass ohne ehrliche Geschichtsaufarbeitung keine wahre Erneuerung möglich ist.
Ein wiederkehrendes Motiv in Vivre ist die Unsichtbarkeit der Wahrheit. Der Protagonist jagt Symbolen und Zeichen nach, ohne je zu einer endgültigen Erkenntnis zu gelangen. Diese Darstellung kann u.a. auch als Allegorie auf die systematische Desinformation und den Mangel an Transparenz in Algerien gesehen werden. Indem das Regime Kritiker wie Sansal oder Kamel Daoud zum Schweigen bringt, schafft es ein Umfeld, in dem Wahrheit nicht nur schwer zugänglich ist, sondern aktiv unterdrückt wird. Die intellektuellen Figuren in Vivre kämpfen darum, Gehör zu finden und Sinn in einer Welt zu stiften, die auf den Abgrund zusteuert. Dies spiegelt gewissermaßen Sansals eigenes Schicksal wider, der in Algerien als literarischer Dissident angesehen wird. Seine Protagonisten sind oft verlorene Seelen, die versuchen, gegen die Monotonie und die Lethargie eines unterdrückenden Systems anzukämpfen – ein Thema, das in der Realität zahlreiche Intellektuelle betrifft, die sich mit der Zensur und dem Mangel an Meinungsfreiheit in Algerien konfrontiert sehen.
Obwohl Vivre eine globale Dystopie beschreibt, sind die beschriebenen Missstände in einer möglichen Lesart an die politische Realität Algeriens angelehnt. Der „J-780“-Countdown kann als Sinnbild für das Gefühl verstanden werden, dass das Land auf eine Krise zusteuert, ohne einen klaren Ausweg oder eine Vision für die Zukunft zu haben. Die apokalyptische Stimmung im Roman korrespondiert mit der anhaltenden Frustration vieler Algerierinnen und Algerier über die politischen und wirtschaftlichen Sackgassen des Landes. Boualem Sansals Vivre ist demnach weit mehr als ein dystopischer Science-Fiction-Roman. Durch subtile Anspielungen und universelle Themen wie Isolation, Kontrollverlust und die Suche nach Wahrheit formuliert Sansal eine beißende Kritik an Algeriens politischer und gesellschaftlicher Realität. Der Roman ist insofern auch eine Mahnung, dass ohne Freiheit, Transparenz und eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit keine Zukunft möglich ist – weder für Algerien noch für die übrige Welt.
Angesichts der Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal lesen wir den Roman Vivre freilich dringlicher: Hier werden indirekt Themen wie Festnahmen und staatliche Repression angesprochen, jedoch oft in einem metaphorischen oder dystopischen Kontext. Es gibt mehrere Passagen, die auf den Verlust individueller Freiheiten und die Macht autoritärer Regime hinweisen, was als Anspielung auf reale Verhältnisse in Algerien interpretiert werden kann. In Vivre wird die Idee des Gefangenseins auf verschiedenen Ebenen dargestellt. Der Protagonist fühlt sich zunehmend isoliert und überwacht, was als Symbol für die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die allgegenwärtige staatliche Kontrolle gelesen werden kann; diese „Gefangenschaft“ erinnert an die systematischen Repressionen, denen politische Dissidenten und Intellektuelle in Algerien ausgesetzt sind. Im Verlauf des Romans wird immer wieder erzählt, wie der Protagonist Zeichen und Symbole zu entschlüsseln versucht, während er von einer unsichtbaren Macht beobachtet wird. Diese narrative Entscheidung spiegelt die Überwachungsmechanismen wider, die in autoritären Regimen oft eingesetzt werden, um Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Die „unsichtbare Macht“ im Roman könnte als Allegorie für die algerischen Sicherheitsdienste oder andere repressiven staatlichen Institutionen interpretiert werden. Das Rettung versprechende Raumschiff ist klar mit der Verurteilung von Verbrechern und Diktatoren verknüpft:
On aurait dit que le monde entier n’attendait que ça, être sauvé, partir dans les étoiles. La Terre serait-elle à ce point invivable que les gens sautent à pieds joints dans la première soucoupe qui passe ? Ça donnait à réfléchir. Merveilleux internautes, ils n’ont pas hésité une seconde, adieu confort loisir télé et ruine de l’âme, adieu métro boulot dodo impôt, adieu ce monde circulaire où on dépense son salaire jusqu’au dernier sou en carburant pour aller au diable vauvert gagner durement ledit salaire. Les questions arrivaient par paquets de mille, ils voulaient vite savoir où s’inscrire, s’il y avait quelque chose à payer, où embarquer, quels bagages prendre, quels vaccins étaient exigés, quel masque porter, qui est le sauveur, d’où venait-il, dans quelle galaxie ils seraient déposés, seraient-ils hébergés chez l’habitant le temps de se construire une cabane dans les bois, etc. Des capitalistes, des entreprises, des courtiers se sont proposés d’investir dans l’affaire. Trois à quatre milliards de personnes captives à informer, coacher, rassembler, nourrir, vêtir, soigner, distraire durant le voyage galactique, à équiper en moyens de survie à l’arrivée, c’était le jackpot pour les marchands de bien-être. Ils voulaient des baux emphytéotiques de mille ans sur un quart du vaisseau pour stocker leurs marchandises et un autre quart bien situé pour installer leurs boutiques. Ne parlons pas des autres internautes, les négatifs, les nauséabonds, les rats d’égout, les serpents venimeux, ils ne méritent que silence et haussements d’épaules, ils insultent, ricanent, ils suggèrent d’appeler l’asile des fous, les pompiers, la police des étoiles. Ces gens n’aident en rien, ne servent à rien, sabotent tout. Dans mes équations de correction des échantillons représentatifs, j’introduirai à leur intention un virus de mon invention qui va les refroidir au sens médico-légal du terme. On ne va quand même pas embarquer des morts et les côtoyer mille années durant. Nous demanderons aux Élus de faire le ménage eux-mêmes, avant embarquement, comme ils l’auraient fait, il y a belle lurette, s’ils en avaient eu le pouvoir et le courage. Ils sauront que le vaisseau les couvrira de sa formidable puissance de feu. Allez, ouste, les dictateurs, les usurpateurs, les mafieux, les crapulards, l’avenir appartient aux gens de bien. Tiens, je crois que c’est ça la bonne définition de cet objet non identifié qu’est l’humanité, que je cherche depuis des années : l’humanité, ce sont ces gens de bien qui, vaille que vaille, assurent le service de la vie.
Supprimer les vauriens n’est pas renier notre résolution de neutralité dans la sélection, c’est faire les bons ajustements pour constituer des échantillons représentatifs sérieux, garants d’une société harmonieuse stable. Et puis charbonnier est maître en sa demeure, on fera pour le mieux si on ne sait pas faire bien. Je pense que ce grand voyage d’un millénaire, qui sent son millénarisme, est l’occasion unique pour les peuples de se débarrasser des malfaisants qui abîment leur vie et leur planète et d’apprendre à se libérer de l’esprit de soumission qui les habite depuis les origines. Ce sera l’occasion d’un grand ménage de printemps. L’idée est de partir l’esprit libre et le cœur léger, au bout est le grand saut dans les merveilles infinies de l’Univers.
Boualem Sansal, Vivre: Le compte à rebours (Gallimard, 2024).
Es schien, als hätte die ganze Welt nur darauf gewartet, gerettet zu werden und zu den Sternen zu fliegen. Wäre die Erde so unlebbar, dass die Menschen einfach in die nächstbeste Untertasse springen würden? Das gab zu denken. Wunderbare Internetnutzer, sie zögerten keine Sekunde, adieu Komfort Freizeit Fernsehen und Zerfall der Seele, adieu Metro Arbeit Schlaf Steuer, adieu kreisförmige Welt, in der man sein Gehalt bis auf den letzten Cent für Treibstoff ausgibt, um zum Teufel zu gehen, um sich das besagte Gehalt hart zu verdienen. Die Fragen kamen in Scharen, sie wollten schnell wissen, wo sie sich anmelden sollten, ob sie etwas bezahlen müssten, wo sie einsteigen sollten, welches Gepäck sie mitnehmen sollten, welche Impfungen erforderlich waren, welche Maske sie tragen sollten, wer der Retter sei, woher er komme, in welcher Galaxie sie abgesetzt würden, ob sie bei Einheimischen unterkommen würden, bis sie sich eine Hütte im Wald gebaut hätten, und so weiter. Kapitalisten, Unternehmen und Broker boten sich an, in das Geschäft zu investieren. Drei bis vier Milliarden Menschen in Gefangenschaft, die während der galaktischen Reise informiert, gecoacht, gesammelt, ernährt, gekleidet, gepflegt, unterhalten und bei der Ankunft mit Überlebensmitteln ausgestattet werden sollten – das war der Jackpot für die Wohlstandshändler. Sie wollten tausendjährige Erbpachtverträge über ein Viertel des Schiffes, um ihre Waren zu lagern, und ein weiteres Viertel in guter Lage, um ihre Läden einzurichten. Reden wir nicht von den anderen Internetnutzern, den negativen, den stinkenden, den Kanalratten, den Giftschlangen, sie verdienen nichts als Schweigen und Schulterzucken, sie beleidigen, sind hämisch, sie schlagen vor, das Irrenhaus, die Feuerwehr oder die Sternenpolizei zu rufen. Diese Leute helfen nicht, sind zu nichts nütze, sabotieren alles. In meine Gleichungen zur Korrektur repräsentativer Stichproben werde ich für sie einen von mir erfundenen Virus einbauen, der sie im forensischen Sinne des Wortes kaltstellen wird. Wir können doch nicht einfach Tote an Bord nehmen und tausend Jahre lang mit ihnen leben. Wir werden die Auserwählten bitten, vor dem Onboarding selbst aufzuräumen, so wie sie es schon vor langer Zeit getan hätten, wenn sie die Macht und den Mut dazu gehabt hätten. Sie werden wissen, dass das Schiff sie mit seiner gewaltigen Feuerkraft eindecken wird. Husch, husch, Diktatoren, Usurpatoren, Mafiosi, Schurken – die Zukunft gehört den guten Menschen. Hier, ich glaube, das ist die richtige Definition dieses unidentifizierten Objekts namens Menschheit, nach der ich seit Jahren suche: Die Menschheit sind die guten Menschen, die, was auch immer sie tun, den Dienst am Leben gewährleisten.
Die Abschaffung der Schurken bedeutet nicht, dass wir unseren Vorsatz der Neutralität bei der Auswahl verleugnen, sondern dass wir die richtigen Anpassungen vornehmen, um seriöse repräsentative Stichproben zu bilden, die eine stabile harmonische Gesellschaft garantieren. Außerdem ist man Herr im eigenen Haus, wir werden das Beste tun, wenn wir es nicht gut tun können. Ich denke, dass diese große Reise eines Jahrtausends, die nach seinem Millenarismus riecht, eine einmalige Gelegenheit für die Völker ist, sich von den Übeltätern zu befreien, die ihr Leben und ihren Planeten schädigen, und zu lernen, sich von dem Geist der Unterwerfung zu befreien, der ihnen seit den Ursprüngen innewohnt. Dies wird die Gelegenheit für einen großen Frühjahrsputz sein. Die Idee ist, mit einem freien Geist und einem leichten Herzen aufzubrechen, denn am Ende steht der große Sprung in die unendlichen Wunder des Universums.
Der im Roman zentrale Countdown – J-780 bis J-0 – erzeugt eine Atmosphäre von Zwang und Unvermeidlichkeit. Der Protagonist fühlt sich von dieser mysteriösen Zeitrechnung „festgesetzt“ und unfähig, ihr zu entkommen. Dies können wir auch als Hinweis auf die allgegenwärtige Macht des Staates lesen, der durch seine repressiven Mechanismen das Leben seiner Bürger kontrolliert. Direkte Beschreibungen von Festnahmen, wie sie etwa bei Sansals eigener Verhaftung oder bei Dissidenten in Algerien vorkommen, fehlen im Roman. Doch die geschilderten Bedingungen – Unsicherheit, Angst und der Verlust persönlicher Freiheiten – erinnern stark an die Erfahrungen von Menschen, die in repressiven Systemen leben. Der Roman beschreibt metaphorisch, wie eine unsichtbare Hand in das Leben der Figuren eingreift, was sich ebenso auf reale Repressionen anwenden lässt.
Sansals Festnahme zeigt, wie eng Literatur und Politik verflochten sein können und wie ein Schriftsteller zur Symbolfigur im Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit wird. Die Welt blickt nun auf Algerien und fordert: Freiheit für Boualem Sansal.
Nachtrag: Algeriens Reaktion nach dem Goncourtpreis für Kamel Daoud
Die Verleihung des renommierten Prix Goncourt 2024 an den algerisch-französischen Schriftsteller Kamel Daoud für seinen Roman Houris (vgl. den Artikel in diesem Blog) hat in Algerien scharfe Reaktionen ausgelöst, sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Laut Berichten wurden staatsnahe Medien angewiesen, über den literarischen Erfolg nur am Rande zu berichten oder ihn ganz zu verschweigen. Einige regierungsfreundliche Stimmen warfen Daoud vor, sein literarischer Erfolg sei ein Ergebnis seiner Nähe zu Frankreich, das Algerien immer wieder kritisiere. Der Preis wurde als Teil einer „kulturellen Agenda“ interpretiert, die darauf abziele, algerische Dissidenten aufzuwerten und das Land international zu diffamieren. Zusätzlich ist Daoud Ziel einer Verleumdungskampagne. Staatsnahe Medien und regierungsfreundliche Kommentatoren beschuldigten ihn, Algerien und dessen Gesellschaft wiederholt in seinen Werken zu diffamieren. Eine besonders umstrittene Passage in Houris, die die Rolle der Religion in der Gesellschaft kritisch beleuchtet, wurde als „Angriff auf die algerische Identität“ interpretiert.
Während einige Intellektuelle und Literaturliebhaber in Algerien Daouds Erfolg als Grund zu nationalem Stolz feierten, blieb die breite gesellschaftliche Reaktion eher verhalten. Die zunehmende Polarisierung zwischen liberalen Intellektuellen und konservativen Kreisen trug dazu bei, dass die Diskussionen um Daoud stark politisiert wurden. Für die jüngere Generation, die sich zunehmend über soziale Medien informiert, wurde der Preis jedoch als Erfolg eines algerischen Schriftstellers betrachtet, unabhängig von seiner Kritik am Regime. Die negative Reaktion des algerischen Regimes auf Daouds Goncourt-Erfolg reiht sich in eine Reihe von Spannungen zwischen der algerischen Regierung und kritischen Intellektuellen ein. Ähnlich wie Boualem Sansal wird auch Daoud für seine ungeschönten Darstellungen von Korruption, Machtmissbrauch und gesellschaftlicher Stagnation angefeindet. Beide Autoren stehen exemplarisch für eine neue Generation von algerischen Schriftstellern, die die Widersprüche und Missstände ihrer Heimat thematisieren und dafür international gefeiert, zu Hause jedoch angefeindet werden. Der Goncourt-Preis für Kamel Daoud hat die ohnehin belasteten Beziehungen zwischen der algerischen Regierung und kritischen Stimmen weiter verschärft. Algerien zeigt sich auch hier unfähig, sich mit den literarisch-intellektuellen Stimmen der eigenen Diaspora auseinanderzusetzen.