Himmlers Zuchtbefehl: Caroline de Mulder

I. Der Blick zurück und nach vorn

Prolog zum 8. Mai 2025

Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.

Friedrich von Weizsäcker, Rede zum 8. Mai 1945, Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Bonn, 8. Mai 1985.

Am 8. Mai 2025 begehen wir den 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Die Zeitzeugen, die heute noch leben, sind damals Kinder. Sie fliehen, sitzen in Bombenkellern, spielen in Ruinen und müssen viel zu schnell erwachsen werden. Einige von ihnen wurden noch nach diesem Stichtag des 8. Mai 1945 in einem der Lebensborn-Heime geboren, ohne Kenntnis über ihre Mütter und Väter.

Am 8. Mai 1985, vierzig Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands, sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bundestag. Diese Rede, gehalten in einem Moment des Gedenkens, wurde rasch zu einem Wendepunkt deutscher Erinnerungskultur, nicht allein durch ihre moralische Klarheit, sondern durch ihre rhetorische Gestaltungskraft und historische Tiefenschärfe markiert sie ein Ereignis von bleibender Bedeutung. Was macht diese Rede heute, im Jahr 2025, noch immer so bemerkenswert? Vielleicht, dass sie die seltene Verbindung von historischer Ehrlichkeit, rhetorischer Würde und ethischer Orientierung herstellt. In einer Zeit, in der politische Rede oft entweder technokratisch entseelt oder polemisch überhitzt ist, zeigt Weizsäckers Duktus, was es heißt, mit Verantwortung zu sprechen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.

Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?

Friedrich von Weizsäcker, Rede zum 8. Mai 1945, Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Bonn, 8. Mai 1985.

Schon im ersten Abschnitt entfaltet sich die zentrale These der Rede: Der 8. Mai sei „ein Tag der Befreiung“. Diese Aussage wirkt zunächst beinahe provozierend im Kontext eines jahrzehntelang tradierten Narrativs, das den Tag primär als Tag der Niederlage empfand. Weizsäcker spricht hier nicht im Modus des politischen Triumphes, sondern im Modus der moralischen Läuterung. Die rhetorische Kraft seiner Formulierungen liegt in der behutsamen Auflösung der Ambivalenz: Er erkennt die vielfältigen individuellen Erfahrungen – von Heimkehr und Heimatlosigkeit, von Befreiung und Gefangenschaft – an, relativiert aber nicht die historische Wahrheit.

Weizsäckers Rhetorik verzichtet auf Pathos, aber nicht auf Ernst. Seine Sprache ist ruhig, getragen, manchmal fast meditativ. Sie zieht ihre Autorität aus einem Ethos der Wahrhaftigkeit. So wird Erinnerung nicht als heroisches Narrativ inszeniert, sondern als sittliche Verpflichtung: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.“ Hier offenbart sich das moralische Zentrum der Rede: Erinnerung ist nicht das bloße Wiederholen von Fakten, sondern ein Prozess der Verinnerlichung – eine innere Aneignung geschichtlicher Verantwortung.

Diese Verantwortung wird insbesondere in der Thematisierung des Holocaust konkretisiert. Weizsäcker benennt unmissverständlich den Völkermord an den europäischen Juden als „beispiellos in der Geschichte“. Mit sezierender Klarheit analysiert er den schleichenden Prozess der Ausgrenzung, Entrechtung, der Deportation und Vernichtung. In seiner nüchternen Darstellung liegt eine erschütternde Kraft. Er verschweigt nicht, dass viele Deutsche weggeschaut haben, dass sie „nicht zur Kenntnis nehmen wollten“, was geschah. Und doch vermeidet er Kollektivschuldthesen: Schuld sei individuell. Die moralische Tiefe entsteht gerade aus der Trennung von historischer Wahrheit und ethischer Verallgemeinerung – eine Unterscheidung, die politisch so schwierig wie philosophisch notwendig ist.

Weizsäckers Rede ist aber keine rückwärtsgewandte Anklage, sondern eine nach vorn gerichtete Mahnung. Immer wieder betont er, dass Erinnerung nicht um der Vergangenheit willen wachgehalten werden muss, sondern um der Gegenwart und Zukunft willen. Diese Linie kulminiert in einem Satz, der sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Darin liegt das erinnerungsethische Grundmotiv der Rede: Die Geschichte hat kein Ende; sie ist immer auch Auftrag und Prüfung.

Die Rede gibt den Opfern ihre Würde zurück, indem sie ihre Namen und Gruppen nennt – Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Verfolgte, Geisteskranke, Widerstandskämpfer. Aber sie würdigt auch jene, die im Schatten überlebt, gearbeitet, getrauert haben: die Frauen. Die Passage über das Leiden und die Kraft der Frauen ist einer der eindringlichsten Teile der Rede. Hier wird Erinnerung nicht auf die großen Täter und Opfer verengt, sondern ausgeweitet auf das alltägliche, stille Leid – und die daraus erwachsene Hoffnung.

Weizsäcker stellt die deutsche Katastrophe in einen europäischen Zusammenhang: Der Nationalsozialismus wird nicht isoliert als deutsches Verhängnis dargestellt, sondern als Ausdruck eines Kontinents, der seine inneren Spannungen nicht mehr bändigen konnte. Diese historische Rahmung mündet in einen Appell zur europäischen Verständigung, zur Aussöhnung mit den Nachbarn, zur Einbindung Deutschlands in ein gemeinsames Friedensprojekt. Dabei spricht er nicht als Parteipolitiker, sondern als Repräsentant eines moralischen Deutschlands. Die Rede endet in einem Appell an die Jugend: Sie sei nicht verantwortlich für das Geschehene, aber für das, was daraus wird.

1. Reich der Rasse: De Mulder und Lebensborn

In Caroline De Mulders Roman La pouponnière d’Himmler wird Renée als junge Französin dargestellt, die mit einer ungewollten Schwangerschaft nach einer Liaison mit einem deutschen Soldaten im deutschen Lebensborn-Heim Hochland in Bayern Zuflucht findet. Sie wird zum Lebensborn-Heim gebracht, um dort ihr Kind zu gebären. Boris Thiolays Buch Lebensborn 1 liefert den historischen Hintergrund für dieses Schicksal: Lebensborn-Heime sollten Frauen, oft „Mädchenmüttern“ (fille-mères), die von SS-Angehörigen schwanger waren, einen diskreten Ort zum Gebären bieten, denn viele dieser Frauen waren ledig und wollten anonym entbinden. Die Kinder sollten den Kriterien der „rassischen Reinheit“ entsprechen und wurden dann oft für Adoption an „vorbildliche“ Familien weitergegeben. Diese Heime waren streng bewacht und geheim gehalten. Als ledige, schwangere Französin mit einem deutschen Soldaten als Vater gehört Renée genau zur Zielgruppe, die die SS in den Lebensborn-Heimen aufnehmen wollte. Die Heime boten Schutz vor gesellschaftlicher Ächtung, Anonymität und medizinische Versorgung, zugleich waren sie Teil eines rassistischen Programms, das die Kinder zu „arischen“ Nachkommen umdeuten und in das nationalsozialistische System eingliedern sollte.

12000 Kinder wurden in Lebensborn-Heimen geboren. Als damalige Bezeichnungen dieser Einrichtungen zitiert Antonia Kleikamp u.a. „Gebärstationen“, „Kopulationsheime“ und „SS-Bordelle“, auch wenn die Vereinssatzung v.a. Unterstützung „erbbiologisch wertvoller“ Familien und Mütter nennt, so wurden doch teilweise Kinder gegen den Willen ihrer Mütter in solche Heime verschleppt und gemäß der NS-Ideologie erzogen. Der Verein Lebensborn, von SS-Leiter Heinrich Himmler im Jahr 1935 gegründet, sollte „erbgesunden“ Nachwuchs fördern, u.a. dadurch, dass ledige Schwangere mit „arischer Abstammung“ in den Heimen Kinder zur Welt bringen konnten. Das Haus Hochland im oberbayerischen Steinhöring in der Nähe von München, in dem der Roman La pouponnière d’Himmler von Caroline De Mulder spielt, war eines der ersten dieser Heime. Himmler ordnete am 28. Oktober 1939 an: „Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichem Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden.“ 2 Dies wurde allgemein als „Zuchtbefehl“ ausgelegt. Auch in Frankreich und Belgien wurden solche Heime eingerichtet, etwa „Westland“/„Westwald“ in Lamorlaye bei Chantilly. 3 Laut Boris Thioly hatten ursprünglich die Nazis nur wenig Interesse an der französischen Bevölkerung, die sie als „bâtarde“ (vermischte Rasse) betrachteten und nicht in das zukünftige Reich integrieren wollten.

Maudits Français… Heinrich Himmler a peu d’estime pour ce peuple « bâtard », qui bafoue les lois du sang et envoie à la guerre des soldats noirs. Pour lui, il n’est évidemment pas question de fondre la France dans le futur « Empire de la race ». En revanche, il souhaite purifier la population d’Alsace et de Lorraine, annexées au Gaue (régions administratives) du Westmark et de Bade. L’idée est de la débarrasser de tous ses éléments « inférieurs », en les déportant vers la zone libre française, dans la moitié sud du pays. Dans le même temps, on ne saurait délaisser les populations racialement valables. À partir de 1942, le Reichsführer-SS s’intéresse plus particulièrement aux enfants de souche germanique : il convient ainsi de les éloigner de leurs origines, en les plaçant dans des internats allemands… Le retrait de 1 000 enfants par an, pense-t-il, peut enrichir l’Allemagne de « bon sang », tout en affaiblissant biologiquement la France.

Boris Thiolay, Lebensborn: La fabrique des enfants parfaits. Enqête sur ces Francais nés dans les maternités SS, Paris, Flammarion, 2012, Kap. „L’étrange pouponnière dans la forêt“.

Verfluchte Franzosen … Heinrich Himmler hatte wenig übrig für dieses „Bastard“-Volk, das die Gesetze des Blutes missachtete und schwarze Soldaten in den Krieg schickte. Für ihn kommt es natürlich nicht in Frage, Frankreich in das zukünftige „Reich der Rasse“ einzuschmelzen. Stattdessen möchte er die Bevölkerung im Elsass und in Lothringen, die den Gauen Westmark und Baden angegliedert wurden, säubern. Die Idee war, sie von allen „minderwertigen“ Elementen zu befreien, indem sie in die freie französische Zone in der südlichen Hälfte des Landes deportiert wurden. Gleichzeitig sollten die rassisch wertvollen Bevölkerungsgruppen nicht vernachlässigt werden. Ab 1942 konzentrierte sich der SS-Reichsführer besonders auf Kinder germanischer Abstammung: Sie sollten von ihrer Herkunft entfernt und in deutschen Internaten untergebracht werden … Die Entfernung von 1.000 Kindern pro Jahr, so glaubte er, könne Deutschland mit „gutem Blut“ bereichern, während Frankreich biologisch geschwächt werde.

Die Nazis erklärten die „Rassenvermischung“ der Franzosen u.a. dadurch, dass insbesondere die Bevölkerung im Norden und Osten Frankreichs, einschließlich Regionen wie Elsass und Lothringen, einen erheblichen germanischen und nordischen Anteil der Gene aufweise. Diese Annahme basiert auf Studien und rassischen Untersuchungen, die von Historikern wie Franz Petri im Auftrag Himmlers durchgeführt wurden. So wurde behauptet, dass die Wallonen, obwohl romanisiert und französischsprachig, tatsächlich „germanische Romanisierte“ seien und somit zur „germanischen Rasse“ gehörten. Diese pseudowissenschaftlichen Thesen dienten dazu, die französische Bevölkerung als teilweise „rassisch wertvoll“ einzustufen und so die Entscheidung zu rechtfertigen, ein Lebensborn-Heim auch in Frankreich zu eröffnen und französische Frauen, die Kinder mit deutschen Soldaten hatten, in das Programm einzubeziehen. Bereits 1942 gab es laut Thiolay schätzungsweise 50.000 uneheliche Kinder, die aus einer Verbindung zwischen französischen Müttern und deutschen Soldaten stammten. Die Frage stellte sich, was mit diesen Kindern geschehen sollte. Mit Lebensborn wurde von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti vorgeschlagen, sich „energisch“ um diese Kinder zu kümmern, um sie für das Reich zu erhalten. 4

2. Kindheit im industriellen Zuchtprogramm

Renée tient contre elle le petit, ouvre le linge blanc propre et amidonné, l’ouvre sur des taches sanglantes et sur l’enfant, humide, la peau rouge et fripée, un duvet clair plaqué sur la tête. Il bouge ses mains froissées, ses petits doigts. Les yeux grands ouverts, il lève un regard anthracite vers sa mère, qui sourit. « So perfekt », dit Schwester Helga, tellement parfait, comme si dans la perfection il pouvait y avoir des gradations et des intensités différentes.

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Renée hält das Kleine an sich gedrückt, öffnet die saubere, gestärkte weiße Wäsche, öffnet sie über blutigen Flecken und über dem Kind, das feucht ist, mit roter, faltiger Haut und einem hellen Flaum, der über den Kopf gelegt ist. Es bewegt seine zerknitterten Hände, seine kleinen Finger. Mit weit geöffneten Augen blickt es aus anthrazitfarbenen Augen zu seiner Mutter auf, die lächelt. „So perfekt“, sagt Schwester Helga auf Deutsch, so perfekt, als ob es in der Perfektion verschiedene Abstufungen und Intensitäten geben könnte.

Die Kindheit ist nicht nur eine biographische Lebensphase, sondern auch ein poetisches und politisches Konstrukt. In der Literatur fungiert sie häufig als Projektionsfläche gesellschaftlicher Utopien und Dystopien, als Ort des Ursprungs, der Unschuld oder des Traumas. Caroline De Mulder greift in ihrem Roman La pouponnière d’Himmler einen der düstersten Versuche auf, Kindheit zu instrumentalisieren: das nationalsozialistische Projekt der sogenannten „Lebensborn“-Heime. Durch eine vielschichtige narrative Struktur, dokumentarische Elemente und literarische Erinnerungstechniken entwirft sie eine Kindheitserzählung, die zugleich erschütternd und poetologisch grundiert ist. In einem zweiten Teil des Artikels wird der Roman als „Roman der Körper“ systematischer untersucht werden. Zunächst sollen im Folgenden die Poetiken der Kindheit in De Mulders Text besprochen werden: Welche Bilder von Kindheit werden entworfen? Wie verbindet die Autorin fiktionale und dokumentarische Elemente, um die Kindheit als literarisches und historisches Spannungsfeld zu inszenieren? Welche ästhetischen Strategien kommen zum Einsatz, um die Perspektive des Kindseins mit ethischer Reflexion zu verschränken? Und schließlich: Welche Funktionen übernimmt die Kindheit als Trägerin kollektiver Erinnerung und poetischer Subversion?

Teil I, Abri, setzt mit der Ankunft der Protagonistin Renée im Lebensborn-Heim in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs ein. Die junge Französin Renée ist schwanger und muss sich in einer feindlichen Umgebung zurechtfinden. Es wird ihr Alltag im Heim geschildert, mit strikten Tagesabläufen, medizinischer Überwachung und der politischen Ideologie, die das Heim prägt. Dabei sind Themen wie Mutterschaft, Rassismus (insbesondere die nationalsozialistische Ideologie des „besten Blutes“), Kontrolle und Isolation zentral. Außerdem wird die Ankunft hoher NS-Funktionäre wie Himmler bei Zeremonien erzählt. Renée versucht, die deutsche Sprache zu lernen, um mit ihrem Verlobten Artur Feuerbach kommunizieren zu können, bleibt aber isoliert und erfährt Ablehnung von anderen Frauen im Heim. Die Bedrohung durch Krieg und Gewalt ist allgegenwärtig.

Teil II, Maison hantée, fokussiert sich stärker auf andere Figuren wie Helga, eine Schwester im Heim, und Marek, einen männlichen Gefangenen, der in der Nähe des Heims Zwangsarbeit verrichtet. Helga übernimmt mehr Verantwortung im Heim, wird Oberschwester und muss mit den zunehmenden Schwierigkeiten der Kriegszeit umgehen, darunter Mangel, psychische Belastung, Tod von Kindern und die wachsende Brutalität. Marek erlebt die Grausamkeiten der Lager und die Zerstörung um ihn herum, während Helga Zeugin von Verzweiflung, Krankheit und Tod wird. Es werden die inneren Konflikte der Pflegerin Helga dargestellt, die zwischen Pflichterfüllung und moralischen Zweifeln schwankt. Auch die Vernichtung von Dokumenten und die zunehmende Panik im Heim angesichts der Kriegswende werden geschildert.

Teil III, Dernier refuge, zeigt uns das Ende des Heims kurz vor und nach der Befreiung durch die Alliierten. Helga erlebt den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Ordnung, den Abzug der SS, die chaotischen letzten Tage im Heim und die Übernahme durch amerikanische Truppen. Es wird gezeigt, wie die verbliebenen Frauen und Kinder zurückgelassen und die Dokumente verbrannt werden und Helga versucht, die Kinder zu versorgen und die letzten Aufgaben zu bewältigen. Die psychische Belastung und Erschöpfung der Pflegerin sowie die Unsicherheit über die Zukunft prägen diesen Abschnitt. Auch Renées Zustand verschlechtert sich zunehmend, und die Zerstörung der Akten symbolisiert das Vergessen und die Vernichtung der Geschichte vieler Kinder und Mütter im Heim.

In La pouponnière d’Himmler von Caroline De Mulder wird das Lebensborn-Projekt der Nationalsozialisten nicht nur als historisches Faktum dargestellt, sondern vielmehr literarisch inszeniert als dunkle Utopie einer „durchgeplanten Kindheit“. Das Lebensborn-Projekt der Nationalsozialisten war nicht nur ein politisches, sondern vor allem ein anthropologisches Verbrechen: Es zielte auf die Umformung des Menschen von Anfang an. Kindheit erscheint im Roman De Mulders nicht als schutzwürdige Lebensphase, sondern als Ort dieser ideologischen Gewalt, nicht als unschuldige Lebensphase, sondern als manipulierbare Ressource. Der Roman erzählt davon mit literarischer Präzision, um Zeugnis abzulegen.

Ein Element dieser Kindheitsdarstellung ist der sprachliche Aspekt: Die Kinder müssen ihre Muttersprache vergessen und Deutsch sprechen. Sprache wird zum Mittel ideologischer Reprogrammierung. Die Sprachlosigkeit der Kinder, ihre Unfähigkeit, sich selbst zu erinnern oder auszudrücken, steht für die ideologische Auslöschung ihrer Subjektivität. Die Autorin inszeniert dies auch durch das literarische Schreiben selbst – als Versuch, die verlorene Sprache der Kindheit wieder hörbar zu machen. Die Gegenwartsebene des Romans – die Ich-Erzählerin auf der Suche nach der Wahrheit über die Lebensborn-Schwester Helga – zeigt, wie diese Kindheiten nachwirken. Die Kinder von damals sind heute verschwunden, traumatisiert oder verstummt. Aber ihre Geschichte lebt weiter in Lücken, Schweigen, in Namen und Blicken. Die Erzählerin projiziert sich selbst in Helga hinein, wird zur „Nachgeborenen“, zur medialen Figur der Erinnerung. Kindheit wird damit zur Form des Erinnerns selbst – fragmentiert oder imaginär, aber tief in das Gedächtnis der Nachkriegszeit eingebrannt.

Heim Hochland, 23 mai

Dans les journaux, on dit sur nous des choses horribles. On ne trouve plus de presse allemande, mais le docteur Kleinle m’a prêté un magazine américain oublié par un soldat. On y parle de babyfactories, usines à bébés, de Nazi-bastards grown pigfat, bâtards nazis engraissés comme des porcs ! Trop de bouillie d’avoine et de soleil et de soins ! Des enfants qui n’ont d’autre père et mère que le défunt État nazi, écrivent-ils. Et sur-nourris par des Nazi-nurses, des infirmières nazies. Les superbabies que Heinrich Himmler encourageait ses SS à produire en grand nombre. Mais ces pauvres petits, qu’ont-ils donc fait, sinon naître et pleurer, pour la plupart loin de leur mère, presque tous sans pères.

Rien n’est épargné. Tout ce qui était beau est devenu affreux. Tout ce que j’aimais, sali. Je suis noyée dans toute cette laideur. Laide. Moi qui étais fière et forte. Gott sei Dank, je n’ai pas le temps de me regarder dans le miroir. Ni de réfléchir.

An die Arbeit. Au travail.

Heim Hochland, 24 mai

Jürgen est mieux ainsi, mort d’une mort miséricordieuse, pauvre petit, pas fait pour la vie, mais la manière, l’arracher ainsi à sa mère, ne pas même rendre ses restes, son petit corps mort, sa poussière, la manière nein, je ne peux pas dire qu’elle ait été bonne.

Il n’y a pas d’un côté le bien, de l’autre le mal, il y a de longues glissades dont on ne se relève pas, et des passages quelquefois imperceptibles de l’un à l’autre. Quand on s’en rend compte, il est déjà trop tard.

Cette question m’obsède, revient sous des formes toujours nouvelles, comme si elle était infinie. Choisit-on le mal ou est-ce lui qui nous choisit ? J’étais bonne, mais pas du bon côté ?

Ne pensons-nous pas tous être du côté de la lumière ?

Aurais-je pu sauver Jürgen ? Comment, comment, comment, je n’aurais pas pu. Je n’aurais pas pu.

Heim Hochland, 25 mai

Arrivée d’une trentaine d’orphelins juifs, des enfants qui viennent des camps de travail. C’est ce que dit le docteur Kleinle. Un peu plus grands que ceux du Heim, entre quatre et dix ans. Ils nous aident à nous occuper des bébés. Parmi eux, un nouveau-né, un tout petit garçon, très maigre, la peau parcheminée, la peau vieillarde des bébés qui ont trop perdu de poids dans les premières semaines de vie. C’est une fillette de neuf ans qui le portait, elle ne sait rien sur lui, elle l’a trouvé enveloppé d’une couverture au fond de la camionnette qui les a transportés ici. Il ne pleurait pas. Il n’a pas de nom. Je l’appelle Kätzchen 1. Quand j’ai un peu de temps, c’est moi qui le nourris au biberon, nous avançons centilitre par centilitre, car il a du mal à boire. Il me rappelle un peu Jürgen, sauf que ce petit-ci boit mal à cause de son estomac rétracté. Tous les nouveau-nés me rappellent Jürgen, même les plus gloutons. Tous ils se ressemblent. Encore un bébé sans nom et sans parents. Encore un qui ressemble à tous les autres et que personne jamais ne retrouvera.

Heim Hochland, 26 mai

Le Reichsführer s’est suicidé !

Avec la lâcheté de ces hommes auxquels il reprochait une attitude qui n’était pas « chevaleresque ». Où est-il donc, ce courage qu’il exigeait du peuple et des femmes que nous soignions ?

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Haus Hochland, 23. Mai

In den Zeitungen werden schreckliche Dinge über uns gesagt. Es gibt keine deutschen Zeitungen mehr, aber Dr. Kleinle hat mir eine amerikanische Zeitschrift geliehen, die ein Soldat vergessen hat. Darin ist die Rede von „Babyfactories“, Babyfabriken, „Nazi-Bastards grown pigfat“, Nazi-Bastarde, die wie Schweine gemästet werden! Zu viel Haferbrei und Sonne und Fürsorge! Kinder, die keinen anderen Vater und keine andere Mutter haben als den untergegangenen Nazi-Staat, schreiben sie. Und überfüttert von „Nazi-Nurses“, Nazi-Krankenschwestern. Die Superbabies, die in großer Zahl zu produzieren Heinrich Himmler seine SS ermutigte. Aber diese armen Kleinen, was haben sie denn anderes getan, als geboren zu werden und zu weinen, die meisten fern von ihren Müttern, fast alle ohne Väter.

Nichts wird verschont. Alles, was schön war, ist schrecklich geworden. Alles, was ich liebte, beschmutzt. Ich bin in all dieser Hässlichkeit ertrunken. Hässlich. Ich, die ich stolz und stark war. Gott sei Dank, ich habe keine Zeit, in den Spiegel zu schauen. Auch nicht zum Nachdenken.

An die Arbeit. Au travail.

Haus Hochland, 24. Mai

Jürgen ist so besser dran, er starb einen barmherzigen Tod, ein armes kleines Kind, nicht zum Leben gemacht, aber die Art und Weise, ihn so seiner Mutter zu entreißen, nicht einmal seine Überreste zurückzugeben, seinen kleinen Körper tot, seinen Staub, die Art und Weise nein, ich kann nicht sagen, dass sie gut gewesen ist.

Es gibt nicht das Gute auf der einen und das Böse auf der anderen Seite, es gibt lange Ausrutscher, von denen man sich nicht mehr erholt, und manchmal unmerkliche Übergänge von einem zum anderen. Wenn man das merkt, ist es schon zu spät.

Diese Frage lässt mich nicht los, sie taucht in immer neuen Formen auf, als wäre sie unendlich. Wählen wir das Böse oder wählt es uns? Ich war gut, aber nicht auf der richtigen Seite?

Glauben wir nicht alle, dass wir auf der Seite des Lichts stehen?

Hätte ich Jürgen retten können? Wie, wie, wie, ich hätte es nicht gekonnt. Ich hätte es nicht gekonnt.

Haus Hochland, 25. Mai

Ankunft von etwa 30 jüdischen Waisenkindern, Kinder, die aus den Arbeitslagern kommen. Das sagt Doktor Kleinle. Sie sind etwas größer als die aus dem Heim, zwischen vier und zehn Jahre alt. Sie helfen uns bei der Versorgung der Babys. Unter ihnen ist ein Neugeborenes, ein winziger Junge, sehr mager, mit pergamentartiger Haut, der alternden Haut von Babys, die in den ersten Lebenswochen zu viel Gewicht verloren haben. Ein neunjähriges Mädchen trug ihn, sie weiß nichts über ihn, sie fand ihn in eine Decke gewickelt auf dem Boden des Lieferwagens, der sie hierher gebracht hatte. Er hat nicht geweint. Er hat keinen Namen. Ich nenne ihn Kätzchen 1. Wenn ich etwas Zeit habe, füttere ich ihn mit der Flasche, wir arbeiten uns Zentiliter für Zentiliter vor, weil er Schwierigkeiten beim Trinken hat. Er erinnert mich ein bisschen an Jürgen, nur dass dieser Kleine wegen seines eingezogenen Magens schlecht trinkt. Alle Neugeborenen erinnern mich an Jürgen, selbst die gefräßigsten. Sie sehen alle gleich aus. Noch ein Baby ohne Namen und ohne Eltern. Wieder eines, das wie alle anderen aussieht und das niemand je finden wird.

Haus Hochland, 26. Mai

Der Reichsführer hat Selbstmord begangen!

Mit der Feigheit dieser Männer, denen er eine Haltung vorwarf, die nicht „ritterlich“ war. Wo ist er also, der Mut, den er von den Menschen und den Frauen, die wir pflegten, forderte?

Im Zentrum von De Mulders Text steht ein historisches Phänomen, das die Kindheit systematisch politisch auflädt: die Lebensborn-Heime, gegründet von Heinrich Himmler im NS-Regime, um „rassisch wertvolle“ Kinder zu züchten und zu germanisieren. Diese Kindheiten sind keine natürlichen, sondern gezüchtete Konstruktionen – nationalsozialistisch determinierte Lebensanfänge, die das Kind nicht als Subjekt, sondern als Mittel der Ideologie begreifen. De Mulder legt in eindringlicher Sprache offen, wie dieses Regime die Biographie der Kinder von Anfang an manipuliert: Geburten werden kontrolliert, Mütter selektiert, Kinder umbenannt und umerzogen. Die Autorin thematisiert dabei nicht nur historische Fakten, sondern auch die epistemische Gewalt, die der nationalsozialistischen Reproduktionstheorie innewohnt. Gleichzeitig legt De Mulder diesen politischen Zugriff durch ihre literarische Konstruktion offen: Die Kindheit wird nicht als unschuldiger Ursprung verstanden. Kindheit steht hier nicht für Natürlichkeit, sondern für Konstruktion – und damit für eine grundlegende Fragilität des Subjekts.

Das Projekt Lebensborn wird in De Mulders Roman als systematische Züchtung und Selektion von „arischem Nachwuchs“ vorgeführt. Kinder werden nicht aus Liebe gezeugt, sondern nach rassistischen Kriterien ausgesucht, geraubt oder geboren – ein industrielles Menschenzuchtprogramm, das von medizinischen, sozialen und sprachlichen Apparaten gestützt wird. Die Heime erscheinen wie Biolaboratorien, wo Neugeborene auf ihre „Reinheit“ geprüft, registriert, umbenannt und ihrer Herkunft beraubt werden. Der Roman beschreibt dies in sachlichen, fast kalten Worten, was die Grausamkeit noch verstärkt: Kindheit wird zur Verwaltungsakte, zum Experimentierfeld nationalsozialistischer Ideologie. Die in Lebensborn Gezeugten leben eine „falsche“ Kindheit in einer fremden Sprache und mit einem künstlich erzeugten Ich. Diese Kindheit ist leer, unverbunden, fremdbestimmt. Die Inszenierung verweist dabei auf ein zentrales Motiv: Kindheit als verschobene Wahrheit, als dislozierter Ursprung, den man später nur bruchstückhaft erinnern kann.

3. Die Vielstimmigkeit der Erinnerung

Die Form des Romans ist selbst eine Antwort auf das Unbeschreibliche: De Mulder verzichtet auf eine rein historische oder dokumentarische Darstellung. Stattdessen nutzt sie poetische, essayistische und fiktive Mittel, um das Trauma des geraubten Kindes literarisch zu erschließen. Die fiktionale Inszenierung erlaubt es, die Dimension der inneren Erfahrung sichtbar zu machen – das, was keine Akte und kein Archiv je ausdrücken könnte. Die erzählerische Struktur des Romans zeichnet sich durch eine komplexe Polyphonie aus. Mehrere Stimmen – darunter die eine heutigen Ich-Erzählinstanz, einer überlebenden Frau und historischer Dokumente – verschränken sich zu einem dichten Netz der Erinnerung. Diese Vielstimmigkeit ist zentral für die poetische Gestaltung der Kindheit, weil sie deren Fragmentierung und Vieldeutigkeit spiegelt. Die kindliche Perspektive ist nie vollständig zugänglich; sie bleibt bruchstückhaft, vermittelt durch Erinnerungen, Akten, Fotos, Stimmen. Die Kindheit erscheint hier nicht als kohärente Erfahrung, sondern als Nachhall, Echo und Spur. Der Verlust und die Entfremdung der Kinder in den Lebensborn-Heimen spiegeln sich in der narrativen Form wider. Die Erinnerung spricht nicht aus einem Zentrum, sondern aus einem archivarischen und affektiven Dispositiv, das die Leser zwingt, sich selbst eine Lesart der Kindheit zu erschließen. Diese poetische Offenheit entspricht einer ethischen Haltung: Die Kindheit wird nicht vereindeutigt, sondern bleibt ein Ort der Differenz, der Ambivalenz und des Widerstands.

De Mulder bedient sich zahlreicher erzählerischer Verfahren, um die Kindheitserfahrung literarisch zu gestalten. Besonders auffällig ist ihr Umgang mit Fragmenten und dokumentarischem Material: Zeitungsartikel, historische Quellen, Aktenausschnitte und Fotografien werden in den Erzähltext eingeflochten. Diese Fragmentarisierung verweist nicht nur auf die Zerstörung der kindlichen Biographie, sondern auch auf die Unmöglichkeit, eine vollständige Geschichte dieser Kindheiten zu erzählen. Es handelt sich um eine Ethik der Lücke, des Nicht-Wissens und der behutsamen Annäherung. Die Stimme – sei es die der Überlebenden, des Ich-Erzählers oder der historischen Figuren – spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie konstituiert Kindheit nicht als physiologischen Zustand, sondern als erinnerte und erzählte Struktur. Die Stimmen wirken oft unsicher und zögernd – ein Verfahren, das die Ohnmacht angesichts des Grauens performativ vermittelt. Gleichzeitig schafft De Mulder Räume, in denen das Kind als imaginatives Subjekt wiederauftaucht – in Träumen, inneren Monologen, in poetischen Metaphern. So wird Kindheit nicht nur als Verlust, sondern auch als Möglichkeit zur Subjektivierung gedacht.

Trotz der dominierenden Dystopie des Lebensborn-Projekts eröffnet La pouponnière d’Himmler von Caroline De Mulder vorsichtige Gegenräume – Heterotopien, die als stille Kontrapunkte zum totalitären Zugriff auf die Kindheit fungieren. Diese Räume entstehen meist im Kleinen, im Zwischenmenschlichen oder in der poetischen Imagination. Sie sind nicht offen utopisch, sondern schimmern als Andeutungen einer möglichen anderen Kindheit durch die narrative Struktur hindurch.

Diese Erzählbewegung ist eine Geste der Wiedergutmachung – nicht im historischen, sondern im existenziellen Sinn. Sie zeigt, was Kindheit sein könnte: ein Raum des Spiels, der Zärtlichkeit, der Erinnerung, der nicht durch Blutlinien oder rassische Normen definiert wird. In stillen Revolten und in fragmentarischen Erinnerungen erscheinen zarte Momente innerer Autonomie. Etwa, wenn man sich an ein „falsches“ Wiegenlied erinnert oder ein Bild vor Augen hat, das man nicht zuordnen kann. Diese Bruchstücke deuten darauf hin, dass die totale Indoktrination nie ganz gelingt. In diesen Rissen lebt das Kind weiter – nicht das „arische Modellkind“, sondern das Kind als fühlendes, erinnerndes Wesen. Diese inneren Fluchten sind Binnenutopien: Möglichkeitsräume, in denen sich das Subjekt gegen seine eigene Umformung behauptet. Immer wieder inszeniert De Mulder kleine Szenen der Nähe, etwa wenn ein anderes Kind Helga die Hand reicht oder wenn die Erzählerin sich vorstellt, wie Helga einst gehalten wurde – vielleicht von ihrer leiblichen Mutter. Diese Szenen bleiben spekulativ, aber sie eröffnen einen Kontrapunkt zum technisch-ideologischen Zugriff des Systems. In ihnen erscheint Kindheit als ein Zustand der Berührbarkeit, der Fürsorge und der Körperlichkeit – nicht als biologisches Material, sondern als zwischenleibliches Verhältnis. Diese Momente wirken wie literarische Spuren einer verdrängten Utopie.

Auch wenn Sprache im Roman als Mittel der Gewalt erscheint (etwa durch das Verbot der Muttersprache), wird sie zugleich zur Möglichkeit der Befreiung. Die Sprache der Erzählerin versucht behutsam, das Unaussprechliche sagbar zu machen. Diese poetische Sprache selbst ist eine Heterotopie: Sie entzieht sich der administrativen Logik der Archive und bietet Raum für eine andere Erinnerung. Hier wird Kindheit nicht verwaltet, sondern imaginär befreit. La pouponnière d’Himmler bietet trotz – oder gerade wegen – der düsteren Thematik eine vielschichtige Reflexion darüber, was Kindheit jenseits ideologischer Vereinnahmung bedeuten könnte. In Zwischenräumen, Erinnerungsfragmenten, sprachlichen Formationen und Imaginationen entstehen andere Visionen der Kindheit: kleine, widerständige Orte, in denen das Kind als eigenständiges, verletzliches und erinnerungsfähiges Wesen aufscheint. Diese Binnenutopien wirken nicht naiv, sondern umso kraftvoller, weil sie sich gegen eine totalitäre Ordnung behaupten müssen.

4. Weiterleben nach dem 8. Mai 1945

Am Ende steht die Frage: Was bleibt von der Kindheit nach der Gewalt? De Mulders Text bietet keine abschließende Antwort, sondern eine poetische Form des Erinnerns. Kindheit wird zum Ort eines kollektiven Gedächtnisses, das nicht auf Wahrheit, sondern auf Gerechtigkeit zielt. Durch die poetische Inszenierung der Kindheit entsteht eine Form des historischen Erzählens, die sich nicht auf Chronologie oder Fakten beschränkt, sondern auf Affekt, Fragment, Stimme und Imagination setzt. Der Text selbst wird so zur „pouponnière“ – nicht im nationalsozialistischen Sinn einer Aufzuchtanstalt, sondern als literarischer Raum, in dem die Erinnerung an die Kindheit gepflegt, geschützt und gegen das Vergessen verteidigt wird.

Die kapitelweise Erzählstruktur folgt nicht nur Helgas biografischer Entwicklung, sondern auch der Annäherung der Erzählerin an ihre eigene Faszination und Verantwortung als Nachgeborene. Der Text stellt eine Reflexion über Kindheit als politische Projektionsfläche dar, über das Schweigen nach der Katastrophe und über die Möglichkeit, verlorene Geschichten literarisch zu retten. Das Suchen der Erzählerin nach Dokumenten, Briefen und anderen Spuren in Archiven wird als ein intensiver und emotional aufgeladener Vorgang dargestellt. Besonders eindrücklich ist die Szene, in der Renée sich am Feuer aufhält, wo Akten verbrannt werden, darunter auch ihre eigene. Sie versucht verzweifelt, noch erhaltene Papiere aus den Flammen zu retten, während ihr Kleid Feuer fängt und sie wie eine „Toupie“ um sich selbst dreht. Diese Handlung verdeutlicht ihre innere Verzweiflung und das Festhalten an den letzten Spuren ihrer Vergangenheit und ihres Geliebten.

Helga zeigt ebenfalls eine intensive Verbindung zu den Archiven und Dokumenten. Sie ist verantwortlich für das Sortieren und Aufbewahren von Akten, die das Leben und Schicksal der Bewohnerinnen des Heims dokumentieren. Als der Befehl kommt, diese Unterlagen zu vernichten, erlebt sie großen inneren Konflikt und Schmerz. Sie versucht zunächst, Ordnung zu bewahren, doch erkennt schnell die Sinnlosigkeit angesichts des Befehls zur Zerstörung. Helga nimmt heimlich einige wichtige Dokumente an sich, um sie vor der Vernichtung zu schützen, was ihre innere Zerrissenheit und den Wunsch nach Bewahrung der Wahrheit unterstreicht. Die Vernichtung der Akten wird als bewusste Auslöschung von Identitäten und Geschichte dargestellt: Namen, Herkunft, familiäre Verbindungen und Hoffnungen werden in den Flammen ausgelöscht. Helga beobachtet das Brennen der Dokumente lange mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit, was die Bedeutung der Archive als letzte Verbindung zur Vergangenheit und Zeugnis der Geschehnisse betont.

II. Roman der Körper

Caroline De Mulders Roman La pouponnière d’Himmler (2024) erzählt mit beklemmender Eindringlichkeit von einer nationalsozialistischen Entbindungsanstalt des Lebensborn-Programms im Jahr 1944. In einem ästhetisch vielstimmigen, monologisch strukturierten Prosagefüge setzt De Mulder eine spezifische Körperpolitik ins Bild – jene des totalitären Nationalsozialismus, in dem menschliche Körper zur Ressource werden, zu einem „Kapital“, wie es die Rezension François Angeliers in Le Monde formuliert:

S’imposent, au détour de ces monologues glaçants ou haletants, circulaires et plannings qui rappellent à l’ordre noir le lecteur, toujours passible de sentimen­talité. Caroline de Mulder a écrit là un ­roman des corps : corps du nourrisson aryen qu’on choie comme un grand cru génétique et dont la moindre défaillance, ou le possible décès, est perçue comme un symptôme de décadence ; corps de la mère, machine-outil raciale ; corps de l’esclave qui n’est plus qu’une plaie sur pieds ; corps du maître qui honore les femelles de sa saillie ; corps d’Himmler, réduit à un haut-parleur idéologique. C’est le spectacle planifié des noces asservissantes entre des corps et une idéologie purement matérialiste qui est ici mis en scène, politisation ­totalitaire d’un corps-objet qui n’est plus l’univers aventureux, le lot amoureux de l’individu, mais un capital à faire fructifier pour la gloire du Reich. Outil qu’on jette, usure venue.

François Angelier, « La pouponnière d’Himmler », de Caroline de Mulder : la vie (et la mort) quotidienne dans une maternité nazie, Le Monde, 31. März 2024.

In diesen eisigen oder atemlosen Monologen drängen sich Rundschreiben und Zeitpläne auf, die den Leser, der immer für Sentimentalität anfällig ist, an die schwarze Ordnung erinnern. Caroline de Mulder hat einen Roman über Körper geschrieben: den Körper des arischen Säuglings, der wie ein genetisch edler Weinjahrgang gehegt und gepflegt wird und dessen geringstes Versagen oder möglicher Tod als Symptom der Dekadenz angesehen wird; den Körper der Mutter, einer rassischen Werkzeugmaschine; den Sklavenkörper, der nur noch eine Wunde auf den Füßen ist; den Herrenkörper, der die Weibchen mit seinem Deckakt beehrt; Himmlers Körper, der auf einen ideologischen Lautsprecher reduziert wird. Es ist das geplante Schauspiel der versklavenden Hochzeit zwischen Körpern und einer rein materialistischen Ideologie, das hier inszeniert wird, die totalitäre Politisierung eines Körperobjekts, das nicht mehr die abenteuerliche Welt, das Liebeslos des Individuums, sondern ein Kapital ist, das für den Ruhm des Reiches vermehrt werden muss. Ein Werkzeug, das man wegwirft, weil es sich abnutzt.

1. Der Mutterkörper als Gebärmaschine

Zentral ist im Roman der weibliche Körper als Grundlage der nationalsozialistischen Bevölkerungsreproduktion. Renée, eine junge Französin, wird nach einer Beziehung mit einem deutschen Soldaten ins Lebensborn-Heim Hochland gebracht – als „machine-outil raciale“, als Körper, der ausschließlich durch seine Fortpflanzungsfunktion anerkannt ist. Das Heim erscheint äußerlich als Idyll – gepflegte Anlagen, ausgewogene Ernährung, medizinische Versorgung –, doch darunter liegt eine kalte biopolitische Rationalität. Der Tagesplan, den Renée nach kurzer Zeit zu deuten lernt, macht den weiblichen Körper zu einem getakteten Reproduktionsinstrument: fünf Stillzeiten, präzise Schlaf- und Essenszyklen, körperlich mäßigende Beschäftigungen – eine körperdisziplinierende Struktur, die den Leib zur „productrice de race“ umfunktioniert. Die formale Ruhe dieses „Ordens“ ist trügerisch: sie verbirgt, dass hier die Utopie einer „reinen“ Körperlichkeit mit der totalen Entsubjektivierung der Frau einhergeht. Renée spürt diese Entfremdung körperlich – als Hautschmerz, als trockenen Mund, als Angsttrauma: „Elle se sent si seule qu’elle a mal à la peau“.

Renée apparaît dans ses sous-vêtements de coton douteux, dans sa peau si laiteuse qu’elle semble presque bleue. Elle est toute mince, un corps menu d’adolescente. Elle essaie de se cacher derrière ses bras.

« Enlevez tout, bitte. S’il vous plaît. »

Renée serre les dents. Enlève.

Nue et le sexe sous la main gauche, s’approche à tout petits pas.

Il la regarde s’avancer. Elle lève les yeux avec dureté et, dans la lumière tranchante, son regard est un incendie, une blessure. Il se lève et lui prend le menton, l’empêche de reculer. Examine l’étrangeté des iris, comme s’il pouvait s’agir d’une maladie. Elle a la bouche qui tremble. Elle tremble tout entière. Il lâche.

La fait allonger sur la table d’examen. Tâte le bas de son ventre, au-dessus du sexe, en dessous du nombril, quelques instants. Elle détourne les yeux tandis qu’il la mesure, depuis le pubis jusqu’au haut de l’utérus. « Fünf. Cinq semaines », il dit. Puis interrogatif, « Cinq semaines ? ». Elle acquiesce. À deux ou trois jours près, cinq. Il sourit. Frau Renée a les mains qui coulent et l’odeur particulière des rousses quand elles transpirent. Il s’intéresse ensuite à l’intérieur de ses bras, aux griffures suspectes. Fronce le regard.

Il lui dit quelque chose en allemand sur un ton engageant, dans l’intention évidente de la mettre à l’aise, elle ne comprend pas. Il abandonne. Il évalue son tremblement qui persiste, voit sa peau couler, jauge ses yeux de fauve écorché : « Vous êtes nervöse. Il faut pas, les grosse Emotionen, elles sont ganz schlecht, mauvaises, pour l’enfant. »

Frau Renée a le cœur à la surface de sa peau, écarlate, battante, l’afflux de sang efface les taches de rousseur qui la constellent. Et un début de larmes rend aquatique le vert de ses yeux, avec une algue orange qui brille au fond. Le docteur constate : « Qu’est-ce que j’ai dit. Alles gut, bon, très bon. » Tout va très bien se passer.

Il appelle l’infirmière. Lui dicte des chiffres. Il mesure Renée debout. Assise. Accroupie. Lui mesure les hanches, la taille, la poitrine. Avec un compas céphalique, le périmètre de la tête, le diamètre bipariétal, l’espace interoculaire, le front. L’espace entre le nez et les lèvres, celui qui sépare les deux extrémités des mâchoires. Le nez, en long, en large. Les lèvres. Ausculte son crâne, chaque creux, chaque arête. Passe un doigt sur l’os des orbites, l’iris est une flamme qui tremble.

Il se recule un peu. Elle ferme vite les yeux. Se sent mieux les yeux fermés.

Il les lui fait rouvrir. D’une main il tient un nuancier, avec des iris vernis de toutes les couleurs, alignés sur plusieurs rangées, du plus clair jusqu’au noir. Il mesure la couleur de ses yeux. Chiffre et lettre.
Un autre nuancier, de mèches, comme chez le coiffeur. Des mèches, des plus blondes jusqu’au noir. Il mesure sa rousseur. Chiffre et lettre.

Enfin, il mesure, avec un troisième nuancier, la blancheur de son teint, un blanc laiteux. Chiffre et lettre.

Il lui fait ouvrir la bouche, en lui prenant le menton lui regarde les dents, comme dans la gueule d’une pouliche. Chiffre.

Tout en haut du document. Stature debout, 167 centimètres. Stature assise, 82 centimètres. Poids, 47 kg.

Un encadré, vingt et une rubriques, à noter de 1 à 5, 1 étant la meilleure note. Stature, Conformation, Port, Longueur de jambes, Forme crânienne, Arrière du crâne, Forme faciale, Arête nasale, Hauteur nasale, Largeur nasale, Pommettes, Profondeur orbitale, Forme des paupières, Structure épicanthique, Lèvres, Menton, Structure capillaire, Pilosité corporelle, Couleur des cheveux, Couleur des yeux, Couleur de peau. 2. Grande. 1. Fine. 1. Très droit. 2. Longue. 1. Très longue. 1. Saillant. 1. Ovale étroit. 1. Droite. 1. Très haute. 1. Très étroite. 1. Non apparentes. 2. Profonde. 1. Fuselée. 1. Repli cutané léger. 1. Fines. 2. Prononcé. 1. Raide. 1. Faible. 2. Blond roux. À « Couleur des yeux », sa main s’immobilise, semble hésiter, bleu 1a-2b, non, coche sans conviction 2. Bleu-gris. 1. Blanc rosé.

Il dicte ensuite à l’infirmière quelque chose en allemand, que Renée ne comprend pas : « Principalement nordique, légère influence dinarique, quelques traits ostiques, discrets. »

La chambre où la Schwester l’emmène à l’étage supérieur est grande et sent le renfermé. Elle s’assied sur le lit. Peu après, une servante apporte de la soupe et du pain noir, qu’elle laisse sur le petit bureau. Renée attend que la porte soit refermée et dévore. Elle a la bouche pleine et les doigts sales quand la femme entre une nouvelle fois, elle a honte d’être surprise ainsi et s’essuie la bouche du revers de son poignet. La servante dépose par terre une bassine d’eau, avec un éclat de savon, et une robe rayée sur le dossier de la chaise.

Renée se lave, enfile la robe : trop grande, mais propre, une odeur de lessive. Puis lave la demi-chemise qui lui sert de turban, les dessous et la robe qu’elle n’a pas changés depuis plus de deux semaines. L’éclat de savon fond. L’eau devient noire, la robe reste sale. Renée la tord puis la met à sécher sur la chaise, avec la bassine dessous. De temps en temps une goutte d’eau s’écrase, minuscule bruit de cristal. La nuit est tombée.

Il y a un petit miroir au mur près de la porte. Elle ne s’en approche pas.

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Renée erscheint in ihrer fragwürdigen Baumwollunterwäsche, in ihrer Haut, die so milchig ist, dass sie fast blau erscheint. Sie ist ganz dünn, der zierliche Körper eines Teenagers. Sie versucht, sich hinter ihren Armen zu verstecken.

„Ziehen Sie alles aus, bitte. S’il vous plaît.“

Renée beißt die Zähne zusammen. Zieht sich aus.

Nackt und mit dem Geschlechtsteil unter ihrer linken Hand, nähert sich mit winzigen Schritten.

Er sieht ihr zu, wie sie sich bewegt. Sie schaut hart auf, und in dem scharfen Licht ist ihr Blick ein Feuer, eine Wunde. Er steht auf, greift ihr Kinn und hält sie davon ab, zurückzuweichen. Untersucht die seltsame Iris, als ob es sich um eine Krankheit handeln könnte. Ihr Mund zittert. Sie zittert am ganzen Körper. Er lässt los.

Lässt sie auf dem Untersuchungstisch liegen. Ertastet ihren Unterbauch, über dem Geschlechtsteil, unterhalb des Nabels, einige Augenblicke lang. Sie schaut weg, während er sie vom Schambein bis zum oberen Ende der Gebärmutter misst. „Fünf. Cinq semaines“, sagt er. Dann fragt er fragend: „Cinq semaines?“. Sie nickt. Auf zwei oder drei Tage genau, fünf. Er lächelt. Frau Renée hat triefende Hände und den besonderen Geruch von Rothaarigen, wenn sie schwitzen. Dann schaut er sich die Innenseite ihrer Arme an, die verdächtigen Kratzer. Runzelt die Stirn.

Er sagt etwas auf Deutsch in einem einnehmenden Tonfall zu ihr, offensichtlich in der Absicht, dass sie sich wohlfühlt, sie versteht es nicht. Er gibt auf. Er schätzt ihr anhaltendes Zittern ein, sieht ihre Haut fließen, schaut in die Augen eines gehäuteten Raubtiers: „Sie sind nervös. Es darf nicht sein, die großen Emotionen, sie sind ganz schlecht, mauvaises, für das Kind.“

Frau Renée hat das Herz an der Oberfläche ihrer Haut, scharlachrot, pochend, der Blutfluss verwischt die Sommersprossen, die sie bedeckt. Und ein beginnender Tränenfluss lässt das Grün ihrer Augen aquatisch erscheinen, mit einer orangefarbenen Alge, die auf dem Grund leuchtet. Der Arzt stellt fest: „Was habe ich gesagt. Alles gut, bon, très bon“. Alles wird sehr gut.

Er ruft die Krankenschwester. Diktiert ihr ein paar Zahlen. Er misst Renée im Stehen. Sitzend. Hockt sich hin. Er misst ihre Hüften, ihre Taille, ihre Brust. Mit einem Kopfzirkel den Kopfumfang, den biparietalen Durchmesser, den Augenzwischenraum, die Stirn. Der Raum zwischen Nase und Lippen, der Raum zwischen den beiden Enden der Kiefer. Die Nase, längs und quer. Die Lippen. Untersuche den Schädel, jede Vertiefung, jede Kante. Fährt mit einem Finger über den Knochen der Augenhöhlen, die Iris ist eine zitternde Flamme.

Er zieht sich ein wenig zurück. Sie schließt schnell die Augen. Fühlt sich mit geschlossenen Augen besser.

Er lässt sie sie wieder öffnen. In einer Hand hält er eine Farbkarte mit lackierten Iriden in allen Farben, die in mehreren Reihen von hell bis schwarz aufgereiht sind. Er misst die Farbe ihrer Augen. Zahl und Buchstabe.

Eine andere Farbkarte, mit Strähnchen, wie beim Friseur. Strähnen, von blond bis schwarz. Er misst ihre roten Haare. Zahl und Buchstabe.

Schließlich misst er mit einer dritten Farbkarte die Weiße ihres Teints, ein milchiges Weiß. Zahl und Buchstabe.

Er lässt sie den Mund öffnen, greift ihr Kinn und schaut ihr auf die Zähne, wie in das Maul eines Fohlen. Zahl.

Ganz oben auf dem Dokument. Stehende Statur, 167 Zentimeter. Sitzende Statur, 82 cm. Gewicht, 47 kg.

Ein Kasten, einundzwanzig Rubriken, die von 1 bis 5 zu bewerten sind, wobei 1 die beste Note ist. Statur, Körperbau, Haltung, Beinlänge, Schädelform, Hinterkopf, Gesichtsform, Nasenrücken, Nasenhöhe, Nasenbreite, Wangenknochen, Orbitale Tiefe, Lidform, Epikanthische Struktur, Lippen, Kinn, Haarstruktur, Körperbehaarung, Haarfarbe, Augenfarbe, Hautfarbe. 2. groß. 1. fein. 1. Sehr gerade. 2. Lang. 1. Sehr lang. 1. Hervorstehend. 1. Schmal oval. 1. Gerade. 1. Sehr hoch. 1. Sehr schmal. 1. Nicht auffällig. 2. Tief. 1. spindelförmig. 1. Leichte Hautfalte. 1. dünn. 2. Ausgeprägt. 1. steif. 1. schwach. 2. Rotblond. Bei „Augenfarbe“ bleibt seine Hand stehen, scheint zu zögern, blau 1a-2b, nein, kreuzt ohne Überzeugung 2 an. Blau-grau. 1. weiß-rosa.

Dann diktiert er der Schwester etwas auf Deutsch, das Renée nicht versteht: „Hauptsächlich nordisch, leichter dinarischer Einfluss, einige ostische Züge, unauffällig.“

Das Zimmer, in das die Schwester sie in die obere Etage bringt, ist groß und riecht muffig. Sie setzt sich auf das Bett. Kurz darauf bringt ein Dienstmädchen Suppe und Schwarzbrot, das sie auf dem kleinen Schreibtisch stehen lässt. Renée wartet, bis die Tür geschlossen ist, und verschlingt. Sie hat einen vollen Mund und schmutzige Finger, als die Frau erneut hereinkommt. Sie schämt sich, so überrascht zu werden, und wischt sich mit dem Handgelenk den Mund ab. Die Magd stellt eine Wasserschüssel mit einem Seifensplitter auf den Boden und ein gestreiftes Kleid auf die Stuhllehne.

Renée wäscht sich und zieht das Kleid an: zu groß, aber sauber, ein Geruch von Waschmittel. Dann wäscht sie das halbe Hemd, das sie als Turban benutzt, die Unterwäsche und das Kleid, die sie seit über zwei Wochen nicht mehr gewechselt hat. Der Seifensplitter schmilzt. Das Wasser wird schwarz, das Kleid bleibt schmutzig. Renée wringt es aus und legt es zum Trocknen auf den Stuhl, mit der Schüssel darunter. Ab und zu fällt ein Wassertropfen herunter, ein winziges, kristallklares Geräusch. Die Nacht ist hereingebrochen.

An der Wand neben der Tür hängt ein kleiner Spiegel. Sie nähert sich ihm nicht.

Die Brutalität der Mutterideologie zeigt sich exemplarisch an Frau Geertrui, deren Neugeborenes apathisch bleibt. Ihr mütterliches Versagen wird im System nicht psychologisch, sondern biopolitisch gelesen: ein ungenügender Säugling ist ein Makel im Zuchtplan. Die Konsequenz ist kein Trost, sondern institutionelle Beobachtung und potenzielle Eliminierung. Das Körperliche wird in dieser Ökonomie entemotionalisiert und entindividualisiert: das Kind ist nicht „ihr“ Kind, sondern ein Erzeugnis des Systems – von seiner Verwertbarkeit hängt ihr Wert ab. Die Rezension in Le Monde spricht vom „corps de la mère, machine-outil raciale“ – eine Formulierung, die die zentrale Mechanik des Romans präzise erfasst. Die Frauen im Lebensborn-Heim sind nicht Mütter im emphatischen Sinn, sondern Trägerinnen einer genetischen Mission. Die nationale Rassenideologie benötigt sie, aber nicht als Subjekte mit Wünschen, Ängsten und Bindungen, sondern als leere Gefäße, als temporäre Träger des „guten Blutes“. In Renées Worten wird dies zur bitteren Erkenntnis: „Mon ventre n’est pas à moi.“ Die Sprache der Medizin und der Verwaltung, die in den Dialogen und internen Monologen präsent ist, unterstreicht diese Entmenschlichung. Die Schwangerschaft wird nicht als persönliches Erlebnis erzählt, sondern als Produktionsprozess, dessen Erfolg oder Misserfolg statistisch erfasst wird. Jede Fehlgeburt ist ein „défaut génétique“, jede zu geringe Gewichtszunahme ein „risque de dégénérescence“. Der Körper wird aus dem Inneren heraus entfremdet.

Brandenburg-Görden, 4 novembre 1944

Liebe Helga,

Que je suis heureuse d’avoir de tes nouvelles, mais tu m’en donnes bien peu dans ta dernière lettre, elle est si brève ! Raconte-moi tout sur notre Heim Hochland, une de mes amies qui y a accouché il y a quelques mois, Elsa Widerin, m’en avait envoyé une carte postale qui fait rêver ! Je l’ai affichée à Görden dans ma chambre d’interne. Sais-tu que j’aimerais être mutée dans un de nos foyers ? Malheureusement, je ne pense pas avoir cette possibilité dans l’immédiat.

Je me souviens très bien de l’enfant de ta pensionnaire, Jürgen Weiss. Il montrait de nombreux signes de dégénérescence, le professeur Heinze l’a réceptionné lui-même à son arrivée et l’a étudié pendant près d’une semaine. Et c’est moi qui ai assisté le patient pendant la Desinfektion miséricordieuse. Sois tranquille, en lui faisant boire le remède, je l’ai tenu dans mes bras avec beaucoup de soin et même de tendresse. Je les tiens toujours ainsi à ce moment-là. Et tu sais qu’avec la morphine il n’a pas souffert. Aucune de nous ne veut qu’ils souffrent inutilement. Mais tu sais aussi ce qu’il serait devenu. Pense à la tristesse de sa mère s’il avait grandi. Quant à son corps, il est depuis longtemps dans le laboratoire de l’hôpital, sans doute n’en reste-t-il déjà rien, rien de distinct en tout cas. Je n’y ai pas accès, de toute façon.

Et ta demande est inhabituelle. En as-tu au moins informé le docteur Ebner ? Je t’en prie, liebe Helga, pas de faiblesse coupable. Mais moi aussi, je me souviens de nos années à l’école d’infirmière et plus encore du temps passé ensemble dans la Bund Deutscher Mädel, sais-tu qu’il m’arrive toujours de chantonner ce que nous chantions autour du feu de camp ? Et en danses folkloriques, nous étions les meilleures, aucune autre Mädel ne nous arrivait à la cheville, même si tu étais encore plus gracieuse que moi.

Il est mieux ainsi, mort bébé, et de façon que sa mère garde de lui le souvenir d’un beau petit garçon, et non du monstre qu’il serait devenu. Et bientôt il n’en naîtra plus de ces enfants, tu sais comme moi qu’il suffit de quelques générations pour que notre race soit de nouveau rein, pure. Dis à ta pensionnaire d’oublier au plus vite et de faire, si elle le peut, d’autres enfants gültig, valables, pour la gloire de notre Reich.

Viele Grüsse und immer,
Heil Hitler !
Deine Jutta

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Brandenburg-Görden, 4. November 1944

Liebe Helga!

Wie glücklich bin ich, von dir zu hören, aber du berichtest mir in deinem letzten Brief sehr wenig, er ist so kurz! Erzähl mir alles über unser Haus Hochland, eine Freundin von mir, die dort vor einigen Monaten entbunden hat, Elsa Widerin, hat mir eine Postkarte davon geschickt, die zum Träumen anregt! Ich habe sie in Görden in meinem Zimmer als Assistenzarzt aufgehängt. Wusstest du, dass ich gerne in eines unserer Heime versetzt werden würde? Leider glaube ich nicht, dass ich diese Möglichkeit in nächster Zeit haben werde.

Ich erinnere mich noch sehr gut an das Kind deiner Heimbewohnerin, Jürgen Weiss. Er zeigte viele Anzeichen von Degeneration, Professor Heinze nahm ihn bei seiner Ankunft selbst in Empfang und untersuchte ihn fast eine Woche lang. Und ich war es, der dem Patienten während der barmherzigen Desinfektion beistand. Sei ganz beruhigt: Als ich ihm das Heilmittel zu trinken gab, hielt ich ihn mit großer Sorgfalt und sogar Zärtlichkeit in meinen Armen. Ich halte sie in diesem Moment immer so. Und du weißt, dass er mit dem Morphium keine Schmerzen hatte. Keine von uns will, dass sie unnötig leiden. Aber du weißt auch, was aus ihm geworden wäre. Denk daran, wie traurig seine Mutter gewesen wäre, wenn er erwachsen geworden wäre. Was seinen Körper angeht, so ist er schon lange im Labor des Krankenhauses und es ist wahrscheinlich schon nichts mehr von ihm übrig, jedenfalls nichts, was man unterscheiden könnte. Ich habe ohnehin keinen Zugang dazu.

Und deine Anfrage ist ungewöhnlich. Hast du Dr. Ebner wenigstens darüber informiert? Bitte, liebe Helga, keine schuldhafte Schwäche. Aber auch ich erinnere mich an unsere Jahre in der Krankenpflegeschule und noch mehr an die gemeinsame Zeit im Bund Deutscher Mädel, weißt du, dass ich immer noch vor mich hin summe, was wir am Lagerfeuer gesungen haben? Und in Volkstänzen waren wir die Besten, kein anderes Mädel konnte uns das Wasser reichen, obwohl du noch anmutiger warst als ich.

Es ist besser, wenn er als Baby stirbt, und so, dass seine Mutter ihn als schönen Jungen in Erinnerung behält und nicht als das Monster, das er geworden wäre. Du weißt so gut wie ich, dass es nur ein paar Generationen dauert, bis unsere Rasse wieder rein ist, pure. Sag deiner Untermieterin, sie soll so schnell wie möglich vergessen und, wenn sie kann, weitere gültige Kinder zeugen, valables, zum Ruhme unseres Reiches.

Viele Grüsse und immer,
Heil Hitler!
Deine Jutta

In der nationalsozialistischen Logik ist das Gebären keine intime, private, gar spirituelle Erfahrung, sondern ein Akt politischer Reproduktion. Die Frauen sind zu „Gebärmaschinen“ degradiert – eine Bezeichnung, die nicht überzogen wirkt, wenn man die kalte Bürokratie betrachtet, mit der die Schwangerschaften überwacht, die Neugeborenen begutachtet und katalogisiert werden. Der weibliche Körper ist hier kein Ort des Lebens, sondern ein Ort des Systems. Besonders drastisch wird dies in der Szene, in der eine Mutter ihr nicht arisch genug erscheinendes Kind nicht sehen darf. Das Kind wird ihr entzogen, nicht weil es tot oder krank ist, sondern weil es ideologisch nicht „brauchbar“ ist. Mutterschaft unterliegt hier nicht der Logik des Affekts, sondern der Logik der Selektion. Der Körper der Frau produziert, aber er darf nicht besitzen.

Ein entscheidendes Moment der Instrumentalisierung liegt in der Trennung von Körper und Subjekt. Die Frauen sind zwar anwesend, sprechen, denken, erinnern – doch ihre körperliche Präsenz wird durch das System in eine ökonomisch-biologische Funktion überführt. Besonders sichtbar wird dies in den Reproduktionen ohne Liebe: Die Paarungen erfolgen geplant, notfalls gegen den Willen der Frau. Erotik ist hier nicht Intimität, sondern Pflicht. Der weibliche Körper wird zum Objekt eines Dienstes an der Rasse, nicht zum Träger von Lust oder Freiheit. De Mulder gelingt es, diese Enteignung des Körpers poetisch greifbar zu machen. Immer wieder brechen die inneren Monologe der Frauen in den Text ein – als stotternde, kreisende, traumatische Stimmen. Diese Fragmentierungen zeigen, dass das Denken noch vorhanden ist, aber keinen Ausdruck im physischen Leben mehr findet. Die Körper werden gesehen, benutzt, kategorisiert – aber die inneren Stimmen bleiben unsichtbar.

Ein weiterer Aspekt der Instrumentalisierung liegt in der dauerhaften Markierung des Körpers durch Gewalt. Die Zwangsarbeiterinnen erscheinen nicht nur als funktionslose Kontraste zu den auserwählten Müttern, sondern als Vorwegnahme dessen, was den anderen Frauen droht. De Mulder zeigt, dass die Instrumentalisierung keine statische Kategorie ist, sondern ein graduelles Prozessmodell: vom idealisierten „utérus allemand“ zur wertlosen „plaie sur pieds“. Der Körper ist Ware – und wird bei mangelndem Nutzen entsorgt.

Doch La pouponnière d’Himmler ist nicht nur Anklage, sondern auch poetischer Widerstand. Die Sprache des Romans schafft Körper, die sich nicht völlig instrumentalisieren lassen. In den dichten, flirrenden, manchmal rhythmisch-monotonen inneren Monologen, etwa von Renée, Anne-Marie oder Clara, materialisiert sich ein anderes Körperwissen: eines, das nicht funktioniert, sondern fühlt. Die Sprache bewahrt Reste von Schmerz, Liebe, Erinnerung – gegen den Zugriff der totalitären Rationalität. Gerade Renées wiederkehrender Gedanke an Arturs Umarmung, an das Leben davor, zeigt, dass ihr Körper nicht völlig der Verwaltung gehört. Er leidet, erinnert, begehrt – und in dieser körperlichen Erinnerung liegt ein subversives Potenzial. Der weibliche Körper ist nicht vollständig verfügbar. Er blutet, trotzt, schreit. Die Körper sprechen – auch wenn niemand hört.

La pouponnière d’Himmler erzählt eine Anatomie der politischen Gewalt am weiblichen Körper. Caroline De Mulder entwirft in ihrem Roman eine Welt, in der der Körper der Frau nicht mehr ihr gehört, sondern in den Dienst einer rassistischen, biopolitischen Ideologie gestellt wird. Die Instrumentalisierung ist dabei nicht nur Thema, sondern auch poetisches Verfahren: Die Sprache der Protagonistinnen ist zersplittert, repetitiv, traumatisiert – aber dennoch eine Form der Gegenwehr. Der weibliche Körper ist in De Mulders Text nicht nur Ort der Gewalt, sondern auch der möglichen Erinnerung, der Hoffnung, der poetischen Regeneration. Die Sprache gibt zurück, was das System genommen hat. So wird der Roman selbst zum Widerstandskörper: gegen die Reduktion des Weiblichen auf Funktion, gegen die Entsubjektivierung durch die Macht – und für ein Erzählen, das den Körper wieder fühlbar macht.

2. Der Kinderkörper als verwaltetes Zuchtresultat

Caroline De Mulders Roman La pouponnière d’Himmler entwirft ein eindringliches Tableau nationalsozialistischer Körperpolitik, dessen Zentrum nicht nur die gebärende Frau, sondern auch der neugeborene Körper ist – jener des Kindes, das nicht Kind sein darf, sondern als „Träger“ ideologischer Reinheit, als Projektionsfläche rassischer Zukunft erscheint. Das Leben dieser Kinder ist von Geburt an durchwirkt von Kontrolle, Bewertung, Selektion und drohender Elimination. Der Kinderkörper wird nicht als Subjekt mit Entwicklungsfreiheit inszeniert, sondern als „Produkt“, als „Zuchtresultat“, als genetisches Gut – „un grand cru génétique“. Jedes Zeichen von Schwäche oder Abweichung wird nicht als individuelle Eigenheit, sondern als makrohistorisches „Symptom“ gedeutet, das im Kontext einer biologischen Utopie nicht länger existieren darf.

Einer der erschütterndsten Aspekte des Romans ist die Darstellung des neugeborenen Körpers als Investitionsobjekt, als „grand cru génétique“, wie es die Rezension in Le Monde treffend nennt. Die Kindskörper werden gewogen, vermessen und katalogisiert – von Schwester Helga dokumentiert, von Himmler selbst gesegnet. Schon der räumliche Kontext des Romans macht deutlich, dass es sich bei der sogenannten „pouponnière“ nicht um einen Ort mütterlicher Fürsorge handelt, sondern um eine institutionalisierte Zuchtanstalt, in der Kinder nach rassenideologischen Kriterien produziert und geformt werden. Die Bedingungen erinnern an eine Klinik, in der der menschliche Körper zum Objekt medizinisch-politischer Begutachtung wird. Die Säuglinge werden nicht geliebt, sondern taxiert. Sie sind kein Ziel elterlicher Zuwendung, sondern Mittel eines ideologischen Plans. Dabei steht nicht das Kind als Subjekt im Mittelpunkt, sondern seine Biologie. „Blond, yeux clairs, crâne parfait“ – so lauten die inoffiziellen Kriterien, nach denen das Neugeborene als gelungen gilt. Die Metapher des „grand cru“ legt nahe, dass Kinder wie Weine verkostet und klassifiziert werden – mit derselben Konsequenz, mit der fehlerhafte Jahrgänge ausgesondert werden. Ihre Körper sind keine lebendigen Organismen, sondern Manifestationen eines Zuchtziels. Nicht der Mensch zählt, sondern die körperliche Übereinstimmung mit einem rassischen Ideal.

Lorsqu’il entre dans le hall, flanqué du docteur Ebner, elle retient son souffle. Les deux hommes, en grand uniforme, échangent quelques mots perdus dans la musique de Schubert, qui diminue, s’arrête. Le Reichsführer s’adresse aux chères, chères mères du Heim, et chères sœurs, Schwestern, « Quelle joie d’être ici, parmi vous, de pouvoir célébrer ensemble ces enfants, notre avenir ». Une voix douce, posée. Lui-même est le fier Patenonkel, le fier parrain, de quarante-sept enfants nés dans les Heime ; et il continuera à prendre sous son aile tous les bébés qui naîtront le jour de sa fête, le 8 octobre. Il explique pourquoi la Bénédiction du Nom est importante, et même cruciale : elle intégrera ces tout-petits dans la grande communauté SS.

« Grâce à vous, chères mères, qui êtes vom besten Blut, du meilleur sang, et avez su choisir un partenaire de valeur supérieure du point de vue racial, il suffira de quelques générations pour faire disparaître de notre Allemagne toute trace de sang impur. Un siècle tout au plus. Nos Heime sont conçus pour qu’y naissent les plus magnifiques éléments de notre race : vos enfants. Notre religion, c’est notre sang.

« Aussi, je vous remercie, chères mères. La maternité est la plus noble mission des femmes allemandes. Les dangers auxquels vous vous exposez par la naissance, en servant ainsi votre peuple et votre patrie, équivalent à ceux du combattant dans le tonnerre de la bataille. En contrepartie, l’Allemagne s’engage à vous protéger, ainsi que vos enfants, et à vous préserver d’un travail physique susceptible de nuire à votre fécondité. Chacune d’entre vous doit pouvoir mettre au monde autant d’enfants qu’elle le désire. Notre Allemagne a besoin d’enfants. »

Sa voix se fissure : « Chères mères, vos enfants me consolent de nos jeunes hommes qui meurent au champ d’honneur, loin de chez eux, pour le Reich. Nos fils du meilleur sang se sacrifient. » Le visage de Helga se froisse douloureusement. Le Reichsführer monte le ton, avec emphase : « Vos enfants sont de la race des chevaliers nouveaux, qui devront porter à bout de bras et au pas de charge la plus grande de toutes les révolutions. Et ils sont aussi. » Un silence. « Notre future victoire. » Le Reichsführer est ému sans larmes. Helga se tamponne les yeux. À ce moment-là, un petit se met à vagir, et le Reichsführer sourit avec retenue, « Un futur Seigneur de guerre, celui-là ». Toutes rient.

Il demande alors à Frau Gudrun et son enfant d’avancer. Helga a la gorge serrée, comme si c’était à elle qu’on demandait d’approcher. Elle époussette son tablier de coton immaculé sans un pli, joint les mains. Des mains sèches, trop souvent lavées, désinfectées. Frau Gudrun, intimidée, dépose le tout-petit sur le coussin devant l’autel, dispose la robe blanche, et se tourne vers le Reichsführer. Après un moment de silence :

« Es-tu prête, en tant que mère allemande, à élever ton enfant dans l’esprit national-socialiste ? »

Elle répond avec une poignée de main, « Ja ».

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Als er, flankiert von Dr. Ebner, die Halle betritt, hält sie den Atem an. Die beiden Männer in großer Uniform wechseln einige Worte, die sich in Schuberts Musik verlieren, die leiser wird und aufhört. Der Reichsführer wendet sich an die lieben, lieben Mütter des Heims und die lieben Schwestern: „Welche Freude, hier unter euch zu sein, gemeinsam diese Kinder, unsere Zukunft, feiern zu können“. Eine sanfte, ruhige Stimme. Er selbst ist stolzer Patenonkel, stolzer Pate, von siebenundvierzig Kindern, die in den Heime geboren wurden, und er wird auch weiterhin alle Babys unter seine Fittiche nehmen, die an seinem Namenstag, dem 8. Oktober, geboren werden. Er erklärt, warum der Namenssegen wichtig, ja sogar entscheidend ist: Er wird diese Kleinkinder in die große SS-Gemeinschaft integrieren.

„Dank euch, liebe Mütter, die ihr vom besten Blut seid und einen rassisch höherwertigen Partner gewählt habt, wird es nur wenige Generationen dauern, um jede Spur unreinen Blutes aus unserem Deutschland zu tilgen. Höchstens ein Jahrhundert. Unsere Heime sind so konzipiert, dass in ihnen die prächtigsten Elemente unserer Rasse geboren werden: Ihre Kinder. Unsere Religion ist unser Blut.

„Daher danke ich euch, liebe Mütter. Die Mutterschaft ist die edelste Aufgabe der deutschen Frauen. Die Gefahren, denen Sie sich durch die Geburt aussetzen, wenn Sie so Ihrem Volk und Ihrer Heimat dienen, entsprechen denen eines Kämpfers im Donner der Schlacht. Im Gegenzug verpflichtet sich Deutschland, Sie und Ihre Kinder zu schützen und Sie vor körperlicher Arbeit zu bewahren, die Ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigen könnte. Jede von Ihnen soll so viele Kinder gebären können, wie sie möchte. Unser Deutschland braucht Kinder.“

Seine Stimme bricht: „Liebe Mütter, eure Kinder trösten mich über unsere jungen Männer hinweg, die fern der Heimat auf dem Feld der Ehre für das Reich sterben. Unsere Söhne des besten Blutes opfern sich.“ Helgas Gesicht kräuselt sich schmerzhaft. Der Reichsführer erhob emphatisch die Stimme: „Ihre Kinder sind aus dem Geschlecht der neuen Ritter, die die größte aller Revolutionen auf Händen und Füßen tragen müssen. Und sie sind es auch“. Schweigen. “ Unser zukünftiger Sieg.“ Der Reichsführer ist ohne Tränen gerührt. Helga tupft sich die Augen ab. In diesem Moment beginnt ein kleiner Junge zu vagabundieren, und der Reichsführer lächelt verhalten: „Ein zukünftiger Kriegsherr, der da“. Alle lachen.

Dann fordert er Frau Gudrun und ihr Kind auf, weiterzugehen. Helga schnürt es die Kehle zu, als ob sie aufgefordert würde, näher zu kommen. Sie staubt ihre makellose Baumwollschürze ohne eine einzige Falte ab und faltet die Hände. Trockene Hände, die zu oft gewaschen und desinfiziert wurden. Frau Gudrun, eingeschüchtert, legt das Kleinkind auf das Kissen vor dem Altar, ordnet das weiße Kleid an und wendet sich an den Reichsführer. Nach einem Moment des Schweigens :

„Bist du als deutsche Mutter bereit, dein Kind im nationalsozialistischen Geist zu erziehen?“

Sie antwortet mit einem Handschlag: „Ja“.

In der Namensgebungszeremonie findet die symbolische Integration des Körpers in die Ideologie ihren perversen Höhepunkt: der Körper des Säuglings wird berührt, bezeichnet, getauft – allerdings nicht in christlicher, sondern in säkular-totalitärer Absicht. Die Kleinstkinder, noch unfähig zur Weltbeziehung, werden in einem Akt symbolischer Gewalt auf ihr „Ziel“ verpflichtet. Die Ideologie des „Körpers der Zukunft“ pervertiert dabei jede mögliche Beziehung von Mutter und Kind – es ist nicht Sorge, sondern Zucht. Renée beobachtet dies mit einem Blick zwischen Entsetzen und Entfremdung: Das Kind wird nicht geboren, um zu leben, sondern um als Körper „funktionieren“ zu können.

In dieser Ordnung sind Fehler keine harmlosen kindlichen Unpässlichkeiten, sondern Anzeichen einer tieferen Degeneration. Wenn ein Kind nicht trinkt, nicht richtig atmet, zu viel schreit oder nicht „richtig“ aussieht, wird dies nicht als individuelle Schwierigkeit interpretiert, sondern als Bedrohung für den Fortbestand der Rasse. Die Körper der Kinder sind Träger eines futuristischen Versprechens – oder seiner negativen Spiegelung. Jedes „Fehlverhalten“ ist daher potenziell fatal. Karel, der Sohn von Renée, veranschaulicht diesen Mechanismus paradigmatisch. Er ist anfangs unscheinbar, dann auffällig still, dann unwillig zu trinken – und wird schließlich „verlegt“. Dieses Wort verschleiert das, was sich als systematische Tötung oder bewusste Auslöschung interpretieren lässt. Denn in der Logik des Heims bedeutet jede Abweichung vom Ideal eine Bedrohung für die Reinheit des „Volkskörpers“ – und eine solche darf nicht existieren. Der Körper des Kindes, der nicht perfekt ist, wird nicht gefördert, sondern eliminiert. Das Verschwinden Karels verweist somit auf eine institutionalisierte Euthanasie-Logik, die – im Unterschied zur offenen Gewalt – im Schutzraum der Pflegeeinrichtung ausgeübt wird. Der Säugling stirbt nicht an Vernachlässigung, sondern an einem Entzug von Anerkennung: Wenn der Körper nicht dem Ideal entspricht, verliert er sein Existenzrecht. Karels Sterben ist leise, unsichtbar, strukturell – eine stille Manifestation ideologischer Grausamkeit.

Der Körper des Kindes wird zum „Träger“ einer ideologischen Zukunft, zur Projektionsfläche für rassische Perfektion. Die Heime gleichen Zuchtanstalten, in denen das geringste körperliche Abweichen Sanktionen bedeutet – bis hin zum Verschwinden des Kindes, wie es Karel erleidet. Die Krankenschwester Helga protokolliert seinen qualvollen Tod – und ist irritierend stolz, dass ihr Bericht Himmler zu Tränen rührte. Die Ungeheuerlichkeit besteht darin, dass Empathie hier nicht zur Kritik führt, sondern zur Affirmation der Ideologie – die Trauer um das Kind wird zum Beweis der moralischen Reinheit des Systems.

Die Geschichte von Jürgen, dem Sohn von Frau Geertrui, spiegelt die Härten und unmenschlichen Bedingungen im Heim Hochland wider. Von Anfang an zeigte Jürgen Probleme: Er war ungewöhnlich ruhig, trank kaum Milch und war sehr schwach. Frau Geertrui war verzweifelt, weil ihr Kind nicht wie die anderen Babys schrie oder aktiv war. Helga versuchte Frau Geertrui zu beruhigen und unterstützte sie, etwa indem sie ihr heimlich ein Fläschchen Milch gab, da Jürgen nicht genügend Muttermilch bekam. Das Kind wurde als neurologisch beeinträchtigt diagnostiziert, wahrscheinlich mit einer angeborenen Krankheit. Es wurde entschieden, Jürgen in eine Spezialklinik in Brandenburg-Görden zu verlegen, ein psychiatrisches Krankenhaus für Kinder. Dort erhielt er eine sogenannte Sonderbehandlung und starb am 10. Oktober 1944 an einer Lungeninfektion. Frau Geertrui kann die Situation kaum ertragen und begeht einen Suizidversuch nach dem Verlust ihres Kindes. Sie verlangt den Körper ihres Kindes zurück, um ihm eine richtige Beerdigung zu geben, doch wird ihr dies verweigert, da in solchen Fällen die Leichen für Untersuchungen zurückbehalten wurden und nicht an die Familien ausgegeben wurden.

Schwester Helga, die Jürgen betreute und auch seinen Tod miterlebte, beschreibt ihn als einen schönen, perfekten kleinen Jungen, der nicht dem Bild der „genetisch minderwertigen“ Kinder entsprach, das im Heim propagiert wurde. Sie fühlte sich schuldig und traurig über seinen Tod und die unmenschlichen Umstände. Helga ist innerlich zerrissen, weil sie einerseits ihre Pflicht als Pflegerin erfüllt, andererseits die Brutalität und das Leid erlebt. Unter den anderen Frauen im Heim wurde Frau Geertruis Zustand und die Situation mit Jürgen unterschiedlich wahrgenommen. Es gibt generell Spannungen zwischen den Bewohnerinnen, vor allem zwischen verheirateten Frauen, ledigen Müttern und solchen, die Beziehungen mit SS-Männern hatten. Die Geschichte von Jürgen zeigt die brutale Realität der nationalsozialistischen Lebensborn-Heime: Kinder, die nicht den rassistischen Normen entsprachen, wurden ausgegrenzt, isoliert und oft getötet, und ihre Mütter litten unter den emotionalen und physischen Folgen. Die Frauen im Heim waren einer ständigen Überwachung und Kontrolle ausgesetzt und mussten oft ihre Trauer und Verzweiflung verbergen, um nicht weiter bestraft zu werden.

Deutlich wird, dass diese Gewalt nicht durch Aggression oder Affekt motiviert ist, sondern in kalter Planung wurzelt. Die Körper der Kinder werden systematisch überwacht: Tagesprotokolle, Gewichtstabellen, Entwicklungsskalen – das System ähnelt einem Laborversuch. Es herrscht keine emotionale Bindung, sondern ein ökonomischer Rationalismus: Was nicht funktioniert, wird aussortiert. Diese Sterilität ist Teil des ideologischen Schreckens. Nicht der Sadismus einer Einzelnen etwa tötete Karel, sondern die Unmöglichkeit, als „nichtperfekter“ Körper im System zu bestehen. Die Pflegekräfte handeln nicht grausam, sondern effizient. Und gerade darin liegt der Horror: Dass das Kind stirbt, ist nicht tragischer Unfall, sondern Funktion eines Programms. Sein Körper war nur Projektionsfläche – und ist, bei Nicht-Übereinstimmung, bedeutungslos.

Literarisch betrachtet fungieren die Kinderkörper im Roman auch als Reflexionsfiguren: Sie spiegeln den ideologischen Wahn, die Unmöglichkeit von Unschuld, die Radikalität der Entwertung. Kinder, die normalerweise als Träger von Hoffnung gelten, werden hier zu Trägern von Ideologie – nicht ihrer eigenen, sondern jener, die auf sie projiziert wird. Das „Kind“ ist in De Mulders Text kein Ort kindlicher Autonomie, sondern ein Knotenpunkt biopolitischer Macht. Seine Körperlichkeit ist fremdbestimmt, funktionalisiert, gefährdet. Die häufige Beschreibung von Schreien, Zittern, Verformungen – wie bei dem behinderten Mädchen, das ebenfalls verschwindet – macht deutlich, wie präsent die Bedrohung ist. Das Verschwinden dieser Körper wird nie als Ausnahme, sondern als Systematik gezeigt. Der Kinderkörper ist ein Ort der Angst: für sich selbst, für die Mütter, für das System. In seiner biologischen Fragilität liegt seine ideologische Bedeutung – und seine Gefährdung.

In La pouponnière d’Himmler wird der Körper des Kindes zur absolut instrumentalisierten Projektionsfläche einer rassischen Zukunftsideologie. Er hat keine eigene Zeit, keine Entwicklung, kein Recht auf Abweichung. Er ist entweder ideal – oder verschwunden. Caroline De Mulder zeigt in beklemmender Klarheit, wie das scheinbar „unschuldige“ Leben des Kindes zur grausamen Bühne ideologischer Gewalt werden kann. Indem der Roman das physische Dasein der Kinder als statistische, kontrollierte und eliminierbare Realität inszeniert, stellt er eine fundamentale Frage: Was bleibt von der Kindheit, wenn der Körper ihr genommen wird? Wenn der Körper nicht mehr wächst, sondern gezüchtet wird? Wenn jede Schwäche ein Todesurteil bedeutet? Die Antwort liegt im leeren Bett Karels, im Schweigen der Mutter, in der Lücke, die kein System füllen kann. Es ist das literarische Echo eines Körpers, der nicht hätte sein dürfen – und genau deshalb erinnert werden muss.

3. Der männliche Körper als Projektionsfläche

Der männliche Körper erscheint im Roman in zwei Modi: als dominanter, „zeugender“ Körper und als abwesender, vermisster, mythologisierter Körper. Artur Feuerbach, Renées Geliebter, ist ein solcher ambivalenter Körper: einerseits der zärtlich erinnerte, fast „erlösende“ männliche Körper, andererseits der „verantwortliche“ SS-Mann, dessen Uniform auch das Zeichen des Verrats ist. Der Körper des SS-Offiziers erscheint nicht nur als Instrument der Macht, sondern auch als Projektionsfläche weiblicher Sehnsucht – nicht trotz, sondern wegen seiner Uniform. Dies zeigt, wie sehr die Ideologie selbst bis in die Intimsphäre wirkt: Renée imaginiert Artur als Retter, obwohl er Teil des Systems ist, das sie verschlingt.

Im Gegensatz dazu steht der Körper Himmlers – „réduit à un haut-parleur idéologique“, eine frappante Formulierung von Angeliers Rezension, die die totale Entleiblichung des ideologischen Sprechers betont. Himmler ist kein „männlicher Körper“ im erotischen Sinne, sondern ein ideologischer Lautsprecher: körperlos, aber körpermächtig. Seine Präsenz im Heim ist Zeichen des ideologischen Totalitarismus: Jedes Neugeborene wird in „seinen“ Dienst gestellt, jeder Körper hat seinem Reich zu gehören.

In De Mulders Roman erscheint der männliche Körper als paradoxale Figur: Er ist gleichzeitig für Frauen Objekt erotischer Anziehung, Träger ideologischer Macht und Projektionsfläche weiblicher Hoffnungen. Besonders in der Figur des SS-Offiziers Artur Feuerbach, dem Vater von Renées Kind, konzentriert sich diese Vieldeutigkeit. Der männliche Körper ist nicht einfach das Gegenüber des weiblichen Leibes, der in der Lebensborn-Struktur zur Gebärmaschine degradiert wird. Vielmehr zeigt sich, dass auch der männliche Körper – sofern er begehrenswert ist – zum Medium der Ideologie wird, gerade indem er Begehren hervorruft.

Artur ist ein Mann, „qui portait l’uniforme comme un masque parfait“. Die Uniform ist in Mulders Roman nicht nur Zeichen der Macht, sondern auch ein erotisches Kostüm. Die SS-Uniform erotisiert den männlichen Körper, macht ihn unzugänglich, autoritär, aber auch schön – jedenfalls in den Augen der jungen Renée. Ihr Begehren richtet sich nicht nur auf Artur als Mann, sondern gerade auf die ambivalente Figur des Offiziers, der Stärke und Kälte verkörpert, Zärtlichkeit zeigt und dennoch der totalitären Ordnung dient. Diese Verbindung von Macht und Erotik ist kein Zufall, sondern wird im Roman als Teil der ideologischen Verführungskraft des Nationalsozialismus inszeniert. Die Anziehungskraft des Offizierskörpers liegt auch darin, dass er die Versprechen der Ordnung, der Zukunft, der Bestimmung in sich trägt. Renée verliebt sich nicht nur in einen Mann, sondern in das, was er symbolisiert: Sicherheit, Struktur, eine – wenn auch trügerische – Perspektive. Der begehrenswerte männliche Körper wird zur Schnittstelle von Intimität und Propaganda.

Der Roman spielt gezielt mit der Spannung zwischen körperlicher Nähe und ideologischer Ferne. Artur wird von Renée begehrt, bevor sie seine Rolle im Lebensborn-System vollständig erkennt. In ihrer Erinnerung ist er zärtlich, achtsam, fast romantisch – in starkem Kontrast zur Grausamkeit des Heims. Der erotische Blick auf den männlichen Körper wirkt wie ein Schleier: Er lässt die politische Realität verschwimmen. Doch De Mulder entlarvt diese Sehnsucht als gefährliche Naivität. Der begehrenswerte Körper wird im Verlauf des Romans dekonstruiert: Renée erkennt, dass Artur Teil jener Maschine ist, die sie jetzt gefangen hält. Ihre Liebe zu seinem Körper – zu seiner Wärme, seiner Stimme, seinen Händen – kollidiert mit dem Wissen um seine Schuld. Das Begehren wird so zur Quelle innerer Zerrissenheit: Es bindet sie an die Gewalt, gegen die sie sich wehren müsste. Diese Figur des „verführerischen Täters“ stellt eine perfide Konstellation dar: Der männliche Körper wird nicht trotz seiner ideologischen Rolle begehrt, sondern gerade deshalb – weil er Macht verkörpert. Mulder zeigt so, wie sehr auch das Begehren von Macht durchdrungen ist, wie schwer es ist, „unschuldig“ zu lieben in einem System, das den Körper bereits ideologisch aufgeladen hat.

Erzählerisch bemerkenswert ist, dass Artur nie physisch präsent ist im Heim. Er erscheint ausschließlich in Renées Erinnerung, in ihren inneren Monologen, als verlorener, entfernter, vielleicht sogar toter Mann. Sein Körper ist abwesend – und gerade dadurch idealisiert. Die Distanz erlaubt die Projektion: Er bleibt unberührt vom Schrecken, bleibt das, was er vielleicht nie war – ein „anderer SS-Mann“, sensibel, vielleicht gar ein heimlicher Dissident. Diese abwesende Körperlichkeit verweist auf ein zentrales Thema des Romans: die Unzuverlässigkeit des Begehrens. Renée weiß selbst, dass sie sich täuschen könnte, dass ihre Liebe zu einem Bild geworden ist. Doch sie hält daran fest – aus Mangel an Alternativen, aus Trotz, vielleicht auch aus einem ungebrochenen Wunsch nach Rettung durch den Mann, dessen Körper sie einmal geliebt hat. Der begehrenswerte männliche Körper wird so zur Form der Hoffnung – und zugleich zur Quelle der Täuschung.

Der begehrenswerte männliche Körper steht in Mulders Roman in einem doppelten Verhältnis zum weiblichen Körper: Er ist dessen Komplement und dessen Gegenteil. Während der weibliche Körper kontrolliert, medizinisch überwacht und auf seine biologische Funktion reduziert wird, darf der männliche Körper sich bewegen, gestalten, handeln. Er wird nicht geboren, sondern „macht“ – ob durch Krieg, Sexualität oder Verwaltung. Gerade in der erotischen Spannung zeigt sich jedoch, dass auch der männliche Körper nicht frei ist: Die Uniform, die ihn ziert, ist auch seine Maske. Artur ist nie nackt, nie ganz „er selbst“ – er ist immer durch seine Rolle kodiert. Sein Begehren (sofern es existiert) bleibt undurchsichtig. Die Frau liebt ihn – aber kann nicht wissen, ob auch er sie liebt. Der Roman zeigt: Auch der begehrenswerte Körper ist gefangen – wenn auch in einem goldenen Käfig. Der männliche Körper in La pouponnière d’Himmler ist keine stabile Figur, sondern eine Projektionsfläche für Macht und Ideologie, für Hoffnung und Enttäuschung. In der Figur Arturs verdichtet sich die Ambivalenz einer Erotik, die nicht außerhalb der totalitären Ordnung existiert, sondern ihr inneres Dispositiv spiegelt. Der männliche Körper wird zur Maske, zum Mythos, zur Falle – und das Begehren, das sich auf ihn richtet, entpuppt sich als Teil jener Verstrickung, aus der die Protagonistin keinen Ausweg mehr findet.

In La pouponnière d’Himmler wird auch Sexualität als entmenschlichter Zuchtakt dargestellt – ein Akt, der seine Intimität, seine Lustdimension und sein zwischenmenschliches Begehren verliert und stattdessen vollständig in die biopolitische Logik des NS-Regimes überführt wird. Die sexuelle Handlung wird entkoppelt von Subjektivität und Beziehung, stattdessen erscheint sie als Gewaltform, als kolonialer Zugriff auf den Körper der Frau – ein Zugriff, der legitimiert ist durch die rassische Ideologie und den institutionellen Rahmen des Lebensborn-Systems. Die Thematisierung von Sexualität als Zuchtakt in De Mulders Roman totale Entgrenzung biopolitischer Gewalt: Die Körper werden reduziert auf das, was sie leisten, nicht auf das, was sie empfinden oder begehren. Sexualität, ursprünglich ein Ort von Intimität und Selbstbestimmung, wird in der NS-Ideologie zum Ort der maximalen Fremdbestimmung. De Mulder vermag es, diese Form der Gewalt nicht nur darzustellen, sondern auch sprachlich spürbar zu machen – durch karge, nüchterne, oft fast klinisch wirkende Prosa. Die Körper handeln nicht – sie werden behandelt. Und der Akt der Zeugung wird zur dunkelsten Form politischer Gewalt.

4. Der entwertete, geschundene Körper

In ihrem Roman La pouponnière d’Himmler zeichnet Caroline De Mulder nicht nur das beklemmende Porträt eines nationalsozialistischen Geburtsheims, sondern legt ein umfassendes literarisches Zeugnis über die totalitäre Körperpolitik des Dritten Reichs vor. Neben dem „grand cru génétique“ der arischen Neugeborenen, dem „machine-outil“ der Mutterkörper, erscheinen im Text auch jene Körper, die keinen Platz mehr in der ideologischen Ordnung haben: die „Sklavenkörper“.

Bereits bei seinem ersten Auftreten wird Mareks Körper konsequent als entstellt, deformiert, entleert beschrieben: „carcasse d’homme“, „maigre sur l’os“, „yeux traqués“, „chemise usée“. Er ist nicht mehr jemand, sondern etwas – ein „Körperrest“, ein biologisches Überbleibsel, das überlebt, obwohl es längst hätte sterben sollen. Seine Gestalt steht im radikalen Kontrast zu den gepflegten, geschützten und geförderten Körpern der Lebensborn-Mütter und -Kinder. Marek trägt die Spuren der Gewalt nicht nur äußerlich, sondern in jeder Geste, jedem Reflex. Wenn er Erde isst, Wasser aus dem Boden trinkt oder Gaskochstellen beobachtet, folgt er keiner rationalen Logik mehr, sondern handelt in einem Zustand permanenter Entleiblichung. Seine Erinnerung an Dachau ist keine Rückblende, sondern eine körperliche Gegenwart: „la bouche pleine d’aphtes, la langue dure, râpeuse“ – ein Körper, der sich selbst nicht mehr als Träger von Ich-Erfahrung wahrnehmen kann. Der Sklavenkörper ist kein „Körper im Leiden“, sondern ein leidender Körper ohne Subjekt geworden.

Der gequälte und geschundene Körper von Marek wird detailliert und eindringlich beschrieben, um seine Qualen und die Herabwürdigung, die er erleidet, deutlich zu machen. Seine Hände sind von Kratzern, Wunden, Narben und Schwielen gezeichnet – sie werden als „pinces, griffes, gouffres“ (Klemmen, Krallen, Abgründe) dargestellt, was seine körperliche Verletzlichkeit und den jahrelangen Missbrauch symbolisiert. Sein Rücken ist offen, blutet, und lässt Eiter und Blut sickern, was die schlimmen Verletzungen und die Gefahr einer tödlichen Infektion zeigt. Marek liegt seit Tagen auf dem Bauch, unfähig aufzustehen oder sich zu bewegen, während er von Schmerzen und Fieber geplagt wird. Auch seine Zähne sind beschädigt, drei fehlen auf der rechten Seite, was in seinen fieberhaften Träumen wiederkehrt und seine Deformationen verdeutlicht. Seine Haut ist von Narben und Verformungen gezeichnet, besonders an der linken Gesichtshälfte, wodurch sein Gesicht asymmetrisch wirkt. Die Beschreibung eines Junkers, der ihn misshandelt, zeigt auch die psychische Demütigung, die Marek erleidet. Er wird als ein „Skelett“ mit dünner Haut und hervorstehenden Knochen dargestellt, der kaum noch seine Bewegungen kontrollieren kann. Die Herabwürdigung zeigt sich auch in den Misshandlungen durch die SS, wie die Schläge mit der Knüppelstrafe, die Marek erleiden muss, obwohl er nur zur Toilette gegangen ist. Die Behandlung durch die Wachmänner und die Gestapo, die ihn schlagen und quälen, unterstreicht seine Entmenschlichung. Zudem wird seine Existenz als Gefangener und sein Leid in einem KZ-Kontext dargestellt, wo er trotz seiner Schmerzen und Schwäche weiterarbeiten muss, was seine physische und psychische Erschöpfung verdeutlicht. Mareks Körper wird in seiner unerträglichen Geschundenheit ausgestellt, als ein Ort des Leids, der Verletzungen und der Misshandlung, der von der Gewalt und Demütigung geprägt ist, die er erleiden muss, und der seine Entwürdigung als Gefangener und Opfer des NS-Regimes symbolisiert.

Mareks Körper ist – im Gegensatz zu den gepflegten, selektierten Körpern der Frauen und Kinder – „nichts als eine Wunde auf Beinen“. Seine physische Existenz ist auf elementare Überlebensstrategien reduziert. Seine Menschlichkeit wird gerade durch den Verlust seines Körpers als Träger von Würde markiert. Marek begegnet Renée wie ein Tier, schmutzig und gierig, völlig verstört – ein Spiegel der Gewalt, die der nationalsozialistische Körperdiskurs an den „nicht verwertbaren“ Körpern exekutiert. Marek ist das Gegenbild zum „arischen Körper“, nicht weniger als dessen konstitutives Außen: sein Leiden definiert das Ideal. Dass Renée ihn nicht verrät, ist der einzige humane Reflex in einem ansonsten vollständig deformierten System.

Un abri, un gîte, une idée de cabane, taille réduite, en réalité une poubelle pour débris végétaux, la caisse fait environ un mètre et demi de large pour une longueur de trois – avec un couvercle de planches qui grince quand on l’ouvre. Des insectes, pas méchants, des coléoptères, des vers de terre. Un mulot parfois, mais qui fuit au moindre mouvement. Marek pensait se cacher juste une nuit, mais c’est déjà le quatrième jour. Il s’y est fait un trou et il s’y terre, recroquevillé entre les branches et les feuilles sèches dont il a tapi sa tanière, elles le protègent de l’humidité des végétaux en décomposition.

Quand il a su que le KZ retournait à Dachau, il a fui, s’est caché dans cet endroit qu’il connaît bien. Il ne veut pas retourner à Dachau, jamais. C’était samedi, le 28 avril. Aujourd’hui, mardi 1er mai, il attend toujours que les SS viennent le chercher, attend qu’on l’abatte. Il sait se rendre invisible dans les déchets, il sait aussi que c’est un endroit où on le cherchera, une cachette évidente. Où les chiens le trouveront tout de suite. Mais en quatre jours personne n’est venu. Personne n’a cherché. Sont-ils donc simplement partis comme prévu, sans se préoccuper de lui ? Le soleil perce la ramure des arbres, et passe ensuite à travers les interstices du bois. Il aimerait se coucher au soleil, dans l’herbe, peut-être y aurait-il plus chaud. Il doit être 9 heures du matin, 10 peut-être, et comme tous les jours il se dit qu’il partira la nuit prochaine. Et ne s’y décidera pas.

Pour boire, il attend la nuit tombée. Il boit l’eau à même l’étang, couché à plat ventre, lape l’eau et son parfum de vase et sans doute les minuscules organismes que l’obscurité l’empêche d’y voir flotter.

Après avoir bu, il regarde les feux, de l’autre côté de l’étang, au moins trois. Même s’il n’en distingue clairement qu’un seul, les plumes de fumée et les cendres enflammées en révèlent d’autres, parfois le vent lui en apporte la senteur. Un vent chargé de l’odeur des feux. Nuit et jour, ils brûlent. Quand il est trop fatigué, il s’allonge sur le dos, dans l’herbe, regarde les étoiles. L’estomac douloureux, une outre pleine de liquide et de bruits d’eau dès qu’il fait un mouvement. Il a du mal à fixer sa pensée. Dans ses moments lucides, il se dit qu’il ne parvient plus à réfléchir, qu’il perd l’esprit, qu’il devient une bête, de nouveau, qu’il entre en hibernation en plein printemps. Il n’a plus de tête, il est un ventre, une douleur au ventre, il est devenu la faim, plantée dans un cœur d’animal.

Hier, il avait des cendres en bouche, il y en a plein l’étang, et aussi des papiers en surface, échappés au feu. Il a récupéré sur sa langue ce qu’il pensait être un bout de feuille d’arbre. À la lumière du jour c’était une rognure blanche, brûlée sur les bords, avec des mots incomplets. Il l’a mangée.

Quatre jours qu’il se nourrit d’épluchures moisies et de pommes de terre crues, il a gratté toute une nuit, celle du dimanche au lundi, dans le petit champ limitrophe à la recherche de légumes frais. Le dimanche, des femmes qu’il a identifiées comme des servantes étaient venues voir si des légumes n’avaient pas été oubliés, elles étaient reparties les mains vides, mais en lui donnant l’idée d’aller creuser à son tour, il en a trouvé trois, c’est donc qu’elles avaient moins faim que lui. Quant aux épluchures, il a eu le temps de bien les trier, de mettre de côté les moins entamées. Il s’est fait un genre de garde-manger dans un coin de l’abri. Il en chasse les insectes. Plus personne n’apporte d’épluchures fraîches, elles n’ont plus le temps d’arriver ici, sans doute dans la grande maison non plus n’y a-t-il plus rien à se mettre sous la dent, elles doivent les manger elles-mêmes se dit-il. Il ne sait si ses douleurs d’estomac sont dues à la faim, à l’eau de l’étang, à la nature des aliments ou au malheur. Elles rayonnent jusque dans son crâne et dans ses dents.

Il sait qu’il a de la fièvre, que c’est cette fièvre qui l’empêche de partir, il frissonne nuit et jour, il a le tournis quand il se lève, tous ses muscles sont infusés de douleur et de faiblesse. C’est la fièvre qui lui donne ces rêves bizarres, lui fait supporter les insectes sur sa peau. C’est à cause d’elle qu’il n’arrive plus ni à dormir vraiment ni à s’éveiller tout à fait. Il se reprend à compter, Eins Zwei Drei. Ses cicatrices dans le dos le démangent. Il se demande si la fièvre a le pouvoir de rouvrir les plaies fermées, si elle peut lui crever la chair comme un fruit trop mûr que la chaleur fait éclater, il sent sa peau couler, suinter, dégorger des sucs, sueur, sang, lymphe, jus, sa peau est en train de fermenter. Vier Fünf Sechs. Il sent de l’urine chaude lui couler sur les talons, il frissonne.

Tant qu’il fait noir, il reste dehors. Dès les premières lueurs de l’aube, il se terre sous la trappe de bois, s’enterre dans les plantes mortes et la moisissure et le grouillement. Les femmes se lèvent tôt, dans la grande maison blanche ; un peu avant 5 heures, des lumières s’allument, des rideaux s’ouvrent, même si elles ne sortent que bien plus tard. En matinée ou en fin de journée, les jeunes femmes travaillent un peu, elles s’occupent du linge, ou de préparer des légumes sur la pelouse. Mais surtout, elles se promènent, et quand elles se promènent, elles font le tour de l’étang. Toujours. Et presque toujours dans le même sens, celui des aiguilles d’une montre. Elles passent, rarement seules, souvent par petits groupes, deux, trois, quatre femmes. Passent à quelques mètres de lui. Quelquefois s’asseyent au bord de l’eau, si proches qu’il les entend bavarder, saisit au vol quelques mots d’allemand. Parfois aussi ce sont les infirmières, qui poussent de vastes landaus dans lesquels se trouvent trois ou quatre enfants. Mais depuis deux jours, il ne voit plus d’infirmières, peu de femmes. Moins de mouvement du côté du Heim.

Et à part les servantes venues chercher les pommes de terre, une seule visite, hier. Vers midi, alors qu’il était caché dans son trou, trappe fermée, à somnoler, à regarder les rais de lumière traverser les planches. En entendant un bruit de pas si proche, il s’est glacé. C’était la première fois que quelqu’un s’aventurait si près. Les pas étaient légers, ceux d’une personne seule. Puis une voix, qui chantonnait. Une femme. Une odeur de feu et de cendres. Il n’a pas bougé. Elle chantonnait une berceuse française. Les pas se sont éloignés.

Il s’est redressé, des branches craquaient et le bruit l’a fait s’immobiliser de nouveau quelques instants. Entre les interstices, il l’a vue, de trois quarts, au bord de l’étang, où elle s’était assise. Il a vu ses cheveux flamber, sa silhouette s’aiguiser dans la lumière, la tête du minuscule bébé. C’était la grande fille rousse, celle qu’il avait croisée, tondue, à cet endroit même l’été dernier. Elle avait maintenant des cheveux aux épaules et un parfum de brûlé, il se rappelait très bien son visage, enfantin encore, et ces yeux d’un vert impur. L’enfant dans ses bras était tout petit. Il a calculé alors que son bébé à lui devait être plus vieux, mais à peine, un peu plus de quatre mois, que Dieu le protège. Elle est restée là un quart d’heure peut-être, en berçant le petit et en lui chantant, encore et encore, des mots indistincts puis des fredonnements. Il ne s’est pas montré. Elle s’est relevée en jetant un dernier regard autour d’elle. Est repartie en fredonnant, s’est interrompue un moment pour écouter le petit gazouiller.

Lorsqu’il les a jugés suffisamment éloignés, il a ouvert la trappe grinçante. A fredonné la berceuse à son tour, juste la mélodie, sans les paroles.

Et depuis, depuis qu’il a vu ce nouveau-né sur le bras de cette fille, il pense sans cesse à l’enfant de Wanda. Il l’imagine, le voit, il en rêve dès qu’il ferme les yeux. Oublie presque l’odeur de la cellulose en décomposition, de la moisissure, sent presque son odeur chaude et sucrée et laiteuse de bébé.

Caroline de Mulder, La pouponnière d’Himmler, Gallimard, 2024.

Ein Unterschlupf, eine Herberge, eine Idee von einer Hütte, kleine Größe, in Wirklichkeit ein Mülleimer für Pflanzenreste, die Kiste ist etwa anderthalb Meter breit und drei Meter lang – mit einem Deckel aus Brettern, der beim Öffnen knarrt. Insekten, nicht bösartig, Käfer, Regenwürmer. Manchmal eine Feldmaus, die aber bei der kleinsten Bewegung wegläuft. Marek dachte, er würde sich nur eine Nacht lang verstecken, aber es ist schon der vierte Tag. Er hat sich ein Loch gegraben und verkriecht sich dort, zusammengekauert zwischen den Ästen und den trockenen Blättern, mit denen er seine Höhle ausgelegt hat, sie schützen ihn vor der Feuchtigkeit der verrottenden Pflanzen.

Als er erfährt, dass die KZ-Insassen nach Dachau zurück müssen, flieht er und versteckt sich an diesem Ort, den er gut kennt. Er will nicht nach Dachau zurückkehren, niemals. Das war am Samstag, dem 28. April. Heute, am Dienstag, den 1. Mai, wartet er immer noch darauf, dass die SS ihn abholt, wartet darauf, dass er erschossen wird. Er weiß, wie man sich im Müll unsichtbar macht, er weiß auch, dass man dort nach ihm suchen wird, ein offensichtliches Versteck. Wo ihn die Hunde sofort finden werden. Aber in vier Tagen ist niemand gekommen. Niemand hat gesucht. Sind sie also einfach wie geplant abgereist, ohne sich um ihn zu kümmern? Die Sonne bricht durch das Geäst der Bäume und fällt dann durch die Ritzen des Waldes. Er würde sich gerne in die Sonne legen, ins Gras, vielleicht wäre es dort wärmer. Es muss 9 Uhr morgens sein, vielleicht 10 Uhr, und wie jeden Tag sagt er sich, dass er in der nächsten Nacht gehen wird. Und wird sich nicht dazu entschließen.

Um zu trinken, wartet er, bis es dunkel wird. Er trinkt das Wasser aus dem Teich, liegt flach auf dem Bauch und saugt das Wasser und seinen schlammigen Duft auf und wahrscheinlich auch die winzigen Organismen, die er wegen der Dunkelheit nicht darin schwimmen sehen kann.

Nachdem er getrunken hat, schaut er sich die Feuer auf der anderen Seite des Teichs an, mindestens drei. Auch wenn er nur eines klar erkennen kann, zeigen die Rauchfahnen und die brennende Asche andere, und manchmal trägt der Wind ihren Duft zu ihm. Ein Wind, der mit dem Geruch der Feuer beladen ist. Tag und Nacht brennen sie. Wenn er zu müde ist, legt er sich auf den Rücken ins Gras und betrachtet die Sterne. Sein Magen schmerzt, ein Schlauch voller Flüssigkeit und Wassergeräusche, sobald er eine Bewegung macht. Es fällt ihm schwer, seine Gedanken zu fixieren. In seinen klaren Momenten sagt er sich, dass er nicht mehr denken kann, dass er den Verstand verliert, dass er wieder zu einem Tier wird, dass er mitten im Frühling in den Winterschlaf geht. Er hat keinen Kopf mehr, er ist ein Bauch, ein Bauchschmerz, er ist zum Hunger geworden, der in einem Tierherz steckt.

Gestern hatte er Asche im Mund, der Teich ist voll davon, und auch Papier auf der Oberfläche, das dem Feuer entkommen war. Er holte sich etwas von seiner Zunge, das er für ein Stück Baumblatt hielt. Im Tageslicht war es ein weißer Schnipsel, an den Rändern verbrannt, mit unvollständigen Wörtern. Er aß es.

Vier Tage lang hatte er sich von verschimmelten Schalen und rohen Kartoffeln ernährt, eine ganze Nacht lang, von Sonntag auf Montag, hatte er auf dem kleinen Feld nebenan nach frischem Gemüse gebuddelt. Am Sonntag waren einige Frauen, die er als Dienstmädchen identifizierte, gekommen, um nachzusehen, ob sie Gemüse vergessen hatten, und waren mit leeren Händen gegangen, aber als er auf die Idee kam, selbst zu graben, fand er drei Stück, also hatten sie weniger Hunger als er. Was die Schalen angeht, so hatte er Zeit, sie gut zu sortieren und die am wenigsten angeschnittenen beiseite zu legen. Er hat sich in einer Ecke des Unterstands eine Art Speisekammer eingerichtet. Er jagt dort die Insekten. Niemand bringt mehr frische Schalen, sie haben keine Zeit mehr, hierher zu kommen, wahrscheinlich gibt es auch in dem großen Haus nichts mehr zu essen, sie müssen sie selbst essen, sagt er sich. Er weiß nicht, ob seine Magenschmerzen vom Hunger, vom Wasser im Teich, von der Art des Essens oder vom Unglück herrühren. Sie strahlen bis in seinen Schädel und in seine Zähne aus.

Er weiß, dass er Fieber hat, dass es das Fieber ist, das ihn am Gehen hindert, er fröstelt Tag und Nacht, ihm ist schwindelig, wenn er aufsteht, alle seine Muskeln sind von Schmerz und Schwäche durchdrungen. Es ist das Fieber, das ihm diese seltsamen Träume beschert, das ihn die Insekten auf seiner Haut ertragen lässt. Es ist der Grund dafür, dass er nicht mehr richtig schlafen und nicht mehr richtig aufwachen kann. Er fängt wieder an zu zählen, Eins Zwei Drei. Die Narben auf seinem Rücken jucken. Er fragt sich, ob das Fieber die Macht hat, geschlossene Wunden wieder aufzureißen, ob es sein Fleisch aufschlitzen kann wie eine überreife Frucht, die durch die Hitze aufplatzt, er spürt, wie seine Haut tropft, sickert, Säfte austritt, Schweiß, Blut, Lymphe, Saft, seine Haut gärt. Vier Fünf Sechs. Er spürt, wie ihm warmer Urin an den Fersen herunterläuft, er erschaudert.

Solange es dunkel ist, bleibt er draußen. Sobald der Morgen graut, verkriecht er sich unter der Holzluke, vergräbt sich in den abgestorbenen Pflanzen und dem Schimmel und dem Gewimmel. Die Frauen stehen früh auf, in dem großen weißen Haus; kurz vor 5 Uhr gehen Lichter an, Vorhänge werden geöffnet, auch wenn sie erst viel später das Haus verlassen. Am Morgen oder am Ende des Tages arbeiten die jungen Frauen ein wenig, sie kümmern sich um die Wäsche oder bereiten Gemüse auf dem Rasen vor. Vor allem aber gehen sie spazieren, und wenn sie spazieren gehen, umrunden sie den Teich. Und zwar immer. Und fast immer in derselben Richtung, nämlich im Uhrzeigersinn. Sie gehen vorbei, selten allein, oft in kleinen Gruppen, zwei, drei, vier Frauen. Gehen ein paar Meter von ihm entfernt vorbei. Manchmal sitzen sie am Wasser, so nah, dass er sie plaudern hört und ein paar Worte auf Deutsch aufschnappt. Manchmal sind es auch die Krankenschwestern, die große Kinderwagen schieben, in denen drei oder vier Kinder sitzen. Aber seit zwei Tagen sieht er keine Krankenschwestern mehr, nur noch wenige Frauen. Weniger Bewegung auf der Seite des Heims.

Und außer den Mägden, die die Kartoffeln holten, gab es gestern nur einen einzigen Besuch. Gegen Mittag, als er sich bei geschlossener Falltür in seinem Loch versteckte, döste und beobachtete, wie Lichtstrahlen durch die Bretter fielen. Als er ein Geräusch von Schritten so nah hörte, wurde ihm eiskalt. Es war das erste Mal, dass sich jemand so nah heranwagte. Die Schritte waren leicht, von einer einzelnen Person. Dann eine Stimme, die summte. Es war eine Frau. Ein Geruch von Feuer und Asche. Er bewegte sich nicht. Sie summte ein französisches Wiegenlied. Die Schritte entfernten sich.

Er richtete sich auf, Äste knackten und das Geräusch ließ ihn erneut für einige Augenblicke stehen bleiben. Zwischen den Lücken sah er sie im Dreivierteltakt am Ufer des Teichs stehen, wo sie sich hingesetzt hatte. Er sah, wie ihr Haar flammte, ihre Silhouette sich im Licht schärfte, den Kopf des winzigen Babys. Es war das große, rothaarige Mädchen, das er im letzten Sommer an genau dieser Stelle geschoren getroffen hatte. Sie hatte jetzt schulterlanges Haar und einen verbrannten Duft, er erinnerte sich noch gut an ihr Gesicht, das noch kindlich war, und an die unreinen grünen Augen. Das Kind in ihren Armen war noch sehr klein. Er rechnete damals aus, dass sein eigenes Baby älter sein musste, aber nur knapp, etwas mehr als vier Monate, möge Gott ihn schützen. Sie stand dort vielleicht eine Viertelstunde, wiegte das Kind und sang ihm immer und immer wieder undeutliche Worte und dann ein Summen vor. Er ließ sich nicht blicken. Sie stand auf und warf einen letzten Blick in die Runde. Summte weiter und unterbrach kurz, um dem Kleinen beim Zwitschern zuzuhören.

Als er sie für weit genug entfernt hielt, öffnete er die knarrende Falltür. Er summte das Wiegenlied, nur die Melodie, ohne den Text.

Und seitdem, seit er das Neugeborene auf dem Arm des Mädchens gesehen hat, denkt er immer wieder an Wandas Kind. Er stellt es sich vor, er sieht es, er träumt davon, sobald er die Augen schließt. Vergisst fast den Geruch der verrottenden Zellulose, des Schimmels, riecht fast ihren warmen, süßen, milchigen Babygeruch.

Diese Stelle aus Caroline De Mulders Text beschreibt den inneren und äußeren Ausnahmezustand des ehemaligen KZ-Häftlings Marek, der sich in einer improvisierten Erdhöhle – einem Kompostbehälter – nahe dem SS-Heim versteckt hält, um einer Rückführung nach Dachau zu entgehen. Die Passage entfaltet eine dichte, fast traumartige Atmosphäre, in der existenzielle Angst, körperliches Verfallen und ein rudimentärer Überlebenswille miteinander verschmelzen. Marek lebt hier unter Bedingungen, die seine Menschlichkeit radikal infrage stellen. Sein Versteck, eine „poubelle pour débris végétaux“, verweist auf Entsorgung, auf Entwertung. Die wiederholte Betonung der Zersetzung – feuchte Pflanzenreste, Insekten, Fäulnis – suggeriert, dass er selbst in diesen Verwesungsprozess eingebettet ist. Seine Wahrnehmung ist von der Fieberhitze verzerrt: er fühlt sich als „ventre“, als „douleur au ventre“, reduziert auf ein leidendes Tier. Die Metapher der „hibernation en plein printemps“ bringt seinen paradoxen Zustand auf den Punkt: Rückzug, Starre, Überlebensinstinkt – mitten in der aufblühenden Welt.

Mareks Erleben ist geprägt von Desorientierung und einem unaufhörlichen Kreisen um dieselben Gedanken: „Il se dit qu’il partira la nuit prochaine. Et ne s’y décidera pas.“ Der Satz wird zur Schleife, Ausdruck der lähmenden Angst. Seine Fähigkeit zu denken bricht zusammen: „il ne parvient plus à réfléchir“, „il devient une bête“. Das Zählen auf Deutsch („Eins Zwei Drei …“) weist auf seine Prägung durch das Lager zurück und dient als verzweifelter Halt im Chaos. Marek lebt im Modus des Überlebens durch unmittelbare körperliche Erfahrung: Wasser wird auf dem Bauch liegend aus dem Tümpel geleckt, Geschmack, Geruch und Berührung dominieren. Besonders eindrucksvoll ist die Beschreibung des Essens: er verzehrt verdorbene Abfälle und, fast halluzinatorisch, ein verkohltes Papierschnipsel, das er zunächst für ein Blatt hält. Die Realität hat ihre Eindeutigkeit verloren; die Sprache, die früher Bedeutung trug, wird verschluckt.

Die beschriebene Szene gewinnt an emotionaler Tiefe durch die Begegnung mit der jungen Renée und ihrem Neugeborenen. Marek beobachtet sie heimlich, und diese Beobachtung weckt Erinnerungen an sein eigenes Kind: „il pense sans cesse à l’enfant de Wanda“. Diese Imaginationskraft verleiht ihm kurzzeitig Menschlichkeit zurück. Inmitten von Verwesung und Fieber erscheint die Erinnerung an das Kind wie eine Lichtquelle: „il sent presque son odeur chaude et sucrée et laiteuse de bébé“.

Die Bezeichnung seines Verstecks als „tanière“ lässt an ein tierisches Habitat denken, das Schutz bietet, aber zugleich von Isolation und Verrohung kündet. Sie steht für eine paradoxe Sicherheit: Er ist sicher nur in völliger Entmenschlichung – „il sait se rendre invisible dans les déchets“. Der Text stellt damit subtil infrage, wie viel Mensch vom Menschen noch bleibt, wenn man ihm jegliche soziale Einbindung, Wärme und Perspektive nimmt. Diese Passage inszeniert auf existenziell drastische Weise das Überleben als Dasein im Schatten des Todes. Mareks „Abri“ ist ein Ort des Verschwindens – physisch, psychisch, sozial. Der Kontrast zur „pouponnière“, wo Frauen sich mit Neugeborenen im Sonnenlicht zeigen, macht diese Szene zur düsteren Gegenerzählung eines Regimes, das vorgibt, Leben zu schützen, während es zugleich unzählige andere Leben systematisch auslöscht.

Der Roman inszeniert Mareks Körper als Resultat und Spiegel einer Rassenideologie, die entmenschlicht, entwertet und zur physischen Vernichtung führt. Mareks Körper steht auch für eine andere Wahrheit: dass der totalitäre Körperdiskurs nicht nur diszipliniert, sondern vernichtet. In seinem Mund schmeckt die Erde wie „Leben“ – aber auch wie Tod. Seine Erinnerung an den brennenden Geschmack von Dachau, die verklebte Zunge, das körperliche Verenden an Durst, formuliert eine Gegenerinnerung zur sterilisierten „Pflege“ der Lebensbornkinder: hier das Körpermassaker, dort der Körperkult – verbunden durch denselben ideologischen Kern.

Marek ist nicht einfach Opfer von Gewalt, sondern Teil einer rassistischen Körperordnung, die Leben nach Brauchbarkeit staffelt. Während im Heim selbst zwischen „épouses SS“, „Frau Geertrui“ und den Mädchenmüttern feine Abstufungen gemacht werden, ist der Sklavenkörper jenseits dieser Logik positioniert: Er gehört zur absoluten Außenseite des Systems. Als Zwangsarbeiter wird er zwar noch benutzt, aber nicht mehr gepflegt. Sein Körper ist notwendig, aber nicht wünschenswert. In ihm kulminiert die Logik der Verwertung: Er darf leben, solange er dient – nicht eine Sekunde länger. Diese Entwertung erfolgt nicht nur strukturell, sondern explizit rassistisch. Marek, dessen Herkunft osteuropäisch ist, wird als „untermenschlich“ imaginiert – als fremd, schmutzig, tierhaft. Seine Angst vor Rückkehr nach Dachau ist nicht nur individuelle Furcht, sondern Ausdruck einer allgemeinen Vernichtungslogik: Wer nicht arisch ist, kann nur dann leben, wenn er sich auflöst – im Dienst, in der Anonymität, im Schweigen. Dass Marek keine eigene Sprache im Roman hat – er denkt und handelt, aber reflektiert nicht literarisch –, verweist auf diese Entmenschlichung auch im Medium der Erzählung.

Zentral für die Darstellung des entwerteten Körpers ist der Blick, den die anderen Figuren – insbesondere Renée – auf Marek werfen. Ihre erste Reaktion ist Panik: „chat maigre“, „épouvantail“, „geste démesuré“. Marek erscheint monströs, fremd, bedrohlich. Doch in diesem Blick spiegelt sich nicht nur ihre subjektive Angst, sondern auch die ideologische Schulung des Sehens: Wer als entwerteter Körper konstruiert wurde, kann im System nur als Bedrohung auftauchen – nie als Mensch. Später jedoch beginnt Renée, Marek als lebendigen Anderen wahrzunehmen. Dass sie ihn nicht verrät, dass sie an seine Rückkehr denkt, zeugt von einer brüchigen, aber bedeutsamen Rest-Empathie. Marek wird nicht vollständig im Blick der Ideologie gefasst. Seine Körperlichkeit bleibt bedrohlich, aber auch traurig, erbarmungswürdig, real. In diesem ambivalenten Blick liegt eine der seltenen Humanisierungsgesten im Roman – vielleicht die einzige.

Mareks Körper wirkt als negatives Zentrum der Erzählordnung. Er kommt nur selten vor, aber seine Präsenz ist grundlegend: Er verkörpert das, was alle anderen Körper vermeiden wollen – die absolute Nutzlosigkeit, das nackte Überleben, das Tierische. Im Kontrast zu den gebadeten, ernährten, überwachten Frauenleibern zeigt Mareks Körper, was geschieht, wenn die Ideologie die Körper gänzlich fallen lässt. Er ist nicht mehr Subjekt eines Willens, sondern bloßes Residuum eines Systems, das Leben als Mittel, nicht als Zweck betrachtet. In dieser Funktion ist der Sklavenkörper auch eine Art Mahnfigur – nicht im moralischen, sondern im existenziellen Sinn. Er erinnert an das, was unter der Oberfläche der funktionierenden Ordnung liegt: Hunger, Schmutz, Gewalt, Tod. Er ist das verrottete Fundament, auf dem das glänzende Haus des Lebensborn steht.

In La pouponnière d’Himmler erscheint der entwertete „Sklavenkörper“ nicht als Exotikum, sondern als Kernfigur eines biopolitischen Systems, das Leben in Nutzbarkeitskategorien aufspaltet. Marek verkörpert die absolute Negation menschlicher Integrität: Als „plaie sur pieds“ ist er weder handelnd noch redend. Er ist leidend, flüchtend, überlebend – aber nicht lebend. Seine Körperlichkeit ist das, was bleibt, wenn Subjektivität ausgetrieben wurde. Caroline De Mulder idealisiert und erklärt diese Figur nicht, sondern schreibt sie als dunkles, widerständiges Faktum in den Text ein. Mareks Körper ist nicht symbolisch, sondern konkret – ein Körper, der isst und kotzt, der bebt, der verschwindet. Und genau dadurch wird er zur subversiven Gegenkraft: Er zeigt, dass auch die perfekte Ordnung des Heims nicht in der Lage ist, den „unbrauchbaren“ Körper ganz zum Verschwinden zu bringen. Er ist die Körperlichkeit der Erinnerung – an eine Gewalt, die noch im Überleben fortbesteht.

5. Der Körper als ideologisches Artefakt

Der Roman enthüllt in seiner Gesamtkonzeption, dass im nationalsozialistischen Denken der Körper nicht mehr Ort des Individuellen, sondern Medium der Ideologie ist. De Mulder macht dies nicht durch theoretische Reflexion erfahrbar, sondern durch eine durchkomponierte Erzählstruktur. Die Körper erscheinen nicht als integrale Subjekte, sondern als Fragmente eines Systems: das Auge Renées, die Hand Helgas, die Wunde Mareks, der Säuglingsmund Jürgens – jede dieser Körperstellen ist übercodiert mit Bedeutung, wird reguliert, bewertet und ohne Bedenken geopfert. Die ideologisierte Körperlichkeit zeigt sich schließlich auch im Detail: in der Ernährung (porridge als Pflicht), im Verbot von Make-up („la femme allemande n’a pas besoin d’artifices“), in der Choreographie der Zeremonien, im Takt des Stillens. Es ist eine totale Durchherrschung der Körper – aber auch eine, die die Körper letztlich verschleißt. „Outil qu’on jette, usure venue“ – was nicht mehr produktiv ist, wird entfernt, unsichtbar gemacht, vernichtet. Der Körper ist ein Verbrauchsobjekt geworden, der Mensch ein Rohstoff der Ideologie.

Caroline De Mulders La pouponnière d’Himmler ist in der Tat, wie Le Monde formulierte, ein „roman des corps“ – ein literarisches Werk, das den Körper nicht nur als Thema, sondern als ästhetische Form und politische Struktur reflektiert. Die verschiedenen Körper – mütterliche, kindliche, männliche, versklavte – stehen für verschiedene Modi der politischen Verfügbarkeit: sie sind Repräsentationen einer totalitären Körperökonomie, in der Liebe, Geburt, Fürsorge und Sexualität in einem Netz aus Norm, Disziplin und Gewalt aufgehen. Der Roman gelingt dort, wo er – ohne Pathos, aber mit großer sinnlicher Dichte – zeigt, wie ein Körper, den man seiner Würde beraubt hat, nicht mehr „erlebt“, sondern nur noch „gebraucht“ wird. Es ist ein Roman der Körper – aber vor allem ein Roman über ihre systematische Enteignung.

Wie in der Darstellung von Kindheit, so gilt auch hier: La pouponnière d’Himmler enthält – bei aller düsteren Dystopie – subtile Momente, in denen eine Utopie des anderen Körpers aufscheint: eine Ahnung von Körpern, die nicht funktionalisiert, nicht ideologisch zugerichtet, nicht normiert sind. Diese Utopie ist gebrochen und fragmentarisch – aber gerade darin liegt ihre subversive Kraft. Renée, eine der zentralen Figuren des Romans, verkörpert in ihrem zunehmenden Zweifel eine körperliche Subjektivität jenseits der biopolitischen Doktrin. Sie beginnt, ihren eigenen Leib nicht mehr als „Zuchtinstrument“ zu sehen, sondern als fühlendes, liebendes, verletzbares Ich. In der Weigerung von Helga, Karel zu vergessen, liegt ein utopischer Moment: die Anerkennung eines individuellen, zerbrechlichen Körpers, der nicht verwertbar sein muss, um geliebt zu werden.

Trotz der unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeiterinnen – etwa der Figur der slowakischen Jüdin, die heimlich Geburtshilfe leistet – gibt es auch hier Spuren von Körpern, die nicht zum bloßen Objekt degradiert werden. Die intime Geste der Hilfe, der Pflege, des Blickkontakts, die Berührung unter Frauen: Hier entstehen Inseln eines anderen Körperverhältnisses, jenseits von Verwertungslogik. Diese Szenen sind zart, prekär, gefährlich – aber sie zeigen, dass nicht jede Körperlichkeit im Dienst der Ideologie steht. Es gibt eine andere körperliche Wahrheit, die durch Empathie, Fürsorge, Nähe lebt – selbst im Lagersystem. Trotz der totalen Kontrolle erscheint in den Körpern der Kinder auch das Unverfügbare, das nicht restlos Beherrschbare. Das unkontrollierbare Schreien, das „Nichttrinken“, das „Abnorme“ sind nicht nur Symptome der Degeneration – sie können auch als leiblicher Protest gelesen werden. Der Körper verweigert den Zugriff, bleibt fremd, eigensinnig, unerziehbar. Gerade in Karels scheinbarer „Schwäche“ liegt eine stille Stärke: Er ist nicht formbar. Er passt nicht. Er entzieht sich. Damit ist sein Körper nicht nur Opfer, sondern versteckter Zeuge einer anderen Möglichkeit: der Nichtverfügbarkeit des Lebendigen.

Auch auf stilistischer Ebene schafft der Roman Gegenräume zur ideologischen Körperordnung: durch vorsichtige poetische Bilder, durch fragmentarische Monologe, durch die Stimmenvielfalt. Diese literarische Körperästhetik ist selbst ein Akt des Widerstands. So erahnen wir im Roman trotz allem eine gebrochene Utopie anderer Körper: der leidenden, widerständigen, unverfügbaren, fühlenden Körper. Diese Utopie ist nicht triumphal, sondern verletzlich – aber sie ist da. Sie zeigt sich in der Liebe der Mutter, im Stillen des Kindes, in der Fürsorge unter Zwang, in der Sprache des Romans selbst. Es sind Spuren einer Körperlichkeit, die sich nicht zurichten lässt. Sie unterläuft die „klinische“, funktionale Sprache der Nazi-Bürokratie. In der Sprache selbst scheint eine andere Körperlichkeit auf, lebendig atmend.

Epilog im November 1945

Der junge Artur Feuerbach hatte Renée die Ehe versprochen, er ist von der Angst vor dem Krieg geprägt. Seine Beziehung zu Renée ist von Hoffnung, aber auch von Unsicherheit und tragischer Vorahnung geprägt. Artur steht für die verlorene und zerstörte Generation junger Männer im Krieg. Seine Abwesenheit und das Schweigen nach seiner Abreise belasten Renée schwer, sie fühlt sich von ihm verlassen und ist zugleich von einer tiefen Sehnsucht und Wut erfüllt. Renée stirbt am Schluss durch Suizid, hängt sich an einem Baum auf, was mit großer Detailgenauigkeit beschrieben wird. Sie wurde zunehmend isoliert und verzweifelt. Trotz der Hoffnung und der Liebe zu Artur Feuerbach findet sie keinen Ausweg aus ihrer Lage. Helga, die Schwester, die Renée begleitet hat, ist tief erschüttert Zeugin dieses tragischen Endes.

Der Epilog spielt im Kloster Indersdorf am 23. November 1945, nach dem Kriegsende. Er zeigt eine Begegnung zwischen Schwester Helga und Marek, dem ehemaligen polnischen KZ-Häftling, der im Heim versteckt war. Marek hat seine Frau Wanda und das gemeinsame Kind durch den Holocaust verloren. Helga berichtet ihm, als er nach Frau Renée fragt, vom Suizid der jungen Französin. Das Kleinkind, Arne, inmitten von Leid, Verlust und Verzweiflung, steht hier dennoch auch für eine Möglichkeit der Zukunft. Mareks Fürsorge und das Lächeln des Kindes stehen im Kontrast zur allgemeinen Verzweiflung und symbolisieren so eine Hoffnung auf Neubeginn. Der Epilog thematisiert das Ende einer dunklen Zeit, die notwendige Aufarbeitung von Verlust und Trauma sowie die Erinnerung an die Opfer.

Renée nimmt sich nach der Geburt ihres Kindes, das sie an den unerreichbaren Vater erinnert, das Leben. Ihre Entscheidung ist nicht impulsiv, sondern vorbereitet, fast inszeniert. Sie schreibt einen Abschiedsbrief und entzieht sich dem Zugriff der Institution durch den radikalsten Akt der Selbstverfügung: den Tod. Renées Selbstmord steht im Zentrum einer tragischen Negation der nationalsozialistischen Biopolitik. In einer Welt, in der der weibliche Körper ausschließlich als „Reproduktionsmaschine“ fungieren soll, stellt Renée sich gegen diese Logik. Ihre Tat ist kein Fluchtreflex, sondern ein radikaler Widerstand: Sie verweigert dem System ihre Körperlichkeit. Dort, wo ihr Uterus als Produktionsstätte eines „wertvollen“ Kindes instrumentalisiert wird, antwortet sie mit der Zerstörung des Subjekts. Renées Tod sprengt den Kreis der ideologischen Zirkulation – sie bricht den Kreislauf von Geburt, Auswahl, Selektion und Züchtung ab.

Die Darstellung von Marek und Arne am Ende von Caroline De Mulders La pouponnière d’Himmler stellt die Frage nach Überleben, Zeugenschaft und körperlicher Zukunft neu – aber ohne auf die falsche Hoffnung einer simplen Heilung zurückzugreifen. Marek, der ehemalige Zwangsarbeiter, und Arne, Renées Sohn, den Helga aus dem Heim rettete, sind beide Verkörperungen des Missbrauchs durch das NS-Regime. Marek trägt die Spuren der Sklaverei, Arne ist Produkt einer eugenischen Brutstätte – ein „Kind des Reiches“, das aus dem System gestohlen wurde. Beide Körper sind gezeichnet, verletzt, traumatisiert – aber sie existieren weiter. Dass De Mulder sie zusammen mit Helga zeigt, ist kein Zeichen von Heilung, sondern der Versuch, ein anderes Narrativ des Körpers zu eröffnen: nicht als Zuchtobjekt, nicht als Maschine, nicht als Wegwerfware, sondern als fragile Träger von Geschichte, Beziehung, vielleicht auch von Zärtlichkeit. Marek und Arne sind nicht nur Überlebende, sie sind auch lebendige Zeugnisse. Ihre Körper schreiben keine Heldengeschichte, aber sie widerstehen dem totalitären Ziel, jede Spur der eigenen Gewalt auszulöschen. Indem sie weiterleben, bleibt das Grauen eingeschrieben – nicht in Worten, sondern in Präsenz. Das Kind Arne ist ist das „Retortenkind“ des Reiches, aber auch Symbol für eine andere Zukunft – nicht rein, nicht selektiert, sondern adoptiert, von einer Mutter gerettet, nicht von einer Ideologie erwählt. Seine Körperlichkeit entzieht sich der rassistischen Logik. Die letzten Seiten brechen nicht radikal mit der vorherigen Kälte, aber sie lassen einen Zwischenraum entstehen – keinen utopischen, sondern einen denkbaren Raum von Restmenschlichkeit. Marek und Arne sind Träger einer beschädigten, aber möglichen Körperlichkeit jenseits der biopolitischen Zurichtung.

Renées Suizid und das Wiedersehen von Marek und Helga sind zwei radikal entgegengesetzte Reaktionen auf dasselbe System der Körperausbeutung. Während Renée den Tod als einzigen Ausweg sieht, wählen Marek und Helga ein Leben, das aus Trauma und Ruinen entsteht. Beide Szenen stehen nicht für Hoffnung oder Katharsis – sondern für die fragile Möglichkeit, das Menschliche gegen das System zu behaupten.

Anmerkungen
  1. Boris Thiolay, Lebensborn: La fabrique des enfants parfaits. Enqête sur ces Francais nés dans les maternités SS, Paris, Flammarion, 2012.>>>
  2. Vgl. zu diesem Absatz Antonia Kleikamp, „Zuchtstationen“, „Bordelle“ – Himmlers Gebär-Verein, Die Welt, 12. Dezember 2015.>>>
  3. Vgl. etwa Marc Hillel, Au nom de la race, Paris, Fayard, 1975. Katherine Maroger, Les racines du silence, Éditions Anne Carrière, 2008. Boris Thiolay, Lebensborn: La fabrique des enfants parfaits. Enqête sur ces Francais nés dans les maternités SS, Paris, Flammarion, 2012.>>>
  4. Boris Thiolay, Lebensborn: La fabrique des enfants parfaits. Enqête sur ces Francais nés dans les maternités SS, Paris, Flammarion, 2012, Kap. „Des maternités SS en Europe“.>>>

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