Inhalt
Umdeutung familiärer Geschichte
Im Rahmen der autobiografischen Reihe „Traits et portraits“ des Mercure de France, die seit Jahren hybride Selbstentwürfe zwischen Bild und Text publiziert, fügt NDiaye ihrer eigenen literarischen Untersuchung familiärer Konstellationen ein weiteres Kaleidoskop hinzu – diesmal im Zeichen der Vaterschaft. Marie NDiayes Le Bon Denis (2025) ist ein Werk von nur 136 Seiten, das sich dennoch in die autobiografische Spurensuche der Autorin einreiht – und diese weiter verkompliziert. Bereits mit ihrem Autoportrait en vert (2005) hatte NDiaye in derselben Reihe das Porträt ihrer Mutter vorgelegt – ein Text, der weniger enthüllte als verwischte, der autobiografisches Erzählen nicht als Akt der Erinnerung oder als Bekenntnis darstellte, sondern als poetisch-performative Praxis, als ein Spiel mit Erscheinung, mit Verschiebung und Verunsicherung inszenierte. Le Bon Denis steht in dieser Tradition und steigert zugleich den poetischen Gestus des Nichtwissens und der Konstruktion im Angesicht der biografischen Leerstelle des Vaters. Der in vier Prosastücke gegliederte Band umkreist die Abwesenheit und Abgründigkeit des Vaters, der einst die Familie verließ – ohne diesen Verlust psychologisch zu erklären oder aufzulösen. Stattdessen legt NDiaye ein literarisches Kaleidoskop vor, das mit Perspektivverschiebungen, ironischem Sprachgebrauch, dem Spiel mit Fakt und Fiktion sowie intermedialen Einschüben operiert.
Ils contemplaient alors, simplement, le vide, de leurs yeux soudain vagues, rêveurs.
Je n’ai jamais pensé que mon père, révérencieux devant pépé et mémé, avide de leur complaire, avait pu souffrir de constater que leur regard le traversait, hâtif, ce regard, anxieux de ne lui laisser nul espoir d’entrer pleinement dans la famille.
Je n’ai jamais pensé que mon père avait souhaité, peut-être, entrer pleinement dans cette famille dont les facultés intellectuelles ne valaient pas, loin de là, les siennes. Mais que valaient celles-ci, dans cette famille, en regard de l’abjection d’un nez camus, lèvres grosses, sombre peau ?
Je n’ai jamais pensé que mon père nous avait fuies, jolie maman, gentille fillette, par ennui de jouer désespérément devant pépé et mémé un personnage auquel ceux-ci étaient déterminés, éduqués, résolus à ne jamais croire – comme on le sait d’emblée devant certains mauvais films : on ne croit pas à ce personnage.
Marie NDiaye, Le bon Denis, Mercure de France, 2025.
Sie starrten einfach nur in die Leere, mit plötzlich vagen, träumerischen Augen.
Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater, der vor Opa und Oma so ehrfürchtig war und ihnen so gerne gefallen wollte, darunter gelitten haben könnte, dass ihr Blick ihn hastig durchdrang, dieser Blick, der ihm keine Hoffnung lassen wollte, jemals ganz in die Familie aufgenommen zu werden.
Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater sich vielleicht gewünscht hatte, voll und ganz in diese Familie aufgenommen zu werden, deren intellektuelle Fähigkeiten bei weitem nicht an seine heranreichten. Aber was waren diese Fähigkeiten in dieser Familie schon wert angesichts der Abscheulichkeit einer stumpfen Nase, dicker Lippen und dunkler Haut?
Ich habe nie gedacht, dass mein Vater uns verlassen hatte, meine hübsche Mutter, mein süßes kleines Mädchen, weil er es leid war, vor Opa und Oma verzweifelt eine Rolle zu spielen, an die diese nicht glauben wollten, weil sie entschlossen, gebildet und fest entschlossen waren, ihr niemals zu glauben – so wie man es bei manchen schlechten Filmen von Anfang an weiß: Man glaubt dieser Figur nicht.
Marie NDiayes neues Werk Le Bon Denis ist eine radikal subjektive und zugleich dezidiert uneindeutige Auseinandersetzung mit der Figur des Vaters – oder vielmehr: mit dem Echo seiner Abwesenheit. Die Autorin entwickelt einen polyphonen Text in vier Segmenten, die zwischen Erzählperspektiven, Fakt und Fiktion, Erinnerung und Projektion wechseln. Die diskrete, aber stete Präsenz des Vaters, der zugleich real und imaginär ist, wirkt dabei als Katalysator einer Reflexion über Herkunft, Sprache, Fremdheit und Identität. Die vier in sich abgeschlossenen, aber lose miteinander verbundenen Prosastücke verwenden jeweils eine eigene Stimme, Perspektive und Darstellungsweise. Den äußeren Rahmen bilden zwei Erzählungen, die explizit mit autobiografischen Parametern spielen, diese aber auch ironisch brechen. So wird etwa im ersten Text die Mutter der Erzählerin – als senile Frau gezeichnet – befragt, ob tatsächlich der Vater die Familie verlassen habe. In verstörender Verkehrung behauptet sie nun, sie selbst habe Mann und Kinder verlassen – für einen gewissen Denis. Die Episode wird so zu einem Spiel mit Täuschung, Erinnerungslücken und Machtfantasien. Die Möglichkeit der Umdeutung von Familiengeschichte wird sprachlich als ironisch mäandernde Erzählung inszeniert, in der das Reale zunehmend entgleitet. – Der zweite Text operiert als Doppelporträt der Eltern, wobei jeweils kurze Passagen die Kindheit und Jugend der Mutter (in Frankreich) und des Vaters (im Senegal) spiegeln. Diese Parallelisierung ohne psychologische Durchdringung wirkt wie eine dokumentarisch montierte Kontrastfolie – ein sprachliches Tableau, das Differenz und Unverständnis nicht auflösen will. Der dritte Teil ist der persönlichste und rückt den „Ich“-Diskurs in den Vordergrund: Hier skizziert die Autorin retrospektiv, was sie „immer geglaubt“ habe über das Leben ihres Vaters in Frankreich – seine Zurücksetzung, seine Intelligenz, die rassistische Namensänderung („On t’appellera Denis“) – und formuliert zugleich, was sie sich nie zu fragen getraut habe. Schreiben wird hier zur Ethik des Fragens angesichts eines Schweigens, das nicht nur biografisch, sondern historisch und gesellschaftlich codiert ist. – Der vierte Text schildert aus einer distanzierten dritten Perspektive die Begegnung einer jungen Frau mit ihrem Vater, der sie als Säugling verlassen hat. In einer symbolisch aufgeladenen Szene wird diese Konfrontation zu einer Meditation über Zeichen, Missverständnisse und die Unmöglichkeit der eindeutigen Erkenntnis. Der Begriff der „lucidité“ – der am Anfang und am Ende des Buches wiederkehrt – markiert das Paradox einer durch Literatur gewonnenen Klarheit, die keine Auflösung, sondern ein neues Sehen bedeutet.
Abwesenheit des Vaters
Zentral ist das Thema der Abwesenheit, das sich wie ein roter Faden durch NDiayes Werk zieht, von Autoportrait en vert (2005) bis zu Trois femmes puissantes (2009). In Le Bon Denis erhält die Abwesenheit des Vaters jedoch eine andere Qualität: Sie wird nicht als Trauma behandelt, sondern als unlösbares Rätsel, das die Tochter zum Sprechen zwingt, ohne jemals eine endgültige Antwort zu geben. Ein weiteres Leitmotiv ist die Rolle von Sprache und Namen. Die Umbenennung des Vaters durch seine französischen Schwiegereltern (von einem nicht genannten afrikanischen Namen in „Denis“) ist ein Akt kolonialer Gewalt auf der Mikroebene der Familie – eine symbolische Auslöschung von Identität durch sprachliche Einverleibung. Der Name „Denis“ wird so zum Schauplatz kolonialer Assimilation und innerfamiliärer Verdrängung. Dem entspricht Ndiayes ästhetische Praxis, die Erinnerung und Imagination nicht trennt, sondern sie miteinander verschränkt. Träume durchziehen den Text, Visionen und Rückblenden überlagern sich, Identitäten kommen ins Gleiten. Die Frage nach dem „bon“ im Titel – dem guten Denis – wird nicht affirmativ beantwortet, sondern in ambivalente Richtungen geöffnet: Was bedeutet Güte, wenn sie auf Selbstverleugnung beruht? Kann Güte zerstörerisch sein, wie die Erzählerin vermutet?
1. Erinnertes Verschwinden
Denis, oui. Pourquoi dites-vous le bon Denis ?
C’est ainsi qu’on me parle de lui. N’est-ce pas exact ?
Oh si, oh si. Si, si. Le trop bon Denis, voyez-vous, l’excessivement bon Denis peut-être mais, bon, il l’était, je suppose.
Vous n’en êtes pas persuadée ?
Oh si, si. Sa bonté, voyez-vous, était comme un tonnerre. Non, je me trompe, sa bonté était comme le feu lent du ciel qui descend sur votre âme et vous convainc, vous engourdit, vous fait vous sentir peu de choses mais vous remplit de l’espoir que vous parviendrez, à force de recueillement, d’intégrité et d’honneur, à devenir vous-même une bienheureuse. Denis, voyez-vous, sans le savoir ni le souhaiter, était un saint, vraiment. Parfois, comme tous les saints, je suppose, terrible, terrifiant dans sa grandeur qu’il ne soupçonnait pas. Implacable dans la rigueur d’une bonté dont il n’avait pas la moindre conscience, évidemment. Cela vous concerne, d’ailleurs.
Moi ? Mais je ne le connais pas, vous savez.
Marie NDiaye, Le bon Denis, Mercure de France, 2025.
Denis, ja. Warum sagen Sie „der gute Denis“?
So spricht man von ihm. Ist das nicht richtig?
Oh doch, oh doch. Ja, ja. Der allzu gute Denis, verstehen Sie, der überaus gute Denis vielleicht, aber gut war er, nehme ich an.
Sind Sie nicht davon überzeugt?
Oh doch, doch. Seine Güte, sehen Sie, war wie ein Donnerschlag. Nein, ich irre mich, seine Güte war wie ein langsames Feuer vom Himmel, das auf Ihre Seele herabfällt und Sie überzeugt, Sie betäubt, Sie sich unbedeutend fühlen lässt, aber Sie mit der Hoffnung erfüllt, dass Sie es durch Besinnung, Integrität und Ehre schaffen werden, selbst eine selige Person zu werden. Denis, sehen Sie, ohne es zu wissen oder zu wollen, war wirklich ein Heiliger. Manchmal, wie alle Heiligen, nehme ich an, schrecklich, furchterregend in seiner Größe, die er nicht ahnte. Unerbittlich in der Strenge einer Güte, derer er sich natürlich nicht im Geringsten bewusst war. Das betrifft übrigens auch Sie.
Ich? Aber ich kenne ihn doch gar nicht, wissen Sie.
Der erste Text eröffnet mit einem Dialog zwischen der erwachsenen Tochter – in der viele autobiografische Züge Marie NDiayes erkennbar sind – und ihrer alten Mutter, die in einem Heim lebt. Thema ist der Auszug des Vaters aus der Familie, eine traumatische Urszene, die die Tochter nie verstanden hat. Doch dann trägt die Mutter, getrieben von Altersverwirrung oder boshaftem Spiel, eine überraschende Version vor: Sie sei es gewesen, die den Vater verlassen habe, um mit einem Kollegen namens Denis zusammenzuleben – einem außergewöhnlich gerechten, freundlichen und stillen Mann, der sich um die kleine Tochter gekümmert habe, bis auch er verschwunden sei. Die Tochter ist verwirrt: Handelt es sich um Wahrheit, um Demenz oder Manipulation? Die Mutter bleibt ungreifbar, mal weinerlich, mal schadenfroh, mal rührend. Die Erinnerung wird hier zu einem instabilen Raum, in dem es keine gesicherte Version der Vergangenheit gibt. Sprachlich dominiert ein ironischer Ton: Die Sätze mäandern, brechen ab, kehren zurück, legen sich gegenseitig falsche Fährten.
Der Text dekonstruiert die Erwartung eines geradlinigen autobiografischen Geständnisses. Die Tochter wird mit der Möglichkeit konfrontiert, dass der „gute Vater“ Denis gar nicht ihr leiblicher Vater war – oder doch? Der Name „Denis“ beginnt, als Projektionsfläche zu wirken, als Phantom, als Platzhalter für alle Formen von Abwesenheit und Begehren. Formal wird der biografische Diskurs durch die Perspektive der Mutter zersetzt – einer Frau, deren Worte weder vertrauenswürdig noch eindeutig sind. Damit eröffnet der Text das zentrale Motiv des Bandes: die Vervielfältigung von Versionen, das Schwanken zwischen Erinnerung und Lüge.
2. Zwei Kindheiten – Beauce und Senegal
In einer strukturell stark gegliederten, fast parataktisch komponierten Collage werden im zweiten Prosastück zwei Lebensgeschichten parallelisiert: Die der Mutter in der französischen Provinz Beauce und die des Vaters im Senegal. Die Abschnitte sind kurz und pointiert, sparsam kommentiert. Man liest von der Härte der Kindheit, der Schule, der frühen Jugend, von sprachlichen, sozialen, ethnischen Prägungen – aber auch von den Leerstellen dazwischen. Der Text bleibt kühl, fast dokumentarisch – und doch ist eine Spannung zwischen den Zeilen spürbar: Die parallelen Lebenswege nähern sich nie an, sondern bleiben unverbunden. Es entsteht eine Struktur der Nichtbegegnung, ein doppelter Monolog.
Der Text versucht, den Kontext zu skizzieren, aus dem heraus das spätere Unverständnis, die Trennung, die familiäre Fremdheit erwächst. Die Herkunft der Eltern erscheint als Gegensatz: französische Enge und senegalesische Ferne, aber auch zwei Arten von Schweigen. Die Tochter (und damit die Erzählerin) schreibt gegen die Undurchsichtigkeit ihrer Herkunft an, ohne eine Verbindung zwischen den Welten herzustellen. So entsteht eine topografisch strukturierte Leerstelle, eine Karte ohne Brücke.
3. Das Ich befragt den Mythos

Marie NDiaye enfant. Photo archives de l’auteur. in Le bon Denis, p. 78.
Im dritten Teil spricht das Ich der Autorin – diesmal deutlich autobiografisch markiert – direkt und mit klarem Wahrheitsanspruch. Es handelt sich um eine Art Selbstvergewisserung im Modus der Negation: Die Erzählerin zählt auf, was sie immer geglaubt habe und woran sie nie gedacht hat. Es ist ein Text des Zweifels, der sich nicht an das Faktische erinnert, sondern an dessen narrative Konstruktion. Das zentrale Moment: der Rassismus, den der Vater erlebte. Die Zuschreibungen an sein Äußeres – „lèvres grosses, nez camus, sombre peau“ – haben seine Möglichkeiten in Frankreich sabotiert. Auch seine zukünftigen Schwiegereltern geben ihm einen anderen Namen: „On t’appellera Denis“. Der Name wird zum Zeichen der Anpassung, der Auslöschung oder der Re-Inszenierung. Denis ist kein Vatername mehr, sondern ein kolonialer Code.
J’ai, enfant, toujours cru qu’on ne pouvait que se sentir, à Dakar, accablé, asservi, empêché.
J’ai toujours cru, enfant, que l’intense satisfaction qui était la mienne d’être une petite Française, vivant dans le plus beau pays du monde, ainsi qu’on disait à l’époque, mon père venant de Dakar n’avait pu que la ressentir également pour lui, bien qu’il ne fût pas complètement français. Mais comment, pensais-je vaguement, ne pas se sentir heureux et fier de vivre dans le plus beau pays du monde et d’y avoir, en plus, une vraie petite Française de fille ?
J’ai toujours cru que mon père avait toutes les raisons, venant accablé asservi empêché de Dakar, de se réjouir d’avoir la chance et l’honneur d’élever une fille à Paris aux côtés de maman qu’il avait eu le bonheur de rencontrer, venant de Dakar.
J’ai toujours cru que, s’il n’avait pas su apprécier à leur juste mesure cette chance et cet honneur, puisque, la chance et l’honneur, il les a fuis ou peut-être, plutôt, il s’en est éhontément délesté lorsqu’il a abandonné maman et petite fille en 1968, c’est parce qu’il avait été un homme inconséquent, égoïste, avide d’une existence imaginaire dans laquelle, privé de nous, il serait plus grand.
J’ai toujours cru que mon père s’était trompé en quittant brutalement la France, plus beau pays du monde, jolie maman et fillette irréprochable.
Marie NDiaye, Le bon Denis, Mercure de France, 2025.
Als Kind habe ich immer geglaubt, dass man sich in Dakar nur bedrückt, versklavt und behindert fühlen konnte.
Als Kind habe ich immer geglaubt, dass die intensive Zufriedenheit, die ich empfand, weil ich eine kleine Französin war, die im schönsten Land der Welt lebte, wie man damals sagte, mein Vater, der aus Dakar stammte, nur für sich selbst empfinden konnte, obwohl er nicht ganz Franzose war. Aber wie, dachte ich vage, konnte man nicht glücklich und stolz sein, im schönsten Land der Welt zu leben und dazu noch eine echte kleine Französin als Tochter zu haben?
Ich habe immer geglaubt, dass mein Vater, der aus Dakar vertrieben, unterdrückt und daran gehindert worden war, nach Paris zu kommen, allen Grund hatte, sich über das Glück und die Ehre zu freuen, eine Tochter in Paris an der Seite meiner Mutter großziehen zu können, die er aus Dakar mitgebracht hatte.
Ich habe immer geglaubt, dass er, wenn er dieses Glück und diese Ehre nicht richtig zu schätzen wusste, denn er ist vor diesem Glück und dieser Ehre geflohen oder hat sich vielleicht sogar schamlos ihrer entledigt, als er 1968 meine Mutter und seine kleine Tochter verlassen hat, dann deshalb, weil er ein inkonsequenter, egoistischer Mann war, der sich nach einem imaginären Leben sehnte, in dem er ohne uns größer gewesen wäre.
Ich habe immer geglaubt, dass mein Vater einen Fehler gemacht hat, als er Frankreich, das schönste Land der Welt, seine hübsche Frau und seine makellose kleine Tochter so brutal verlassen hat.
Der dritte Text ist der einzige, in dem NDiaye klar Stellung bezieht. Es geht um das Bewusstsein einer Tochter, die sich der kolonialen und rassistischen Struktur Frankreichs in den 1960er Jahren stellt. Die Gewalt, die den Vater traf, wird nicht sentimentalisiert, sondern durch genaue Beobachtung und feine, schmerzhafte Ironie sichtbar gemacht. Der autobiografische Impuls bricht hier durch – aber auch hier nur in einer rhetorischen Bewegung des „Ich glaube“ und „ich habe nie gedacht“. Der Vater bleibt Projektion und Schatten.
4. Gescheiterte Begegnung
In der letzten Erzählung trifft eine junge Frau, von der man annimmt, sie sei die Tochter, auf den abwesenden Vater. Doch das Treffen gerät zur Farce, zur Schauplatz für Missverständnisse. Die Tochter versucht, aus „signes brouillés“ – verwirrenden Zeichen – eine Wahrheit herauszulesen und bleibt doch im Unklaren. Erst am Ende zeigt sich eine fragile, mühsam errungene „lucidité“ – ein Begriff, der bereits zu Beginn des Buches eingeführt wurde. Es ist eine Klarheit ohne Inhalt, eine Form der Resignation ohne Trost. Die Sprache ist hier von einer bitteren Komik durchzogen, die an Becketts Dialoge erinnert: Reden, ohne etwas sagen zu können, eine existenzielle Sackgasse.
Die letzte Erzählung führt das Motiv der Begegnung an seine Grenzen. Die Suche nach dem Vater wird zur Konfrontation mit Zeichen, die nichts bedeuten, mit Blicken, die einander verfehlen. Die Tochter verlässt die Szene nicht mit einer Erkenntnis, sondern mit einem leeren Begriff: „lucidité“. Es ist das Wissen um die Unmöglichkeit von Wahrheit. Der Text schließt das Buch, indem er noch einmal die Hoffnung auf Auflösung verspricht – um sie dann endgültig zurückzunehmen.
Ethik der Unschärfe
Formal besticht der Text durch eine stilistische Leichtigkeit, die zugleich hochkomplex ist. Lange, mäandernde Sätze, ironische Brechungen, subtile Tempowechsel prägen die Prosa. NDiaye nutzt die erste, zweite und dritte Person, um Erzählperspektiven gegeneinander auszuspielen. Die Reihung von Reflexion, Anekdote, innerem Monolog und fiktivem Dialog erzeugt eine literarische Polyphonie, die dem kaleidoskopischen Charakter des Textes entspricht.
Was NDiaye konsequent verweigert, ist eine eindeutige autobiografische Lesbarkeit. Auch wenn der Text auf der Realität basiert, stellt er sich nicht in den Dienst der Aufklärung, sondern des „ajout du flou“, wie Leyris es nennt. Diese literarische Ethik der Unschärfe ist NDiayes Signatur: Statt die Vergangenheit zu rekonstruieren, konstelliert sie Stimmen, Bilder, Fragmente – nicht um zu erklären, sondern um die Wahrnehmung zu schärfen.
Der Vater erscheint in Le Bon Denis nicht als Figur mit psychologischer Tiefe, sondern als Silhouette, als schemenhafte Präsenz. Er ist nicht Gegenstand einer biografischen Untersuchung, sondern Projektionsfläche für Fragen nach Identität, Zugehörigkeit und kulturellem Erbes. Die Abwesenheit des Vaters ist nicht nur familiär, sondern strukturell bedingt: Sie verweist auf die Leerstelle des Väterlichen in einem literarischen Diskurs, der Mutterschaft weitaus häufiger thematisiert hat. Zugleich aber steht dieser Vater aber auch für den Afrikaner in Europa, für den „Anderen“, der nie ganz Teil des „Wir“ wird – und auch nicht ganz zu seinen Kindern gehört.
NDiayes Literatur verweigert jede Versöhnung. Sie formuliert keine Anklage, aber auch keine Vergebung. Die „lucidité“, von der am Anfang und am Ende des Buches die Rede ist, meint eine Klarheit, die sich nicht durch das Erinnern, sondern durch die Form des Schreibens einstellt – durch die Struktur der Mehrdeutigkeit, durch das Spiel der Perspektiven, durch die poetische Konstruktion eines Raumes, in dem das Schweigen des Vaters nicht gefüllt, sondern hörbar gemacht wird.
Autofiktion als kritisches Verfahren
NDiaye entwickelt hier ihre radikal literarische Version des autobiografischen Schreibens weiter: als Produktion von Uneindeutigkeit, von Konfrontation mit der Leerstelle. Die Illustrationen – bewusst fremde, teilweise unkenntliche Fotografien – verstärken diesen Effekt: Sie destabilisieren die Authentizitätserwartung des Lesers und eröffnen stattdessen einen Raum der Imagination.
Que la mère, dans son inconséquence roublarde, ses amnésies dilatoires, son attrait confus pour les secrets sans importance, fût, de ces forces, la première, ne prouvait pas qu’elle en était la plus déterminante ni la plus résolue, la mère avait été un obstacle relâché, la mère n’était ni méchante ni cruelle, elle se soumettait, la mère, à ses propres sentiments entortillés.
Quelque chose de plus résistant, de plus sérieux logeait ailleurs, la fille le comprit soudain, quelque chose de moins visible que les expressions mensongères sur le visage de la mère, quelque chose qui demandait à être débusqué.
Ce n’était pas encore cela, ce n’était qu’un menu morceau furtivement arraché à l’énigme mais la fille sut alors, avec une sensation de sang-froid très pur, qu’elle n’avait jamais vu, jamais rencontré, jamais approché le père de quelque manière que ce fût.
L’idée qu’elle se faisait de sa figure lui venait uniquement d’une photo d’identité prise dans la jeunesse du père et dont la mère lui avait dit qu’elle était la seule qu’elle possédât.
La mère, en train de trier de la paperasse, était tombée sur ce photomaton, elle l’avait machinalement lancé parmi les papiers à jeter avant de se raviser et de la montrer à la fille.
La fille avait dit alors : Il est exactement comme dans mon souvenir – sincèrement, croyant exprimer ainsi la vérité.
Mais ce n’était pas la vérité, sa clairvoyance inattendue, miraculeuse, la détrompait à présent calmement et la fille ne pouvait avoir aucun souvenir du père puisque, son visage, elle ne l’avait vu que sur une minuscule photo de piètre qualité.
Marie NDiaye, Le bon Denis, Mercure de France, 2025.
Dass die Mutter mit ihrer schlauen Inkonsequenz, ihrer verzögernden Amnesie und ihrer verwirrenden Vorliebe für belanglose Geheimnisse die erste dieser Kräfte war, bewies nicht, dass sie die entscheidende oder entschlossenste war. Die Mutter war ein nachlässiges Hindernis gewesen, sie war weder böse noch grausam, sie fügte sich ihren eigenen verworrenen Gefühlen. ihren eigenen verworrenen Gefühlen.
Etwas Widerstandsfähigeres, Ernsthafteres lag woanders, das wurde der Tochter plötzlich klar, etwas weniger Sichtbares als die lügnerischen Gesichtsausdrücke ihrer Mutter, etwas, das aufgedeckt werden wollte.
Das war es noch nicht, es war nur ein kleines Stück, das sie dem Rätsel entrissen hatte, aber die Tochter wusste nun mit einem Gefühl purer Kälte, dass sie den Vater nie gesehen, nie getroffen, nie in irgendeiner Weise kennengelernt hatte.
Die Vorstellung, die sie von seinem Gesicht hatte, stammte ausschließlich von einem Passfoto aus der Jugend ihres Vaters, von dem ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass es das einzige sei, das sie besitze.
Die Mutter, die gerade Papierkram sortierte, war auf dieses Passfoto gestoßen, hatte es mechanisch unter die Papiere zum Wegwerfen geworfen, bevor sie es sich anders überlegte und es ihrer Tochter zeigte.
Die Tochter hatte damals gesagt: Er sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe – und sie glaubte aufrichtig, damit die Wahrheit zu sagen.
Aber es war nicht die Wahrheit, ihre unerwartete, wundersame Klarsichtigkeit widerlegte sie nun ruhig, und die Tochter konnte keine Erinnerung an ihren Vater haben, da sie sein Gesicht nur auf einem winzigen Foto von schlechter Qualität gesehen hatte.
Le Bon Denis ist ein dichter, formbewusster und politisch aufgeladener Text, der sich weder dem Autobiografischen noch dem Fiktionalen ganz verpflichtet fühlt. Marie NDiaye gelingt ein subtiles Spiel mit Genres, Erwartungen und Figuren. Der Vater bleibt eine Leerstelle, aber eine produktive: Aus seiner Abwesenheit entsteht ein Raum für literarische Reflexion, für Fragen nach Herkunft, Sprache, Erinnerung und Zugehörigkeit. Das Werk ist zugleich ein sprachliches Kunststück und ein Beispiel für eine Autofiktion, die nicht narzisstisch ist, sondern kritisch – gegen Identitätszuschreibungen, aber auch gegen literarische Konventionen, letztlich gegen die Glättung des Ichs in der Erzählung. Le Bon Denis ist in seiner Kürze ein großer Text: über die Ohnmacht der Sprache, über die Macht der Abwesenheit, über das Nachleben kolonialer Gewalt im Familienkörper. Es ist ein Roman, der die Form des autobiografischen Porträts sprengt, um dessen Schattenrisse sichtbar zu machen.
Le Bon Denis ist kein Erinnerungsbuch, keine Abrechnung, kein Bekenntnis. Es ist ein poetologisches Statement über die Grenzen der Autobiografie, ein literarischer Kommentar zur Unsagbarkeit des Vaterverlusts. Der Band spielt mit dem Namen „Denis“, der mehr Chiffre als Figur ist – ein Platzhalter für die Unfassbarkeit von Herkunft, Identität, Kolonialgeschichte. In vier sehr verschiedenen Textformen – Dialog, Collage, Ich-Monolog und narrative Szene – entwirft NDiaye ein zersplittertes, ironisches, oft bitteres Selbstporträt im Gegenlicht. Der Vater ist nie wirklich da – und doch ist er das geheime Zentrum des Textes, seine Leerstelle und sein Motor.