Inhalt
Ein anderes Paris
Et par autant qu’à cette nouvelle imposition du nom tous les assistants jurèrent chacun les saints de sa paroisse : les Parisiens, qui sont faits de toutes gens et toutes pièces, sont par nature et bons jureurs et bons juristes, et quelque peu outrecuidés. Dont estime Joaninus de Barranco, libro, de copiositate reverentiarum, que sont dits Parrhésiens en grécisme, c’est-à-dire fiers en parler.
François Rabelais, Gargantua (1542, version modernisée), „Comment Gargantua paya sa bienvenue ès Parisiens, et comment il prit les grosses cloches de l’église Notre-Dame. Chapitre 17“.
Und weil bei dieser neuen Auferlegung des Namens alle Anwesenden jeder auf die Heiligen seiner Gemeinde schworen: Die Pariser, die aus allen Leuten und allen Teilen gemacht sind, sind von Natur aus gute Schwurleute und gute Juristen, und etwas übermütig. Dazu meint Joaninus de Barranco, libro, de copiositate reverentiarum, dass sie Parrhesianer genannt werden, gräzisierend heißt das, im Sprechen stolz.
Philippe Bordas’ Roman Les Parrhésiens (2025) ist eine Hommage an die alten „Parrhésiens“ – jene Pariser, die Rabelais zufolge die Gabe der freien Rede (parrhêsia) mit dem Mut verbanden, alles auszusprechen. Bordas’ Erzähler entdeckt diese ausgestorben geglaubte Spezies in einer verlassenen Turnhalle am Boulevard Montparnasse wieder. Die Begegnung mit diesen wortgewaltigen, körperlich deformierten, aber heroisch auftretenden Männern wird zur literarischen Urszene: Ein sozialer Abstieg, ein körperlicher Aufstieg, eine poetische Wiedergeburt. In der Konfrontation mit der Pariser Marginalität inszeniert Bordas eine Poetik der „parrhêsia“ – widerständig, archaisch, körperlich, ekstatisch. Bordas‘ jüngstes Buch ist ein Werk von seltener stilistischer Radikalität – als Erzählung, Poem, sozialkritische Allegorie und essayistische Selbstreflexion überschreitet das Buch alle Gattungsgrenzen.
Von der ersten Seite an ist Paris kein Hintergrund, sondern ein Organismus: atmend, schwitzend, alternd. Der Erzähler lebt über dem Friedhof Montparnasse, in einem „belvédère à vertiges“, und blickt auf ein Paris, das sich seiner Auflösung entgegen neigt. Diese Stadt lebt – aber anders als das klischeehafte Paris der Romane, Filme und Reiseführer. Sie lebt als „corps malade“, als Körper, der von Gentrifizierung, Sprachverfall und sozialer Entwurzelung befallen ist. Dennoch trägt sie Spuren eines alten Lebens, das wieder aufflackert: in den Stimmen der „Parrhésiens“, in den Bewegungen der Körper, in der Gewalt der Rede. Die Beschreibung der Straßen, Viertel, Kreuzungen – von Vavin über Raspail bis Froidevaux – folgt keiner touristischen Logik, sondern einer subjektiven Psychogeographie. Die Turnhalle am Boulevard Montparnasse wird zur Höhle, zum Uterus, zur Grabkammer – eine Gegenfigur zur Stadt des Geldes, des Glases, der Logos. Hier erscheinen die letzten „vrais Parisiens“, nicht als Stadtbürger, sondern als urbane Sagengestalten.
Rabelais nommait Parrhésiens les vrais Parisiens, ceux dotés de la forte parole et du courage de tout jeter à la face d’autrui.
Il fut un temps, pas si lointain, où les habitants de Paris ne parlaient pas le français actuel, si exsangue et dilué, mais cette langue de forte sève célébrée par Rabelais.
Ces spécimens d’ancienne roche avaient vu le jour dans les quartiers populaires et grandi sur les berges de Seine.
D’année en année, la hausse des loyers les avait repoussés aux banlieues limitrophes, boutés hors des beaux immeubles où s’étaient installés de nouveaux venus, riches en capitaux, mais de pauvre langage.
Un jour, par hasard, alors que je pensais ces Parrhésiens disparus à jamais et leur langue évanouie pour toujours, j’avais découvert, dans une ruelle de Montparnasse, un repaire de grandes gueules et de crache-feu où les vieux bisons revenaient à la nuit tombée, tels les zombies sortis de terre des films de John Carpenter.
Philippe Bordas, Parrhésiens, Gallimard, 2025.
Rabelais nannte die wahren Pariser Parrhésiens, die mit einem starken Wort und dem Mut, anderen alles ins Gesicht zu werfen, ausgestattet sind.
Es gab eine nicht allzu ferne Zeit, in der die Einwohner von Paris nicht das heutige, so blutleere und verwässerte Französisch sprachen, sondern die von Rabelais gefeierte Sprache des starken Saftes.
Diese Exemplare aus altem Schrot und Korn waren in den Arbeitervierteln entstanden und an den Ufern der Seine gewachsen.
Die steigenden Mieten drängten sie Jahr für Jahr in die Vorstädte und aus den schönen Gebäuden, in die kapitalstarke, aber sprachlich minderbemittelte Neuankömmlinge eingezogen waren.
Eines Tages, als ich dachte, die Parrhesier seien für immer verschwunden und ihre Sprache für immer verblasst, entdeckte ich zufällig in einer Gasse in Montparnasse einen Hort der Großmäuler und Feuerspucker, in den die alten Büffel nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, wie die aus der Erde aufgestiegenen Zombies in den Filmen von John Carpenter.
Im Zentrum von Bordas’ Roman steht eine grundlegend andere Vorstellung von Paris. Es ist nicht das Paris der Postkarten, der Belle Époque oder der touristischen Homogenisierung, sondern ein „Paris-Boum-Boum“ – ein explosiver Ort der sozialen wie sprachlichen Reibung. Die „Parrhésiens“ leben in einem urbanen Restbereich, einer topographischen Lücke zwischen Cimetière du Montparnasse und Gymnase Huyghens. In dieser Enklave verdichten sich verlorene Zeit, widerständige Sprache und ungebrochene Körperlichkeit. Die Topographie des Romans folgt dabei keinem geografischen Realismus, sondern einem imaginären Stadtplan, der sich an Figuren der Erinnerung und des Erzählens orientiert: Die Straßen sind Achsen biografischer Bewegung, die Hausfassaden Resonanzflächen von Geschichten. Der Erzähler konstruiert aus seinem Blick von der „falaise“ – seinem Balkon über dem Friedhof – ein kartographisches Gegenmodell zur glatten, technisierten, durchgentrifizierten Hauptstadt. Seine Beobachtungsperspektive erinnert an Walter Benjamins Flaneur, wird aber durch eine radikale Körperlichkeit durchbrochen: Wo der Flaneur durch die Straßen mäandert, verankert sich Bordas’ Protagonist über das Training körperlich im Raum. Paris wird zur urbanen Ruine einer verschollenen Sprache und einer verdrängten sozialen Realität. Es ist ein Ort der post-Haussmann’schen Vernichtung, ein Ort, der seine eigenen Stimmen nicht mehr hören will – außer dort, wo die Körper sie mit Gewalt zurückrufen.
Die Topografie des Romans ist von Zerfall geprägt: Friedhöfe, verlassene Turnhallen, schimmelnde Wohnungen, bröckelnde Fassaden. Der Blick des Erzählers vom Balkon auf den Cimetière du Montparnasse ist emblematisch. Dieser Blick richtet sich auf eine Stadt, die nicht mehr glänzt, sondern bröckelt. Paris ist nicht die Stadt der Moderne, sondern die Stadt nach dem Bruch – eine Stadt, die ihre historischen Schichten nicht überdeckt, sondern offenbart. Diese Sichtweise erinnert an Walter Benjamins Idee der „ruinösen Geschichte“: Die Stadt als Palimpsest, als Ort, an dem das Alte nicht gelöscht, sondern überlagert wird. Die Straßen und Orte, die Bordas beschreibt – Vavin, Raspail, Huyghens – sind keine neutralen Stadträume, sondern gefurchte Oberflächen, in denen sich ein sprachlich-körperliches Gedächtnis eingenistet hat. Die Turnhalle selbst wird zur Mikro-Ruine: ein „vestige“ der alten Pariser Körperkultur, ein Ort des „mauvais air“, in dem sich die „gueules cassées“ versammeln.
Quand j’avais dix ans, mon père m’avait emmené voir le trou des Halles. Ni ma sœur ni ma mère n’étaient de la sortie, comme si cette béance ne sollicitait que le voyeurisme des masculins. J’avais espéré apercevoir, depuis le grillage levé pour contenir les badauds, la trace des ruines antiques, les déchets ancestraux fantasmés depuis la bibliothèque de la cité, mais le gouffre était vide de reliquats humains, saturé d’un jus sale. De ce jour pluvieux, je m’étais pris de passion pour les intérieurs de Paris, ses cloaques nourriciers. D’évidence, ces chairs ouvertes regorgeaient de présages et de tessons temporels, de lymphes cavernées en deçà les pavés et mûries sur dix siècles de rang. J’aurais aimé m’approcher, écouter le bruissement des liquides remontés du tréfonds, mais les engins de chantier ronronnaient sans cesse et mon père me tenait le bras.
Philippe Bordas, Parrhésiens, Gallimard, 2025.
Als ich zehn Jahre alt war, nahm mich mein Vater mit, um das Loch in Les Halles zu sehen. Weder meine Schwester noch meine Mutter waren am Ausgang, als ob diese Lücke nur für männliche Voyeure interessant wäre. Ich hatte gehofft, von dem Zaun aus, der hochgezogen war, um die Schaulustigen zurückzuhalten, die Spuren der antiken Ruinen zu sehen, die Abfälle der Vorfahren, die in der Bibliothek der Stadt phantasiert wurden, aber der Abgrund war leer von menschlichen Überresten, gesättigt mit einem schmutzigen Saft. An diesem regnerischen Tag hatte ich eine Leidenschaft für die Innenräume von Paris entwickelt, seine nährenden Kloaken. Offensichtlich wimmelte es in diesem offenen Fleisch von Vorzeichen und Zeitscherben, von Lymphen, die unterhalb der Pflastersteine gehöhlt und in zehn Jahrhunderten gereift waren. Ich wäre gern näher gekommen, um dem Rauschen der Flüssigkeiten zu lauschen, die aus der Tiefe aufgestiegen waren.
Wie bei Baudelaire, Aragon, Modiano oder Perec ist Paris bei Bordas auch ein Ort des Verschwindens. Die alten Mieter sind „in die Provinz mit Glyzinien abgeschoben“ („refoulés aux provinces à glycines“), die Pariser Rede ist „verdünnt“ („diluée“), die Stadt selbst ist „aufgeteilt in Franchise- und Pachtverträge“ („désagrégée en franchises et baux“). Der Erzähler hält dagegen: mit seinem Blick, seinem Körper, seiner Sprache. Er erinnert – nicht um zu bewahren, sondern um zu verwandeln. Seine Wohnung wird zur „tour de guet“, zum Aussichtspunkt über Ruinen der Urbanität. Die Metaphorik der Ruine durchzieht den ganzen Roman: Turnhallen als Katakomben, Balkone als Horchposten, Friedhöfe als Zentren urbaner Kraft. Die Architektur der Stadt erscheint wie ein ausgebrannter Körper, in dem noch etwas pocht. Dieses Pochen ist der Versuch, im Schreiben dem „vrai Paris“ noch eine Stimme zu geben.
Bordas operiert mit einem doppelten Bild der Stadt. Einerseits gibt es das ein sichtbares Paris: die saubere, restaurierte, kommerzialisierte Hauptstadt, die als Bühne für Touristen und Angestellte funktioniert. Andererseits gibt es ein untergründiges Paris, ein Schattenreich, das nur denen zugänglich ist, die sich aus dem Sichtbaren zurückziehen. Dieses zweite Paris ist das eigentliche Paris des Romans. Es existiert in den Zwischenräumen: in der rußigen Turnhalle, in den alten Wohnungen, im Blick aus dem Fenster, im Geruch der Straßenecken. Diese Dichotomie erinnert an Walter Benjamins Vorstellung vom Paris der Passagen und Ruinen. Doch während Benjamin nostalgisch auf das 19. Jahrhundert blickte, schreibt Bordas aus einer Perspektive der radikalen Gegenwart. Das alte Paris ist nicht Vergangenheit – es ist entstellte, aber lebendige Gegenwart.
Der Erzähler betrachtet Paris mit wachsender Wut und Trauer: Das alte Paris verschwindet, verdrängt durch Gentrifizierung, neoliberale Normen und sprachliche Entleerung. Die Stimme der Straße, die Sprache der Bettler („gueules cassées“), hat keinen Platz mehr. Er beschreibt das neue Paris als ein Museum, eine sterile Oberfläche ohne Tiefe. Die „Parrhésiens“ erscheinen ihm als letzte Zellen eines poetischen Widerstands. Die Turnhalle wird zur Gegenstadt, zur Kathedrale des Subjektiven, zur Höhle der letzten freien Rede.
Handlungsstränge der Parrhésiens
In Philippe Bordas’ Roman Les Parrhésiens entfaltet sich eine eigentümliche Topografie der Stadt Paris – zugleich archaisch, mythisch und zutiefst körperlich. Der Erzähler, ein literarisch gebildeter Einzelgänger, stößt auf ein verborgenes Milieu alternder, wortgewaltiger Männer, das sich im Untergrund eines Pariser Gymnasiums gesammelt hat. Diese „Parrhésiens“ leben in Opposition zur modernen Glätte der Sprache und Körper. Ihr Kosmos besteht aus Muskelarbeit, Spott, Freundschaft, urbaner Askese – und einem intensiven, widerspenstigen Verhältnis zur Stadt. Die erste Begegnung mit diesem Universum erfolgt in einer schneereichen Nacht, in der der Erzähler einem exzentrischen Muskelprotz folgt (Les anomaliques), der ihn in eine Welt grotesker, aber faszinierender Figuren führt (Paris-Boum-Boum).
Was sich zunächst wie eine ethnografische Expedition anfühlt, wird bald zu einem poetischen Selbstbildungsroman, in dem körperliche Transformation und sprachliche Selbstbehauptung Hand in Hand gehen. Der Erzähler, der sich in seinem kleinen Apartment über dem Friedhof Montparnasse als „Ikarier“ imaginiert (L’Icarien), beginnt ein Trainingsprogramm, das nicht nur seine Muskulatur, sondern auch seine Stimme verändert (Les anatomiques, Corpus poetæ). Poetologisch formuliert der Roman: Schreiben muss aus dem Körper kommen, aus Muskeln, Atem, Schweiß – nicht aus gelehrter Abstraktion. Der Erzähler, der einst aus der Distanz beobachtete, wird selbst Teil dieser Gemeinschaft aus Randständigen, Philosophen des Körpers und Sprach-Artisten. Das Schreiben verwandelt sich in eine körperliche Geste, eine Muskelpoetik (Corpus poetæ, Musculanes).
Im Zentrum des Romans stehen Beziehungen – zu Figuren wie Retz, dem schweigsamen Akrobaten (L’Égorgeur de Retz), Levallois, dem tragischen Mechaniker (Le roi de Mycènes), oder dem Antillais, einem muskulösen Priester der Reinlichkeit (Les anatomiques). Aber auch die Frauenfiguren wie Yvonne und Awa spielen eine zentrale Rolle: Sie verbinden Erotik, Fürsorge und Erinnerung mit dem urbanen Exil (Tiède corsage, Awa, Madrigal).
Thematisch verhandelt Les Parrhésiens den Verlust sprachlicher und körperlicher Singularität im gegenwärtigen Paris. Mit dem Verschwinden der alten Bewohner (Chorale des rues, Tombeau de Marcel, Tombeau de Grisons) geht auch eine bestimmte Musikalität der Rede, ein Stolz auf das Abseitige, das Grobe und Eigenwillige verloren. In der Halle der Parrhésiens überlebt diese Welt als letzte Bastion gegen sprachliche Normierung und urbanes Vergessen. Ihre Sprache ist zugleich martialisch und poetisch, verletzend und hochartifiziell (Quadrilogue invectif, Skeletor Imprecator). Paris erscheint nicht als homogenes urbanes Zentrum, sondern als geologisches, spirituelles und sprachliches Gefüge – durchzogen von unterirdischen Kräften, Hallen, Archiven und Erinnerungen (Nucléus, Ombilics, L’atlas du crime). Die Stadt wird nicht beschrieben, sondern beschworen: in halluzinatorischen, eruptiven Bildern, die die Oberflächen perforieren und das Unsichtbare sichtbar machen.
Les Parrhésiens ist ein Roman des poetischen Widerstands – gegen Sprachverflachung, gegen den Jugendwahn, gegen das Vergessen der Stadt. Er erfindet eine eigene Form urbaner Mystik, in der Literatur und Körper, Argot und Hochsprache, Totenkult und Trainingslehre zu einer einzigartigen Prosa verschmelzen. Ein literarisches Denkmal für die letzten großen Sprechenden der Stadt – die wütenden, stolzen, zärtlichen Parrhésiens.
Heidelberg im Nebel: Cavalier noir und Les Parrhésiens
Bordas‘ Cavalier noir (2021) erzählt von einem Ich-Erzähler, der Paris verlässt, um sich nach Heidelberg zurückzuziehen. Dort, in einem abgelegenen Chalet, lebt er mit Mylena – einer fast mythisch aufgeladenen Geliebten, einer Ärztin und Muse –, isoliert von der Welt, in einem Zustand existenzieller wie sprachlicher Krisenverarbeitung. Die Geschichte ist jedoch nicht linear: Sie springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Heidelberger Einsamkeit und Kindheit in der Pariser Banlieue, zwischen Liebesglück und schmerzhaften Erinnerungen an eine elitäre, sprachlich korrumpierende „Fondation Parménide“, die dem Protagonisten einst die Hoffnung auf eine höhere französische Sprache geraubt hatte. Durch seine Liebesbeziehung, das Radfahren, das Schreiben und das Erinnern versucht der Erzähler, sich von den Verletzungen der Vergangenheit zu befreien – und zugleich die Essenz einer untergegangenen, kraftvollen Sprache wiederzufinden. Die narrative Bewegung ist dabei nicht auf Auflösung ausgerichtet, sondern auf Bewahrung: Der Protagonist sammelt, rekonstruiert, versucht, den zersplitterten Kern seiner poetischen Identität zurückzugewinnen. Der „cavalier noir“ ist kein Ritter der Eroberung, sondern der Ruinen – ein Wanderer auf der Suche nach sprachlicher Erlösung im Exil.
Beide Romane sind poetische Autobiographien – aber keine klassischen Bildungsromane. Sie beschreiben eine Herkunft aus der Peripherie, eine Konfrontation mit der sprachlichen Gewalt französischer Institutionen, und eine Gegenbewegung durch Körper, Stil, Liebe und literarische Rebellion. In Cavalier noir führt diese Bewegung in die Einsamkeit, in die Reflexion, in den Versuch, durch das Schreiben ein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Les Parrhésiens geht den umgekehrten Weg: Aus der Vereinzelung des Dichters wird eine Einbindung in ein körperlich-sprachliches Kollektiv – die Turnhalle mit ihren „fous“ wird zur neuen Fondation, aber diesmal als Ort des Widerstands, nicht der Anpassung. Die beiden Städte Heidelberg und Paris stehen paradigmatisch für zwei poetologische Zustände: In Cavalier noir ist Heidelberg Rückzugsraum, Ort des Exils, der Heilung, aber auch der Erinnerungsqual. Die deutsche Landschaft wird romantisch überhöht, in ihrer Dichte und Naturhaftigkeit als Kontrast zur ruinierten Urbanität Frankreichs begriffen. In Les Parrhésiens kehrt der Erzähler nach Paris zurück – nicht in das Paris der literarischen Cafés und Intellektuellen, sondern in den Untergrund: Turnhallen, Friedhöfe, heruntergekommene Innenhöfe. Paris ist hier Kampfplatz, Sprachkörper, ruiniertes Gedächtnis. Beide Städte sind keine neutralen Schauplätze, sondern poetische Metaphern: Heidelberg ist die kleine Stadt der Reflexion, Paris die Metropole der Konfrontation.
Die Ankunft in Deutschland, insbesondere in Heidelberg, stellt im Roman eine markante atmosphärische und existenzielle Zäsur dar. Während Paris mit Hitze, Verfall und sozialer Verbissenheit konnotiert ist, erscheint Deutschland als Ort der Kälte, des Nebels, des Nicht-Wissens – aber auch der Möglichkeit zur Neubegründung. Die Bahnfahrt in Richtung Osten wird zur Initiationsreise: Der Erzähler durchquert nicht nur geographische Räume, sondern lässt eine ganze Lebenswelt hinter sich. Heidelberg ist verhangen in Nebel, eine diffuse Kulisse aus gotischen Fassaden, barocken Toren und fragmentarischen Perspektiven. Es ist ein Ort ohne Zentrum, ohne Orientierung, in dem der Erzähler sich verirrt, buchstäblich wie symbolisch. In den Straßenzügen Heidelbergs erkennt er keine Urbanität im Pariser Sinne, sondern eine seltsam entrückte, historische, ja fast märchenhafte Atmosphäre. In der Beschreibung des Altstadtkerns überlagern sich Mittelalterbild, Spionagefilmästhetik und poetischer Surrealismus. Heidelberg wird damit zur Bühne einer inneren Transit-Zone: nicht Ankunftsort, sondern Zwischenraum und Projektionsfläche. In diesem Zusammenhang ist das Vorkommen des Nebels zentral. Er verschleiert nicht nur die Sicht, sondern verwischt auch Grenzen zwischen Innen und Außen, Realität und Einbildung, Gegenwart und Vergangenheit. Der Erzähler gleitet durch die Gassen wie durch einen Traumzustand, seine Wahrnehmung verliert an Kontur. Der Nebel wird zum poetischen Material, das den Erzähler daran hindert, Klarheit zu gewinnen, das aber auch den Möglichkeitsraum einer anderen Zukunft eröffnet. In diesem Sinne ist der Nebel auch ein Motiv der Reinigung, des Übergangs – ein symbolisches Läuterungsmedium. Interessant ist auch das Verhältnis zur deutschen Sprache, die der Erzähler kaum spricht. Sie ist ihm unverständlich, hart, „stahlgrau“ – eine Sprache der Behörden, der Kontrolle, aber auch eine Sprache, die seine eigene Sprachkrise spiegelt. Indem der Erzähler sich in einer Umgebung bewegt, deren Sprache ihm verschlossen ist, erlebt er eine radikale Form der sprachlichen Entfremdung. Gleichzeitig aber ist es gerade diese Unverständlichkeit, die eine Art poetisches Vakuum schafft, in dem sich eine neue Sprache, eine Sprache des Übergangs, formieren kann. Die Stadt Heidelberg steht so sinnbildlich für das Exil im Innersten: nicht bloß geographisch, sondern epistemisch, affektiv, poetisch. Es ist ein Ort, an dem das Sprechen aufhört, um dem Hören, dem Erinnern, dem Erspüren Platz zu machen. Die Liebe zu Mylena ist in diesem Kontext mehr als eine biographische Beziehung – sie ist das letzte Band zur Sprache, zur Sinnstiftung, zur Identität.
Die Ästhetik von Cavalier noir ist melancholisch, oft elegisch. Es dominiert das verlorene Ideal, die verlassene Sprache, die zerschlagene Hoffnung. Die Metaphern sind oft romantisch, die Sätze lang und beschwörend. In Les Parrhésiens hingegen herrscht eine Poetik der Kraft: kurze, muskulöse Sätze, Klangfiguren, Wiederholungen, Interjektionen, Jargon. Die Ästhetik ist nicht sentimental, sondern kämpferisch – eine Poetik der Parrhêsia, der freien, riskanten Rede. Cavalier noir und Les Parrhésiens sind zwei Seiten derselben medaillehaften Obsession: Wie lässt sich sprechen, wenn einem die Sprache entzogen wurde? Cavalier noir sucht Antwort in Rückzug, Erinnerung, Sammlung. Les Parrhésiens sucht sie in der Gegenoffensive, im kollektiven Körper, in der Rede der „gueules cassées“.
Muskulatur und Metapher
Bordas entwirft in Les Parrhésiens eine eigene Anthropologie des Körpers, die auf radikale Weise der literarischen Tradition widerspricht. Während im bürgerlichen Roman der Körper zumeist kontrolliert, diszipliniert oder symbolisch überlagert wird, ist er bei Bordas das zentrale Agens – nicht bloß Vehikel des Erzählens, sondern Ursprung der Sprache, Matrix der Weltdeutung. Die „Salle des fous“ fungiert als ritueller Raum, in dem der Körper nicht nur geformt, sondern erinnert, verherrlicht, mythologisiert wird.
Die Schilderung des Körpers geschieht mit einer nahezu expressionistischen Überhöhung: Die Muskelpartien sind „marbre pentélique“ (pentelischer Marmor), die Bewegungen „elliptiques“, die Spuren der Anstrengung erscheinen als heroische Zeugnisse einer verlorenen Männlichkeit. Der Körper ist hier nicht bloß physisch, sondern gewissermaßen archäologisch – ein Ort sedimentierter Erfahrungen, ein Palimpsest urbaner Geschichte. Zugleich dient er als Widerstand gegen den neoliberalen Zugriff auf das Subjekt: Wo die normierte Stadtbevölkerung körperlos geworden ist, erheben sich hier letzte „monstres magnifiques“, in die die Geschichte eingeschrieben steht. Die Beschreibung dieser Körper folgt dabei keiner realistischen Physiologie, sondern orientiert sich an ikonographischen Mustern der Antike, des Zirkus, des Films noir. Coligny, der Anführer der Körpergemeinde, ist eine Mischung aus Gladiator, Kommandant und antikem Richter. Der groteske Körper wird zum Ort der Parodie, der Tragik und des Erhabenen zugleich – ein Januskopf der Moderne.
Les adhérents affrontaient les barres à cent et le poids des ans ; ils s’allongeaient d’une traction de bras et s’accourcissaient sous le joug des calamités. S’ils venaient à la salle, c’était pour rire et circonvenir le vieillissement. Les moins doués vantaient la présence des anciens cascadeurs, Retz le princier, Jojo et Goussot dans son sillage – des corps d’élite retirés là, en escouade, pour maintenir leurs segments à l’état précieux. Les moins dotés n’étaient d’aucun générique et tiraient fierté du curriculum des autres. S’ils poussaient les battants de la porte à hublots, cinq soirs sur sept, les anonymes comme les glorieux, c’était pour surmonter l’identique angoisse de la dispersion et reformer une nichée dans le ventre de Paris, pour oublier la relégation hors la ville, s’échanger les souvenirs de records et les récits de mouise – les jours de baraka si fugaces et la débine immuable des inhéritiers.
La complainte du leurré aux Euro Disneys n’était pas achevée que l’homme-sueur, le frotte-lino, Vassin l’affreux, le monstrueux bouc pileux apparu à l’œilleton, Vassin venait s’immiscer dans la conversation. Surgi du recoin, sous la mezzanine, où Coligny l’avait consigné afin qu’il y expulse, chaque soir, son lac de transpiration, Vassin s’était approché du banc de Jojo. À l’aplomb de son crâne chauve, il avait baissé front et poitrail, laissé ruisseler ses gouttelettes immondes, tout en accablant l’inondé de j’te signale qu’moi, mon appart j’l’ai perdu deux fois, un divorce au cul, deux mariages à financer, alors t’es pas seul en galère, mon poto ! Les talons surélevés de ses chaussures haltérophiliques amplifiaient sa bascule vers l’avant. Jojo hurlait contre les mouillures abjectes, mais Vassin n’arrêtait pas sa contre-plainte et rappelait à l’allongé, tordu de côté, qu’lui le cascadeur, il en avait croqué des congés-spectacles, d’ces mille à l’œil, et pendant des années.
Ce genre de scènes à outrages réjouissait Coligny. Les déveines et les disgrâces le mettaient en liesse, naufrages et pernicies, comme les disputes qui, en ces parages, annonçaient un litige au premier sang. À force de petits disques d’un kilo, ajoutés d’une main pateline, Coligny surchargeait les barres haltériques des vieux poulains, ses chevaux de retour, jusqu’à la blessure, le claquage de triceps, la rupture de tendon. Le spectacle des infortunes physiques, des vices insanes, des passions tournées bouillie le satisfaisait plus que la contemplation des vertus. C’était une variété rarissime de bourgeois dévié, de rentier descendu à la compagnie des furieux pour y ressusciter un petit Colisée, une arène à joutes, avec victimes et sacrifiés. À chacune des lamentations de Vassin, il tournait pouce vers le bas, César sans pitié, toujours serinant, ah tu l’aimes vraiment, quel romantique tu fais, tu l’as épousée deux fois, elle t’a ruiné la première, lessivé la deuxième, elle a mis ta maison à son nom et tu rampes toujours, fleur à la main, c’est bien que t’es fou d’elle, non ?
Philippe Bordas, Parrhésiens, Gallimard, 2025.
Die Mitglieder stellten sich den Hunderterbarren und dem Gewicht der Jahre; sie wurden mit einem Armzug länger und unter dem Joch der Kalamitäten kürzer. Wenn sie in den Saal kamen, dann nur, um zu lachen und das Altern zu umgehen. Die weniger Begabten rühmten die Anwesenheit der alten Stuntmänner, Retz der Fürst, Jojo und Goussot in seinem Gefolge – Elitetruppen, die sich hier in einer Staffel zurückzogen, um ihre Segmente in einem wertvollen Zustand zu halten. Die weniger gut ausgestatteten gehörten zu keiner Gruppe und waren stolz auf den Lehrplan der anderen. Wenn sie an fünf Abenden in der Woche die Tür mit den Bullaugen öffneten, die Namenlosen wie die Ruhmreichen, dann nur, um die gleiche Angst vor der Zerstreuung zu überwinden und im Bauch von Paris wieder ein Nest zu bilden, um den Abstieg aus der Stadt zu vergessen, um Erinnerungen an Rekorde und Geschichten von Pech auszutauschen – die flüchtigen Tage des Glücks und die unveränderlichen Niederlagen der Erben.
Das Klagelied der Euro Disneys war noch nicht zu Ende, da mischte sich der Schweißmann, der Linsenschrubber, der schreckliche Vassin, der monströse haarige Ziegenbock, der durch die Augenmuschel erschienen war, in das Gespräch ein. Vassin kam aus der Ecke unter dem Zwischengeschoss, in die Coligny ihn verbannt hatte, damit er jeden Abend seinen Schweißsee ausstoßen konnte, und näherte sich Jojos Bank. Er senkte seine Stirn und seine Brust, ließ seine unappetitlichen Tröpfchen rieseln und bedrängte den Überschwemmten mit den Worten: Ich habe meine Wohnung zweimal verloren, eine Scheidung am Hals, zwei Ehen zu finanzieren, also bist du nicht allein in der Galeere, mein Kumpel! Die hohen Absätze seiner Gewichtheberschuhe verstärkten sein Vorwärtskippen. Jojo schrie gegen die abscheuliche Nässe an, aber Vassin hörte nicht mit seiner Gegenklage auf und erinnerte den seitlich verdrehten Liegenden daran, dass er, der Stuntman, schon so viele Urlaube genommen hatte, und das über Jahre hinweg.
Diese Art von Schandtaten erfreute Coligny. Unglücksfälle und Ungnade versetzten ihn in Jubel, Schiffbruch und Verderben, wie auch die Streitigkeiten, die in dieser Gegend einen Rechtsstreit mit dem ersten Blut ankündigten. Coligny überlastete die Hantelstangen der alten Fohlen, seiner Rückkehrer, mit kleinen Ein-Kilo-Scheiben, die er mit katzenhafter Hand hinzufügte, bis es zu Verletzungen, Trizepszerrungen und Sehnenrissen kam. Der Anblick körperlicher Missgeschicke, irrsinniger Laster und gekochter Leidenschaften befriedigte ihn mehr als die Betrachtung von Tugenden. Er war eine äußerst seltene Variante eines abgewichenen Bürgers, eines Rentiers, der in die Gesellschaft der Wütenden hinabgestiegen war, um dort ein kleines Kolosseum, eine Arena für Wettkämpfe mit Opfern und Geopferten wieder aufleben zu lassen. Sie hat dein Haus auf ihren Namen eingetragen und du kriechst immer noch mit einer Blume in der Hand herum, das heißt, du bist verrückt nach ihr, nicht wahr?
Das Pariser Idiom steht im Mittelpunkt von Les Parrhésiens. Bordas beklagt das Verschwinden des alten Pariser Jargons – voller Kraft, Vulgarität, Erfindungslust – und lässt ihn durch seine Figuren wiederaufleben. Die „forte parole“ der „Parrhésiens“ steht im Gegensatz zum „français exsangue“ der Gegenwart. Die Stadt wird hier zum Ort sprachlicher Auseinandersetzung: Wer spricht wie? Wo? Mit wem? Und warum? In dieser Konzeption wird Paris zu einer „ville parlante“. Ihre wahre Geschichte ist nicht in Archiven, sondern in der Sprache ihrer Bewohner gespeichert. Der Erzähler selbst ist ein linguistischer Archäologe, der in jeder „vanne“, jedem „hon hon hon“, jedem „parler des fous“ ein Stück Geschichte liest. Paris existiert für ihn nicht in Gebäuden oder Plätzen – es existiert in Stimmen. Der Gymnastiksaal wird dabei zum Sprachlabor. Hier sprechen die Körper, die Stimmen, die Muskeln. Hier findet „parrhêsia“ statt – im foucaultschen Sinne: eine Rede, die riskiert, die aufdeckt, die sich gegen die Ordnung richtet. Diese Rede ist gefährlich, aber auch vital. Paris ist in Les Parrhésiens kein Ort der Kommunikation, sondern der Konfrontation – mit sich, mit der Geschichte, mit der Sprache.
Die „Parrhésiens“ sind Träger einer Sprache, die es nicht mehr geben darf: Sie sprechen nicht glatt, nicht angepasst, nicht höflich – sondern „fort, cru, joyeusement sale“. Bordas greift mit dem Begriff der parrhêsia ein Konzept auf, das Michel Foucault in seinen späten Vorlesungen am Collège de France 1 analysiert hat: Parrhêsia ist die freie, mutige Rede – ein Akt, der den Sprechenden in Gefahr bringt, weil er die Wahrheit gegenüber der Macht ausspricht. Foucault beschreibt Parrhesia als eine besondere Form des Sprechens, in der sich der Sprecher auf eine persönliche und tief empfundene Weise zur Wahrheit bekennt. Es handelt sich dabei nicht bloß um eine theoretische oder rhetorische Äußerung, sondern um eine existenzielle Handlung: Der Sprecher sagt die Wahrheit nicht nur, weil er sie für wahr hält, sondern weil er sich innerlich dazu verpflichtet fühlt – selbst dann, wenn das Aussprechen dieser Wahrheit Gefahren mit sich bringt. Dieses Risiko kann so weit gehen, dass der Sprecher sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, weil ihm das Wahrsprechen in einer bestimmten Situation wichtiger erscheint als persönliches Wohlergehen, gesellschaftliche Anerkennung oder körperliche Unversehrtheit. Der Parrhesiast handelt aus freiem Willen. Er entscheidet sich bewusst dafür, offen zu sprechen, anstatt sich mit rhetorischen Mitteln durchzusetzen oder andere zu manipulieren. Er wählt die Wahrheit über die Lüge oder das Schweigen, nimmt mögliche Konsequenzen wie Verfolgung, Isolation oder Tod in Kauf, und verweigert sich zugleich jeglicher Form von Schmeichelei, die nur auf Zustimmung oder Eigenvorteil abzielt. Sein Handeln ist getragen von einem moralischen Impuls: Er spricht nicht, um sich selbst zu erhöhen oder anderen zu gefallen, sondern weil er das Bedürfnis verspürt, sich selbst und andere durch das Wahrsprechen zu einer besseren Einsicht oder zu einem ethischeren Leben zu führen. Parrhesia ist somit nicht nur eine Redeform, sondern ein Akt der ethischen Selbstverpflichtung und des mutigen Eintretens für die Wahrheit – auch unter extremen Bedingungen.
In diesem Sinn ist Les Parrhésiens auch ein philosophischer Roman: eine Relektüre Foucaults in literarischer Form. Die Rede der „gueulards“ ist nicht nur eine soziolinguistische Variante des banlieusardischen Jargons, sondern eine existenzielle Artikulation von Freiheit. Es ist eine Rede, die sich der sozialen Korrektur entzieht, die keinen Nutzen verfolgt und kein Ziel außer der Artikulation der eigenen Wahrheit kennt. In diesem Sinne ist Bordas’ Sprachentwurf auch ein Angriff auf die „normalisierte“ französische Sprache – das „français exsangue“ der Medien, der Verwaltung, der Bildung. Die „parrhêsia“ in Les Parrhésiens ist laut, drastisch, körperlich. Sie tritt nicht als Argumentation auf, sondern als Inszenierung, als performative Explosion. Jeder Satz, jede Beleidigung, jeder verbale Ausbruch ist zugleich Selbstaussage und Selbstschöpfung. Die Sprache wird hier wieder zu dem, was sie im Ursprung war: Handlung.
Les Parrhésiens ist kein klassischer Roman. Es enthält narrative Passagen, lyrische Ekstasen, ethnographische Beobachtungen, metatextuelle Reflexionen und essayistische Einsprengsel. In seiner Form ist das Werk selbst eine „salle des fous“ – eine Versammlung von Stilen, Gattungen, Diskursen, Registern. Diese Form folgt nicht dem Prinzip der Einheit, sondern der Überladung. Wie ein Barockaltar türmt sich der Text auf, sprengt den syntaktischen Rahmen, überblendet Bild auf Bild. Diese Gattungsoffenheit ist nicht willkürlich. Sie ist notwendig – weil der Gegenstand des Romans, diese Welt der Außenseiter, der Körperexzesse, der Sprachgewaltigen – sich nicht in einer kohärenten Form fassen lässt. Bordas entwirft einen Text, der sich wie sein Protagonist dem Zugriff entzieht, der sich permanent neu formt. Es ist ein Text, der ebenso körperlich ist wie sein Inhalt – ein Text, der atmet, schwitzt, aufschreit, erschöpft ist. Zugleich lässt sich der Roman als „autofiktionale Anthropologie“ beschreiben: Der Erzähler beobachtet nicht bloß, er verändert sich durch das Beobachtete. Die Sprache ist nicht deskriptiv, sondern transgressiv. Die Erzählung ist kein Abbild, sondern ein Akt. Die „Mise en scène“ der Körper in der Salle des fous ist zugleich eine „mise en forme“ der Sprache.
Neben dem Training mit Hanteln, Gewichten und Geräten betreibt der Erzähler ein weiteres Training: das Schreiben. In der zweiten Hälfte des Romans wird klar, dass die körperliche Transformation mit einer poetischen einhergeht. Der Protagonist will nicht einfach stark werden – er will schreibfähig werden. Er sucht eine Sprache, die nicht „du cerveau“, sondern „du sang“ kommt. Seine Bewegung weg vom „écrire mental“ hin zum „écrire musculaire“ ist programmatisch. Die Verbindung zwischen Sport und Schreiben, zwischen Körper und Stil, erinnert an Nietzsche, an Leiris, an Artaud. Aber auch an Céline, der meinte: „C’est par les jambes qu’on est noble.“ Bordas übernimmt diese Maxime und radikalisiert sie: Die Sprache ist nicht nur ein Spiegel des Körpers, sondern ein Produkt seiner Kraft, seiner Disziplin, seiner Epiphanien. Die poetische Arbeit ist nicht mehr Distanznahme, sondern Schweiß. Das Schreiben wird zum Akt der Transsubstantiation: Aus Schweiß wird Stil, aus Atem wird Rhythmus. Die poetische Sprache, die Bordas entwickelt, ist hochmusikalisch, aber nie ornamental. Sie folgt dem Takt der Atmung, dem Schlag der Hantel, dem Puls der Stadt. Jeder Satz ist eine Serie von Muskelkontraktionen – voller Zuckungen, Asymmetrien, Spannung.
Andere Stimmen
Im Zentrum des Romans steht ein Erzähler, der sich selbst als „moule au rocher“, als Muschel am Felsen bezeichnet – halb immobilisiert, halb auf dem Sprung. Seine Beobachtungsposition hoch über dem Montparnasse-Friedhof ist mehr als geographisch: Es ist die metaphorische Warte eines entwurzelten Städters, eines literarisch übercodierten Außenseiters. Der Erzähler ist ein Migrant innerhalb der Sprache, ein „transfuge social“, der sich durch Bildung, Ironie und Körperveränderung gegen das eigene Verschwinden stemmt. Seine Beziehung zu Paris ist ambivalent: Es ist ein „livre lutécien“, das sich nur vom richtigen Höhenwinkel aus dechiffrieren lässt – aber es ist auch ein Ort, der ihm nicht gehört, der ihn nur als „intrus“ duldet. Das Leben in der Stadt ist für ihn ein fortwährender Akt der Maskerade: „Je flottais dans l’habit de l’outcast.“ Diese Selbstbeschreibung verweist auf Bordas’ zentrale These: Dass Zugehörigkeit in einer Stadt wie Paris nur mehr über Inszenierung, Tarnung oder sprachliche Überbietung zu haben ist.
Eines Tages hört der Erzähler Schreie, Stöhnen, ein bizarres Stimmengewirr aus der Tiefe des Gebäudes. Er folgt dem Lärm und entdeckt im Untergeschoss eine altmodische städtische Turnhalle – die „Salle des fous“. Dort trifft er auf eine Gruppe ungewöhnlicher Männer, teils grotesk entstellt, teils von archaischer Präsenz: Coligny, der wortgewaltige Chef mit amputiertem Bein; der „Cheyenne“, ein pyromanischer Schweißer; Fouettard, ein sprachbesessener Schläger. Sie sind die letzten „Parrhésiens“, wie der Erzähler sie bald nennt – Träger einer alten, ungezähmten, subversiven Pariser Redeweise. Der Erzähler beginnt, regelmäßig in die Halle zu kommen. Zunächst ist er stiller Beobachter, dann Schüler. Er unterzieht sich einem gnadenlosen körperlichen Trainingsprogramm, das ihn von einem intellektualisierten, gebrechlichen Körper zu einem muskulösen, präsenten Ich transformiert. Doch diese Transformation ist nicht nur physisch: Durch das Training verändert sich auch seine Stimme, seine Sprache, sein Denken. Er lernt, sich mit Worten zu verteidigen, beginnt, die Sprache der „Parrhésiens“ zu imitieren, dann zu internalisieren. Aus einem literarischen Ich wird ein poetisch-körperliches Subjekt. Die Sprache, die in der Turnhalle zirkuliert, ist brutal, musikalisch, eruptiv – und für den Erzähler ein Schlüssel zur Wiederaneignung seiner Existenz.
Pendant des semaines, je m’étais intrigué de ces petites chamailles, ces démêlés théoriques sur la réelle taille de Stallone et l’utilité des ceintures de force. Une grande controverse sur la magnésie avait occupé un lundi, les uns préconisant la magnésie en grumeaux, pulvérisée à deux mains, pour une meilleure adhérence sur la barre ; les autres prônant la magnésie en boules, moins volatile, pour éviter les nuages de poussière blanche et la silice en flottaison. Hormis la trivialité suintante de Vassin, ces escarmouches me berçaient. Même si j’avais la chance d’habiter l’enceinte historique, je n’étais pas né de Lutèce. Les mots de leur quotidien n’étaient pas les miens. Parmi ces natifs refoulés du lit de Seine, je n’étais qu’un migrant chanceux, un migré des bétons. Je n’étais pas indigène de la capitale. J’avais l’oreille indiscrète et l’œil fureteur de l’étranger.
Tous les sales boulots, je les avais partagés, à la gare de triage de Montrouge, aux entrepôts de Bercy, avec le lumpen immigré. Je savais les règles de la cité et les cérémoniaux d’Afrique mieux que les mœurs de Paris. La langue des hachélèmes m’était naturelle, exogène à celle de la salle. Je m’étais laissé abuser par la rengaine de Paris, avec Arletty sous le réverbère et Michel Simon sous la guenille du flâneur lyrique. Les orgues limonaires tournaient dans ma tête, toujours même cliquetis, même cantilène, avec Audiard à la manivelle et Boudard glanant la piécette dans sa casquette de tweed. Un nouvel adhérent, employé d’assurances, arrivé après moi, avait fait l’affranchi et balancé, débités au mot près, quelques-uns de ces argots de cinéma. Le pauvret s’était fait refroidir et signifier qu’tout ça, c’était qu’d’la frime pour les bourgeois, qu’il avait de la chance que Levallois ne soye pas là…
De ces sexagénaires larges et tassés, de ces septanteux à poils folâtres, j’espérais entendre l’ancienne langue – ce pur parisien disparu des arrondissements. Mais l’arsenal verbal restait caché entre les molaires. Peut-être que ce hourvari du premier soir ne reviendrait jamais. Pour l’heure, le Cheyenne tenait l’affiche et régalait de ses mimodrames. Comme il arrivait tard, il trouvait bouches sèches et, restitué à son lac de sueur, à l’ombre de la mezzanine, Vassin tout fâché des sarcasmes de Coligny ; c’était l’heure sienne, son numéro de valet moqueur pouvait commencer.
Reins fléchis, bras ouverts en signe de sujétion, de domestique servilité, le Cheyenne mimait le gueux à courbettes, le servant à effets de bras, souriant et rampant, devant Vassin, devenu son bon maître. Faux servile et vil flatteur, il s’avançait vers l’ensué, oh là messire Lavasse, comme m’semblez z’en eau, puis il ployait bien bas devant sa victime, en larbin de comédie, secoué de révérences sournoises, de grands cassés de bassin, pour contrefaire l’âme vassale. Son jean de solderie montait plus haut que le nombril et couvrait un vieux tee-shirt, jadis blanc, constellé de trous infimes : le Cheyenne avait traité les boiseries de sa hutte contre les vers foreurs, mais abandonné ses farines aux charançons et ses textiles aux mites.
Scapin des sous-bois, Sganarelle cueilleur d’orties, maigri par la diète et l’effet laxatif des végétaux, le Cheyenne poursuivait son numéro d’ermite à facéties. D’un tournis de gnawa, il s’éloignait, sitôt revenait clopiner près de la flaque de transpiration et relançait Vassin bien fort pour que tous dégustent la prestation. Ben mon Vassin, t’as pas lésiné sur la vidange, c’est l’hiver pourtant, ah mon salaud, j’sais pas comme tu fais pour tout nous pisser par l’front et l’dos… Viens dans ma forêt et je paye le coup, bouteille entière, promis mon con, si t’arrives à transpirer là-bas, dans mes bois, même une goutte, moi quand j’sors une souche de chêne grosse comm’ça, j’transpire pas, l’grand air m’nettoie.
Après avoir humilié Vassin pour ses pertes, le Cheyenne revenait sur la douloureuse, la béante plaie du cave, à vie plumé par sa dulcinée, c’te poule, t’serais coïon de l’envoyer paître, hein mon Vassin, maintenant tu risques plus rien, qu’dalle même, vu qu’elle t’a d’jà tout becqueté, mais toi, tu continues, t’aimes trop son cul, c’est quoi ? Du fond de son sauna miroitant, Vassin avait répliqué d’un inefficace j’t’emmerde, suivi d’un si tu crois que, à faire pitié, mais le Cheyenne avait repris le manche et lancé son antienne, sa grande tirade misanthropique, à coups de fais comme moi, seul sans femme, l’calme à vie, l’paradis crois-moi, vends la télé et tire-toi.
Philippe Bordas, Parrhésiens, Gallimard, 2025.
Wochenlang hatte ich mich über diese kleinen Streitereien gewundert, diese theoretischen Auseinandersetzungen über Stallones wahre Größe und den Nutzen von Kraftgürteln. Eine große Kontroverse über Magnesia hatte einen Montag in Anspruch genommen: Die einen befürworteten klumpiges Magnesia, das mit beiden Händen pulverisiert wurde, um besser an der Stange zu haften; die anderen befürworteten kugelförmiges Magnesia, das weniger flüchtig war, um weiße Staubwolken und schwebende Kieselerde zu vermeiden. Abgesehen von der rußigen Trivialität von Vassin wiegten mich diese Scharmützel in Sicherheit. Auch wenn ich das Glück hatte, in den historischen Mauern zu wohnen, war ich nicht aus Lutetia geboren. Die Worte ihres Alltags waren nicht die meinen. Unter diesen Einheimischen, die aus dem Bett der Seine verdrängt wurden, war ich nur ein glücklicher Migrant, ein Betonmigrant. Ich war kein Eingeborener der Hauptstadt. Ich hatte das indiskrete Ohr und das forschende Auge eines Fremden.
Ich hatte mir alle schmutzigen Jobs geteilt, auf dem Rangierbahnhof von Montrouge, in den Lagerhäusern von Bercy, mit den Lumpen der Einwanderer. Ich kannte die Regeln der Stadt und die Zeremonien Afrikas besser als die Sitten von Paris. Die Sprache der Hachelems war mir natürlich, exogen zu der des Raumes. Ich hatte mich vom Pariser Minnesang täuschen lassen, mit Arletty unter der Straßenlaterne und Michel Simon unter dem Lumpen des lyrischen Flaneurs. Die Limonadenorgeln drehten sich in meinem Kopf, immer das gleiche Geklapper, die gleiche Kantilene, mit Audiard an der Kurbel und Boudard, der in seiner Tweedmütze das Kleingeld zusammenkratzte. Ein neues Mitglied, ein Versicherungsangestellter, der nach mir eintraf, hatte sich wie ein Freigelassener aufgeführt und einige dieser Filmslangwörter bis auf das Wort heruntergerattert. Der arme Kerl wurde abgekühlt und darauf hingewiesen, dass das alles nur Angeberei für die Bourgeoisie sei und er Glück habe, dass Levallois nicht dabei sei…
Ich hoffte, von diesen breiten, gedrungenen Sechzigjährigen, diesen wilden Siebzigjährigen die alte Sprache zu hören – dieses reine Pariserisch, das aus den Arrondissements verschwunden war. Aber das verbale Arsenal blieb zwischen den Backenzähnen verborgen. Vielleicht würde dieses Hourvari des ersten Abends nie wiederkehren. Im Moment hielt der Cheyenne die Stellung und erfreute mit seinen Mimodramen. Da er spät kam, fand er trockene Münder vor, und im Schatten des Zwischengeschosses saß Vassin, der sich über Colignys Sarkasmus ärgerte, wieder in seinem Schweißsee. Es war seine Zeit, seine Nummer als spöttischer Diener konnte beginnen.
Die Lenden waren gebeugt, die Arme ausgebreitet als Zeichen der Unterwerfung, der häuslichen Unterwürfigkeit, der Cheyenne mimte den sich verbeugenden Gassenjungen, bediente ihn mit seinen Armen, lächelte und kroch vor Vassin, der sein guter Herr geworden war, hin und her. Als falscher Diener und gemeiner Schmeichler ging er auf den Ensué zu, oh là messire Lavasse, comme m’semblez z’eau, und dann beugte er sich tief vor seinem Opfer, wie ein Komödienlakai, der von hinterhältigen Verbeugungen und großen Beckenbrüchen geschüttelt wurde, um die Vasallenseele zu verfälschen. Der Cheyenne hatte das Holz seiner Hütte gegen Bohrwürmer behandelt, aber sein Mehl den Rüsselkäfern und seine Textilien den Motten überlassen.
Als Scapin des Unterholzes, als Sganarelle, der Brennnesseln pflückte und durch die Diät und die abführende Wirkung der Pflanzen abmagerte, setzte der Cheyenne seine Nummer als Einsiedler mit Schabernack fort. Mit einer Gnawa-Wirbelbewegung entfernte er sich, kam aber bald darauf wieder zurück, um in der Nähe der Schweißpfütze herumzulungern, und warf Vassin erneut lautstark an, damit alle die Vorstellung genießen konnten. Komm in meinen Wald und ich zahle, eine ganze Flasche, versprochen, mein Freund, wenn du es schaffst, dort in meinen Wäldern auch nur einen Tropfen zu schwitzen, ich schwitze nicht, wenn ich einen großen Eichenstumpf herausziehe, die frische Luft reinigt mich.
Nachdem er Vassin für seine Verluste gedemütigt hatte, kam der Cheyenne auf die schmerzhafte, klaffende Wunde des Kellers zurück, der sein Leben lang von seiner Dulcinea gerupft wurde, c’te poule, t’seraient coïon de envoyer sa sa sape, hein mon Vassin, maintenant tu risque plus rien, qu’dalle même, vu qu’elle a d’jà tout becqueté, mais toi, tu continues, t’aime trop son cul, c’est quoi? Aus der Tiefe seiner spiegelnden Sauna hatte Vassin ein wirkungsloses „Fick dich“ erwidert, gefolgt von einem „Wenn du glaubst, dass“, das einem leid tat, aber der Cheyenne hatte das Heft wieder in die Hand genommen und seine Antiphon, seine große menschenfeindliche Tirade, vorgetragen: „Mach es wie ich, allein ohne Frau, die Ruhe fürs Leben, das Paradies, glaub mir, verkaufe den Fernseher und hau ab“.
In poetisch-essayistischen Passagen porträtiert der Erzähler die anderen Mitglieder der Halle. Diese Männer sind keine realistischen Figuren, sondern überzeichnete Archetypen: Coligny ist ein tragischer König, der mit seinem amputierten Bein und seiner literarischen Eloquenz eine fast mythologische Aura entfaltet. Der „Cheyenne“ ist ein Künstler der Schweißnaht, ein Zerstörer, der seine eigene Marginalisierung mit Flammen beantwortet. Fouettard ist ein schmaler, zitternder Prophet mit einem zersplitterten, aber messerscharfen Wortschatz. Diese Figuren sind sowohl Ausdruck sozialer Realität (Ausgrenzung, Deklassierung, Prekarität) als auch Symbolträger – Repräsentanten einer aussterbenden urbanen Subjektivität, in der Sprache, Körper und Existenz untrennbar verbunden sind.
Nicht nur die Stadt, auch die Körper in Les Parrhésiens sind ruinös. Coligny mit seinem amputierten Bein, Fouettard mit seiner Papiermatratze und verzerrten Sätzen, der „Cheyenne“ mit seinen Verbrennungen – sie alle tragen die Spuren einer Gewalt, die in den Körper eingeschrieben ist. Der Körper ist bei Bordas nie ganz, nie heil, sondern immer verletzt, zerklüftet, überarbeitet. Aber gerade in dieser Zerrissenheit liegt Würde: Der ruinöse Körper wird zum Monument. In seiner Überformung, seiner grotesken Statik, seiner Obszönität liegt ein Widerstand gegen die glatten Körper der Fitnessstudios, gegen die ökonomisch optimierten Subjekte der Gegenwart. Der ruinöse Körper ist das, was übrig bleibt – und damit das, was noch spricht.
In der Figur des Erzählers kulminieren verschiedene Stränge der französischen Literaturgeschichte: Er ist zugleich Montaigne (in seiner Selbstbefragung), Rabelais (in seinem Sprachübermut), Genet (in seiner Zuneigung zu den „monstres“), Proust (in seiner Erinnerungsarbeit) und Céline (in seiner Körperfixierung und Sprachrhythmik). Diese Intertextualität ist nicht ornamental, sondern strukturell: Der Erzähler existiert nur durch diese anderen Stimmen, aber er transfiguriert sie durch die Muskulatur der Rede zu einer neuen, eigenen Stimme. Les Parrhésiens von Philippe Bordas ist ein Werk, das sich nicht einfach in eine literarische Tradition einfügt – es ist ein polyphones Sprachgebilde, das seine Energie aus der Konfrontation mit anderen Texten, Autoren und Diskursen zieht. Die Intertextualität ist bei Bordas kein bloßes Stilmittel, sondern ein existenzieller Mechanismus: Schreiben heißt für ihn, in die Archive der Literatur, der Philosophie, der Populärkultur und der Körpergeschichte einzutauchen und daraus eine neue, fieberhafte Form der Gegenwart herzustellen. In Les Parrhésiens bildet die Intertextualität eine vielschichtige Dimension, in der sich Hommage, Polemik, Aneignung und Parodie überlagern.
À moins d’une remontée naturelle des fluides enfouis, au modèle des puits artésiens, les nouveaux habitants des rues dévolues à l’argent vivaient sans savoir de l’histoire souterraine de la ville. Ils ignoraient l’enterrement de la Bièvre et l’enfouissement des petites populations. Le sol de Paris recelait des nappes captives, des voix englouties, mais ces êtres de surface vaquaient à ras des bitumes, glissés sur Pirelli, fluidifiés par les roulements annulaires de leurs scooters à trois roues, apeurés de la chute et du passé – sans conscience des alluvions infinies amassées sous leurs souliers pointus. À rebours de ces surfaciers, toujours à la frôle des façades, à la lèche des panonceaux immobiliers et des belles vitrines, les pousse-fonte de la salle Huyghens, casquettes sur la margelle, avaient puisé mots de gueule et vannes d’offense dans les sous-couches de l’ante-Paname, jusqu’à toucher le calcaire grossier et les débris de coquilles du tréfonds d’avant les Capétiens.
Fondés à l’invective contre les pisse-tiède, à la houspille contre les accapareurs, mes colporteurs d’aigus aimaient malaxer le limon français et touiller la lie que les grosses mains de Rabelais avaient déjà remuée. Je m’étais enchanté des railleries des vieux frolos, sans y percevoir de vraie nouveauté : bien vrai que les Retz et Levallois, si cruels et acides, étaient les héritiers des proto-habitants de la vieille Lutèce. Comme les carriers et les bâtisseurs de remparts, ils avaient gardé droit de fouille et privilège d’entrouvrir les viscères de la ville des Louis.
Sur les roches-mères du bassin parisien, à tels gouffres d’années, s’étaient déposés et décomposés quantité de sédiments subtils et de chants nés de la souffrance des pauvres : la complainte des Villon et Rutebeuf s’était gravée sur les gypses clairs des carrières limitrophes de Denfert, comme sur la tablette d’un scribe mésopotamien, puis dissoute, avec les ans, dans les fines argiles, diluées dans les marnes grasses. Les gros dialogues et les hurleries de la salle étaient dispersés de longtemps, mais avaient survécu, sous la forme d’un charbon poudreux, que la pluie et l’urine des chats avaient purifié, jusqu’à corroborer l’immuable terreau et amender la tourbe séculaire des natifs de Seine.
Philippe Bordas, Parrhésiens, Gallimard, 2025.
Sofern es nicht zu einem natürlichen Aufstieg der unterirdischen Flüssigkeiten nach dem Vorbild artesischer Brunnen kam, lebten die neuen Bewohner der dem Geld gewidmeten Straßen ohne Wissen über die unterirdische Geschichte der Stadt. Sie wussten nichts von der Beerdigung des Flusses Bièvre und der Beerdigung der kleinen Bevölkerung. Der Boden von Paris barg gefangene Schichten und versunkene Stimmen, aber diese Oberflächenmenschen lebten auf dem Asphalt, glitten auf Pirellis dahin, wurden von den Ringlagern ihrer dreirädrigen Roller verflüssigt, hatten Angst vor dem Fall und der Vergangenheit – ohne Bewusstsein für die endlosen Anschwemmungen, die sich unter ihren spitzen Schuhen angesammelt hatten. Im Gegensatz zu diesen Surfern, die immer an den Fassaden entlangschrammten und nach Immobilienschildern und schönen Schaufenstern lechzten, hatten die Donnerbüchsen des Huyghens-Saals mit ihren Mützen auf dem Rand die Unterschichten des antiken Panamahauses durchwühlt, bis sie den groben Kalkstein und die Muschelschalen aus der Zeit vor den Kapetingern berührten.
Die Schimpftiraden gegen die Pissnelken und die Hetztiraden gegen die Landnehmer waren mir in Fleisch und Blut übergegangen, und meine scharfen Kolporteure liebten es, den französischen Schlamm zu kneten und den Bodensatz zu rühren, den Rabelais‘ große Hände schon aufgewühlt hatten. Ich hatte mich an den Spötteleien der alten Frolos erfreut, ohne darin etwas wirklich Neues zu erkennen: Es stimmt, dass die so grausamen und sauren Retz und Levallois die Erben der Proto-Einwohner des alten Lutetia waren. Wie die Steinbrucharbeiter und die Erbauer der Stadtmauern hatten sie das Recht auf Ausgrabungen behalten und das Privileg, die Eingeweide der Stadt der Ludwigs zu öffnen.
In den Muttergesteinen des Pariser Beckens hatten sich im Laufe der Jahre zahlreiche subtile Sedimente und Lieder, die aus dem Leid der Armen entstanden waren, abgelagert und zersetzt: Die Klage der Villon und Rutebeuf hatte sich in den hellen Gips der an Denfert angrenzenden Steinbrüche wie auf die Tafel eines mesopotamischen Schreibers gebrannt und sich dann mit den Jahren in den feinen Tonen aufgelöst, die in den fetten Mergeln verdünnt wurden. Die großen Dialoge und das Gebrüll des Saals waren längst verstreut, hatten aber überlebt, als pulverige Kohle, die der Regen und der Urin der Katzen gereinigt hatten, bis sie den unveränderlichen Boden bestätigten und den jahrhundertealten Torf der Seine-Ureinwohner verbesserten.
Stilistisch und inhaltlich steht Les Parrhésiens in der Linie einer bestimmten französischen Literaturtradition, die sich durch eine Grenzüberschreitung zwischen Leben, Körper, Sprache und Gesellschaft auszeichnet. Auch die Sprache des Romans ist ruinenhaft. Sie besteht aus Archaismen, Jargons, Sprachsplittern. Der Erzähler klagt das „français exsangue“ der Gegenwart an und stellt dem eine Sprache der Überreste gegenüber: das Pariser Idiom der „Parrhésiens“, durchsetzt von alten Ausdrücken, Vulgarismen, zerbrochenen Bildern. Die Sprache selbst ist in Les Parrhésiens eine Trümmerlandschaft – aber sie singt. Diese „poétique des débris“ ist kein Verfall, sondern ein Neubeginn. In der zersplitterten Sprache entsteht ein Raum für Parrhêsia – für eine Rede, die riskant, mutig, nicht domestiziert ist. Die Ruine ist hier nicht das Ende der Sprache, sondern ihre Freisetzung. Der Satzbau folgt keiner Gliederung mehr, sondern einem Atem, einem Rhythmus, einer Spannung, die sich gegen die Linearität der Argumentation stellt.
Schon im Titel verweist Bordas auf François Rabelais, der die „Parrhésiens“ als jene Pariser bezeichnete, die sich durch „franche parole“ und „courage de gueule“ auszeichnen. Rabelais ist damit nicht nur ein Namensgeber, sondern auch ein stilistisches Urbild: Seine derbe Komik, seine Lust an neologistischer Sprachschöpfung, seine phantasmagorische Übertreibung kehren bei Bordas in radikalisierter Form wieder. Gleichzeitig wird die parrhêsia, im foucaultschen Sinn, zum zentralen Konzept: die Rede, die riskiert, die entblößt, die auf Machtverhältnisse keine Rücksicht nimmt. Bordas reaktualisiert Rabelais im urbanen Raum der Gegenwart – und schreibt damit gegen eine glatte, technokratische, „exsangue“ Sprachwelt an.
Stilistisch teilt Les Parrhésiens mit Céline die syntaktische Zersetzung, die musikalische Notation der Sprache, die elliptische Atemführung. Semantisch gibt es eine ähnliche Obsession mit den Körpern der Marginalisierten, mit Krankheit, Schmutz, Auswurf – all dies in einer Sprache, die zwischen Furor und Musikalität wechselt. Wie Céline sucht Bordas eine Sprache, die atmet, die keucht, die nicht erklärt, sondern trifft. Doch während Célines Stimme zunehmend zynisch und misanthropisch wird, bleibt Bordas dem Moment der Empathie verpflichtet: Seine „gueules cassées“ sind keine bloßen Figuren des Verfalls, sondern Träger einer eruptiven Lebenskraft.
Auch Jean Genet ist eine zentrale Figur der Bordas’schen Intertextualität: in der Inszenierung des Delinquenten als Heiliger, des Outcasts als Dichter, des Grotesken als Sakralem. Die „Parrhésiens“ ähneln Genets Figuren in Notre-Dame-des-Fleurs oder Le Balcon: Körperlich deformiert, sprachlich entfesselt, sexuell abweichend – aber immer Träger einer eigenen Form von Würde. Von Antonin Artaud übernimmt Bordas die Idee eines „théâtre de la cruauté“, übertragen auf den Text: Les Parrhésiens ist ein Theater der Schreie, der Schmerzen, der Wiederholung. Die Sprache ist hier kein Repräsentationsinstrument, sondern ein Mittel der Zersetzung und Verwandlung. Artauds „corps sans organes“ wird bei Bordas zum „corps à la barre“, zum Muskelkörper, der schreibt.
In der Figur des Erzählers spiegelt sich eine nietzscheanische Geste: der Wunsch, sich selbst neu zu schaffen – jenseits von Herkunft, Schwäche, Norm. Die Ikarus-Metapher, das Motiv des Selbstüberstiegs, der Wille zur Kraft – all das verweist auf Nietzsche. Vor allem der späte Nietzsche des Zarathustra dient als poetisch-philosophischer Hintergrund. Der Erzähler will nicht nur Muskeln, sondern eine neue Stimme. Die körperliche „Bravoure“ ist Voraussetzung für eine neue Schrift, eine „écriture légère“ im Sinne Nietzsches. Gleichzeitig wird die Gefahr des Absturzes, die Ikarier-Figur, nie ausgeblendet – das Schreiben bleibt eine Bewegung am Rand des Abgrunds.
Bordas’ Text ist auch eine Form der autoethnographischen Arbeit. Der Erzähler ist Beobachter und Teilhaber, Anthropologe und Proband, Forscher und Objekt zugleich. In dieser Hybridität erinnert Les Parrhésiens an Michel Leiris – insbesondere an dessen L’Âge d’homme oder La Règle du jeu. Auch bei Leiris ist das Schreiben eine Enthüllung des Selbst durch das Andere. Der Gang in die Turnhalle wird bei Bordas zu einer Expedition ins kulturell Unbewusste der Stadt. Die Sprache der Körper, der Geruch des Raums, die Schreie und „vannes“ sind keine exotischen Beobachtungsobjekte – sie verändern den Beobachter. Intertextualität ist hier keine literarische Referenztechnik, sondern ein Teil der Ich-Transformation.
Die Intertextualität bei Bordas ist kein Ornament. Sie ist keine Fußnote, keine Spielerei. Sie ist Kampf. Jeder literarische Bezug wird in den Körper überführt, in den Muskel, in den Satz, in den Atem. Die Texte, auf die sich Bordas bezieht, werden nicht zitiert, sondern aufgesogen, verdaut, transformiert. Es entsteht eine Sprache, die widerständig, muskulös, literaturgesättigt ist – aber nie akademisch, nie steril.
Gegenmacht der Straße
Im Zentrum von Les Parrhésiens steht eine spezifische Form der Männlichkeit – rau, ungeschönt, verletzlich, obszön, tragisch. Diese Männlichkeit hat nichts mit der normierten virilität der Fitnessindustrie oder der romantisierten Schwermut des Flaneurs zu tun. Es ist eine Männlichkeit der Grenze, des Abbruchs, der Rebellion. Die Männer in der Turnhalle sind nicht Helden, sondern Überlebende. Ihre Kraft ist nicht inszeniert, sondern echt – und zugleich grotesk. Bordas schreibt gleichwohl keine Apologie des Patriarchats. Vielmehr zeigt er, wie sich eine untergehende Männlichkeit noch einmal aufbäumt – in der Sprache, in der Geste, in der Pose. Es ist ein heroisches, aber hoffnungsloses Aufbäumen. Der „Cheyenne“, der „Coligny“, der „Macoute“ – sie sind keine Vorbilder, sondern Archäologien. Sie gehören einer Welt an, in der Sprache und Körper noch ungetrennt waren, in der Verletzung zugleich Performance war. In der Inszenierung dieser Männlichkeiten liegt zugleich ein Impuls zur Dekonstruktion. Der Erzähler selbst ist kein Mann der Kraft, sondern der Beobachtung. Seine Transformation ist nicht eine des Triumphes, sondern der Fragilität. Wenn er seinen Körper stählt, dann nicht zur Dominanz, sondern zur sprachlichen Reaktivierung. Die Muskeln sind keine Waffen, sondern Resonanzräume.
Ein zentrales Anliegen von Les Parrhésiens ist die Wiederaneignung des Sprachraums durch die Straße. In einer Stadt, deren Diskurse zunehmend von standardisierten, medienkompatiblen und ökonomisierten Formen beherrscht werden, erscheint das sprachliche „Rhizom“ der Gymnasiasten als anarchische Gegenmacht. Ihre Rede ist multipel, eruptiv, „anormal“ – wie Bordas selbst sagt: „les anomaliques“. Diese „anomalische“ Sprache ist eine Art Bastardidiom: Sie vereint Sozialjargon, Altsprache, Slang, grammatikalisch verfremdetes Französisch und eine eigene, imaginäre Prosodie.
Die Sprache der „Parrhésiens“ ist „minoritäre Sprache“, sie operiert an den Rändern des Diskurses, bricht Regeln, schafft neue Rhythmen. Sie ist ein Akt kollektiver Selbstermächtigung, aber auch ein Ort der Lust. In der gegenseitigen Beschimpfung, im Jonglieren der Vulgärwörter, in der „vannerie“ und „tchatche“ liegt eine unzähmbare Freude: Sprache wird Spiel, Subversion, Tanz. Gleichzeitig aber ist diese Sprache nicht unschuldig. Sie ist gewalttätig, exkludierend, misogynisch. Sie gehört nicht den Marginalisierten als solchen, sondern einem spezifischen männlichen Milieu, das sich durch Stärke und Lautstärke definiert. Bordas idealisiert das nicht, aber er nimmt es ernst. Der „Corps poetæ“ in seinem Roman ist kein Chor von Engeln – sondern ein Gewusel von Furien, Gauklern und Predigern.
Genealogie und Moderne
Ein wiederkehrendes Motiv in Les Parrhésiens ist die genealogische Spurensuche: Die Suche nach der verlorenen Stadt, nach dem verlorenen Volk, nach dem eigenen Ursprung. Die „Parrhésiens“ sind nicht bloß ein Jargon, sondern ein Ethos. Ihre „généalogie locative“ reicht bis in die Nachkriegszeit, zu den alten Pariser Vierteln, zu den „biffins“, den „poètes à vélo“, den „soudeurs aux bottines“. Bordas entwirft eine alternative Geschichtsschreibung der Stadt – eine, die nicht auf Monumenten, sondern auf Sprachsplittern, Körperresten und Gesten beruht. In dieser Geschichtsschreibung erscheinen auch Nebenfiguren wie Yvonne, die Concierge, als Trägerinnen des städtischen Gedächtnisses. Die Geschichte wird hier nicht durch Archive vermittelt, sondern durch Gerüche, Blicke, Sätze. Die Gymnastikhalle wird zum Archiv der Körper, zum Mausoleum der Bewegungen. Sie ist ein „atlas du crime“, ein „corpus poetæ“, ein „tombeau de Marcel“ – die Kapitelüberschriften selbst verweisen auf eine poetisch-kartographische Struktur. Der Roman liest sich als zerfranste Odyssee durch die „zones de friche“ des Pariser Gedächtnisses.
Les Parrhésiens ist nicht bloß eine Beschwörung einer untergegangenen Welt, sondern auch eine tiefgreifende Kritik an der Gegenwart. Der Roman stellt der gentrifizierten, aseptischen, neoliberalen Großstadt eine wilde, unkontrollierte, „unhygienische“ Gegenkultur gegenüber. Die Sprache der Gegenwart – glatt, gebildet, korrekt – erscheint als symptomatisch für eine tieferliegende gesellschaftliche Entleerung. Bordas lässt seinen Erzähler feststellen, dass „le vrai Paris“ – der lebendige, widerständige, subversive Stadtraum – längst begraben wurde, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Reaktion darauf ist keine bloße Klage, sondern eine literarische Aufrüstung. Les Parrhésiens ist selbst ein „trompe-la-mort“, ein „coït sacré“ – ein Versuch, der Verdampfung des Subjekts durch ein poetisches Exzesswerk zu begegnen. Die stilistische Überfülle, die Körperlichkeit der Rede, die barocke Bildwelt sind als Gegengift zur semantischen Sparsamkeit der Gegenwart zu verstehen. Die Sprache wird zur politischen Handlung, das Schreiben zum Körpertraining, die Literatur zum Überleben. Und doch bleibt in diesem Kampf ein melancholischer Grundton. Der Erzähler weiß, dass seine „Ikarier“-Flüge nicht in den Himmel führen, sondern absturzgefährdet sind. Die „Parrhésiens“ sind keine Sieger, sondern Schatten. Ihre Welt ist brüchig, vergänglich, gefährdet. Die literarische Beschwörung ihrer Existenz ist auch ein „tombeau“, ein poetisches Mausoleum.
Mit Les Parrhésiens legt Philippe Bordas einen Roman vor, der sich gleichzeitig als ethnographische Tiefenbohrung, sprachliche Kampfansage, groteskes Epos und poetisches Manifest lesen lässt. Im Zentrum steht nicht ein Plot, sondern eine Erfahrung: die Erfahrung, in einer Welt zu leben, die keinen Platz mehr für körperliche, sprachliche und soziale Abweichung lässt – und diese dennoch mit aller Kraft zurückzuerobern. Die „Parrhésiens“ sind keine Helden. Sie sind Sprachkörper. Widerstandsmuskeln. Letzte Zeugen eines anderen Paris – eines Paris, das sich nicht als Konsumzone versteht, sondern als Arena, als Agora, als heiliges Irrenhaus. Die Sprache, die sie sprechen, ist keine Sprache der Repräsentation, sondern der Transformation. Sie spricht nicht über die Welt – sie erschafft eine neue. Bordas’ Roman ist in seiner überbordenden Form, seiner exzessiven Sprache und seinem poetischen Furor eine literarische Ausnahmeerscheinung – und vielleicht die eindrücklichste Antwort auf die Frage: Wie kann man heute noch radikal schreiben?
Im letzten Teil des Romans verdichtet sich Paris zur Szene eines sozialen und kulturellen Widerstands. Die „Parrhésiens“ sind keine Revolutionäre im klassischen Sinn – sie betreiben keine Politik. Aber sie leben im Widerstand: gegen Sprachnormen, gegen Körperideale, gegen Gentrifizierung, gegen kulturelle Homogenität. Ihre Existenz ist subversiv – durch Lautstärke, durch Stil, durch ihre Weigerung, unsichtbar zu werden. Der Erzähler schließt sich ihnen nicht vollständig an. Er bleibt ein Außenseiter, ein „intrus“. Aber er lässt sich von ihnen verwandeln – poetisch, körperlich, existenziell. In dieser Annäherung entsteht eine neue Idee von Paris: nicht als Territorium, sondern als Haltung. Die Stadt wird zum Möglichkeitsraum für Sprachwiderstand, für Körperästhetik, für soziale Metamorphose.
Die Ruinen im Text sind Träger von Erinnerung – nicht im Sinne der Historie, sondern im Sinne des gelebten, körperlich gespeicherten Erlebens. Der Protagonist erinnert sich nicht durch Nachdenken, sondern durch Bewegung, durch Geruch, durch Sprache. Die Halle ist ein Speicherraum, ein „tombeau“ im barocken Sinn: ein Ort, an dem nicht Trauer, sondern poetische Wiedergeburt möglich ist. Diese Ruinenpoetik ist zutiefst melancholisch – aber nicht nostalgisch. Der Roman trauert nicht um das Vergangene, sondern gibt dem, was zerstört wurde, eine Stimme. In diesem Sinne ist Les Parrhésiens eine „archéologie du présent“: ein Versuch, in den Trümmern der Gegenwart die Möglichkeiten einer anderen Zukunft zu entdecken.
In Les Parrhésiens wird Paris selbst zum Text, zum Organismus. Die Stadt ist nicht nur Gegenstand des Romans, sondern seine Voraussetzung. Bordas schreibt Paris nicht als Ort, sondern als Substanz. Die Stadt ist Erinnerung und Sprache, Gewalt und Schönheit, Rhythmus und Stille. Sie ist – wie die Parrhésiens – grotesk, heroisch, verletztlich und unwiderstehlich lebendig. Philippe Bordas hat mit diesem Roman ein monumentales Sprachdenkmal für ein anderes Paris errichtet – ein Paris aus Stimmen, Körpern, Blicken. Ein Paris, das sich nicht postkartentauglich zeigt, sondern widerständig, tief, unverschämt. Ein Paris, das weiterlebt – im Text, in der „parole forte“, im „corps poetæ“.
Mit zunehmender Intensität seines Trainings, aber auch seiner literarischen Sprache, erfährt der Erzähler eine Krise: Er verliert fast die Sprache – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Die „parole pleine“, die er suchte, droht ihn zu zerstören. Die Nähe zur Gewalt, zum Schmerz, zur sozialen Zerrüttung schlägt um in Erschöpfung. Er zieht sich zurück – körperlich wie sprachlich. Diese Phase markiert einen Wendepunkt: Der Erzähler erkennt, dass auch die Sprache der „Parrhésiens“ nicht rein ist, nicht heilend, sondern ebenso verletzend, ausschließend, destruktiv sein kann. Die „parrhêsia“ ist kein romantisches Ideal, sondern ein gefährlicher Akt. Am Ende des Romans zieht sich der Erzähler zurück in seinen Balkonraum – aber verändert. Er schreibt nun mit einer neuen Stimme, einer Sprache, die nicht mehr nur literarisch ist, sondern durchtrainiert, atmend, rhythmisch. Er hat die Sprache der „Parrhésiens“ nicht einfach übernommen, sondern sie durchlebt und transformiert. Das Buch, das wir lesen, ist das Ergebnis dieser Verwandlung.
Anmerkungen- Vgl. dazu: Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit: philosophisch, philologisch, politisch, hrsg. von Petra Gehring und Andreas Gelhard (Zürich und Berlin: diaphanes, 2012).>>>