Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux

Für meine Mutter Ingrid.

Un répertoire d’habitudes, une somme de gestes façonnés par des enfances aux champs, des adolescences en atelier, précédées d’autres enfances, jusqu’à l’oubli.

Annie Ernaux, Les années.

Ein Repertoire an Gewohnheiten, eine Sammlung von Gesten, geprägt von Kindheitstagen auf den Äckern, von Jugendjahren in der Werkstatt, denen andere Kinderzeiten vorausgingen, bis in die Vergessenheit.

Rückblick im Alter

Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux wird im September 85 Jahre alt. Die junge Annie verbrachte ihr Kindheit im Café-Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern in Yvetot in der Normandie. Dieses Geschäft, das fast alle Räume des Hauses einnahm, ließ ihr kaum Privatsphäre. Kunden sahen sie beim Essen und bei den Hausaufgaben, was sie als „öffentliches Leben“ empfand. In Le vrai lieu: entretiens avec Michelle Porte berichtet die Autorin im Gespräch ausführlich auch über die prägenden Einflüsse ihrer Kindheit und Jugend auf ihre Poetik. Sie betont, dass der geografische und soziale Ort ihrer Herkunft und ihres Lebens nicht als bloße Erklärung, sondern als der Hintergrund der Realität dient, in der ihre Texte verankert sind. Ab dem Alter von ca. 14 Jahren zog Ernaux sich in ihr Zimmer zurück und sehnte sich nach Einsamkeit und einem großen, stillen Haus – ein Traum, den sie später in ihrem Haus in Cergy erfüllte. Die sozialen Unterschiede in Yvetot waren für sie prägnant, auch wenn sie für Außenstehende nicht sofort sichtbar waren. Ihr Elternhaus lag zwischen Stadt und Land, in einem dezentralen Viertel, die wohlhabenderen Bewohner lebten in anderen Straßen. Die Kunden ihrer Eltern waren hauptsächlich Arbeiter und Angestellte, und Ernaux wurde damals mit Armut und sozialen Nöten konfrontiert, da ihre Eltern oft Kredit gewährten. Ihre Schulzeit in einer Privatschule, ein Wunsch ihrer Mutter, verstärkte die soziale Distanz, da sie sich von ihren Cousinen und den Mädchen aus ihrem Viertel zu unterscheiden begann. Dies führte zu einem tiefen Gefühl des „Dazwischenseins“ („entre deux“), das sie schon früh in ihrem Leben wahrnahm. Dieses Gefühl der sozialen Spaltung und die „Zerrissenheit“ („déchirure“) durch ihren sozialen Aufstieg wurden zum Ausgangspunkt ihres Schreibens.

Die sozialen Brüche und Kindheitserfahrungen sind der Kern ihres Schreibens. Ihr Wunsch, die Welt des Café-Lebensmittelgeschäfts zu beschreiben, war politisch motiviert: Sie wollte die Kultur dieses Milieus zeigen und die Mechanismen offenlegen, wie ein Individuum zu einem „Feind des eigenen Milieus“ gemacht wird. Sie wollte ihre Klasse rächen und schrieb gegen kulturelle und wirtschaftliche Dominanz sowie gegen die Sprachkonventionen, indem sie populäre und normannische Wörter in einer dekonstruierten Syntax verwendete. Während ihre frühen Werke wie Les armoires vides von einer „ausgestellten Gewalt“ in der Sprache geprägt waren, um die „gedämpfte Gewalt der kulturellen Dominanz“ darzustellen, entwickelte sie später in La place einen „faktischen“ oder „platten“ Schreibstil. Dieser Stil verzichtet auf Kommentare und Emotionen und versucht, die Realität des Vaters und seines Milieus direkt darzustellen, nicht zuletzt um die Gewalt zu „verinnerlichen“ und wirksamer zu machen. Das Schreiben dient Ernaux dazu, Dinge „zu retten“ – nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern auch die Ära und kollektive Erfahrungen. Sie sieht sich als eine Art „Kamera“, die aufzeichnet, und den Schreibprozess als die Konstruktion eines Textes aus dem Aufgezeichneten. 1

Anlässlich der Literaturnobelpreis-Übergabe in Schweden beleuchtet Annie Ernaux‘ Rede auch die entscheidende Rolle ihrer sozialen Herkunft für die Entwicklung ihres schriftstellerischen Werks. Sie zitiert und interpretiert dabei mehrere prägende Aspekte: Sie beginnt ihre Reflexion über ihr Werk mit einem Satz aus ihrem Tagebuch, den sie mit 22 Jahren notierte: „J’écrirai pour venger ma race.“ Nun erklärt sie diesen Satz wie folgt:

J’avais vingt-deux ans. J’étais étudiante en Lettres dans une faculté de province, parmi des filles et des garçons pour beaucoup issus de la bourgeoisie locale. Je pensais orgueilleusement et naïvement qu’écrire des livres, devenir écrivain, au bout d’une lignée de paysans sans terre, d’ouvriers et de petits-commerçants, de gens méprisés pour leurs manières, leur accent, leur inculture, suffirait à réparer l’injustice sociale de la naissance. Qu’une victoire individuelle effaçait des siècles de domination et de pauvreté, dans une illusion que l’Ecole avait déjà entretenue en moi avec ma réussite scolaire.

Annie Ernaux, „Conférence Nobel“, www.nobelprize.org.

Ich war zweiundzwanzig Jahre alt. Ich studierte Literatur an einer Provinzuniversität, zusammen mit vielen Mädchen und Jungen aus der lokalen Bourgeoisie. Ich dachte stolz und naiv, dass das Schreiben von Büchern, dass ich Schriftstellerin werden würde, nach einer Ahnenreihe von landlosen Bauern, Arbeitern und kleinen Händlern, von Menschen, die wegen ihrer Manieren, ihres Akzents und ihrer Unbildung verachtet wurden, ausreichen würde, um die soziale Ungerechtigkeit meiner Herkunft wiedergutzumachen. Dass ein individueller Sieg Jahrhunderte der Unterdrückung und Armut auslöschen würde, in einer Illusion, die die Schule mit meinem schulischen Erfolg bereits in mir geweckt hatte.“

Dieser Auszug verdeutlicht den tief verwurzelten Ursprung von Ernaux‘ Schreibmotivation. Schon in jungen Jahren empfand sie ihre soziale Herkunft als eine Ungerechtigkeit, die es zu „rächen“ galt. Ihr Studium der Literaturwissenschaften brachte sie in Kontakt mit Kommilitonen aus bürgerlichen Verhältnissen, was ihr eigenes Gefühl der Andersartigkeit und des Verachtetwerdens („méprisés pour leurs manières, leur accent, leur inculture“) verstärkte. Sie glaubte „naiverweise“, dass ihr individueller Erfolg als Schriftstellerin die jahrhundertelange Armut und Diskriminierung ihrer Vorfahren – landlose Bauern, Arbeiter und Kleinunternehmer – aufwiegen könnte. Die Schule hatte diese Illusion durch ihre akademischen Erfolge bereits genährt. Dieser frühe Impuls, Literatur als Werkzeug zur Reparation sozialer Ungerechtigkeit zu nutzen, ist grundlegend für ihr späteres autobiografisches und soziologisches Schreiben.

Depuis que je savais lire, les livres étaient mes compagnons, la lecture mon occupation naturelle en dehors de l’école. Ce goût était entretenu par une mère, elle-même grande lectrice de romans entre deux clients de sa boutique, qui me préférait lisant plutôt que cousant et tricotant. La cherté des livres, la suspicion dont ils faisaient l’objet dans mon école religieuse, me les rendaient encore plus désirables.

Annie Ernaux, „Conférence Nobel“.

Seit ich lesen konnte, waren Bücher meine Begleiter, das Lesen meine natürliche Beschäftigung außerhalb der Schule. Diese Vorliebe wurde von meiner Mutter gefördert, die selbst zwischen zwei Kunden in ihrem Laden gerne Romane las und mich lieber lesen als nähen und stricken sah. Die hohen Preise für Bücher und das Misstrauen, mit dem sie in meiner religiösen Schule betrachtet wurden, machten sie für mich noch begehrenswerter.

Bücher waren für Annie Ernaux von Kindesbeinen an mehr als nur eine Beschäftigung; sie waren konstante Begleiter und ein natürlicher Bestandteil ihres Lebens außerhalb der Schule. Ihre Mutter, selbst eine begeisterte Leserin, förderte diese Neigung aktiv, sie zog das Lesen dem Nähen oder Stricken vor. Die Knappheit und der Wert der Bücher, sowie das Misstrauen, das ihnen in ihrer religiösen Schule entgegengebracht wurde, erhöhten ihren Reiz und ihre Begehrlichkeit. Diese frühe, ungesteuerte und von der Mutter geförderte Lektüre legte den Grundstein für ihre tiefe Verbindung zur Literatur und ihre spätere Laufbahn, und die Entscheidung für ein Literaturstudium war für Ernaux ein Weg, in der Welt der Bücher zu bleiben:

Le choix de faire des études de lettres avait été celui de rester dans la littérature, devenue la valeur supérieure à toutes les autres, un mode de vie même qui me faisais me projeter dans un roman de Flaubert ou de Virginia Woolf et de les vivre littéralement. Une sorte de continent que j’opposais inconsciemment à mon milieu social.

Annie Ernaux, „Conférence Nobel“.

Die Entscheidung für ein Studium der Literaturwissenschaften war die Entscheidung gewesen, in der Literatur zu bleiben, die für mich einen höheren Wert als alles andere hatte, ja sogar zu einer Lebensweise geworden war, die mich in einen Roman von Flaubert oder Virginia Woolf versetzte und mich diese buchstäblich erleben ließ. Eine Art Kontinent, den ich unbewusst meinem sozialen Umfeld entgegenstellte.

Literatur wurde für Ernaux zu einem übergeordneten Wert und sogar zu einer Lebensweise. Sie tauchte so tief in Romane von Autoren wie Flaubert oder Virginia Woolf ein, dass sie sie „wörtlich lebte“ und sich in sie hineinprojizierte. Dieser Akt des Lesens und des Eintauchens in andere Welten bildete für sie eine Art „Kontinent“, der unbewusst im Gegensatz zu ihrem eigenen sozialen Umfeld stand. Es zeigt, wie die Literatur ihr schon früh als Zufluchtsort und als Mittel zur Abgrenzung von ihrer sozialen Herkunft diente.

Rückblickend auf ihr Leben und Werk fasst Ernaux die Bedeutung ihrer Herkunft als Antrieb ihres Schreibens zusammen:

Si je me retourne sur la promesse faite à vingt ans de venger ma race, je ne saurais dire si je l’ai réalisée. C’est d’elle, de mes ascendants, hommes et femmes durs à des tâches qui les ont fait mourir tôt, que j’ai reçu assez de force et de colère pour avoir le désir et l’ambition de lui faire une place dans la littérature, dans cet ensemble de voix multiples qui, très tôt, m’a accompagnée en me donnant accès à d’autres mondes et d’autres pensées, y compris celle de m’insurger contre elle et de vouloir la modifier. Pour inscrire ma voix de femme et de transfuge sociale dans ce qui se présente toujours comme un lieu d’émancipation, la littérature.

Annie Ernaux, „Conférence Nobel“.

Wenn ich auf das Versprechen zurückblicke, das ich mir mit zwanzig Jahren gegeben habe, die Meinen zu rächen, kann ich nicht sagen, ob ich es erfüllt habe. Von ihnen, von meinen Vorfahren, Männer und Frauen, die hart für Aufgaben arbeiteten, die sie früh sterben ließen, habe ich genug Kraft und Wut erhalten, um den Wunsch und den Ehrgeiz zu haben, ihr einen Platz in der Literatur zu verschaffen, in diesem vielstimmigen Ensemble, das mich schon sehr früh begleitet und mir Zugang zu anderen Welten und anderen Gedanken verschafft hat, darunter auch den Gedanken, mich gegen sie aufzulehnen und sie verändern zu wollen. Um meine Stimme als Frau und soziale Überläuferin in das einzubringen, was sich immer als Ort der Emanzipation präsentiert: die Literatur.

Ernaux reflektiert in ihrer Nobelpreisrede, ob sie das Versprechen aus ihren Zwanzigern, „venger ma race“, eingelöst habe. Sie erkennt, dass die „Kraft und Wut“, die sie für ihren Schreibwunsch und ihr Ziel benötigte, ihren Vorfahren entstammten – Männern und Frauen, die hart arbeiteten und früh starben. Diese Verbindung zu ihrer Herkunft und deren leidvollem Leben gab ihr den Antrieb, ihren sozialen Hintergrund in der Literatur zu verankern. Ernaux sieht Literatur als einen Ort der Emanzipation, an dem sie ihre Stimme als Frau und als soziale Aufsteigerin („transfuge sociale“) einschreiben konnte, und als einen Raum, der ihr schon früh Zugang zu vielfältigen Welten und Gedanken eröffnete, einschließlich der Möglichkeit, sich gegen das Bestehende aufzulehnen und es zu verändern.

Soziobiographie der Kindheit

Ein wiederkehrendes Motiv in Ernaux‘ Schriften ist die erniedrigte Erinnerung („mémoire humiliée“), die eng mit ihrer Kindheit und ihrem sozialen Aufstieg verbunden ist. Erinnerung ist für Ernaux nicht nur ein Arbeitsinstrument, sondern auch der Ort ihrer sozialen Laufbahn, ohne die sie als intellektuelle Frau „die letzte Verbindung zur Welt, aus der sie stammt“ („le dernier lien avec le monde dont [elle] est issue“) verlieren würde. Die Kindheit wird zum Ausgangspunkt einer Untersuchung, wie soziale Herkunft und kulturelle Hierarchien das Individuum prägen. In La honte etwa wird deutlich, dass die Erzählerin sich nicht in die Situation des Kindes, das das traumatische Ereignis erlebt hat, zurückversetzen kann, weil ihr Lebenswelt sich erweitert hat und es keine wahre Selbsterinnerung gibt („Il n’y a pas de vraie mémoire de soi“). Dennoch versucht Ernaux, die erlebte Dimension der Geschichte („dimension vécue de l’Histoire“) wiederherzustellen, indem sie die Erinnerung an die kollektive Erinnerung in eine individuelle Erinnerung überführt. Die Auseinandersetzung mit der Kindheit ist auch eine Untersuchung („enquête“ ), die über das bloße „Erzählen“ hinausgeht. Sie sucht nach einer literarischen Denkweise des Determinismus, die durch die Konfrontation mit den Sozialwissenschaften entsteht.

Gerade in Bezug auf die Kindheit und familiäre Erfahrungen, die oft von Geheimnissen und Tabus umgeben sind, wird das Schreiben zu einem Akt des „dévoilement“ (Enthüllung). In L’autre fille wendet sich Ernaux an die verstorbene Schwester, deren Existenz ein Familiengeheimnis war. Ihr Akt des Schreibens ist eine „enquête“, die versucht, materielle Spuren des gemeinsamen Lebens zu finden, wie das rosa Bett oder die Schultasche. Die editorische Vorgabe, den Brief, den man nie geschrieben hat („la lettre que vous n’avez jamais écrite“), zu verfassen, ermöglicht einen Dialog mit den Toten und schafft die Illusion einer lebendigen Präsenz, auch wenn das „tu“ eine „fiction“ ist. Das Schreiben von L’autre fille ist ein Schreibprozess („cheminement d’écriture“), der schwerfällt. Die Aussage „Tu es morte pour que j’écrive, ça fait une différence“ (Du bist gestorben, damit ich schreibe, das macht einen Unterschied) fasst die komplexe Beziehung zwischen der Existenz der Schwester und der Entstehung des Schreibprojekts zusammen. Es ist eine Form der Wiederauferstehung („resurrection“) des Kindes durch die Schrift, die laut Ernaux auch als eine Art Tötung („meurtre“) verstanden werden kann.

Annie Ernaux ist bekannt für ihr autobiografisches Werk, das das Persönliche untrennbar mit dem Sozialen und Historischen verknüpft. Die „Poetiken der Kindheit“ ihres Werks im Speziellen sind von einer rigorosen Selbstbefragung und einem unablässigen Bestreben nach Wahrheit geprägt, wobei sie persönliche Erinnerungen oft durch eine soziologische Linse betrachtet und versucht, die individuellen Erfahrungen in einen kollektiven Kontext zu stellen. Ernaux lehnt die klassische autobiographische Form ab, die auf der Annahme basiert, dass das Leben eine lineare Geschichte ist. Sie verwirft die Fiktion zugunsten einer Darstellung, die „zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte“ angesiedelt ist. Ihr Ziel ist es, das „Ich“ nicht als isoliertes, sondern als transpersonales, durch soziale und historische Rahmenbedingungen geformtes Wesen zu untersuchen. In Les années ersetzt sie beispielsweise das „Ich“ durch „sie“, „man“ und „wir“, um eine „unpersönliche Biographie“ zu schaffen, die das Individuum in einen kollektiven Kontext einbettet.

Dieses Schreiben ist von den Sozialwissenschaften beeinflusst, insbesondere von Pierre Bourdieu. Sie versteht seine Konzepte nicht nur intellektuell, sondern erfährt sie „im und durch ihren Körper“. Die „soziologische Befragung“ dient ihr dazu, eine Erinnerung zu schaffen und Szenen, deren Trauma das Umfeld ausgelöscht hatte, neu zu kontextualisieren. Ernaux nutzt seine Konzepte des Habitus und der sozialen Distinktion, um die subtilen Unterschiede und Hierarchien innerhalb und zwischen sozialen Milieus aufzudecken. Ihr Werk ist eine experimentelle literarische Soziologie, eine Erkenntnis, die sie zuerst „erlebt“ hat, bevor sie sie „gedacht“ hat. So wird ihre Methode auch mit der italienischen Mikrogeschichte (Carlo Ginzburg, Giovanni Levi) verglichen, die sich auf das Alltagsleben gewöhnlicher Menschen konzentriert, um Geschichte zu rekonstruieren, selbst wenn keine direkten Spuren vorliegen. Ernaux rekonstruiert das Individuum oft aus einem allgemeinen Wissen über dessen Klasse, Region und berufliche Tätigkeit.

Ernaux‘ Schreiben ist eine „archäologische Arbeit im kollektiven und individuellen Gedächtnis“. Sie versucht, „die Erinnerung an das kollektive Gedächtnis im individuellen Gedächtnis wiederzufinden, um die gelebte Dimension der Geschichte zu vermitteln“. Ernaux‘ Schreiben zielt auf eine Art „Objektivierung des Sozialen“ ab. Sie beschreibt Phänomene der sozialen Welt aus einer distanzierten Perspektive, um die „Brutalität“ und den „augenblicklichen Charakter“ der Realität darzustellen, ohne sie in eine narrative Struktur zu zwingen. Ein wiederkehrendes Thema ist die Erfahrung des „Transfuge“, des sozialen Aufstiegs und der damit verbundenen Scham, Entfremdung und des Gefühls, nirgendwo wirklich hinzugehören. Sie will die „Scham befreien“ und die „Einsamkeiten zerbrechen“, die mit dieser Erfahrung verbunden sind. Ihr Werk ist eine „Ethnographie der symbolischen Gewalt“. Sie beschreibt, wie soziale Dominanz, oft subtil und unsichtbar, tief in den Körpern und der Psyche der Betroffenen eingeschrieben ist. Sie nimmt die Perspektive der Dominierten ein, um die Auswirkungen dieser Gewalt sichtbar zu machen. Für Ernaux hat das Schreiben eine politische Funktion: Es geht darum, die Kluft zwischen Sprache und Realität zu verringern, die Welt zu „verändern“ und eine kollektive Befreiung zu ermöglichen. Sie möchte die „illegitime Erinnerung“ ans Licht bringen und Tabus brechen, wie zum Beispiel die Darstellung weiblicher Sexualität oder des „sozial Undenkbaren“. Der Körper ist in Ernauxs Texten eine „empfindliche Membran“, auf der sich Merkmale sozialer Zugehörigkeiten ablesen lassen. Ihre „preuve par corps“ ist eine „Ratifizierung der Theorie durch die tiefste und schmerzhafteste Erinnerung“.

Ernaux beschreibt ihr Schreibjournal, das sie seit 1982 führt, als eine Art „Vor-Schreib-Journal“ oder „Ausgrabungsjournal“. In diesem Journal reflektiert sie über Themen, die ihre Kindheit und ihre Herkunft betreffen. Ihre Schreibprobleme, die zur Entstehung des Journals führten, sind oft auf Schwierigkeiten zurückzuführen, die Realität und Weltsicht ihrer Vorfahren aus dem Volk in eine literarische Form zu übertragen, ohne sie zu verraten. Sie empfindet die Distanz zu ihren Eltern als einen diffusen Schmerz, der bis in die Kindheit zurückreicht und sie selbst in Frage stellt. Die Bedeutung dieser Reaktionen kam ihr erst später, nach dem Tod ihres Vaters, zu Bewusstsein.

Im Artikel „L’enfance et la déchirure“ 2 untersucht Annie Ernaux die zentrale Frage der „Zerrissenheit“, die ihre Kindheit und, im weiteren Sinne, die Erfahrung von Klassenflüchtlingen prägt. Sie reflektiert über den Identitätsbruch, der durch den sozialen Aufstieg verursacht wurde, über die wachsende Distanz zwischen ihrer ursprünglichen familiären Welt (Arbeitermilieu, Volksschicht) und der Welt der Schule, des Studiums und schließlich der Bourgeoisie. Ernaux beschreibt dieses Gefühl des Zerrissenheit als eine prägende Verletzung: Der Zugang zu Kultur und Bildung ist keineswegs nur ein Erfolg, sondern führt zu einem Verlust, zu einem schmerzhaften Bruch mit der Welt, aus der man stammt. Das Kind, das sozial aufsteigt, muss einen Teil von sich selbst aufgeben, seine Muttersprache, die Familiencodes, die Nähe zu seinen Eltern, um sich denen seines neuen Umfelds anzupassen. Dieser Bruch wird nie ganz geheilt und wird zum eigentlichen Thema ihres Schreibens.

Für Ernaux ist das Schreiben nicht nur ein literarischer Akt, sondern ein Versuch, dieses Leiden zu analysieren und zu lindern. Sie sieht darin ein Mittel, der Schuld, ihre ursprüngliche Welt verlassen zu haben, dem Schmerz über gestörte Familienbeziehungen, der Rebellion gegen soziale Ungerechtigkeit und die Situation der Frauen Ausdruck zu verleihen. Das Schreiben ermöglicht es ihr, die durch die soziale und emotionale Entwurzelung verursachten Wunden zu ordnen, zu verstehen und sogar zu heilen. Ernaux erklärt, dass das Kind zwar „ständig in Träumen und Fantasien lebte”, der Erwachsene jedoch von der Realität und der Erinnerung an diese Realität eingeholt wird, die zum Rohstoff für ihre Bücher werden. Sie schöpft aus ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen, um zu schreiben, und versucht, das wiederzufinden, was „gespeichert” wurde und oft in Form von Bildern der Rebellion, Rückblenden und Empfindungen wieder auftaucht.

Ernaux‘ Artikel beleuchtet die Dualität des schreibenden Individuums: Ernaux analysiert die Spannung zwischen Verschmelzung und Spaltung, zwischen der Identifikation mit der Familie und dem Wunsch, sich von ihr zu lösen. Diese Dualität zieht sich durch ihre Beziehungen zu ihren Eltern, ihr Verhältnis zur Sprache (zwischen mündlich und schriftlich) und ihre Positionierung in der Gesellschaft. Der Bruch ist somit sowohl sozialer, sprachlicher als auch intimer Natur. In „L’enfance et la déchirure” reflektiert Annie Ernaux die Situation von Klassenflüchtigen, über die symbolische Gewalt des sozialen Aufstiegs und über die Rolle des Schreibens als Versuch, diese Erfahrung zu verarbeiten und zu verstehen. Dieser Text beleuchtet ihr gesamtes Werk, das geprägt ist von der Suche nach einer Identität zwischen zwei Welten und der Weigerung, die Wunden der Entwurzelung zu vergessen.

Kindheit in Ernaux‘ Büchern

Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, indem sie sich selbst wie angedeutet als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.

Je porte en moi deux langages, les petits points noirs des livres, les sauterelles folles et gracieuses, à côté des paroles grasses, grosses, bien appuyées, qui s’enfoncent dans le ventre, dans la tête, font pleurer dans le haut de l’escalier sur les cartons de biscuits, rigoler sous le comptoir…

Annie Ernaux, Les armoires vides.

Ich trage zwei Sprachen in mir, die kleinen schwarzen Punkte der Bücher, die verrückten und anmutigen Heuschrecken, neben den fetten, großen, gut akzentuierten Worten, die tief in den Bauch, in den Kopf sinken, zum Weinen oben auf der Treppe auf den Biskuitkartons, zum Lachen unter der Theke bringen…

Soziale Trennungen werden in der Differenz der beiden Sprachen anschaulich: Einerseits die geschriebene Sprache der Bücher, die für Bildung, Distanz und eine „reinere“ Welt steht, andererseits die mündliche, lebendige, sinnliche Sprache des Elternhauses. Die Bilder der „kleinen schwarzen Punkte“ und „verrückten Heuschrecken“ für die Literatursprache deuten auf ihre anfängliche Fremdheit und gleichzeitige Faszination hin. Die Beschreibungen der elterlichen Sprache sind hingegen stark körperlich und emotional („s’enfoncent dans le ventre, dans la tête“, „font pleurer“, „rigoler“), was ihre tiefe, unmittelbare Verbindung zur Kindheitserfahrung hervorhebt. Die Kindheit wird somit als ein Terrain des Sprach- und Kulturkampfes dargestellt, in dem die Erzählerin versucht, beide Welten zu integrieren, letztlich aber eine Form der Entfremdung von ihrer Herkunft erlebt.

Ernaux erwarb die „legitime, korrekte französische Sprache“ durch Schule und Bücher, empfindet diese jedoch beim Schreiben oft als „unwirklich“. Sie sehnt sich danach, dass die Wörter dieser Sprache die gleiche „Kraft“ und „Körperlichkeit“ besitzen wie die Sprache ihrer „ersten Welt“ und ihres Viertels, die sie aufgegeben hat. Normannische Dialektwörter sind für sie „unübersetzbar“, da sie untrennbar mit den Empfindungen und Stimmen ihrer Kindheit verbunden sind. Auch ihre physischen Gesten, wie das Zuschlagen von Türen oder das unsanfte Abstellen von Gegenständen, sind ein Erbe ihrer Mutter und der „ersten Welt“, die ihren Körper auch nach ihrer Akkulturation weiter prägen. 3

Kindheit ist über die Einzeltexte hinweg ein zentrales und sich ständig weiterentwickelndes Thema im Werk von Annie Ernaux. Sie verbindet die Erforschung ihrer persönlichen Erinnerungen mit der Untersuchung kollektiver, sozialer und historischer Dimensionen, oft mit dem Ziel, eine tiefgreifende Wahrheit über die menschliche Existenz zu enthüllen:

In Les armoires vides (1974) bereits dient die Darstellung der Kindheit als Ursprung einer tiefen sozialen Spaltung und eines daraus resultierenden Selbsthasses, da die Erzählerin das Milieu ihrer Eltern ablehnt. Die kindliche Perspektive wird durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache der Bücher und der Erfindung einer imaginären, „schöneren“ Welt geprägt, die der „rauen“ Realität und dem Jargon der Eltern gegenübergestellt wird, was die Entfremdung vorantreibt.

La femme gelée (1981) beleuchtet die Kindheit als eine Phase relativer Freiheit und Gleichheit in der Rollenverteilung zwischen den Eltern, bevor die Erzählerin die gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen und Frauen internalisiert. Die kindliche Perspektive ist hierbei stark von literarischen Träumen und dem Wunsch nach Liebe und Anerkennung geprägt, was jedoch später in eine Auseinandersetzung mit den starren Geschlechterrollen mündet.

La place (1983) nutzt die Kindheit als Ausgangspunkt, um die soziale Kluft zwischen der Erzählerin und ihrem Vater darzustellen, die durch ihre Bildung und soziale Mobilität entsteht. Die kindliche Perspektive wird in einer nüchternen, fast dokumentarischen Sprache evoziert, die objektiv die „Fakten“ und „objektiven Zeichen“ des geteilten Lebens festhält, um das Wesen der sozialen „Stellung“ und ihrer Implikationen zu ergründen.

In Une femme (1988) ist die Kindheit untrennbar mit der Figur der Mutter verbunden, deren Leben und soziale Bedingung die Erzählerin rückblickend erforscht, um ihre eigene Identität und ihren Übergang in eine andere soziale Welt zu verstehen. Die kindliche Perspektive zeigt, wie die Mutter die Bildung der Tochter fördert und damit unbewusst die Entfremdung von ihrem ursprünglichen Milieu vorantreibt, während die Erzählerin die Komplexität der mütterlichen Figur jenseits rein affektiver Bilder zu erfassen versucht.

Obwohl Passion simple (1992) die erwachsene Liebesbeziehung der Erzählerin zum Thema hat, dient die Kindheit als wiederkehrender Referenzpunkt, um die Kontinuität von Sehnsüchten und emotionalen Mustern zu beleuchten, die tief in frühen Erfahrungen verwurzelt sind. Die kindliche Perspektive wird nicht direkt erzählt, sondern als eine Abfolge prägender Momente (wie die Erfahrungen von 1958 oder 1963) rekontextualisiert, die die gegenwärtige „Leere“ und den unstillbaren Wunsch nach Liebe speisen.

Journal du dehors (1993, damit verknüpft ein weiteres „äußeres Tagebuch = journal extime“, La vie extérieure, 2000) beleuchtet die Kindheit als eine Quelle unbewusster Obsessionen und Erinnerungen, die die Wahrnehmung der Erzählerin für die äußere Welt und ihre Wahl der Beobachtungen prägen. Hier kommt sie zur Erkenntnis, dass das Ich sich stärker durch die Projektion in die kollektive Außenwelt als durch reine Selbstreflexion enthüllt, wobei kindliche Prägungen die Linse bilden, durch die die Gegenwart gelesen wird.

La honte (1997) konzentriert sich auf ein spezifisches, schambesetztes Kindheitsereignis, das bis ins Erwachsenenalter „eingefroren“ bleibt und dessen Erzählung das Ziel hat, es zu entmythologisieren und als eine „normale“ Erfahrung für andere zugänglich zu machen. Die kindliche Perspektive wird durch die präzise Rekonstruktion der sozialen und religiösen „Gesetze und Riten“ des Milieus von 1952 und die damit verbundene begrenzte Ausdrucksfähigkeit des Kindes greifbar, wodurch die Schwierigkeit der sprachlichen Erfassung von „unaussprechlichen“ Erfahrungen betont wird.

Je ne suis pas sortie de ma nuit (1997) Dieses Werk beleuchtet die Kindheit indirekt durch die Erinnerung an die Mutter im Zustand ihrer Demenz, wobei die physische und verbale Präsenz der Mutter in der Kindheit als letztes Band zur eigenen Vergangenheit der Erzählerin dient. Die kindliche Perspektive wird hierbei durch fragmentarische, sensorische Erinnerungen und Beobachtungen der Mutter evoziert, die eine tief verwurzelte affektive Bindung offenbaren, deren Verlust die Erzählerin mit einer „Nacht“ und einem Gefühl des Alleinseins konfrontiert.

Obwohl L’événement (2000) primär die Erfahrung einer illegalen Abtreibung im Erwachsenenalter thematisiert, wird die kindliche Perspektive durch die Verknüpfung der erlebten Ohnmacht und Not mit fundamentalen, vielleicht frühkindlichen Gefühlen von „Verzweiflung“ und „Hilflosigkeit“ spürbar. Das Werk strebt eine „reine“ Darstellung der körperlichen Empfindung an, die jenseits des lyrischen Ausdrucks liegt und implizit auf die prägende Rolle von Körpererfahrungen und deren sprachliche Unzugänglichkeit seit der Kindheit verweist.

In Les années (2008) wird die Kindheit als eine entscheidende Phase der soziokulturellen und individuellen Prägung dargestellt, die durch die Verknüpfung persönlicher Erinnerungen und kollektiver historischer Ereignisse die Evolution des „Ichs“ im Laufe der Zeit sichtbar macht. Die kindliche Perspektive wird durch eine „Palimpsest-Empfindung“ ausgedrückt, die verschiedene Schichten des Erlebten überlagert und so die Verschränkung von individueller Existenz und historischem Wandel in einer „unpersönlichen Autobiografie“ verdeutlicht.

Mémoire de fille (2016) ist eine dezidierte Erkundung der eigenen Mädchenzeit, insbesondere der ersten sexuellen Erfahrung im Sommer 1958, deren „Schockwelle“ die Erzählerin nachhaltig prägte und eine „große Erinnerung der Scham“ hervorruft. Die kindliche Perspektive wird hierbei durch das unerbittliche Pendeln zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, der Konfrontation mit idealisierten Romanvorstellungen und der rauen Realität der Sexualität, dekonstruiert, um die „unaussprechliche Lücke“ im Selbst zu erfassen.

Première enfance

J’ai pensé à reprendre le début Première enfance publié, parler de la mémoire, de l’écriture, du projet, de l’impasse éventuelle, et partir, au fond comme je l’ai fait, sur le « jour de fête », en plus froid ?

Annie Ernaux, Atelier noir.

Ich habe daran gedacht, den veröffentlichten Anfang „Première enfance“ wieder aufzunehmen, über Erinnerung, über die Schreibweise, das Projekt, die mögliche Sackgasse zu sprechen und dann, im Grunde wie ich es getan habe, mit dem „Festtag“ fortzufahren, nur etwas kälter?

In einem kurzen Text Première enfance“ 4 hat Annie Ernaux frühe Kindheitserinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Lillebonne festgehalten. „Première enfance“ widmet sich den ersten Bildern und Eindrücken aus ihrer frühen Kindheit, wie etwa „le petit lit en bois de rose“ (das kleine Bett aus Rosenholz). Diese Thematisierung der frühen Erinnerungen steht im Einklang mit Ernaux‘ umfassendem literarischen Projekt, das darauf abzielt, etwas aus der Zeit zu retten, in der man nie wieder sein wird: „sauver quelque chose du temps où l’on ne sera plus jamais“. So die Schlusssentenz ihres Buches Les Années. Annie Ernaux findet es in einem Beitrag zum Cerisy Colloque Annie Ernaux le temps et la mémoire merkwürdig, dass die meisten Leser diesen Satz „als die Perspektive ihres eigenen Todes, auf Heidegger’sche Weise“ interpretiert haben. Für sie geht es dabei um „die gelebte Zeit, das Gewesene, das alle Lebewesen betrifft“. Das Zitat wird auch als der „ultimative Punkt“ beschrieben, der die „Liste am Ende von Les Années“ zum Höhepunkt bringt. Es ist als Ausdruck eines „großen Wunsches nach Vollständigkeit, nach einer totalen Wiederherstellung der gelebten Vergangenheit“ zu verstehen, mit dem Ziel, „alles in die Schrift zu bringen“, vor der künftigen Abwesenheit der Autorin in eine Form gebracht. In Le vrai lieu präzisiert sie auf Nachfrage von Michel Porte, es gehe nicht nur darum, das eigene Leben zu „retten“, sondern zugleich die Epoche und die Welt zu retten, in der man gelebt hat. Dies umfasse alles, vom Alltäglichen bis zu weit entfernten Szenen, einschließlich geliebter Chansons und Bücher, die vielleicht keinen hohen Wert haben mögen, aber in Erinnerung bleiben.

Selbst vermeintlich banale Details des Alltags werden in ihrem Werk zu Markern, die eine tiefere Bedeutung und kollektive Resonanz entfalten können. Die Absicht, individuelle Erfahrungen festzuhalten, dient dazu, allgemeinere, kollektive Mechanismen oder Phänomene zu finden, zu enthüllen („retrouver, dévoiler des mécanismes ou des phénomènes plus généraux, collectifs“). In diesem Sinne hält auch dieser so kurze Text Spuren fest, die sonst verblassen würden, zur Bewahrung der persönlichen und kollektiven Erinnerung. Annie Ernaux entwirft in „Première enfance“ eine poetisch-archivierende Erinnerung an ihre ersten Lebensjahre – nicht als linearen Rückblick, sondern als Montage von Bildfeldern, Szenen und Atmosphären, die keiner Chronologie folgen. Die Erinnerung wird durch zwei Fotografien gerahmt: ein inszeniertes Babybild im Stil barocker Engel und ein Porträt eines ernsten kleinen Mädchens. Beide Bilder geben keinen Zugang zur Identität des Kindes, sondern markieren eine Entfremdung – ein „das bist du“, das weniger bezeugt als verortet. Diese Fotos bieten den Einstieg in eine Vergangenheit, die nicht als zusammenhängende Geschichte erscheint, sondern als die amorphe, visuell gesättigte „L.-Zeit“ – eine Kindheitszeit, die mit dem Krieg zusammenfällt und weder Anfang noch feste Orientierungspunkte kennt.

Die Kindheit erscheint in Première enfance als ein Zustand radikaler Sinnlichkeit, durchzogen von Angst, Begierde und körperlicher Wahrnehmung. Die Welt ist eine Ansammlung von Bildfeldern, affektiv aufgeladen, aber ohne erklärendes Ich. Orte – das Café der Eltern, der Fluss mit den hineingebauten Toiletten, das Treppenhaus, die karge Wohnung – werden als Räume emotionaler Dichte geschildert. Die Wahrnehmung ist getrübt wie in der Dämmerung, ein Spiel aus Schatten, Lichtreflexen und punktuellen Farbexplosionen – etwa in der leuchtenden Künstlichkeit der Plastikblumen auf dem Sonntagstisch.

Ernaux beschreibt ihre frühe Kindheit nicht aus einer erwachsenen Perspektive, sondern versucht die Modalität der kindlichen Wahrnehmung selbst zu evozieren: Ihre Szenen sind geprägt von Unmittelbarkeit, Brutalität und affektiver Klarheit. Eine zentrale Figur ist die Stimme der Mutter – zugleich allgegenwärtig und unkontrollierbar, göttlich und gewaltsam –, deren Schweigen vierzig Jahre später symbolisch die Befreiung markiert. Kindheit bedeutet in diesem Text nicht unschuldige Frühzeit, sondern das Leben in einem affektiv-gewaltvollen Universum ohne rationale Vermittlung, wo Glück und Schrecken direkt ineinander übergehen: etwa im Diptychon eines glücklichen Sonntagsausflugs mit Eltern, gefolgt von panischer Angst beim Fliegeralarm. Die Figur des Kindes ist in ständiger Relation zu Erwachsenen: körperlich unterlegen, emotional abhängig, zugleich hochsensibel für Atmosphären und Affekte. All dies sind „Faszinationen“, an die sich das Kind nicht durch Denken, sondern durch einen physisch-psychischen Eindruck erinnert.

Die Szenen wirken oft filmisch: das Bild eines Mädchens, das in einer Zaubershow scheinbar aufgespießt wird, steht gleichwertig neben Erinnerungen an echte Kriegsgefahr. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Darstellung ist durchlässig – was zählt, ist das Gefühl: Angst, Entsetzen, Begehren, Schuld. Szenen des Begehrens und der transgressiven Handlung – das Mädchen schneidet der Cousine eine Locke ab, diese und die Mutter schreien (ein destruktiver Akt des Begehrens), außerdem ein Blick auf das Genital eines Spielkameraden – markieren Momente früher Selbstermächtigung und zugleich existenzieller Überforderung. Sie sind mit Schuld und Skandal aufgeladen, aber bleiben als Empfindungsintensitäten präsent – Erinnerungsbilder, die nicht durch Erzählung beruhigt oder moralisch eingeordnet werden.

Neben den Szenen des Begehrens stehen Bilder der Faszination für Nahrung, Körperlichkeit und Ausscheidung – Pfirsiche, Exkremente, durchgekauter Keksbrei – als Ausdruck einer körperzentrierten Welt, in der das Subjekt noch kaum vom Objekt zu unterscheiden ist. Nur in zwei Schlüsselszenen, in denen sich das Kind als bewusstes Wesen erfährt – beim Entdecken des Echos und beim verbotenen Gang ohne Begleitung auf der Straße –, deutet sich so etwas wie ein frühes Selbstbewusstsein an, eine Ahnung von Ichsein im Unterschied zur Welt. Das kleine Mädchen ruft allein am offenen Fenster des Zimmers und eine entfernte Stimme antwortet ihr, immer wieder ruft sie, und das von ihr vermutete versteckte kleine Mädchen schweigt, wenn sie auch schweigt. Sie ergänzt, sie wisse nicht, wie oder wann sie entdeckt habe, dass es das Echo war. Die kleine Erzählerin schreit und erhält eine Antwort – aber nur, wenn sie selbst laut ist. Das Echo fungiert als Spiegel des Ich, der nur durch eigenes Tun lebendig wird. Darin liegt eine frühe Erfahrung von Selbstwirksamkeit und auch von Existenzbedingung: Ich bin nur, wenn ich mich äußere. Das Echo ist kein Zufallsmotiv. Es passt zur gesamten Struktur des Textes, der Erinnerungsbilder wie Echo-Szenen in die Gegenwart ruft – ohne Ordnung, ohne lineare Kausalität, wie Echos in einem leeren Raum. Das eigene Schreiben könnte selbst als ein Antwort-Rufen in die Leere der Vergangenheit verstanden werden.

Am Ende des Textes steht der Umzug aus Lillebonne – der Auszug aus der L.-Zeit. Erst in diesem Moment, mit der Rückkehr der Familie in ihre Herkunftsstadt Y., wird Erinnerung überhaupt möglich. Die diffuse, kriegsgedämpfte Kindheit gerinnt rückblickend zu einer von Sonne überblendeten Vision – eine surreale, poetisch strukturierte Landschaft der Frühzeit, in der das Kind noch kein Ich war, sondern ein Teil der Schatten, Stimmen, Gerüche und Bilder. Ernaux’ Text ist damit keine autobiographische Erzählung im klassischen Sinne, sondern ein poetisches Gedächtnisprotokoll, das weniger die Geschichte eines Kindes erzählt als die Möglichkeitsbedingungen, unter denen kindliches Bewusstsein überhaupt Form annimmt – bruchstückhaft, bildhaft, affektiv.

Aus dem kurzen Text lassen sich Thesen zur Interpretation der Kindheit und der sie betreffenden poetologischen Verfahren bei Ernaux formulieren.

Zunächst: Erinnerung ist kein Abrufen von Fakten, sondern ein körperlich-affektives Nachspüren. Ernaux‘ Text verdeutlicht, dass früheste Kindheitserinnerung nicht durch Tatsachen oder chronologische Ordnung strukturiert ist, sondern durch körperliche Empfindungen, atmosphärische Bilder und affektive Szenen. Die Erinnerung „weiß“ nicht, wann etwas geschah – sie „weiß“, wie es sich anfühlte. Ernaux beschreibt daher kein rationales Wissen über die Welt, sondern ein präreflexives Weltverhältnis, in dem das Kind von Gerüchen, Geräuschen, Bildern und Gesten geprägt wird. Dieses Verfahren dekonstruiert traditionelle Vorstellungen autobiografischer Authentizität und ersetzt sie durch eine Poetik der Spur.

Dann: Die Kindheitserinnerung ist durch Räume strukturiert – nicht durch Zeit. Statt einer linearen Zeitachse benutzt Ernaux eine Topographie der Orte, an denen sich Szenen verdichten: Das Haus, der Hof, das Café, die Straße, der Park, der Wald. Diese Orte sind keine neutralen Bühnen, sondern verdichtete Erfahrungsräume, in denen sich Machtverhältnisse, Ängste, Begehren und Erkenntnisse manifestieren. Das Erinnerte ist nicht narrativ, sondern geographisch verortet: Die Erinnerung lebt von der Wiederbegehung dieser Schauplätze in der Imagination. Der Körper erinnert, indem er Räume „abschreitet“: die Räume des Hauses, der Hof, der Fluss, das Café, das öffentliche Parkgelände. Diese Räume sind mit sinnlichen Eindrücken aufgeladen und strukturieren die Erinnerung wie Schauplätze einer inneren Topographie: das Elternhaus grau, eng, durchdrungen von der Stimme der Mutter; der Fluss mit den Exkrementen – eine erste Konfrontation mit dem Körperlichen; die Treppe, das Sonntagszimmer, das Esszimmer mit künstlichen Blumen – Bruchstücke einer klassenspezifischen Ästhetik; schließlich der öffentliche Raum (Park, Straße, Zirkus) als Ort der Beobachtung und Faszination.

Die kindliche Subjektwerdung bei Ernaux ist hier kein Akt der introspektiven Selbsterkenntnis, sondern ein Prozess, der über Fremderfahrungen funktioniert: das Echo, der Blick der Erwachsenen, die Einsamkeit im Wald, der verbotene Weg. Das Selbst entsteht im Kontrast – zur Mutter, zum Spielkameraden, zur Straße. Es ist nicht vorgegeben, sondern wird in der Differenz zur Umwelt erfahrbar. Dieses Selbst ist fragil, situativ und noch nicht sprachlich fixiert – aber es beginnt sich zu konturieren, sobald es Gefahr, Entgrenzung oder Eigenständigkeit erlebt.

Die historische Gewalt bleibt für das Kind ungreifbar – Erinnerung ist lokal, nicht global. Der Text thematisiert die epistemische Kluft zwischen dem kindlichen Erleben des Kriegs und der späteren historischen Einordnung. Die großen Schrecken des 20. Jahrhunderts – Auschwitz, Hiroshima – bleiben unsichtbar, obwohl sie zeitgleich mit den Kindheitserlebnissen sind. Das Kind „weiß“ nichts von ihnen, sie sind außerhalb seines Erfahrungsradius. Ernaux reflektiert die Begrenztheit kindlicher Weltaneignung: Geschichte wird nicht „erlebt“, sondern erst später narrativ integriert – oder auch nicht. Die Kindheit ist in ihrer Tiefe anwesend, aber nicht historisch anschlussfähig.

Ein besonders hervorstechendes Element von „Première enfance“ im Werkkontext ist das, was nicht darin enthalten ist. Denn im Text ist keine Spur der toten Schwester zu finden. In L’autre fille (2011) widmet sie sich dieser unbekannten Schwester in einer Form des „récit impossible“ (unmögliche Erzählung), da sie selbst keine sinnliche Wahrnehmung von ihr erinnert. Der Kontrast zwischen der Abwesenheit der Schwester in „Première enfance“ und ihrer späteren, alles bestimmenden Präsenz in L’autre fille weist auch auf die Entwicklung von Ernaux‘ Gedächtnisarbeit und ihr schrittweises Enthüllen zuvor ungesagter oder verdrängter Wahrheiten. Diese sukzessive Schichten entsprechen einem vielschichtigen Pergament verstanden, auf dem alte Schichten der Erinnerung und des Schreibens nicht gelöscht, sondern von neuen überschrieben und ergänzt werden, wodurch sich „die Teile durch Resonanz und Überlagerung lesen lassen“ („les pièces se lisent par résonance et par superposition“). Die „sensation palimpseste“ ist konstitutiv für Werke wie Les années. Demnach repräsentiert „Première enfance“ eine frühere Schicht dieses Palimpsests, in der bestimmte Aspekte ihrer Vergangenheit (wie die Existenz der verstorbenen Schwester) noch im Verborgenen lagen oder noch nicht explizit benannt werden konnten. Die spätere Thematisierung der Schwester in L’autre fille ist keine einfache Wiederholung, sondern eine tiefere Erschließung und Reinterpretation der Vergangenheit, die durch die frühere Leerstelle umso eindringlicher wird.

Ernaux‘ metatextuelle Kommentare, die in vielen ihrer Werke zu finden sind, deuten darauf hin, dass sie sich der Entwicklung ihres Projekts und der Art und Weise, wie sie die Realität erfasst, sehr bewusst ist. Sie selbst betrachtet diese Reflexionen als „absolument essentielles“ (absolut wesentlich). Wie sie in L’autre fille festhält: „Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein Unterschied.“ („Je n’écris pas parce que tu es morte. Tu es morte pour que j’écrive, ça fait une différence“). Die existenzielle Bedeutung der Schwester nahm erst nachträglich im Schreibprozess eine neue Dimension an und wurde zum treibenden Motor für ein späteres Werk, während sie in früheren Texten noch nicht explizit als solche verarbeitet werden konnte. „Première enfance“ ist ein kleines, aber bedeutungsvolles Puzzlestück in Annie Ernaux‘ Gesamtwerk, das nicht nur ihre grundlegenden Schreibanliegen der Erinnerungsbewahrung und der „autosoziobiographischen“ Darstellung untermauert, sondern auch die evolutionäre Natur ihres Projekts aufzeigt. Es demonstriert, wie sie nach und nach „les trous de l’histoire“ (die Lücken der Geschichte) oder die „non-dits“ der Vergangenheit erkundet und in ihren Texten eine immer tiefere und umfassendere Wahrheit über sich selbst und die Welt enthüllt.

Schreiben ist die nachträgliche Ordnung eines Selbstzustands ohne eigentlichen Zugriff. Das Ich, das schreibt, ist nicht identisch mit dem Ich, das damals erlebte. Erst mit der Entfernung – dem physischen wie zeitlichen Verlassen von „L.“ – beginnt das Erinnern. Der Text selbst ist eine nachträgliche Montage, eine ästhetische und analytische Geste. Was rekonstruiert wird, ist kein fertiges Ich, sondern eine archaische Form des Selbst, das weder psychologisch geschlossen noch historisch informiert war. Ernaux zeigt, dass Schreiben über Kindheit keine Rückkehr ist, sondern ein gestaltender Zugriff auf etwas, das immer schon vergangen und unfassbar ist – aber doch als Spur in Körper und Sprache fortlebt. Der Text beginnt etwa mit der Beschreibung zweier Fotografien: ein Babybild im Stil eines barocken Putto und ein Porträt eines Mädchens im Alter von vier bis fünf Jahren. Diese Bilder dienen nicht der Erinnerung an sich, sondern sind Teil eines gesellschaftlichen Ritus – der fotografischen Inszenierung von Kindheit als Zeichen des Lebenswillens im Krieg. Die Erzählerin beschreibt sie als „Archivstücke“, die lediglich sagen: „Das bin ich.“ Der Impuls der Erinnerung geht also nicht vom Bild aus, sondern von einem gegenwärtigen, reflektierenden Ich, das die Bilder kontextualisiert.

Im Kontrast zur inneren, sinnlich-intimen Welt der Kindheit stehen die Bilder des Holocaust, von Hiroshima, der Belagerung Leningrads. Sie erscheinen erst im Nachhinein, aus dem Wissen der Erwachsenenwelt, über das Fernsehen vermittelt. Diese Trennung zeigt eine epistemologische Kluft: Das Kind kann die Geschichte nicht denken, weil seine Erfahrung lokal, affektiv und fragmentarisch ist. Das „Ich“ war schon da, aber nicht bewusst Teil der Weltgeschichte. Die „L.-Zeit“ endet mit einem Bild: ein Umzugswagen, der die Familie aus Lillebonne wegführt. Der Krieg ist vorbei, aber in der Wahrnehmung des Kindes zählt das nicht. Erst im Moment der Bewegung beginnt das Erinnern als Akt der Gestaltung. Die frühkindlichen Szenen verschmelzen im Rückblick zu einem Bild von Licht und Festlichkeit, einem symbolischen Abschluss der archaischen, vorhistorischen Zeit.

Annie Ernaux entwirft eine Poetik der frühesten Erinnerung, die sich nicht an linearen Erzählmustern oder historischen Fakten orientiert, sondern an visuellen, körperlichen und affektiven Fragmenten. Die Kindheit erscheint als präreflexive Epoche des Selbst, deren Eindrücke später als Material für das Schreiben dienen. Ernaux verbindet in diesem Text eine Erinnerungsarbeit mit sozialgeschichtlichem Bewusstsein, ohne das eine durch das andere zu ersetzen. Der Essay ist nicht sentimental, sondern analytisch, nicht nostalgisch, sondern ehrlich auf radikale Weise.

Les armoires vides

Le rêve, être une autre fille. Portée par le merveilleux langage de Lisette le jeudi, de Suzette le mardi, par les magazines féminins que ma mère conserve dans le placard de la cuisine, sous les casseroles, je m’éloignais… L’épicerie-café, mes parents n’étaient certainement pas vrais, j’allais un soir m’endormir et me réveiller au bord d’une route, j’entrerais dans un château, un gong sonnerait, et je dirais « bonjour, Papa ! » à un élégant monsieur servi par un maître d’hôtel stylé.

Annie Ernaux, Les armoires vides.

Der Traum, ein anderes Mädchen zu sein. Getragen von der wundersamen Sprache der Lisette am Donnerstag, der Suzette am Dienstag, von den Frauenzeitschriften, die meine Mutter im Küchenschrank, unter den Töpfen, aufbewahrt, entfernte ich mich … Die Lebensmittelhandlung-Café, meine Eltern waren sicherlich nicht echt, ich würde eines Abends einschlafen und am Rande einer Straße aufwachen, ich würde in ein Schloss eintreten, ein Gong würde ertönen, und ich würde „Guten Tag, Papa!“ zu einem eleganten Herrn sagen, der von einem stilvollen Butler bedient wird.

Die zwei inneren Sprachen – die der Herkunft und die der erworbenen Bildung – prägen Annies Kindheit und schaffen eine innere Zerrissenheit. Die Erzählerin entkommt der Realität ihrer Herkunft, die sie zunehmend als unzureichend und beschämend empfindet, durch die phantastischen Welten der trivialen Literatur („feuilletons de Lisette„, „magazines féminins“). Diese Lektüre speist ihren Wunsch, „eine andere“ zu sein, eine „echte Denise Lesur“ aus einer anderen sozialen Klasse. Die Kindheit ist hier eine Phase des intensiven Imaginierens und des sozialen Aufstiegs durch Vorstellungskraft. Fiktion ist wirkmächtig für die kindliche Psyche, sie schafft eine parallele Realität und einen Kontrast zur empfundenen „Unwirklichkeit“ des eigenen Lebens.

Les armoires vides (1974) ist Annie Ernaux‘ erster Roman. Er schildert die Geschichte der jungen Denise Lesur, die eine Abtreibung durchlebt und dabei von einer tiefen sozialen und persönlichen Scham geplagt wird. Die Erzählung springt zwischen ihrer schmerzhaften Gegenwart und Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die durch ihre kleinbürgerliche Herkunft und den sozialen Aufstieg der Familie geprägt sind. Die Kindheit wird als eine Zeit des Kampfes zwischen zwei Welten dargestellt: der rauen, volkstümlichen Sprache und Realität des Elternhauses (und der Lebensmittelhandlung mit Café) einerseits und der kultivierten, „reinen“ Welt der Schule und der Bücher. Ernaux beschreibt, wie sie die „großen, fetten, gut akzentuierten Worte“ ihrer Eltern, die „tief in den Bauch, in den Kopf sinken, zum Weinen auf dem Treppenabsatz bei den Biskuitkartons, zum Lachen unter der Theke bringen“, in sich trägt. Demgegenüber stehen die „seltsame, zarte, oberflächliche, wohlgeordnete Sprache der Bücher“, die „bei mir falsch klingt“. Diese Dualität führt zu einem tiefen Gefühl der Entfremdung und des Verrats an der eigenen Herkunft. In Les armoires vides ist die Kindheit nicht als unschuldige oder idyllische Phase dargestellt, sondern als ein Ort der Prägung und des sozialen Konflikts, der die spätere Identität der Protagonistin grundlegend beeinflusst. Die Kindheit in diesem Werk ist stark von der Widersprüchlichkeit der sozialen Milieus gezeichnet, in denen die Ich-Erzählerin aufwächst. Sie navigiert zwischen der Welt ihrer Eltern, die eine einfache Kneipe und Lebensmittelhandlung betreiben, und der Welt der Schule, die einen Weg zum sozialen Aufstieg und zu einer anderen, „reineren“ Existenz verspricht. Diese Spaltung manifestiert sich besonders in der Sprache.

La femme gelée

Par elle je savais que le monde était fait pour qu’on s’y jette et qu’on en jouisse, que rien ne pouvait nous en empêcher.

Annie Ernaux, La femme gelée.

Durch sie wusste ich, dass die Welt dazu da war, sich in sie zu stürzen und sie zu genießen, dass uns nichts daran hindern konnte.

Ernaux liest die Kindheit als (vergangene) Zeit des grenzenlosen Optimismus und der Freiheit. Die Mutterfigur ist der Schlüssel zu diesem Kindheitsverständnis. Sie vermittelt der Tochter eine proaktive, genussvolle Haltung zum Leben, die sich von den späteren Einschränkungen des weiblichen Daseins abhebt. Diese Überzeugung, die in der Kindheit verankert wird, steht in starkem Kontrast zur späteren „eingefrorenen“ Existenz der erwachsenen Frau, die sich in häuslichen Pflichten und gesellschaftlichen Erwartungen verliert. Die literarische Perspektive ist die einer „verlorenen Zukunft“, einer Zeit, in der das Potenzial noch unberührt war, bevor die Gesellschaft es zähmte. Das Buch kontrastiert die Freiheit und Ambition der Kindheit – geprägt von einer Mutter, die sowohl im Geschäft als auch im Haushalt aktiv war und sich dem Lesen hingab – mit der Stagnation und den Rollenkonflikten des Erwachsenenlebens. Die Kindheit ist eine Zeit, in der die Grenzen der Geschlechterrollen im Elternhaus noch nicht so rigide erscheinen, wie sie es später in der bürgerlichen Ehe werden.

Die Kindheit in La femme gelée ist eng mit der Erforschung des Geschlechterrollenerwerbs und der gesellschaftlichen Prägung verbunden. Ernaux kontrastiert die Kindheit der Protagonistin, die in einem Elternhaus aufwächst, in dem die Geschlechterrollen nicht strikt nach traditionellen Mustern verteilt sind (die Mutter arbeitet in der Kneipe und im Haushalt, der Vater macht gelegentlich Hausarbeiten), mit dem späteren, beengenden Erwachsenenleben in einer bürgerlichen Ehe. Die Kindheit wird als eine Phase der unbegrenzten Möglichkeiten und Ambitionen dargestellt, in der die Erzählerin durch das Vorbild ihrer Mutter, die sich dem Lesen und der Entdeckung der Welt widmet, eine innere Freiheit entwickelt. Diese Freiheit wird jedoch im Laufe des Erwachsenwerdens und der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen an eine „gute Frau“ und Mutter zunehmend „eingefroren“. Literatur leistet hier eine retrospektive Analyse des Verlusts einer solchen ursprünglichen Freiheit und formuliert die Erkenntnis, wie früh gesellschaftliche Normen Mädchen auf ein vorherbestimmtes Schicksal ausrichten.

La place

Je ne parle jamais de mes parents, de ma maison. « Faites le récit d’un souvenir d’enfance, de votre plus beau jour de vacances, décrivez votre cuisine, un oncle original. » Mon enfance, c’était déjà sale, et tarte par-dessus le marché. Les voyages, zéro. Juste quarante kilomètres en car, au mois d’août, pour aller sur la Manche. On cherche des moules, ma mère et moi, elle va acheter des gâteaux qu’on mange sur le sable et je passe mon temps à envier les filles ruisselantes d’ambre solaire qui se baignent et jouent au ballon. On cherche un coin pour faire pipi dans les rochers, par la jambe. On rentre, fatigués, on en a pris pour un an. Pas racontable.

Annie Ernaux, La place.

Ich spreche nie von meinen Eltern, von meinem Haus. „Erzählen Sie eine Kindheitserinnerung, Ihren schönsten Urlaubstag, beschreiben Sie Ihre Küche, einen originellen Onkel.“ Meine Kindheit, die war schon schmutzig und obendrein spießig. Reisen, null. Nur vierzig Kilometer mit dem Bus im August, um an den Ärmelkanal zu fahren. Meine Mutter und ich suchen Muscheln, sie kauft Kuchen, die wir im Sand essen, und ich verbringe meine Zeit damit, die Mädchen zu beneiden, die vor Sonnenöl triefen, baden und Ball spielen. Wir suchen einen Platz, um in den Felsen zu pinkeln, das Bein entlang. Wir kommen müde zurück, das hat für ein Jahr gereicht. Nicht erzählbar.

Dieses Zitat ist eine Absage an die romantisierte Kindheit und zeigt Ernaux‘ authentische, oft unglamouröse Darstellung. Die Aufforderung, eine „Kindheitserinnerung“ zu erzählen, wird ironisch gebrochen durch die ernüchternde Realität („sale, et tarte“, „voyages, zéro“). Die „Kindheit“ wird hier als eine Reihe von banalen, oft unansehnlichen Momenten beschrieben, die sich nicht in die erwartete Erzählform „schön“, „sauber“, „wie es sein soll“ fügen lassen. Diese Szenen der Kindheit sind keine Quelle der Nostalgie, sondern ein Feld der Klassenerfahrung und der sozialen Scham, die sie als „nicht erzählbar“ empfindet, zumindest nicht in den konventionellen literarischen Begriffen. In La place (1983), das nach dem Tod von Annie Ernaux‘ Vaters entstand und den Prix Renaudot gewann, zeichnet die Tochter ein Porträt ihres Vaters, eines ehemaligen Arbeiters, der sich durch harte Arbeit seinen Platz in der Gesellschaft erarbeitet hat. Sie reflektiert die schmerzhafte Distanz, die ihre höhere Bildung und Ehe zwischen ihr und ihrem Vater geschaffen haben. Die Kindheit wird hier nicht nur als die eigene, sondern auch als die Kindheit des Vaters und die sozialen Bedingungen seiner Generation beleuchtet. Die Kindheit der Erzählerin ist eng verbunden mit dem Aufstieg und den bescheidenen Realitäten des Elternhauses.

Je ne pouvais pas écrire : ma maison, de piètre apparence, mon père, un homme simple, gentil, aux manières frustes, parler de ma famille comme parlent les romanciers des pauvres et des inférieurs. Il fallait bien inventer, à coups d’extraits de lectures, d’imagination, de catalogues… Essayer de trouver ce qui était de bon goût, poétique, harmonieux…

Annie Ernaux, La place.

Ich konnte nicht schreiben: mein Haus, von geringer Erscheinung, mein Vater, ein einfacher, lieber Mann, mit groben Manieren, über meine Familie sprechen, wie Romanciers über die Armen und Unteren sprechen. Man musste erfinden, mithilfe von Leseauszügen, Vorstellungskraft, Katalogen … Versuchen, das zu finden, was geschmackvoll, poetisch, harmonisch war …

Diese Passage offenbart einen literarischen Konformitätsdruck und die folgende „Erfindung“ des Selbst. Das Kind lernt, dass die Realität seiner Herkunft („piètre apparence“, „manières frustes“) nicht literaturfähig war im Sinne der bürgerlichen Romane. Daher musste es „erfinden“, um den Erwartungen an „guten Geschmack, Poesie, Harmonie“ zu entsprechen. Die Kindheit ist hier eine Zeit des verinnerlichten sozialen Urteils, das die Erzählerin dazu bringt, ihre wahre Herkunft zu kaschieren und sich eine „schönere“ Identität anzueignen, die aus „Worten und Dingen der Bücher“ geformt ist.

Die Gestaltung der Kindheit in La place ist geprägt von der soziologischen und historischen Kontextualisierung der eigenen Herkunft: Ernaux‘ Kindheit wird durch die Linse der sozialen Mobilität und des Klassenunterschieds betrachtet. Sie schildert die Kindheit als eine Zeit, in der die Werte und Normen des Arbeiter- und Kleinbürgertums (Fleiß, Bescheidenheit, Sparsamkeit) verinnerlicht werden. Die „Scham“, die sie später für ihre Herkunft empfindet, wird hier als unvermeidliches Ergebnis der sozialen Trennung, die durch ihre Bildung entsteht, beleuchtet. Die Kindheit ist der Ort, an dem die „Sprache der Eltern“ – ihre Redewendungen, ihre Mentalität – tief verankert wurde, bevor die „Sprache der Bücher“ und die akademische Welt eine Kluft schufen. Das Buch ist ein Versuch, die „Stelle“ des Vaters und damit auch die eigene Kindheit zu verstehen, nicht nur als individuelle Geschichte, sondern als Ausdruck einer kollektiven Erfahrung des sozialen Aufstiegs und der damit verbundenen Verluste.

Une femme

Elle a poursuivi son désir d’apprendre à travers moi. Le soir, à table, elle me faisait parler de mon école, de ce qu’on m’enseignait, des professeurs. Elle avait plaisir à employer mes expressions, la « récré », les « compos » ou la « gym ». Il lui semblait normal que je la « reprenne » quand elle avait dit un « mot de travers ». Elle ne me demandait plus si je voulais « faire collation », mais « goûter ».

Annie Ernaux, Une femme.

Sie verfolgte ihren Wunsch zu lernen durch mich. Abends, am Tisch, ließ sie mich über meine Schule sprechen, über das, was man mir lehrte, über die Lehrer. Es bereitete ihr Freude, meine Ausdrücke zu verwenden, die « récré » (Pause), die « compos » (Aufsätze) oder die « gym » (Turnen). Es schien ihr normal, dass ich sie « korrigierte », wenn sie ein « falsches Wort » gesagt hatte. Sie fragte mich nicht mehr, ob ich « faire collation » (einen Imbiss nehmen) wollte, sondern « goûter » (naschen).

Die mütterliche Projektion und sprachliche Assimilation steht hier im Mittelpunkt: Die Mutter projiziert ihren eigenen unerfüllten Bildungswunsch auf die Tochter und nimmt aktiv an deren schulischer Entwicklung teil, indem sie deren „Ausdrücke“ übernimmt und sogar Korrekturen akzeptiert. Das zeigt eine Form der Liebe und Unterstützung, die den sozialen Aufstieg der Tochter ermöglichte. Gleichzeitig deutet es auf eine frühe Sprachbildung hin, in der die Erzählerin die bürgerliche Sprache der Schule (z.B. „goûter“ statt „faire collation“) verinnerlicht und so beginnt, sich von der Sprache und dem Milieu ihrer Eltern zu distanzieren. Diese Kindheit ist ein Laboratorium des Sprachwechsels und der sozialen Transformation, ermöglicht durch die mütterliche Fürsorge und Ambition. Une femme (1988) ist eine Hommage an Annie Ernaux‘ Mutter, die im Alter an Alzheimer erkrankt und stirbt. Das Buch versucht, das Leben der Mutter zu erfassen, von ihrer Kindheit in einer ländlichen Normandie bis zu ihrem Tod. Während der Fokus auf der Mutter liegt, werden aber auch Aspekte der Kindheit der Erzählerin beleuchtet, insbesondere die prägende Rolle der Mutter bei der Entwicklung ihrer intellektuellen Ambitionen und ihrer Distanzierung vom ursprünglichen Milieu. Die Kindheit ist hier eine Zeit der mütterlichen Beeinflussung und der Übernahme von Werten und Bestrebungen.

In Une femme wird die Kindheit der Erzählerin untrennbar mit der Figur der Mutter, mit Lebenserfahrungen, Bestrebungen und Leidenschaften verbunden: Die Mutter, die selbst eine unersättliche Leserin war, förderte die Bildung ihrer Tochter und die Freude am Lernen. Die Kindheit wird als eine Phase beschrieben, in der die Erzählerin die Leidenschaft der Mutter für das Lesen teilt und dadurch eine „Öffnung zur Welt“ erfährt, die ihr späteres Leben prägt. Gleichzeitig ist es eine Kindheit, die von der sozialen Distanzierung gekennzeichnet ist, die sich durch die Bildung und den Wunsch, „jemand“ zu werden, von den Eltern und ihrem Milieu entwickelt. Die Kindheitspoetik ist hier auch eine der Anerkennung und des Verlusts – des Verlusts der unmittelbaren Verbindung zu der Welt, aus der die Erzählerin stammt, symbolisiert durch den Verlust der Mutter.

Je n’entendrai plus sa voix. C’est elle, et ses paroles, ses mains, ses gestes, sa manière de rire et de marcher, qui unissaient la femme que je suis à l’enfant que j’ai été. J’ai perdu le dernier lien avec le monde dont je suis issue.

Annie Ernaux, Une femme.

Ich werde ihre Stimme nicht mehr hören. Sie war es, und ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihre Art zu lachen und zu gehen, die die Frau, die ich bin, mit dem Kind, das ich war, verbanden. Ich habe die letzte Verbindung zu der Welt verloren, aus der ich stamme.

Die Tochter betrauert den Verlust, und damit die unauflösliche Verbindung zur Herkunft. Der Tod der Mutter markiert das Ende einer Ära und den Verlust der letzten direkten Verbindung zur eigenen Kindheit und zur sozialen Herkunft. Die Mutter ist nicht nur eine individuelle Person, sondern ein lebendiges Archiv von Gesten, Wörtern und Verhaltensweisen, die das Kind geformt haben und die durch den Tod unwiederbringlich verloren gehen. Kindheit wird als eine Zeit der Inkarnation des Familienerbes dargestellt, dessen Verlust eine tiefe existenzielle Spaltung im erwachsenen Selbst hervorruft. Ernaux erkennt an, dass die wahre Stimme der Kindheit und der Herkunft nicht nur in Worten, sondern auch in diesen subtilen, verkörperten Erinnerungen liegt, die mit dem Tod des letzten Zeugen verschwinden.

La honte

Ce qui m’importe, c’est de retrouver les mots avec lesquels je me pensais et pensais le monde autour. Dire ce qu’étaient pour moi le normal et l’inadmissible, l’impensable même. Mais la femme que je suis en 95 est incapable de se replacer dans la fille de 52 qui ne connaissait que sa petite ville, sa famille et son école privée, n’avait à sa disposition qu’un lexique réduit.

Annie Ernaux, La honte.

Was mir wichtig ist, ist, die Worte wiederzufinden, mit denen ich mich selbst und die Welt um mich herum dachte. Zu sagen, was für mich normal und unzulässig, ja undenkbar war. Aber die Frau, die ich 1995 bin, ist unfähig, sich in das Mädchen von 1952 zurückzuversetzen, das nur ihre kleine Stadt, ihre Familie und ihre Privatschule kannte, und nur über ein begrenztes Lexikon verfügte.

Hier zeigt sich Ernaux‘ Anliegen, nicht nur Fakten zu rekapitulieren, sondern die innere Gedankenwelt des Kindes zu erfassen, die durch ein damals begrenztes Vokabular und spezifische soziale Normen („le normal et l’inadmissible“) geformt war. Die Unfähigkeit der erwachsenen Erzählerin, sich vollständig in die jüngere Annie hineinzuversetzen, unterstreicht die Fragmentierung des Selbst über die Zeit hinweg und die Schwierigkeit, eine „wahre Erinnerung an sich selbst“ zu haben. Diese Kindheit ist ein verlorener sprachlicher Raum, der nur durch die Analyse der „Gesetze und Riten“ und der damals verfügbaren „Sprachen“ (Religion, Eltern, Romane) wieder zugänglich gemacht werden kann.

La honte (1997) konzentriert sich auf ein spezifisches Ereignis aus der Kindheit der Erzählerin: einen sonntäglichen Wutausbruch ihres Vaters im Juni 1952, als sie zwölf Jahre alt war. Dieses Ereignis wird als Ursprung einer tief sitzenden Scham und als Moment der Erkenntnis über die soziale und emotionale Brutalität ihrer Herkunft dargestellt. Das Buch versucht, dieses „unsagbare“ Ereignis zu kontextualisieren, indem es die sozialen, religiösen und sprachlichen Normen jener Zeit und ihres Milieus beleuchtet. Die Kindheit wird als ein Gefängnis von Regeln und Erwartungen erlebt, die das Selbstverständnis des Kindes formen. In La honte ist die Kindheit vor allem ein Feld der Erinnerung und der Rekonstruktion einer erschütternden Erfahrung. Ernaux betont, dass die gegenwärtige Person sich nicht in eine Wahrnehmung von 1952 zurückversetzen kann, die nur ihre kleine Stadt, ihre Familie und ihre Privatschule kannte. Um die Realität von damals zu erfassen, sucht sie nach den „Gesetzen und Riten, Glaubenssätzen und Werten“, die ihr Milieu definierten. Die Kindheit wird durch die Linse der Scham neu beleuchtet, nicht als eine Erzählung, die eine Realität produziert, sondern die sie sucht. Die „sensation de honte“ ist dabei die „letzte Wahrheit“, die das Kind von damals mit der schreibenden Frau von heute verbindet.

Naturellement pas de récit, qui produirait une réalité au lieu de la chercher. Ne pas me contenter non plus de lever et transcrire les images du souvenir mais traiter celles-ci comme des documents qui s’éclaireront en les soumettant à des approches différentes. Être en somme ethnologue de moi-même.

Annie Ernaux, La honte.

Natürlich keine Erzählung, die eine Realität produzieren würde, anstatt sie zu suchen. Mich auch nicht damit begnügen, die Bilder der Erinnerung aufzuzeichnen und zu transkribieren, sondern diese als Dokumente behandeln, die sich durch verschiedene Ansätze aufklären werden. Kurzum, Ethnologin meiner selbst sein.

Diese methodologische Erklärung der Kindheitspoetik in La honte zeigt Ernaux‘ Ablehnung einer traditionellen, fiktionalisierten Autobiografie zugunsten einer quasi-wissenschaftlichen, analytischen Herangehensweise. Die Kindheitserinnerungen werden nicht als eine flüssige Geschichte behandelt, sondern als „Dokumente“, die einer kritischen Untersuchung unterzogen werden müssen. Die Metapher der „Ethnologin ihrer selbst“ verdeutlicht den Versuch, die eigene Kindheit aus einer distanzierten, objektiven Perspektive zu betrachten, als wäre es eine fremde Kultur, die es zu verstehen gelte. Ziel ist es, die tiefer liegenden sozialen und kulturellen Kräfte freizulegen, die das kindliche Selbst geformt haben, und so die Scham nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu verstehen.

Les années

À moi – et peut-être à tous ceux de mon époque – dont les souvenirs sont attachés à un tube d’été, une ceinture en vogue, à des choses vouées à la disparition, la mémoire n’apporte aucune preuve de ma permanence ou de mon identité. Elle me fait sentir et me confirme ma fragmentation et mon historicité.

Annie Ernaux, Les années.

Mir – und vielleicht allen meiner Epoche –, deren Erinnerungen an einen Sommerhit, einen modischen Gürtel, an Dinge gebunden sind, die zum Verschwinden verurteilt sind, liefert die Erinnerung keinen Beweis für meine Beständigkeit oder meine Identität. Sie lässt mich meine Fragmentierung und meine Geschichtlichkeit fühlen und bestätigt sie mir.

Ernaux argumentiert, dass die Erinnerung an die Kindheit für ihre Generation nicht durch „Dinge der Natur“ (wie bei Proust), sondern durch Wegwerfprodukte und modische Objekte geprägt ist, die dem Verschwinden geweiht sind, der Auszug fasst diese Facette ihrer Kindheitspoetik der materiellen Kultur und der kollektiven Identität zusammen. Dies führt nicht zu einem Gefühl der Beständigkeit, sondern der „Fragmentierung und Historizität“ des Selbst. Kindheit wird als eine Phase dargestellt, in der die Identität stark von flüchtigen, gesellschaftlich definierten Konsumgütern beeinflusst wird, was die Vergänglichkeit des Erinnerbaren und die kollektive Prägung des individuellen „Ichs“ hervorhebt.

Les années (2008) ist eine kollektive Autobiografie. Es erzählt die Geschichte einer Generation, von der Nachkriegszeit bis in die 2000er Jahre, durch die Augen der Erzählerin, die sich oft im „on“ oder „nous“ verbirgt. In L’atelier noir lesen wir aus ihrem Notizbuch „Die Distanz zwischen ihr, ihnen und mir ist die Distanz zwischen meiner Vergangenheit, meiner Kindheit und der Gegenwart.“ („La distance entre elle, eux, moi, c’est la distance entre mon passé, mon enfance, et maintenant.“) Kindheit wird nicht als individuelle Erzählung, sondern als Teil einer gemeinsamen Zeitgeschichte dargestellt, geprägt von spezifischen sozialen, kulturellen und politischen Ereignissen und Objekten. Sie ist ein Mosaik aus Bildern, Geräuschen, Liedern und Alltagserfahrungen, die eine kollektive Kindheit formten. Erzählen der Kindheit in Les années ist eine kollektive Gedächtnisarbeit, die sich der individuellen „Ich“-Perspektive widersetzt. Stattdessen wird die Kindheit als eine Summe von kollektiven Erfahrungen beschrieben, die durch die Dinge, Wörter und Ereignisse der Zeit geformt wurden. Ernaux verwendet einen unpersönlichen Stil, um das Gefühl der gemeinsamen Prägung zu vermitteln. Kindheit ist nicht nur eine individuelle Entwicklungsphase, sondern ein historisches Artefakt, das durch die Analyse von Konsumgütern, Liedern, Filmen und sozialen Normen rekonstruiert wird. Der Wunsch, das „Vergangene zu retten“ und die „Licht, das Gesichter badete, die jetzt unsichtbar sind“, ist ein zentrales Motiv.

le nouveau-né brandi en l’air comme un lapin décarpillé dans la salle d’accouchement de la clinique Pasteur de Caudéran, retrouvé une demi-heure après tout habillé, dormant sur le côté dans le petit lit, une main dehors et le drap tiré jusqu’aux épaules

Annie Ernaux, Les années.

das Neugeborene, das wie ein geschlachteter Hase in der Entbindungsstation der Pasteur-Klinik in Caudéran in die Luft gehalten wurde, eine halbe Stunde später liegt es wieder da, vollständig angezogen, schlafend auf der Seite in seinem kleinen Bettchen, eine Hand herausgestreckt und die Decke bis zu den Schultern hochgezogen

Ernaux‘ Darstellung eines Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt ist beinahe brutal und unterstreicht die Entfremdung und die rein physische Realität des Moments. Diese Szene, obwohl nicht direkt die Geburt der Erzählerin, ist eine kollektive Erinnerung an die Hilflosigkeit des Neugeborenen. Sie steht für den Übergang vom rohen, „tierischen“ Dasein zum geordneten, eingekleideten Menschsein und markiert den Beginn eines Lebens, das sofort in soziale Strukturen und Praktiken eingebettet wird. Annie Ernaux’ monumentales Werk Les années (2008) transzendiert die konventionelle Autobiografie, indem es das persönliche Ich in ein „impersonelles und kollektives“ Gedächtnis einbettet. Die Kindheit, weit mehr als eine individuelle Chronik, wird in diesem Text zu einem faszinierenden Palimpsest, einer vielschichtigen Überlagerung aus Bildern, mündlichen Überlieferungen und sinnlichen Erfahrungen, die das kollektive und soziale Erbe einer ganzen Generation offenbaren. Ernaux’ Poetik der Kindheit ist somit eine Spurensuche nach dem Vergangenen, eine Rekonstruktion einer Zeit, die zugleich zutiefst persönlich und universell ist.

Der folgende Auszug handelt von einer Frau im mittleren Alter, die an Wochenenden eine sexuelle Beziehung zu einem wesentlich jüngeren Mann unterhält. Diese Beziehung ist für sie weniger durch körperliches Begehren motiviert als durch das Bedürfnis nach Nähe, Kommunikation und Identitätserhalt. In ihrem Alltag fehlt ihr ein Gegenüber, dem sie banale Ereignisse mitteilen kann – eine Funktion, die der junge Mann übernimmt. Zugleich ist er ein Mittel, um ihre Vergangenheit wiederzubeleben: In bestimmten Situationen mit ihm fühlt sie sich zurückversetzt in frühere Lebensphasen, insbesondere in ihre Jugend und Studienzeit. Die Wiederholung früherer Erfahrungen verleiht diesen scheinbar sinnlosen Momenten nachträglich Bedeutung und erfüllt sie mit einem Gefühl von Kontinuität und Realität.

Zentral ist dabei die von ihr so benannte „sensation palimpseste“ – ein Zustand, in dem sich verschiedene Zeitschichten ihres Lebens überlagern, ohne sich zu vermischen. Dieser Zustand überkommt sie im Halbschlaf nach dem Geschlechtsakt: Sie spürt zugleich Kindheit, Jugend, Mutterschaft und Gegenwart, als lägen sie alle übereinander. Dabei empfindet sie sich als aus der Zeit gefallen, „nirgendwo in der Zeit“. Dieses Gefühl ist für sie ein möglicher Erkenntnismoment – ein Zugang zu einem umfassenden, fast wissenschaftlichen Verständnis von Identität und Geschichte. Sie möchte diesen Zustand zur Grundlage eines literarischen Projekts machen: dem Buch über eine Frau, die von 1940 bis heute gelebt hat. Ihre Angst, es nicht zu vollenden, ist mit Schuld und Bedauern verbunden.

Die „sensation palimpseste“ wird zum Konzept für ein körperlich-mentales, nichtlineares Gedächtnis: eine Überlagerung von Ich-Zuständen, Zeitpunkten und Orten. Sie steht in Spannung zu ihrem Wunsch, ihr Leben zu bewahren und zu erzählen – denn in diesem Gefühl wird Geschichte aufgehoben, Identität entgrenzt. Gleichwohl erkennt sie darin auch die historische Bedingtheit ihrer Situation: Dass eine Frau mit 58 ohne Schuld oder Stolz mit einem 29-Jährigen sein kann, ist Resultat gesellschaftlicher Veränderungen. Das „Palimpsest-Gefühl“ ist für sie also nicht nur subjektiv, sondern ein Ausdruck ihrer historischen Existenzform. Letztlich stellt sie dessen heuristische Kraft jedoch selbst infrage und reflektiert, dass ihr Selbstbild ebenso aus literarischen und filmischen Figuren besteht wie aus realen Erfahrungen – Sue, Claire Dolan, Jane Eyre, Molly Bloom, Dalida. Das Ich ist fragmentiert, vermittelt, überlagert – wie ein Palimpsest.

Sûrement, comme dans les occasions espacées où elle se retrouve avec eux, réendossant le rôle maternel qu’elle n’exerce plus qu’épisodiquement, elle ressent l’insuffisance du lien maternel, la nécessité pour elle d’avoir un amant, une intimité avec quelqu’un, que réalise seulement l’acte sexuel, et qui lui sert de consolation dans ses conflits passagers avec eux. Le jeune homme qu’elle rejoint les autres week-ends l’ennuie souvent, l’agace à regarder Téléfoot le dimanche matin, mais renoncer à lui serait cesser de communiquer à quelqu’un les actes et les incidents insignifiants de chaque jour, de verbaliser le quotidien. Ce serait aussi ne plus attendre, regarder les strings en dentelle et les bas dans la commode en se disant qu’ils ne servent plus à rien, entendre Sea Sex and Sun et se sentir exclue d’un monde de gestes, de désir et de fatigue, être privée d’avenir. À ce moment, si elle l’imagine, cette privation l’attache violemment à ce garçon, comme à un « dernier amour ». Quand elle y réfléchit, elle sait que l’élément principal de leur relation, en ce qui la concerne, n’est pas sexuel : ce garçon lui sert à revivre ce qu’elle n’aurait jamais cru revivre un jour. Quand il l’emmène manger au Jumbo, qu’il l’accueille avec les Doors, et qu’ils font l’amour sur un matelas à même le sol dans son studio glacé, elle a l’impression de rejouer des scènes de sa vie d’étudiante, de reproduire des moments qui ont déjà eu lieu. Ce n’est plus pour de vrai et en même temps c’est cette répétition qui donne de la réalité à sa jeunesse, aux premières expériences, aux « premières fois » qui, dans la stupeur de leur irruption, n’avaient pas de sens. Elles n’en ont pas plus maintenant, la répétition comble le vide et confère l’illusion d’un accomplissement. Dans son journal : « Il m’a arrachée à ma génération. Mais je ne suis pas dans la sienne. Je ne suis nulle part dans le temps. Il est l’ange qui fait revivre le passé, rend éternel. » Souvent, contre lui, dans le demi-sommeil qui suit l’amour, le dimanche après-midi, elle tombe dans un état particulier. Elle ne sait plus d’où, de quelles villes, proviennent les bruits de voiture, de pas et de paroles au-dehors. Confusément elle est dans son box du foyer de jeunes filles, dans une chambre d’hôtel — en Espagne l’été 80, à Lille avec P. en hiver —, dans le lit, enfant, pelotonnée près de sa mère qui dort. Elle se ressent dans plusieurs moments de sa vie, flottant les uns par-dessus les autres. C’est un temps d’une nature inconnue qui s’empare de sa conscience et aussi de son corps, un temps dans lequel le présent et le passé se superposent sans se confondre, où il lui semble réintégrer fugitivement toutes les formes de l’être qu’elle a été. C’est une sensation déjà éprouvée, épisodique — les drogues la provoquent peut-être mais elle n’en a jamais usé, plaçant au-dessus de tout la jouissance de la lucidité —, qu’elle saisit maintenant dans une sorte d’agrandissement et de ralentissement. Elle lui a donné un nom, la sensation palimpseste, bien que, si elle se fie à la définition du dictionnaire, « manuscrit gratté pour y écrire de nouveau », ce mot ne convienne pas tout à fait. Elle y voit un instrument possible de connaissance, non pas seulement pour elle-même, mais de façon générale, presque scientifique — de quoi elle ne sait pas. Dans son projet d’écriture sur une femme ayant vécu de 1940 à aujourd’hui, qui la tient de plus en plus avec la désolation, la culpabilité même, de ne pas le réaliser, elle voudrait, sans doute influencée par Proust, que cette sensation en constitue l’ouverture, par besoin de fonder sur une expérience réelle son entreprise. C’est une sensation qui l’aspire par degrés loin des mots et de tout langage vers les premières années sans souvenirs, la tiédeur rose du berceau, par une série d’abymes — ceux d’Anniversaire, le tableau de Dorothea Tanning —, qui abolit ses actes et les événements, tout ce qu’elle a appris, pensé, désiré, et l’a conduite au travers des années, à être ici, dans ce lit avec cet homme jeune, c’est une sensation qui supprime son histoire. Alors qu’au contraire elle voudrait tout sauver dans son livre, ce qui a été autour d’elle, continuellement, sauver sa circonstance. Est-ce que cette sensation elle-même ne relève pas de l’histoire, des changements dans la vie des femmes et des hommes, de cette possibilité de l’éprouver en se trouvant à cinquante-huit ans près d’un homme de vingt-neuf sans aucun sentiment de faute ni, d’ailleurs, de fierté. Elle n’est pas sûre que cette « sensation palimpseste » possède un pouvoir plus heuristique qu’une autre, fréquente aussi, que son existence, ses « moi », sont dans des personnages de livres et de films, qu’elle est la femme de Sue perdue dans Manhattan et de Claire Dolan, vus il y a peu, ou Jane Eyre, ou Molly Bloom — ou Dalida.

Annie Ernaux, Les années.

Sicherlich spürt sie, wie in den seltenen Momenten, in denen sie mit ihnen zusammen ist und wieder die mütterliche Rolle übernimmt, die sie nur noch sporadisch ausübt, die Unzulänglichkeit der mütterlichen Bindung, das Bedürfnis nach einem Liebhaber, nach Intimität mit jemandem, die nur durch den Geschlechtsakt erfüllt werden kann und die ihr als Trost in ihren vorübergehenden Konflikten mit ihnen dient. Der junge Mann, mit dem sie sich an den anderen Wochenenden trifft, langweilt sie oft, nervt sie, weil er sonntagmorgens Téléfoot guckt, aber ihn aufzugeben würde bedeuten, niemandem mehr von den unbedeutenden Handlungen und Begebenheiten des Alltags zu erzählen, den Alltag nicht mehr in Worte zu fassen. Es würde auch bedeuten, nicht mehr zu warten, nicht mehr die Spitzenstrings und Strümpfe in der Kommode anzuschauen und sich zu sagen, dass sie zu nichts mehr nütze sind, nicht mehr Sea Sex and Sun zu hören und sich aus einer Welt der Gesten, der Begierde und der Müdigkeit ausgeschlossen zu fühlen, keine Zukunft mehr zu haben. In diesem Moment, wenn sie sich das vorstellt, bindet sie dieser Entzug gewaltsam an diesen Jungen, wie an eine „letzte Liebe“. Wenn sie darüber nachdenkt, weiß sie, dass das Wichtigste in ihrer Beziehung, was sie betrifft, nicht sexuell ist: Dieser Junge dient ihr dazu, das wiederzuerleben, was sie nie für möglich gehalten hätte. Wenn er sie zum Essen ins Jumbo mitnimmt, sie mit den Doors empfängt und sie auf einer Matratze auf dem Boden seines eiskalten Studios lieben, hat sie das Gefühl, Szenen aus ihrem Studentenleben nachzuspielen, Momente zu reproduzieren, die bereits stattgefunden haben. Es ist nicht mehr real, und doch ist es gerade diese Wiederholung, die ihrer Jugend, ihren ersten Erfahrungen, den „ersten Malen“, die in ihrer plötzlichen Überraschung keinen Sinn ergaben, Realität verleiht. Auch jetzt haben sie keinen Sinn, aber die Wiederholung füllt die Leere und vermittelt die Illusion einer Erfüllung. In ihrem Tagebuch schreibt sie: „Er hat mich meiner Generation entrissen. Aber ich gehöre nicht zu seiner. Ich bin nirgendwo in der Zeit. Er ist der Engel, der die Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, sie ewig macht.“ Oft, wenn sie sich ihm entgegenstellt, im Halbschlaf nach dem Liebesspiel, am Sonntagnachmittag, verfällt sie in einen besonderen Zustand. Sie weiß nicht mehr, woher, aus welchen Städten die Geräusche von Autos, Schritten und Stimmen draußen kommen. Verwirrt befindet sie sich in ihrer Box im Mädchenwohnheim, in einem Hotelzimmer – im Sommer 1980 in Spanien, im Winter mit P. in Lille –, im Bett, als Kind, zusammengekauert neben ihrer schlafenden Mutter. Sie fühlt sich in mehrere Momente ihres Lebens versetzt, die übereinander schweben. Es ist eine Zeit unbekannter Natur, die ihr Bewusstsein und auch ihren Körper erfasst, eine Zeit, in der Gegenwart und Vergangenheit sich überlagern, ohne zu verschmelzen, in der sie flüchtig alle Formen des Seins, die sie jemals gewesen ist, wiederzuerlangen scheint. Es ist ein bereits bekanntes, episodisches Gefühl – vielleicht wird es durch Drogen hervorgerufen, aber sie hat nie welche genommen, da ihr die Freude an der Klarheit wichtiger ist –, das sie nun in einer Art Vergrößerung und Verlangsamung wahrnimmt. Sie hat ihr ein Name gegeben, das Palimpsest-Gefühl, obwohl, wenn sie sich auf die Definition im Wörterbuch verlässt, „Manuskript, das abgekratzt wurde, um neu beschrieben zu werden”, dieses Wort nicht ganz passt. Sie sieht darin ein mögliches Instrument der Erkenntnis, nicht nur für sich selbst, sondern allgemein, fast wissenschaftlich – wovon, weiß sie nicht. In ihrem Schreibprojekt über eine Frau, die von 1940 bis heute gelebt hat und das sie zunehmend mit Verzweiflung, ja sogar Schuldgefühlen erfüllt, weil sie es nicht fertigstellt, möchte sie, zweifellos beeinflusst von Proust, dass dieses Gefühl den Auftakt bildet, aus dem Bedürfnis heraus, ihr Vorhaben auf eine reale Erfahrung zu gründen. Es ist ein Gefühl, das sie nach und nach von Worten und jeder Sprache weg in die ersten Jahre ohne Erinnerungen zieht, in die rosige Wärme der Wiege, durch eine Reihe von Abgründen – die von Anniversaire, das Gemälde von Dorothea Tanning –, die ihre Handlungen und Ereignisse, alles, was sie gelernt, gedacht und gewünscht hat, auslöschen und sie durch die Jahre hindurch dazu gebracht haben, hier zu sein, in diesem Bett mit diesem jungen Mann, es ist ein Gefühl, das ihre Geschichte auslöscht. Dabei möchte sie doch im Gegenteil alles in ihrem Buch retten, was sie ständig umgeben hat, ihre Lebensumstände retten. Ist dieses Gefühl selbst nicht Teil der Geschichte, der Veränderungen im Leben von Frauen und Männern, dieser Möglichkeit, es zu erleben, wenn man mit achtundfünfzig Jahren neben einem neunundzwanzigjährigen Mann sitzt, ohne Schuldgefühle oder Stolz? Sie ist sich nicht sicher, ob dieses „Palimpsest-Gefühl” eine größere heuristische Kraft hat als ein anderes, ebenfalls häufiges Gefühl, dass ihre Existenz, ihre „Ichs” in Figuren aus Büchern und Filmen existieren, dass sie die Frau von Sue perdue dans Manhattan ist und von Claire Dolan, was sie kürzlich gesehen hat, oder Jane Eyre oder Molly Bloom – oder Dalida.

Die „sensation palimpseste“, wie Ernaux sie in Les années thematisiert, bezeichnet ein spezifisches, vielschichtiges Zeiterleben, das nicht einfach mit Erinnerung gleichzusetzen ist. Es geht um die Überlagerung von Lebensmomenten, ein Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart, ohne dass sich diese vermischen oder auflösen. Eine ontologische Erfahrung von Vielzeitigkeit, ein Zustand, in dem Identität nicht linear entwickelt, sondern in Schichten erinnert, wiederbelebt, durchgespielt, gelöscht oder aufgeschrieben wird. Diese „palimpsestartige“ Erfahrung zeigt sich besonders im Zustand des Halbschlafs nach dem Liebesakt: Die Frau liegt mit einem jungen Mann im Bett, doch ihr Bewusstsein ist zugleich an früheren Orten: im Foyer der Jugend, in Hotels, in Spanien, bei der Mutter. Sie erlebt sich „dans plusieurs moments de sa vie“, ohne dass diese Momente kohärent wären. Es entsteht eine vertikale, nicht-lineare Zeitschichtung, in der verschiedene „Ichs“ gleichzeitig präsent sind – nicht im Sinne einer Identitätsauflösung, sondern als stapelartige Koexistenz von Zuständen. Die „sensation palimpseste“ entzieht sich der Sprache, zieht die Erzählerin in eine vorbewusste Zone: „vers les premières années sans souvenirs“, also in vorsprachliche Kindheitsräume, in eine Zeit vor der Narrativierbarkeit. Es handelt sich dabei nicht um sentimentale Rückwendung zur Kindheit, sondern um eine Form der Entwirklichung der Gegenwart durch das Wiedereinbrechen des Zeitlosen.

Paradoxerweise löscht diese „sensation palimpseste“ nicht nur die Geschichte aus („supprime son histoire“), sondern ist auch ihr Ausgangspunkt für das Schreiben dieser Geschichte. Die Protagonistin will einen Roman über eine Frau von 1940 bis heute schreiben, und gerade diese Erfahrung soll dessen Anfang bilden – als eine authentische, körperlich erlebte und nicht bloß konstruierte Epiphanie, gleichsam ein proust’scher Moment. Die Palimpsest-Sensation gerät so zum poetologischen Motor, aber auch zum Hindernis: weil sie „wortlos“ ist, weil sie Geschichte übersteigt. Sie steht im Zentrum eines existenziellen und poetologischen Selbstverhältnisses: zwischen Wiederholung und Verlust, zwischen Geschichte und Entzeitlichung, zwischen Lust und Melancholie. Der Palimpsest ist hier Körper, Medium und Erkenntnismodus zugleich. Die erwachsene Erzählerin geht hier zurück bis in ihre frühesten, sprachlosen Jahre, „zur rosigen Wärme der Wiege“. Diese Empfindung löscht scheinbar ihre gesamte Geschichte, alles Gelernte und Erlebte aus. Doch paradoxerweise ist es gerade diese Auslöschung der Geschichte, die ihr ermöglicht, alle Formen des Seins wieder zu integrieren, die sie war. Die Kindheit, insbesondere die vor-sprachliche Phase, wird als ein Ort der reinen Empfindung dargestellt, von dem aus das gesamte Leben neu betrachtet werden kann. Ernaux‘ Schreibprojekt zielt darauf ab, die „Sensation Palimpseste“ als Werkzeug der Erkenntnis zu nutzen, um die eigene Existenz und ihre Transformation über die Jahre hinweg zu erfassen.

Standbild aus Les Années Super-8.

Ein zentrales Element dieser Poetik ist die Fragmentierung und Verschwommenheit der frühen Erinnerungen. Die Kindheit erscheint oft als „dämmerhafte Bilder“, durchbrochen von „leuchtenden Pfützen eines Sommersonntags“, die weniger konkrete Ereignisse als vielmehr diffuse Atmosphären einfangen. Diese prä-verbale Phase wird als ein „Reservoir an Material“ für das spätere literarische Projekt verstanden, das darauf abzielt, „etwas von der Zeit zu retten, in der man nie wieder sein wird“. Selbst das eigene kindliche Ich auf alten Fotos wird nicht als das eigene Ich erkannt, sondern als „jemand anderes, ein Geschöpf, das einer stummen und unzugänglichen Zeit angehört“, was die Distanz zu den frühesten Erinnerungen und die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Wiederaneignung unterstreicht. Die „Palimpsest-Empfindung“ ermöglicht es der Erzählerin, in diese vor-sprachlichen Jahre zurückzukehren und alle Formen des Seins wieder zu integrieren, die sie einst war, wobei die Geschichte scheinbar „abgeschafft“ wird, um eine tiefere Erkenntnis zu ermöglichen.

De main en main passaient des photos brunies au dos taché par tous les doigts qui les avaient tenues dans d’autres repas, mélange de café et de graisse fondu en une couleur indéfinissable. Dans les mariés raides et graves, les invités de la noce s’étageant sur plusieurs rangs le long d’un mur, on ne reconnaissait ni ses parents ni personne. Ce n’était pas soi non plus qu’on voyait dans le bébé de sexe indistinct à demi nu sur un coussin mais quelqu’un d’autre, une créature appartenant à un temps muet et inaccessible.

Annie Ernaux, Les années.

Von Hand zu Hand gingen vergilbte Fotos, deren Rückseiten von den Fingern aller, die sie bei anderen Mahlzeiten gehalten hatten, mit einer undefinierbaren Mischung aus Kaffee und Fett verschmutzt waren. Unter den steifen und ernsten Brautleuten und den Hochzeitsgästen, die sich in mehreren Reihen entlang einer Wand aufstellten, erkannte man weder seine Eltern noch sonst jemanden. Auch das halbnackte Baby auf einem Kissen, dessen Geschlecht nicht zu erkennen war, war nicht man selbst, sondern jemand anderes, ein Wesen aus einer stummen und unzugänglichen Zeit.

Fotografien spielen eine wichtige Rolle in Ernaux‘ Beschäftigung mit der Kindheit. In Les années sind Fotos „mystérieuses, à interpréter“ (geheimnisvoll, interpretationsbedürftig) und öffnen einen „hors champ“ (Off-Bereich) der „détails“. Sie dienen als „preuve matérielle“ (materieller Beweis) und „point d’ancrage historique“ (historischer Ankerpunkt), die Erinnerungsbilder von bloßen Fantasien unterscheiden. In L’autre fille wird das Schreiben mit der Entwicklung eines Fotos verglichen: „Dieses Erzählen zu erzählen, bedeutet, mit der Unschärfe des Erlebten Schluss zu machen, wie das Entwickeln eines seit sechzig Jahren im Schrank aufbewahrten und nie entwickelten Fotos“ („Faire le récit de ce récit, ce sera en finir avec le flou du vécu, comme entreprendre de développer une pellicule photo conservée dans un placard depuis soixante ans et jamais tirée“). Dies veranschaulicht den Prozess, das Unsichtbare sichtbar zu machen und das Vergangene aus dem Reich des Unsagbaren in die Sprache zu überführen.

Ernaux’ Poetik der Kindheit ist eine Poetik der Differenz – zwischen dem Kind und der erwachsenen Frau, zwischen dem Privaten und dem Kollektiven, zwischen Bild und Sprache, zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Körper steht dabei im Zentrum: Er erinnert, bevor Sprache sich formt. Die Szenen der Kindheit, wie Ernaux sie beschreibt, sind nicht Orte der Wahrheit, sondern Erinnerungsräume, in denen kollektive Geschichte als sedimentiertes Leben in individuelle Erfahrung einschreibt. Die Kindheit in Les années ist keine Einheit, sie ist kein Paradies und kein Ursprung. Sie ist körperlich, bildlich und affektiv. Kindheit bei Arnaux ist geprägt von sozialer Differenz, Diskursen, materieller Kultur, und sie ist erinnerbar nur über Medien, Gesten, Gerüche, Blicke.

Les Années Super-8 von Annie Ernaux

Les années ist ein kollektives Lebensbuch, ein „autobiographie impersonnelle“, das persönliche Erinnerung mit historischer Zeit, kollektiven Bildern und Diskursen verwebt. Innerhalb dieses breit angelegten Projekts nimmt die Darstellung der Kindheit eine zentrale Rolle ein – nicht als abgeschlossene Erzählung, sondern als assoziative, bildhafte Zone früher Empfindung, des Körpergedächtnisses und sozialer Prägung. Die Kindheit ist dabei nicht nur biografischer Ursprung, sondern wird poetischer Raum des Sinnlichen, als pré-histoire du moi, gespeist aus Gerüchen, Haltungen, Fotografien, aus dem Schweigen des Erwachsenenwissens und der Stimme der Anderen. Der Anblick des eigenen Körpers in fotografischer Form ruft keine Identifikation hervor, sondern erzeugt Fremdheit: Der Körper ist „indistinct“, seine Zeit „muette“. Dieses Erleben des Eigenen als Anderes wird zur Matrix einer Schreibweise, die sich nicht auf Kontinuität beruft, sondern auf Differenz: Das Kind ist nicht die „kleine Erwachsene“, sondern eine eigene Figur, deren Welt nur in Splittern, in Bildern, in Gesten rekonstruiert werden kann.

C’est une photo sépia, ovale, collée à l’intérieur d’un livret bordé d’un liseré doré, protégée par une feuille gaufrée, transparente. Au-dessous, Photo-Moderne, Ridel, Lillebonne (S. Inf.re). Tel. 80. Un gros bébé à la lippe boudeuse, des cheveux bruns formant un rouleau sur le dessus de la tête, est assis à moitié nu sur un coussin au centre d’une table sculptée. Le fond nuageux, la guirlande de la table, la chemise brodée, relevée sur le ventre — la main du bébé cache le sexe —, la bretelle glissée de l’épaule sur le bras potelé visent à représenter un amour ou un angelot de peinture. Chaque membre de la famille a dû en recevoir un tirage et chercher aussitôt à déterminer de quel côté était l’enfant. Dans cette pièce d’archives familiales — qui doit dater de 1941 — impossible de lire autre chose que la mise en scène rituelle, sur le mode petit-bourgeois, de l’entrée dans le monde.

Annie Ernaux, Les années.

Das ovale sepiafarbene Foto klebt in einem aufklappbaren Umschlag mit goldenem Rand unter dünnem weißem Schutzpapier. Darunter: Ridel, Moderne Fotografie, Lillebonne, (S. Inf.re), Tel. 80. Ein Kleinkind mit Babyspeck, Schmollmund und einer dunklen Haartolle sitzt halbnackt auf einem Kissen, das auf einem Holztisch liegt. Der verschwommene Hintergrund, die geschnitzte Girlande, das hochgerutschte Spitzenhemd – eine Hand verbirgt die Scheide –, der Träger, der von der Schulter auf den pummeligen Arm geglitten ist, all das erinnert an pausbäckige Engel oder Putten auf alten Gemälden. Vermutlich hat jedes Familienmitglied einen Abzug bekommen, und sie haben prompt versucht herauszufinden, von welcher Seite das Kind stammt. Dieses Stück aus dem Familienarchiv – es muss 1941 entstanden sein – kann man nur als ritualisierte Inszenierung einer kleinbürgerlichen Einführung in die Welt lesen.

Diese Szene bildet den Auftakt zu einer Reflexion über Erinnerung als kulturell und medial vermittelte Konstruktion. Das Foto zeigt ein „gros bébé“ mit sorgfältig in Wellen gelegtem Haar, eingebettet in eine bürgerliche Inszenierung von Reinheit, Fruchtbarkeit und Überleben im Krieg – „comme un angelot de peinture“. Das Selbst erscheint nicht als Ursprung, sondern als Produkt einer familialen Ästhetik, die das Kind objektiviert und verewigt. Das Bild sagt nicht „je me souviens“, sondern „voici ce que la famille a voulu garder“. Ernaux setzt hier früh ein Thema, das das gesamte Werk durchzieht: die Ununterscheidbarkeit von persönlicher und kollektiver Erinnerung.

Dans le grésillement du projecteur, se voir pour la première fois marcher, remuer les lèvres, rire muettement sur l’écran déplié dans le living, décontenançait. On s’étonnait de soi, de ses gestes. C’était une sensation neuve, sans doute analogue à celle des gens du XVIIe siècle quand ils s’étaient vus dans un miroir, ou des arrière-grands-parents devant leur premier portrait en photo. On n’osait rien dire de son trouble, préférant regarder les autres, parents, amis, sur l’écran, plus conformes à ce qu’ils étaient déjà pour nous. Entendre sa voix au magnétophone était encore plus terrible. On ne pourrait plus jamais oublier cette voix que les autres entendaient. On gagnait en connaissance de soi, on perdait en insouciance. Dans la façon de s’habiller, de porter un débardeur et des sabots, des pantalons pattes d’éléphant, de lire ( Le Nouvel Obs), de s’indigner (contre le nucléaire, les détergents dans la mer), d’admettre (les hippies), on se sentait ajustés à l’époque — d’où la certitude d’avoir raison en toutes circonstances. Les parents et les plus de cinquante ans étaient d’un autre temps, y compris dans leur insistance à vouloir comprendre les jeunes. Nous tenions leurs avis et leurs conseils pour pure information. Et l’on ne vieillirait pas.

Annie Ernaux, Les années.

Im Knistern des Projektors sich selbst zum ersten Mal gehen zu sehen, die Lippen bewegen, stumm auf der im Wohnzimmer aufgeklappten Leinwand lachen, war verwirrend. Man war überrascht von sich selbst, von seinen Gesten. Es war ein neues Gefühl, wahrscheinlich ähnlich dem der Menschen im 17. Jahrhundert, als sie sich zum ersten Mal in einem Spiegel sahen, oder dem unserer Urgroßeltern, als sie ihr erstes Porträtfoto sahen. Man wagte nichts von seiner Verwirrung zu sagen und schaute lieber die anderen, Verwandte, Freunde, auf dem Bildschirm an, die eher dem entsprachen, was sie für uns bereits waren. Seine eigene Stimme auf dem Tonband zu hören, war noch schrecklicher. Man konnte diese Stimme, die die anderen hörten, nie mehr vergessen. Man gewann an Selbsterkenntnis, verlor aber an Unbeschwertheit. In der Art, sich zu kleiden, ein Tanktop und Clogs zu tragen, Schlaghosen, zu lesen (Le Nouvel Obs), sich zu empören (gegen Atomkraft, Waschmittel im Meer), zu akzeptieren (die Hippies), fühlte man sich der Zeit angepasst – daher auch die Gewissheit, unter allen Umständen Recht zu haben. Die Eltern und die über Fünfzigjährigen waren aus einer anderen Zeit, auch in ihrem Beharren, die Jugend verstehen zu wollen. Wir betrachteten ihre Meinungen und Ratschläge als reine Information. Und wir würden nicht alt werden.

Diese Reflexion über die erste filmische Selbsterfahrung verbindet Kindheit mit Mediengeschichte. Der Blick auf das eigene Bild führt zu Entfremdung und Erkenntnis: „Ce n’était pas moi, mais j’étais là.“ Die Kindheit wird hier zu einem „Stadium du miroir“ im Sinne Lacans – ein Moment, in dem das Ich nicht aus innerem Erleben entsteht, sondern aus dem Blick der Anderen, vermittelt durch Technik und Bild.

les images réelles ou imaginaires, celles qui suivent jusque dans le sommeil les images d’un moment baignées d’une lumière qui n’appartient qu’à elles Elles s’évanouiront toutes d’un seul coup comme l’ont fait les millions d’images qui étaient derrière les fronts des grands-parents morts il y a un demi-siècle, des parents morts eux aussi. Des images où l’on figurait en gamine au milieu d’autres êtres déjà disparus avant qu’on soit né, de même que dans notre mémoire sont présents nos enfants petits aux côtés de nos parents et de nos camarades d’école. Et l’on sera un jour dans le souvenir de nos enfants au milieu de petits-enfants et de gens qui ne sont pas encore nés. Comme le désir sexuel, la mémoire ne s’arrête jamais. Elle apparie les morts aux vivants, les êtres réels aux imaginaires, le rêve à l’histoire.

Annie Ernaux, Les années.

Die realen oder imaginären Bilder, die uns bis in den Schlaf verfolgen Die Bilder eines Augenblicks, getaucht in ein Licht, das nur ihnen gehört Sie werden alle auf einmal verschwinden, so wie die Millionen Bilder, die hinter den Stirnen unserer Großeltern standen, die vor einem halben Jahrhundert gestorben sind, ebenso wie unsere Eltern. Bilder, auf denen wir als Kinder inmitten anderer Menschen zu sehen waren, die schon vor unserer Geburt verschwunden waren, so wie in unserer Erinnerung unsere kleinen Kinder neben unseren Eltern und Schulkameraden präsent sind. Und eines Tages werden wir in den Erinnerungen unserer Kinder inmitten von Enkelkindern und Menschen, die noch nicht geboren sind, weiterleben. Wie das sexuelle Verlangen hört auch die Erinnerung nie auf. Sie verbindet die Toten mit den Lebenden, die realen Wesen mit den imaginären, den Traum mit der Geschichte.

Die Kindheit in Les années ist untrennbar mit dem kollektiven Gedächtnis und den historischen Ereignissen der Nachkriegszeit verbunden. Während Familienfeste nach dem Krieg dazu dienen, die „große Erzählung der kollektiven Ereignisse“ (Krieg, Besatzung, Hunger) zu wiederholen, scheinen die Kinder zwar nicht aktiv zuzuhören, „aber sie behielten alles“. Diese unbewusste Aufnahme prägt ihre „ungelebte“ Kindheit und erzeugt eine „beharrliche Nostalgie“ für eine nicht selbst erlebte Zeit. Die materielle Realität der Nachkriegsjahre, geprägt von Rationierung, den Spuren der Zerstörung und dem Mangelbewusstsein, durchdringt das Aufwachsen der Kinder und verknüpft ihre persönliche Entwicklung mit dem Bestreben des Wiederaufbaus. Die „Stimmen“ der Erwachsenen geben ein „Erbe der Armut und Entbehrung“ weiter, das in Details wie Lehmböden, Holzschuhen und Lumpenpuppen sichtbar wird, und vermitteln archaische Praktiken wie Knoblauchbeutel gegen Würmer, die die soziale Herkunft der Erzählerin tief prägen.

Die ersten Schuljahre nach dem Krieg sind geprägt von den materiellen Entbehrungen der Rationierung und den sichtbaren Spuren der Zerstörung. Das Aufwachsen geschieht aus dem Wissen heraus, am Leben zu sein. Doch die Kindheit ist auch von einem Mangelbewusstsein durchdrungen, das sich in Fragen nach Schokolade oder Marmelade zu Weihnachten äußert. Die Schulzeit beginnt in einer noch von Trümmern gezeichneten Umgebung, die auf den Wiederaufbau wartet. Ernaux verknüpft die persönliche Entwicklung des Kindes unauflöslich mit der kollektiven Geschichte der Nachkriegszeit und dem Bestreben, Normalität in einer noch gezeichneten Welt zu finden.

Les enfants n’écoutaient pas et se dépêchaient de quitter la table dès qu’ils en avaient reçu la permission, profitant de la bienveillance générale des jours de fête pour se livrer aux jeux interdits, sauter sur les lits et faire de la balançoire la tête en bas. Mais ils retenaient tout.

Annie Ernaux, Les années.

Die Kinder hörten nicht zu und beeilten sich, vom Tisch aufzustehen, sobald sie die Erlaubnis dazu erhielten. Sie nutzten die allgemeine Nachsicht an Feiertagen, um verbotene Spiele zu spielen, auf den Betten herumzuspringen und kopfüber zu schaukeln. Aber sie behielten alles im Gedächtnis.

Diese Szene fängt die Dynamik von Familienfesten nach dem Krieg ein. Während die Erwachsenen am Tisch die „große Erzählung der kollektiven Ereignisse“ (Krieg, Besatzung, Hunger) wiederholen, scheinen die Kinder nicht zuzuhören. Sie nutzen die Gelegenheit, um verbotene Spiele zu spielen. Doch Ernaux betont: „Aber sie behielten alles im Gedächtnis“. Dies ist ein entscheidender Punkt in ihrem Werk: Die Geschichte wird nicht nur durch explizites Zuhören, sondern auch durch unbewusstes Aufnehmen, durch die Atmosphäre und die wiederholten Erzählungen der Erwachsenen in die Kinder „eingepflanzt“. Die Erfahrungen der vorherigen Generationen werden zu einem Teil der eigenen, „ungelebten“ Kindheit, die eine „beharrliche Nostalgie“ für eine nicht erlebte Zeit erzeugt.

Les voix transmettaient un héritage de pauvreté et de privation antérieur à la guerre et aux restrictions, plongeant dans une nuit immémoriale, « dans le temps », dont elles égrenaient les plaisirs et les peines, les usages et les savoirs : habiter une maison en terre battue, porter des galoches, jouer avec une poupée de chiffon, laver le linge à la cendre de bois, accrocher à la chemise des enfants près du nombril un petit sac de tissu avec des gousses d’ail pour chasser les vers.

Annie Ernaux, Les années.

Die Stimmen vermittelten ein Erbe der Armut und Entbehrung, das noch vor dem Krieg und den Einschränkungen bestand und bis in eine unendliche Nacht zurückreichte, „in die Zeit“, deren Freuden und Leiden, Bräuche und Wissen sie zum Ausdruck brachten: in einem Lehmhaus wohnen, Galoschen tragen, mit einer Stoffpuppe spielen, Wäsche mit Holzasche waschen, den Kindern in der Nähe des Bauchnabels einen kleinen Stoffbeutel mit Knoblauchzehen an die Hemden hängen, um Würmer zu vertreiben.

Hier wird die Kindheit als Teil eines „Erbes der Armut und Entbehrung“ dargestellt, das weit vor den Krieg zurückreicht. Die Erzählungen der Erwachsenen geben detaillierte Einblicke in die bescheidenen Lebensbedingungen: Häuser mit Lehmböden, Holzschuhe, Lumpenpuppen. Besonders anschaulich ist das Detail der Knoblauchbeutel, die Kindern gegen Würmer um den Nabel gebunden wurden, was die einfachen, oft archaischen Praktiken zur Gesundheitspflege unterstreicht. Diese „Sitten und Kenntnisse“ werden von Generation zu Generation weitergegeben und formen eine kollektive Identität, die von Bescheidenheit und Pragmatismus geprägt ist. Die Kindheit ist hier nicht nur eine individuelle Phase, sondern ein kulturell und sozial bestimmter Zustand, der das „Wir“ der Familie und der Gemeinschaft definiert.

Et l’on récitait les règles de grammaire du bon français. Sitôt rentrés à la maison, on retrouvait sans y penser la langue originelle, qui n’obligeait pas à réfléchir aux mots, seulement aux choses à dire ou à ne pas dire, celle qui tenait au corps, liée aux paires de claques, à l’odeur d’eau de Javel des blouses, des pommes cuites tout l’hiver, aux bruits de pisse dans le seau et aux ronflements des parents.

Annie Ernaux, Les années.

Und wir rezitierten die Grammatikregeln des guten Französisch. Sobald wir nach Hause kamen, fanden wir ohne nachzudenken zu unserer ursprünglichen Sprache zurück, die uns nicht zwang, über Worte nachzudenken, sondern nur darüber, was man sagen oder nicht sagen sollte, die Sprache, die uns in Fleisch und Blut übergegangen war, verbunden mit Ohrfeigen, dem Geruch von Bleichmittel in den Kitteln, den ganzen Winter über gekochten Äpfeln, dem Geräusch von Urin im Eimer und dem Schnarchen der Eltern.

Ernaux thematisiert wie erwähnt die Zweiteilung der sprachlichen und sozialen Realität der Kindheit. In der Schule lernten die Kinder das „gute Französisch“ und seine Regeln – eine Sprache der Bildung und sozialen Aufstiegs. Doch zu Hause kehrten sie unbewusst zur „ursprünglichen Sprache“ zurück. Diese „ursprüngliche Sprache“ ist nicht nur ein Dialekt oder umgangssprachliches Französisch, sondern eine Sprache, die „an den Körper gebunden“ ist, untrennbar verbunden mit sinnlichen Erfahrungen wie dem Geruch von Bleichmittel, dem Klang von Urin im Eimer oder den Geräuschen der schlafenden Eltern, aber auch mit physischer Züchtigung („Paires de claques“). Sie ist eine Sprache, die unmittelbar das Erlebte benennt, ohne Reflexion über die Worte selbst, und die die soziale Herkunft der Erzählerin tief prägt.

Dans la pauvreté de mémoire nécessaire à seize ans pour agir et exister, elle voit son enfance comme une espèce de film muet en couleurs, où surgissent et se mêlent des images de tanks et de décombres, de vieilles gens disparus, de compliment écrit et décoré pour la fête des mères, les albums de Bécassine, la retraite de communion et des jeux de balle au mur.

Annie Ernaux, Les années.

In der gedächtnisarmen Gegenwart, die man mit sechzehn braucht, um handeln und existieren zu können, sieht sie ihre Kindheit wie einen stummer Farbfilm: Bilder von Panzern und Trümmern tauchen auf und vermischen sich mit solchen von verstorbenen alten Leuten, einer verzierten Muttertagskarte, den Bécassine-Alben, der Erstkommunion und Ballspielen an der Mauer.

Mit 16 Jahren blickt die Erzählerin auf ihre Kindheit zurück, die ihr als ein „stummer Farbfilm“ erscheint. Diese Metapher vermittelt eine Distanz und Abstraktion von den frühen Jahren. Die Kindheitserinnerungen sind eine chaotische Mischung aus persönlichen (Muttertagskarte, Erstkommunion) und kollektiven (Panzer, Trümmer) Bildern, die nicht logisch geordnet, sondern eher als lose Sequenzen einer vergangenen Zeit wahrgenommen werden. Diese „Armut des Gedächtnisses“ in Bezug auf die Kindheit ist paradoxerweise notwendig, um im Hier und Jetzt zu agieren. Es ist eine Kindheit, die weniger eine kohärente Erzählung als vielmehr ein Sammelsurium von Eindrücken und „Markern“ ist, die später einer tieferen Reflexion unterzogen werden können.

Ein entscheidender Aspekt von Ernaux’ Poetik ist die Dekonstruktion von Scham und Tabus. Intime und oft schambesetzte Kindheitserinnerungen, die als „unaussprechlich, schändlich oder verrückt“ gelten, werden bewusst ans Licht gebracht. Episoden wie das beschmutzte Taschentuch oder frühe sexuelle Neugier enthüllen die Mechanismen sozialer Ausgrenzung und die Stigmatisierung, die das kindliche Erleben formen. Die schmerzhafte Enthüllung der früh verstorbenen älteren Schwester Ginette, deren einzig verbliebene Spuren ein verblasstes Foto und eine Grabinschrift sind, beleuchtet die oft unausgesprochenen Schicksale und die Präsenz der Abwesenden im familiären Gedächtnis als ein prägendes Trauma. Im Gegensatz dazu steht die Darstellung kindlicher Naivität, wie der Glaube an den Weihnachtsmann oder an Babys, die in Blumen gefunden werden – eine märchenhafte Welt, die im Erwachsenenalter der Ernüchterung weicht.

La photo en noir et blanc d’une petite fille en maillot de bain foncé, sur une plage de galets. En fond, des falaises. Elle est assise sur un rocher plat, ses jambes robustes étendues bien droites devant elle, les bras en appui sur le rocher, les yeux fermés, la tête légèrement penchée, souriant. Une épaisse natte brune ramenée par-devant, l’autre laissée dans le dos. Tout révèle le désir de poser comme les stars dans Cinémonde ou la publicité d’Ambre Solaire, d’échapper à son corps humiliant et sans importance de petite fille. Les cuisses, plus claires, ainsi que le haut des bras, dessinent la forme d’une robe et indiquent le caractère exceptionnel, pour cette enfant, d’un séjour ou d’une sortie à la mer. La plage est déserte. Au dos : août 1949, Sotteville-sur-Mer. Elle va avoir neuf ans. Elle est en vacances avec son père chez un oncle et une tante, des artisans qui fabriquent des cordes. Sa mère est restée à Yvetot, tenir le café-épicerie qui ne ferme jamais. C’est elle qui, habituellement, tresse ses cheveux en deux nattes serrées et les fixe en couronne autour de sa tête, avec des barrettes à ressort et des rubans. Soit ni son père ni sa tante ne savent attacher ses tresses ainsi, soit elle profite de l’absence de sa mère pour les laisser flotter. Difficile de dire à quoi elle pense ou rêve, comment elle regarde les années qui la séparent de la Libération, de quoi elle se souvient sans effort. Peut-être n’y a-t-il plus déjà d’autres images que celles-ci, qui résisteront à la déperdition de la mémoire : l’arrivée dans la ville de décombres et la chienne en chaleur qui s’enfuit le premier jour d’école à la rentrée de Pâques, elle ne connaît personne la grande excursion de toute la famille maternelle à Fécamp, dans un train aux banquettes de bois, avec la grand-mère en chapeau de paille de riz noire et les cousins qui se déshabillent sur les galets, leurs fesses nues le porte-aiguilles en forme de sabot fabriqué pour Noël dans un bout de chemise Pas si bête avec Bourvil des jeux secrets, se pincer les lobes d’oreille avec les anneaux à dents des rideaux.

Annie Ernaux, Les années.

Das Schwarz-Weiß-Foto eines kleinen Mädchens in einem dunklen Badeanzug an einem Kieselstrand. Im Hintergrund sind Klippen zu sehen. Sie sitzt auf einem flachen Felsen, ihre kräftigen Beine sind gerade vor ihr ausgestreckt, die Arme auf den Felsen gestützt, die Augen geschlossen, den Kopf leicht geneigt, lächelnd. Eine dicke braune Haarsträhne ist nach vorne gekämmt, die andere hängt ihr über den Rücken. Alles zeugt von dem Wunsch, wie die Stars in Cinémonde oder in der Werbung für Ambre Solaire zu posieren, ihrem demütigenden und unbedeutenden Mädchenkörper zu entkommen. Die helleren Oberschenkel und Oberarme zeichnen die Form eines Kleides und weisen darauf hin, dass ein Aufenthalt oder ein Ausflug ans Meer für dieses Kind etwas Außergewöhnliches ist. Der Strand ist menschenleer. Auf der Rückseite steht: August 1949, Sotteville-sur-Mer. Sie wird bald neun Jahre alt. Sie ist mit ihrem Vater bei einem Onkel und einer Tante, die Seiler sind, in den Ferien. Ihre Mutter ist in Yvetot geblieben, um den Café-Lebensmittelladen zu führen, der nie schließt. Normalerweise flechtet sie ihre Haare zu zwei engen Zöpfen und befestigt sie mit Haarnadeln und Bändern zu einer Krone um den Kopf. Entweder wissen weder ihr Vater noch ihre Tante, wie man ihre Zöpfe so befestigt, oder sie nutzt die Abwesenheit ihrer Mutter, um sie offen zu tragen. Schwer zu sagen, was sie denkt oder träumt, wie sie die Jahre betrachtet, die sie von der Befreiung trennen, woran sie sich mühelos erinnert. Vielleicht gibt es außer diesen Bildern keine anderen mehr, die dem Verlust der Erinnerung standhalten werden: die Ankunft in der Trümmerstadt und die läufige Hündin, die davonläuft der erste Schultag nach den Osterferien, sie kennt niemanden der große Ausflug mit der ganzen Familie mütterlicherseits nach Fécamp, in einem Zug mit Holzbänken, mit der Großmutter mit ihrem schwarzen Strohhut und den Cousins, die sich auf den Kieselsteinen ausziehen, ihre nackten Hintern Pas si bête mit Bourvil, geheime Spiele, sich mit den Zahnringen der Vorhänge in die Ohrläppchen kneifen.

Diese detaillierte Beschreibung des Mädchens auf dem Foto von 1949 betont ihre Ambition, nicht nur ein Kind zu sein, sondern eine Pose einzunehmen, die von den glamourösen Bildern der Filmstars inspiriert ist. Es ist der Wunsch, dem „demütigenden und unwichtigen Mädchenkörper“ zu entkommen und eine erwachsene, begehrenswerte Identität anzunehmen. Die Kindheit wird hier als eine Phase des Übergangs und der Selbstfindung dargestellt, in der äußere Ideale (Hollywood-Stars, Schönheitsideale der Werbung) bereits eine Rolle spielen und die Wahrnehmung des eigenen Körpers beeinflussen. Dies verdeutlicht Ernaux‘ wiederkehrendes Thema der sozialen Prägung und des Strebens nach einer anderen, „besseren“ Existenz, die jenseits der eigenen Herkunft liegt.

Die Adoleszenz markiert einen Übergang, in dem die Mädchen versuchen, ihrem „demütigenden und unwichtigen Körper eines kleinen Mädchens“ zu entfliehen und durch Posen, inspiriert von Filmstars und Werbeikonen, eine erwachsene Identität anzunehmen. Die soziale Realität der Kindheit wird auch durch die Zweiteilung der Sprache deutlich: das „gute Französisch“ der Schule, das für Bildung und Aufstieg steht, und die „ursprüngliche Sprache“ des Zuhauses, die „an den Körper gebunden“ ist und sinnliche sowie physische Erfahrungen widerspiegelt. Die Familienmahlzeiten der 1950er Jahre sind Schwellensituationen, in denen Jugendliche physisch anwesend sind, aber noch nicht vollständig in die Erwachsenenkonversation integriert, ihre allmähliche „Einführung in den Kreis der Erwachsenen“ durch Rituale wie den Konsum von Wein und Zigaretten markiert wird.

Der Übergang zur Mutterschaft ist ein weiterer radikaler Bruch. Die Leichtigkeit des Studentenlebens weicht einer neuen Ernsthaftigkeit, dem „Glück der Ordnung“, das sich im strukturierten Alltag manifestiert. Die Melancholie über das Aufgeben individueller Träume wird durch die Zufriedenheit kompensiert, zum Familienprojekt beizutragen. In der frühen Kindheit ihrer Söhne ist die Erzählerin in der „Freude der auf sie drei geschlossenen Zelle“ ihrer Familie verankelt, ein Raum des „Fühlens“ statt des Denkens. Später, nach ihrer Scheidung, dienen die Kinder als „Zeitanker“; obwohl sie wenig über die erwachsenen Söhne weiß, helfen diese ihr, sich „in der Zeit zu verorten“ und die eigene Kindheit als „so weit entfernt“ wahrzunehmen. Die Antizipation der Großmutterrolle und die Projektion der eigenen Kindheitsvorstellungen auf die noch ungeborenen Enkelkinder unterstreichen die zyklische Natur des Lebens und der Generationsabfolge.

Dans cette inquiétude sans fond que nous avions pour eux, renforcée par la croyance que nous étions plus forts à leur âge, nous les éprouvions fragiles dans un avenir informe.

Annie Ernaux, Les années.

In dieser grenzenlosen Sorge um sie, die durch den Glauben verstärkt wurde, dass wir in ihrem Alter stärker waren, empfanden wir sie als zerbrechlich in einer unbestimmten Zukunft.

Beim Abschied von erwachsenen Kindern nach einem Familienessen offenbart sich die tiefe, grundlose Sorge der Mutter um die nächste Generation. Trotz des eigenen Gefühls, in ihrer Jugend stärker gewesen zu sein, empfinden die Eltern ihre Kinder als „zerbrechlich in einer unbestimmten Zukunft“. Die Kindheit der eigenen Kinder mag abgeschlossen sein, doch die Sorge setzt sich fort in die unvorhersehbare Zukunft ihrer erwachsenen Nachkommen. Dies ist eine universelle elterliche Empfindung, die das Thema der Generationsabfolge aufgreift und das ständige Band der Fürsorge über die Lebensabschnitte hinweg betont.

Elle se représente ici, dans dix ou quinze ans, le caddie rempli de confiseries et de jouets pour des petits-enfants qui ne sont pas encore nés. Cette femme lui paraît aussi improbable qu’à la fille de vingt-cinq ans paraissait la femme de quarante qu’elle ne pouvait même pas imaginer être un jour et qu’elle n’est déjà plus.

Annie Ernaux, Les années.

Sie stellt sich hier in zehn oder fünfzehn Jahren vor, den Einkaufswagen voller Süßigkeiten und Spielsachen für Enkelkinder, die noch nicht geboren sind. Diese Frau erscheint ihr ebenso unwahrscheinlich wie der fünfundzwanzigjährigen Frau die vierzigjährige Frau, die sie sich damals nicht einmal vorstellen konnte und die sie heute schon nicht mehr ist.

Während die Erzählerin im Supermarkt an der Kasse steht, antizipiert sie ihre zukünftige Rolle als Großmutter, die einen Einkaufswagen voller Süßigkeiten und Spielzeug für noch ungeborene Enkelkinder schiebt. Diese Vorstellung ist für sie ebenso „unwahrscheinlich“ wie die Frau von vierzig Jahren für ihr 25-jähriges Ich unvorstellbar war. Die Passage thematisiert die Nicht-Identifikation mit dem zukünftigen Ich und die Flüchtigkeit der eigenen Altersstufen. Es zeigt, wie die Vorstellung der Kindheit, einst die eigene, nun auf eine zukünftige Generation projiziert wird, was die zyklische Wiederkehr von Leben, Wunsch und Vergänglichkeit im menschlichen Dasein unterstreicht. Das Bedürfnis, für die nächste Generation zu sorgen, wird spürbar, selbst wenn sie noch nicht existiert.

Annie Ernaux’ Poetik der Kindheit in Les années ist eine gründliche Erforschung der Art und Weise, wie individuelle Existenzen in die größeren Strömungen von Geschichte und Gesellschaft eingebettet sind. Durch die akribische Darstellung von materiellen Details, sprachlichen Nuancen und den unausgesprochenen Realitäten des Aufwachsens schafft Ernaux eine universelle Erfahrung, die über die bloße Erinnerung hinausgeht und die Komplexität des menschlichen Gedächtnisses in seiner Interaktion mit dem Kollektiven beleuchtet. Es ist eine Poetik, die das Unsichtbare sichtbar macht und die Kindheit als eine prägende Kraft begreift, deren Spuren bis ins hohe Alter wirken und die eigene Identität unablässig neu definieren.

Mémoire de fille

Je ne construis pas un personnage de fiction. Je déconstruis la fille que j’ai été. Un soupçon : est-ce que je n’ai pas voulu, obscurément, déplier ce moment de ma vie afin d’expérimenter les limites de l’écriture, pousser à bout le colletage avec le réel (je vais jusqu’à penser que mes livres précédents ne sont que des à-peu-près sous ce point de vue). Peut-être aussi mettre en jeu la figure d’écrivain qu’on me renvoie, la ravager, m’acharner à dénoncer une imposture, genre « je ne suis pas celle que vous croyez » faisant écho, pour le coup, au « je ne suis pucelle que vous croyez » ricané bientôt par les moniteurs sur mon passage.

Annie Ernaux, Mémoire de fille.

Ich konstruiere keine fiktive Figur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich war. Ein Verdacht: Wollte ich nicht, unbewusst, diesen Moment meines Lebens entfalten, um mit Grenzen des Schreibens zu experimentieren, die Auseinandersetzung mit dem Realen bis zum Äußersten zu treiben (ich gehe so weit zu denken, dass meine früheren Bücher aus dieser Sicht nur Annäherungen sind). Vielleicht auch, um die Figur der Schriftstellerin, die mir zugeschrieben wird, in Frage zu stellen, sie zu zerstören, mich darauf zu versteifen, eine Täuschung anzuprangern, im Sinne von „ich bin nicht die, die Sie in mir sehen“, was wiederum dem „ich bin keine Jungfrau, die Sie in mir sehen“ widerhallt, das bald von den Aufsehern bei meinem Vorbeigehen gegrölt wurde.

Man kann diesen Auszug als De-Konstruktion des Selbst im Schreiben der Kindheit lesen: Ernaux lehnt die Schaffung einer fiktiven Figur ab und entwirft stattdessen eine Versuchsanordnung für die Grenzen der Autobiografie und des Schreibens selbst. Es geht um die schonungslose Konfrontation mit der „realen“ Vergangenheit, auch wenn diese unangenehm und schambesetzt ist. Ernaux‘ Kindheitspoetik wird hier zu einer meta-literarischen Reflexion über die Rolle der Autoreninstanz, über Authentizität und die Fähigkeit der Sprache, die „unschuldige“ Darstellung des Selbst zu durchbrechen. Die Anspielung auf den Spott der Ferienbetreuer verbindet die persönliche Scham der Kindheit direkt mit dem Anspruch, als Schriftstellerin die Wahrheit zu enthüllen, selbst wenn diese Wahrheit die eigene „Figur“ zerstört. Mémoire de fille (2016) ist eine Auseinandersetzung mit dem Sommer 1958, der für Ernaux ihre „erste Nacht mit einem Mann“ und eine traumatische erste sexuelle Erfahrung in einer Ferienkolonie markiert. Das Buch untersucht die Wirkung dieses Ereignisses auf die junge Frau über zwei Jahre hinweg und die späteren Erinnerungen und Interpretationen dieses Moments. Die Kindheit oder vielmehr die „Mädchenzeit“ ist hier ein neuralgischer Punkt der Identitätsbildung, an dem Scham, Wunsch und soziale Erwartungen aufeinandertreffen.

In Mémoire de fille ist die Kindheit (genauer gesagt die Adoleszenz/Mädchenzeit) ein Brennpunkt der Erinnerung und der Selbstbefragung bezüglich der ersten sexuellen Erfahrungen und ihrer Auswirkungen. Diese Lebensphase schreiben, ist für Ernaux eine „Archäologie der Scham“ und eine De-Konstruktion eines jugendlichen Selbst. Sie kehrt zu einem spezifischen, traumatischen Sommer zurück, um jenes Mädchen, das sie war, und dessen Erfahrungen „unerklärt“ bleiben würden, wenn sie nicht darüber schreiben würde, neu zu erschließen. Die Schwierigkeit der Erinnerung und der sprachlichen Darstellung dieses Ereignisses ist ein zentrales Thema. Die Erzählerin lehnt eine einfache Erzählung ab, die die „Wirklichkeit pulverisieren“ würde, und strebt stattdessen eine schonungslose Freilegung der Ereignisse an, die die jugendliche Naivität und die sozialen Normen der Zeit beleuchten. Kindheit und Jugend ist hier ein Feld, in dem die Macht der Romantik und der Wunschvorstellungen auf die harte Realität der sexuellen Erfahrung treffen.

Je ne suis jamais allée au-delà de quelques pages, sauf une fois, une année où le calendrier correspondait jour pour jour à celui de 1958. Le samedi 16 août 2003, j’ai commencé d’écrire : « Samedi 16 août 1958. J’ai un jean racheté 5 000 francs à Marie-Claude qui l’avait eu chez Elda à Rouen pour 10 000, et un pull sans manches bleu et blanc à rayures horizontales. C’est la dernière fois que j’ai mon corps. » J’ai continué d’écrire tous les jours, rapidement, en tâchant de faire coïncider exactement la date du jour où j’écrivais avec celle du jour de 1958, dont je consignais en désordre tous les détails qui resurgissaient. C’était comme si cette écriture-anniversaire quotidienne, ininterrompue, était la plus à même d’abolir l’intervalle des quarante-cinq années, comme si, à cause de ce « jour pour jour » des dates, l’écriture me donnait un accès à cet été-là aussi simple et direct que de passer d’une pièce à l’autre.

Annie Ernaux, Mémoire de fille.

Ich bin nie über ein paar Seiten hinausgekommen, außer einmal, in einem Jahr, in dem der Kalender Tag für Tag mit dem von 1958 übereinstimmte. Am Samstag, dem 16. August 2003, begann ich zu schreiben: „Samstag, 16. August 1958. Ich habe eine Jeans für 5.000 Francs von Marie-Claude gekauft, die sie bei Elda in Rouen für 10.000 Francs gekauft hatte, und einen blau-weiß gestreiften Pullover ohne Ärmel. Das ist das letzte Mal, dass ich meinen Körper habe. Ich schrieb jeden Tag weiter, schnell, und versuchte, das Datum, an dem ich schrieb, genau mit dem Tag im Jahr 1958 übereinstimmen zu lassen, dessen Details ich in ungeordneter Reihenfolge festhielt, sobald sie mir wieder einfielen. Es war, als ob dieses tägliche, ununterbrochene Schreiben zum Jahrestag am besten geeignet war, die 45 Jahre zu überwinden, als ob mir das Schreiben aufgrund der exakten Übereinstimmung der Daten einen so einfachen und direkten Zugang zu diesem Sommer verschaffte, als würde ich von einem Zimmer in das andere gehen.

Ernaux‘ versucht, durch eine rigorose, datumsbasierte Schreibpraxis die zeitliche Distanz zum vergangenen Ereignis aufzuheben, weist auf ein Vorhaben, Kindheit, hier Adoleszenz, nicht nur zu erinnern, sondern durch die körperliche und zeitliche Übereinstimmung der Schreibhandlung fast physisch „wiederzuerleben“. Die Zeile „C’est la dernière fois que j’ai mon corps“ deutet auf eine prägende sexuelle Erfahrung hin, die das Körpergefühl des Mädchens unwiderruflich veränderte. Die Erzählform wirkt über eine hypnotischen Wiederholung und verfolgt die Suche nach einem direkten, unfiltrierten Zugang zur Vergangenheit, um die ursprüngliche Empfindung der Kindheit – hier der Scham und des Verlusts der Unschuld – festzuhalten, bevor sie durch spätere Interpretationen geglättet wird.

Ecriture blanche bei Annie Ernaux

Dans ce même effort de dégagement du langage littéraire, voici une autre solution : créer une écriture blanche, libérée de toute servitude à un ordre marqué du langage.

Roland Barthes, Le Degré zéro de l’écriture, Seuil, 1953.

Im gleichen Bemühen, sich vom literarischen Sprachstil zu lösen, ergibt sich eine andere Möglichkeit: eine weiße Schreibweise zu schaffen, die von jeglicher Knechtschaft gegenüber einer festgelegten Sprachordnung befreit ist.

Die Soziobiographie (Didier Eribon), oder „Auto-Sozio-Analyse“, wie sie im Fall von Annie Ernaux oft bezeichnet wird, befasst sich mit der Art und Weise, wie persönliche Lebenswege und Werke durch soziale und historische Kontexte geformt werden. Ihr Schreiben versucht, die vielfältigen Dimensionen der Realität zu erfassen, indem sie den Druck der Geschichte und die Macht der Erinnerung bei der Wiedergabe des kollektiven wie auch des intimen Lebens miteinander verbindet. Annie Ernaux‘ „écriture plate“ (flache Schreibweise) ist ein zentrales Element ihrer Poetik und eng mit ihrem feministischen und soziologischen Projekt verbunden. Sie beschreibt diesen Stil als eine bewusste Abkehr von traditionellen literarischen Formen und eine Methode, die Realität unverfälscht und präzise darzustellen. Sie lehnt die Vorstellung ab, dass weibliches Schreiben ästhetische Verzierungen oder eine „schöne Beschreibung“ benötige, die für sie als Ablenkung oder sogar als Verrat empfunden werden könnte. Dieser Stil zielt darauf ab, Fakten in ihrer „Brutalität“ darzustellen, ohne Interpretationen oder Moralvorstellungen hinzuzufügen. Ernaux‘ Absicht ist es, die „Wirklichkeit zu demaskieren“ und die „gewöhnliche Sprache“ zu integrieren, um eine „Objektivierung“ zu erreichen. Sie strebt eine „maximale Genauigkeit“ an.

Für Ernaux sollen Worte Werkzeuge sein, die zur Wahrheit führen, und nicht die Wahrheit selbst. Sie sieht ihr Schreiben als einen „Akt“, der „alle Ressourcen der Kunst in den Wunsch steckt, die Welt zu sagen und zu transformieren“. Sie lehnt es ab, eine Literatin zu sein, die eine reine Ästhetik pflegt, und betont die ethische und politische Dimension ihres Schreibens. Für Ernaux bedeutet ihre „écriture plate“ einen bewussten Bruch mit traditionellen literarischen Konventionen und Genres. 5 Sie lehnt „einfache Verzierungen“, „Verlockungen der Musikalität“ und „ausgefeilte Metaphern“ ab, da sie diese als Symbole einer bürgerlichen Literatur und als „Ästhetik der Anästhesie“ betrachtet. Ernaux will stattdessen eine „Sprache des Realen“ schaffen, die Alltagserfahrungen, soziale Unterschiede und Tabuthemen wie Abtreibung oder weibliche Sexualität zugänglich macht. Dieses Streben nach einer „objektiven“ oder „klinischen“ Darstellung wird als eine Art Ethnographie ihrer selbst beschrieben, die über das rein Autobiografische hinausgeht und ein „transpersonales Ich“ schafft, das die Erfahrungen einer kollektiven Geschichte widerspiegelt. Ernaux betrachtet das Schreiben als einen Weg, soziale Ungerechtigkeiten kritisierbar zu machen und Tabus zu brechen, insbesondere die „sozial verdrängten“ Aspekte der Gesellschaft. Sie sieht ihre Aufgabe darin, Realitäten darzustellen, die von Politikern „ignoriert oder verachtet“ werden, wie beispielsweise der Supermarkt als soziologische Realität, und so soziale Ungerechtigkeiten und Demütigungen sichtbar zu machen und ihnen entgegenzuwirken. Ihr Schreiben zielt darauf ab, „die Armen stolz zu machen“ und „die Werte der sozialen Gerechtigkeit“ zu verteidigen, indem sie die sozialen Mechanismen der Dominanz aufdeckt und objektiviert, was sie als einen Akt der Befreiung versteht, ähnlich wie die Wirkung von Beauvoirs Das andere Geschlecht oder Bourdieus Soziologie auf sie selbst.

Durch diesen Ansatz versucht Ernaux, „die vorherrschenden Weltanschauungen zu untergraben“ und eine „nicht-geschlechterbezogene Schrift“ zu schaffen, die die Übertragung von Klassenzugehörigkeit auf eine formale Ebene verlagert. Die Forschung hat hervorgehoben, dass Ernaux‘ „écriture plate“ trotz ihres scheinbar einfachen und „kunstlosen“ Charakters ein komplexes und raffiniertes stilistisches Werk ist. Sie nutzt die scheinbare Einfachheit, um eine starke emotionale Resonanz zu erzeugen, indem sie das, was ausgelassen wird, als „Mangel“ präsent bleiben lässt. Damit zielt Ernaux darauf ab, das „Unsagbare“ zu erforschen und die Barrieren zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Bereichen niederzureißen. Ihr literarisches Projekt setzt sich zum Ziel, „die Idee der Literatur zu ruinieren“, indem sie sie von ihrer Ästhetisierung befreit und sie stattdessen als eine Form des Eingreifens in die Welt und der Bewusstseinsbildung zu begreifen.

Die Zerrissenheit der bürgerlichen Ideologie um 1850 führte dazu, dass der Schriftsteller zwischen seiner sozialen Bedingung und seiner intellektuellen Berufung hin- und hergerissen war, was laut Roland Barthes (Le degré zéro de la littérature) eine „Tragik der Literatur“ erzeugt. Die „écriture blanche“ und die Vervielfältigung der Schreibweisen sind Versuche, auf diese Krise zu reagieren, sei es durch Annahme oder Ablehnung der bürgerlichen Verortung. Sie ist der Ausdruck der „Sackgasse der modernen Geschichte“ und der damit verbundenen Zerrissenheit der Sprachen und Klassen. Gleichzeitig birgt sie den „Traum“ von einer nicht-entfremdeten Sprache, eine „Utopie der Sprache“, in der die Sprache des Schriftstellers und die der Menschen versöhnt werden könnten.

Roland Barthes‘ weiße Schreibweise („écriture blanche“) oder auch „Nullpunkt der Schreibweise“ bietet Schriftstellern einen historischen Ausweg, um die im 19. Jahrhundert entstandene „Tragik der Literatur“ zu überwinden. Diese Form des Schreibens stellt eine Reaktion auf die Entwicklungen dar, die dazu führten, dass die Literatur nicht mehr als transparentes Medium, sondern als komplexes, oft kompromittiertes „Form-Objekt“ wahrgenommen wurde. Obwohl die „écriture blanche“ eine Lösung für die Verpflichtungen und Kompromisse der Sprache anbietet, birgt sie mit Barthes auch eine eigene Problematik: Die anfängliche Freiheit kann sich in neue Automatiken verwandeln, und die Gesellschaft kann das Schreiben erneut zu einer „Manier“ machen, wodurch der Schriftsteller wieder zum Gefangenen seiner eigenen formalen Mythen wird. Dennoch bleibt die „écriture blanche“ ein bedeutender Versuch, eine neue Form literarischen Schreibens zu finden, die sich der historischen und gesellschaftlichen Entfremdung entgegenstellt.

Im literaturgeschichtlichen Kontext ist die „écriture blanche“ zu verstehen als Rückkehr zur Instrumentalität des klassischen Schreibens, jedoch ohne ideologischen Triumph. Nach einer Zeit, in der das Schreiben immer mehr zu einem „Objekt“ wurde, das der Schriftsteller entweder annehmen oder ablehnen musste, strebt die „écriture blanche“ eine Rückkehr zur ursprünglichen Instrumentalität der klassischen Kunst an. Denn im 17. und 18. Jahrhundert war die Sprache transparent und diente als Kommunikationsmittel einer ideologisch geeinten Bourgeoisie. Doch während die klassische Instrumentalität der Sprache einer triumphierenden bürgerlichen Ideologie diente, ist die „écriture blanche“ der Versuch, diese Einfachheit ohne eine solche heroische oder triumphierende Ideologie wiederherzustellen. So wird diese Schreibweise als ein „Stil der Abwesenheit“ oder eine „ideale Abwesenheit des Stils“ beschrieben. Sie versucht, sich von Pathos und Urteilen fernzuhalten, indem sie die sozialen oder mythischen Merkmale der Sprache zugunsten eines neutralen und regungslosen Zustands der Form aufhebt. Damit soll die Literatur überwunden und eine „grundlegende Sprache“ gefunden werden, die weder den lebendigen Sprachen noch der literarischen Sprache im eigentlichen Sinne angehört.

Da Eleganz und Ornamentierung das „Wiederauftauchen der Zeit“, also eine „ableitende, geschichtsträchtige Macht“ in die Schreibweise einführen würden, verzichtet eine neutrale écriture wie bei Ernaux bewusst darauf. Dies ermöglicht es Schriftstellern, die Literatur als einen „reinen Akt“, als „reine Gleichung“ zu präsentieren, in der die „menschliche Problematik ungeschminkt offenbart“ wird und der Schriftsteller zu einem „anständigen Mann“ wird. Sie ist ein Versuch, die allmächtigen Zeichen, die dem Schriftsteller eine Literatur als Ritual und Bürde auferlegen, zu bekämpfen, anstatt eine Versöhnung darzustellen.

Ernaux‘ flache Schreibweise („écriture plate“), mit der sie den eigenen Stil ab La Place bezeichnet, wird von der Kritik direkt auf Roland Barthes‘ Konzept der „écriture blanche“ bezogen. Ihr Schreiben ist geprägt von dem Wunsch, „Werke“ nur indirekt oder paradox zu schaffen und „nicht zuerst die Kunst zu bevorzugen“. Dies bedeutet, einen Stil zu verfolgen, der „klar, einfach, ohne Schnörkel oder Ornamente, fast an der Grenze zur Trockenheit“ ist. Roland Barthes beschreibt die „écriture neutre“, die er auch als „degré zéro de l’écriture“ (Nullpunkt der Schreibweise) bezeichnet, als eine formale Realität, die von Sprache und Stil unabhängig ist. Für Barthes ist dies eine Schrift, die „ohne jegliches Zeichen“ auskommt und einen „Schriftsteller ohne Literatur“ darstellt, der eine „Unschuld“ oder „Abwesenheit des Stils“ anstrebt. Diese „neutrale Schrift“ sei eine „indikative oder amodale“ Schrift, die sich zwischen Ausrufen und Urteilen platziert, ohne sich an einem von beiden zu beteiligen. Sie versucht, die Literatur zu überwinden, indem sie sich einer Basissprache anvertraut, die sowohl von lebendigen Sprachen als auch von der eigentlichen Literatursprache entfernt ist.

Barthes nennt Sartre ausdrücklich als einen der modernen Schriftsteller, die „bestimmte Wege der Integration, des Zerfalls oder der Naturalisierung der literarischen Sprache“ aufgezeigt haben. Er analysiert Sartres Erzählweise, insbesondere in Le Sursis, wo Sartre versucht, die romanhafte Dauer zu durchbrechen und die Allgegenwart der Realität auszudrücken, indem er seine Erzählung verdoppelt. Barthes argumentiert jedoch, dass die erzählte Schrift (écriture narrée) darüber eine einzigartige und homogene Zeit des Erzählers wiederherstellt, die die Enthüllung der Geschichte mit einer „parasitären Einheit“ überfrachtet und dem Roman die Ambiguität eines möglicherweise falschen Zeugnisses verleiht.

Auf dem Rückumschlag seines Buches Le degré zéro de l’écriture fasst Barthes zusammen, dass die literarische Schreibweise „sowohl die Entfremdung der Geschichte als auch den Traum der Geschichte“ trägt. Barthes kritisiert, dass im gegenwärtigen Zustand der Geschichte „jede politische Schrift nur ein Polizeiwesen bestätigen kann“ und „jede intellektuelle Schrift nur eine Paraliteratur stiften kann, die ihren Namen nicht mehr zu nennen wagt“, was zu einer „totale[n] Sackgasse“ führe, die auf Komplizenschaft oder Ohnmacht hinauslaufe. Notwendig bezeuge écriture die Zerrissenheit der Sprachen, die untrennbar mit der Zerrissenheit der Klassen verbunden sei. Als Freiheit sei sie das Bewusstsein dieser Zerrissenheit und der Versuch, sie zu überwinden. Roland Barthes schreibt, dass das „Engagement“ nur dann vollständig sein kann, wenn die poetische Freiheit des Schriftstellers sich innerhalb der sozialen Grenzen der Sprache bewegt und nicht nur innerhalb von Konventionen oder einem Publikum. Andernfalls bliebe das Engagement „nominell“ und könnte nur das Gewissen retten, aber keine Handlung begründen. Er verwendet Jean Paul Sartres Begriff „littérature engagée“ nicht durchgängig, aber er behandelt das Konzept des „Engagements“ der Form ausführlich. Er argumentiert, dass nach etwa 1850, als die bürgerliche Ideologie zu zerfallen begann und die Literatur nicht mehr als Spiegel des Universellen dienen konnte, der Schriftsteller gezwungen war, das „Engagement seiner Form“ zu wählen. Für Barthes ist das Schreiben (l’écriture) im Wesentlichen eine „Moral der Form“ und die „Wahl des sozialen Bereichs, innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Sprache zu situieren entscheidet“. Diese Wahl ist eine „Gewissensentscheidung, nicht der Effizienz“.

Annie Ernaux zitiert Barthes‘ Definition des Schreibens als „die Wahl des sozialen Bereichs, innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Sprache zu situieren entscheidet“ 6 Sie betont, dass ihr eigenes Schreibprojekt zutiefst politisch und engagiert sei. Sie möchte „Literatur verändern, um die Welt zu verändern“, eine Zielsetzung, die sie mit dem Surrealismus verbinde, der Marx und Rimbaud miteinander versöhnen wollte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Barthes den Begriff „Engagement der Form“ prägt, der für Ernaux‘ Schreibprojekt, das die sozialen und politischen Implikationen der literarischen Sprache betont, von großer Bedeutung ist. Ernauxs „écriture plate“ ist eine direkte Umsetzung dieser Idee, indem sie eine Form wählt, die das Soziale ohne ästhetische Verklärung zum Ausdruck bringt. Annie Ernaux entwickelt in ihrem Text „Littérature et politique“ (1989) eine dezidiert politische Sicht auf Literatur, die sich kritisch gegen eine in den 1980er Jahren dominierende Haltung richtet. Ihrer Beobachtung nach ist in jener Zeit – und weiterhin – die Auffassung weit verbreitet, dass Literatur sich von der Politik fernhalten müsse, um als „wahre Literatur“ zu gelten. Demnach solle sie sich ausschließlich auf das Imaginäre des Autors konzentrieren, das von politischen oder sozialen Inhalten völlig entleert sei. Die einst zentrale Frage nach der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers sei damit nicht nur verstummt, sondern geradezu undenkbar geworden. Exemplarisch führt Ernaux Claude Simons Roman L’Invitation an, der auf eine Reise in die Sowjetunion zurückgeht. Obwohl das Werk eindeutig politische Realität streift – es geht um die Sowjetunion und um Gorbatschow –, sei die Darstellung derart allusiv und ästhetisch überhöht, dass kaum ein politischer Gehalt daraus abzuleiten sei. Diese Form der künstlerischen „Neutralisierung“ politischer Realität werde von der Literaturkritik affirmativ aufgenommen und als Stilmerkmal gefeiert. Die politische Dimension werde von beiden Seiten – vom Autor wie von der Rezeption – gleichermaßen negiert. Ernaux widerspricht der damit implizierten Vorstellung, Literatur sei entweder reine Ästhetik oder ideologisches Werkzeug. 7 Ihrer Meinung nach ist diese Dichotomie – also das Entweder-Oder zwischen autonomer Kunst und parteigebundener Literatur – konzeptionell falsch, auch wenn sie historisch erklärbar ist. Denn Schreiben ist für sie immer eine Form der gesellschaftlichen Positionierung. Literatur transportiere – bewusst oder unbewusst – immer eine Haltung zur sozialen Ordnung, entweder in Zustimmung oder in Ablehnung. In diesem Sinne zitiert sie Roland Barthes. Die politische Dimension von Literatur ist für Ernaux nicht nur theoretisch, sondern auch biografisch grundiert. Literatur war für sie eine Form der Befreiung – nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich. Ernaux spricht von einer „langsamen und stillen Revolution“, die in den Leserinnen und Lesern beginnt: durch Sensibilisierung, durch Verschiebung von Wahrnehmungen, durch das Benennbarwerden von bisher Ungesagtem. Literatur kann auf diese Weise langfristig das Imaginäre durchdringen, das gesellschaftliche Vorstellungsvermögen verändern. Sie ist eine Kraft der inneren Transformation – zunächst unsichtbar, aber potenziell weitreichend. Ihre eigene Poetik versteht sie als ethisch fundiertes Schreiben, das auf die Wirklichkeit antwortet und diese durch Sprache, Sensibilität und Imagination mit verändert.

Ernaux entwickelt die Idee einer „leeren Autobiografie“, die die Kindheit durch äußere, materielle Beweise wie Fotos, Lieder, Sprüche und Gegenstände darstellt, anstatt durch innere Reflexionen. Die Sprache in Ernaux‘ Werken ist oft „verdichtet“ und „reduziert“, um eine „Konzentration“ zu erreichen. Ihr Ziel ist es, „eine Wahrheit zu enthüllen, die nicht vor dem Akt des Schreibens existiert“. Sie sieht ihre Rolle als Schriftstellerin darin, „nicht nur einen Zustand der Dinge darzustellen“, sondern „einen noch unerforschten Aspekt der Realität ans Licht zu bringen“. Die „écriture plate“ ist somit kein Mangel an Kunstfertigkeit, sondern ein bewusster stilistischer und ethischer Entscheid, der die Subversion etablierter literarischer und sozialer Hierarchien zum Ziel hat.

Annie Ernaux lehnt den Begriff „Engagement“ im „traditionellen Sinne der Nachkriegszeit“ ab. Für sie bedeutet Engagement, „mich selbst, mein Leben, total“ in ein Buch einzubringen. Ihr Schreiben ist zutiefst politisch und engagiert, sie möchte „Literatur verändern, um die Welt zu verändern“. Diese Ambition verbindet sie mit dem Surrealismus, der Marx und Rimbaud miteinander versöhnen wollte. Ernaux‘ Beziehung zum engagierten Schreiben, insbesondere zur „littérature engagée“ im Sinne von Jean-Paul Sartre, ist nuanciert und hat sich im Laufe ihres Schreibprojekts entwickelt. Sie ist von Sartres Ideen beeinflusst, definiert aber gleichzeitig eine eigene Form des Engagements.

Annie Ernauxs „linke“ Haltung wird explizit mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in Verbindung gebracht und durch Pierre Bourdieu gefestigt. Ihre Werke zeigen eine Sensibilität für Sartres Konzept der Intersubjektivität, auch wenn sie darüber hinausgeht. Das Konzept der „Enthüllungsfunktion“ („fonction de dévoilement“), die Sartre der Darstellung zuschrieb, findet sich in Ernaux‘ literarischer Herangehensweise wieder. Tatsächlich bleibt Ernaux „dem sartreschen Modell des engagierten Schriftstellers sensibel“ verbunden. In den Années wird ihre Figur als eine Linke („être de gauche“) beschrieben, die aus der Schule von Sartre und Beauvoir kommt. Sie zitiert auch Sartres Ausspruch: „quelque part, avec Malraux, je fais époque“ („irgendwo, mit Malraux, präge ich eine Epoche“), was ihre eigene Bedeutung im historischen Kontext unterstreicht.

Ernaux argumentiert, dass ihre Werke dazu beitragen, „die Möglichkeiten des Engagements eines Autors neu zu definieren“. Ihre eigene Form ist eine „Stellungnahme“ („prise de position“), die über die „veralteten Haltungen des engagierten Schriftstellers“ hinausgeht, der einst „eine Autorität per se in den Angelegenheiten der Stadt“ beanspruchte. Stattdessen vertritt sie eine „andere Art des Schreibens“, die die Grenzen der traditionellen Literatur sprenge. Ernaux sieht das Schreiben als ein „Mittel der Erkenntnis“ und eine „Mission“, um Wahrheit zum Vorschein zu bringen, insbesondere soziale und gelebte Wahrheit. Sie möchte die „Ressourcen der Kunst für den Wunsch einsetzen, die Welt zu sagen und zu transformieren“.

Ein zentrales Anliegen Ernauxs ist es, soziale und literarische Hierarchien aufzubrechen. Sie integriert „als unwürdig erachtete ‚Objekte‘ der Literatur“ wie Supermärkte oder den RER in ihre Texte, um die dominierenden Repräsentationen in Frage zu stellen. Ihre „écriture plate“ ist ein Mittel, um „etwas Hartes, Schweres, ja Gewaltsames“ in die Literatur zu bringen, das mit den Lebensbedingungen der Arbeiter- und Bauernwelt verbunden ist. Ernaux‘ Texte stehen in einem ständigen Dialog mit der Welt und sind in der Lage, „als Gegenmacht zu wirken“ und Mentalitäten zu verändern. Ihr Schreiben fördert die Identifikation und bricht die Einsamkeit, indem es eine „Gemeinschaft von Lesern“ bildet, die ihre Erfahrungen teilen. Sie strebt eine „Demokratisierung“ der Literatur an, indem sie „im Herzen der gewöhnlichen Sprache“ schreibt und eine „zugängliche, teilbare, bescheidene und befreiende“ Literatur schafft. So lässt sich folgern, dass Annie Ernaux eine Form des Engagements pflegt, die über Sartres philosophisch-intellektuelles Engagement hinausgeht, indem sie die persönliche Erfahrung und die soziale Realität, insbesondere die der Frauen und der Arbeiterschicht, in den Mittelpunkt stellt. Ihre „écriture plate“ ist die gewählte Form, um diese Realität ohne ästhetische Verklärung sichtbar zu machen und so eine „Wahrheit“ zu schaffen, die nicht nur für eine Elite, sondern für alle zugänglich ist.

Poetiken weiblicher Kindheit

Durch das „flache Schreiben“ kann Ernaux schließlich auch schonungslos und explizit spezifisch weibliche Erfahrungen und Traumata darstellen, wie zum Beispiel die Abtreibung oder die Scham im Zusammenhang mit Körperlichkeit und Herkunft. Sie verleiht diesen oft tabuisierten Themen eine literarische Existenz, die über das rein Persönliche hinausgeht. Ihr Stil ermöglicht es, die Gewalt, die sozialen Hierarchien und die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten unkommentiert darzustellen, wodurch deren Auswirkungen umso stärker hervortreten. Durch die Entpersonalisierung des „Ichs“ (häufiger Gebrauch von „on“ und „nous“ anstelle von „je“ oder „elle“) ermöglicht die „écriture plate“ eine Verbindung ihrer individuellen Geschichte mit einer kollektiven, generationenübergreifenden weiblichen Erfahrung. Sie schafft eine „Kette unsichtbarer Frauen“ und betont die Bedeutung von Schwesternschaft. Ihre Fähigkeit, durch ihr Schreiben die „Einsamkeiten zu brechen“ und ein „kollektives Bewusstsein“ zu schaffen, wird hervorgehoben. Ernaux weigert sich, als „schreibende Frau“ klassifiziert zu werden, was eine männliche Vorherrschaft in der Literatur implizieren würde. Ihre Schreibweise, die sich von abstraktem oder „totalitärem“ Schreiben abwendet, das sie als typisch männlich ansieht, ist ein Ausdruck ihres Widerstands gegen diese Normen. So ist die „écriture plate“ für Annie Ernaux weit mehr als nur ein Stilmittel; sie ist eine politische und ethische Entscheidung, die es ihr ermöglicht, persönliche Erfahrungen mit sozialen und geschlechtsspezifischen Kämpfen zu verknüpfen und die Stimmen der Dominierten und Marginalisierten in die Literatur einzubringen.

Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist mit ihrem feministischen Projekt verbunden, da sie ihre persönlichen Erfahrungen, die stark von ihrer Herkunft und Kindheit geprägt sind, nutzt, um gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Dominationsmechanismen offenzulegen und zu bekämpfen. Ernaux lehnt es ab, als „Frau, die schreibt“ bezeichnet zu werden, da dies die männliche Vorherrschaft in der Literatur zementiere. Sie will als „jemand, der schreibt“ wahrgenommen werden, auch wenn sie eine „Geschichte als Frau“ hat, die sich von der eines Mannes unterscheidet, insbesondere im Hinblick auf die Reproduktion. Ihr Kampf, als Schriftstellerin ernst genommen zu werden, wird durch sexistische Kritik unterstrichen, die ihr Werk herabwürdigt. Sie verwirft die Idee einer „spezifischen Literatur der Frauen“ und vermeidet „schöne Effekte“ oder einen „akademischen“ Stil. Stattdessen entwickelt sie eine „écriture plate“ (flaches Schreiben), das sich auf Fakten konzentriert, um die Gewalt und die sozialen Hierarchien in der Gesellschaft unkommentiert darzustellen, auch wenn die Gewalt dadurch umso stärker wirkt. Dieser Stil, der sich von den „verführerischen Fallen der literarischen Schönheit“ befreit, wird als „Kampf“ gegen eine „Literatur im Dienste der Dominanten“ verstanden. Ihr Ziel ist es, „die Idee der Literatur zu zerstören“ und sie zu einem Werkzeug der Erkenntnis und des sozialen Wandels zu machen. Indem sie die gewöhnliche Sprache und die Basismaterie des Körpers integriert, demokratisiert sie die Literatur.

Ernaux‘ Werk analysiert die „psychologischen Aspekte des Sozialen“ in der Kindheit, oft geprägt von der Schwäche des Vaters und der Stärke der Mutter, wobei sie eine Idealisierung des Arbeitermilieus oder der Mutter ablehnt. Ein zentraler Aspekt ihres feministischen Projekts ist die detaillierte Darstellung spezifisch weiblicher Erfahrungen und Traumata, die oft in der Kindheit oder Jugend ihren Ursprung haben:

Ernaux zerlegt die zugeschriebenen Geschlechterrollen, die sie in ihrer Kindheit erlebte und die die Identität von Mädchen und Frauen formen. Sie zeigt, wie Frauen überwacht werden und wie ihre Emanzipation oft auf äußere Zeichen (Kleidung, sexuelle Kühnheit) reduziert wird, während ihre Kämpfe in Vergessenheit geraten. Die Erfahrung der illegalen Abtreibung in ihrer Jugend ist ein wiederkehrendes und entscheidendes Motiv in ihrem Werk (Les armoires vides, L’événement). Sie beschreibt diesen Akt nicht nur als individuelles Trauma, sondern als ein Erlebnis, das den Zustand der Gesellschaft in den 1960er Jahren offenbart. Sie wandelt sich durch das Schreiben über die Abtreibung vom „Objekt“ (Opfer ihrer Schwangerschaft und gesellschaftlicher Verachtung) zum „handelnden Subjekt“ und sieht darin den „Katalysator ihrer Schriftstellerinnenkarriere“.

Ernaux bricht Tabus, indem sie weibliches Begehren und Sexualität schonungslos und explizit darstellt. Sie lehnt es ab, dass weibliches Schreiben durch Zensur oder Konventionen eingeschränkt wird, und zeigt, wie Frauen die Initiative ergreifen und ihre sexuelle Identität jenseits gesellschaftlicher Normen behaupten. Dies dient auch dazu, die „Dignität des Schreibens“ für anonyme Leben und „die Demütigung des Mädchens, das sie einst war“, zu enthüllen. Das Motiv der 1938 vor ihrer Geburt an Diphtherie verstorbenen Schwester Ginette, der „anderen Tochter“, ist ein Schlüssel zu Ernaux‘ Identität und zur Entstehung ihres Schreibprojekts. Sie schreibt, um der Schwester eine „textuelle Existenz“ zu verleihen und ihre eigene durch diese Beziehung geprägte Identität zu erforschen. Die Zeile „Du bist gestorben, damit ich schreibe“ verbindet ihren künstlerischen Akt mit einem zutiefst weiblichen „Geburtsakt“, der die verstorbene Schwester ins Leben zurückholt.

Ernaux‘ Gebrauch eines „transpersonalen Ichs“ oder der Pronomen „on“ und „nous“ (man, wir) ermöglicht es ihr, ihre individuelle Geschichte mit einer kollektiven, generationenübergreifenden weiblichen Erfahrung zu verbinden. Ihre Erzählung der Kindheit wird zum Spiegel einer kollektiven Erinnerung, insbesondere der „Scham des Mädchens“ und der Demütigung, die viele Frauen erfahren haben. Sie schafft eine „Kette unsichtbarer Frauen“, die Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Romanheldinnen und Frauen aus ihrer Kindheit umfasst, und betont die Bedeutung der Schwesternschaft. Indem sie die „intime“ Erfahrung als „kollektiv“ zugänglich macht, schafft sie eine „Gemeinschaft des Lesens und Schreibens“, die Grenzen überschreitet und „Einsamkeiten brechen“ kann. Letztlich ist Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit zugleich ein feministisches Projekt, das die individuelle weibliche Erfahrung in den Mittelpunkt stellt, um soziale, geschlechtsspezifische und kulturelle Hierarchien zu hinterfragen und zu untergraben

Der Tod des Vaters

Annie Ernaux beschreibt im Gespräch einen fundamentalen Wandel ihres Schreibens, den sie mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters in Verbindung bringt. Dieser Einschnitt wirkt auf sie wie ein „séisme“, ein Erdbeben, das nicht nur ihr persönliches Verhältnis zum Vater erschüttert, sondern auch ihre Haltung zur Literatur grundlegend verändert. Ihre bisherigen Schreibweisen erscheinen ihr nicht mehr angemessen – sie führen, wie sie erkennt, ungewollt zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheit. Der Wandel lässt sich in mehreren Dimensionen interpretieren, a) von der persönlichen Betroffenheit zur politischen Erkenntnis, b) zur Kritik an der eigenen Perspektive und Sprachmacht, c) mit beiderseitiger Ablehnung von Miserabilismus und Populismus, schließlich d) auf der Suche nach einer angemessenen Schreibweise und Form, damit das Ich hinter die Realität der Welt des Vaters und seiner konstatierenden Rekonstruktion zurücktreten kann:

Ernaux erkennt durch den Tod ihres Vaters schlagartig (a) die Kluft, die sich durch ihren sozialen Aufstieg zwischen sie und ihren Herkunftsmilieu geschoben hat. Sie beschreibt diese Distanz als „acculturation“, einen kulturellen Bruch, der sie in ihrer akademischen Bildung zur Fremden im eigenen familiären Kontext gemacht hat. Das Schreiben, das früher ein individuelles, affektgeladenes Ausagieren war, wird für sie nun zu einem Akt des politischen Bewusstseins. Die Erfahrung des unwiderruflichen Verlusts zwingt sie dazu, ihre Rolle als schreibendes Subjekt neu zu reflektieren. – Ernaux erkennt (b), dass ihre gewählte Sprache und Erzählhaltung – insbesondere die wütend-ironische Tonlage in Les armoires vides – eine Machtausübung darstellt: Sie schreibt über Menschen, die sozial „unter“ ihr stehen, mit den Mitteln der bürgerlichen Bildung, für ein bürgerliches Lesepublikum. Das erzeugt ein Gefälle, das ihr zunehmend als problematisch erscheint. Wenn sie weiterhin auf diese Weise über ihren Vater schreiben würde, würde sie ihn ungewollt herabsetzen und zur Figur machen – zu einem Objekt der Betrachtung, dem sie durch ihre Bildung überlegen ist. – Ernaux analysiert (c) zwei gegensätzliche, aber gleichermaßen verfälschende Erzählhaltungen, die sie vermeiden will: Miserabilismus als Überbetonung des Elends, was zu einer negativen Stereotypisierung führen würde, aber ebenso den Populismus als idealisierende Verklärung des Arbeiterlebens. Beide Sichtweisen hält sie für politisch und ästhetisch unredlich, weil sie nicht der realen Ambivalenz dieses Lebens gerecht werden – der gleichzeitigen Erfahrung von Begrenzung und Würde. – Als Ausweg entscheidet sich Ernaux (d) für eine „écriture plate“, eine bewusst nüchterne, zurückhaltende, fast emotionslose Sprache, wie sie sie in La place praktiziert. Diese Schreibweise verzichtet auf explizite Wertungen und persönliche Affekte. Sie will so schreiben, dass sich die Realität selbst zeigt, ohne vom Ich des Erzählens überlagert zu werden. Diese Form versteht sie ebenfalls als politisch, aber nicht kämpferisch oder anklagend, sondern enthüllend. Ihre „écriture de constat“ soll ein Schreiben ohne Herrschaft sein – ein Versuch, den Vater nicht von oben herab darzustellen, sondern seine Welt mit respektvoller Genauigkeit zu rekonstruieren.

Un événement violent, le décès de mon père, a, je dirais, transformé mon désir d’écrire. J’étais arrivée à Yvetot la veille, avec mon petit garçon, pour passer une semaine avec mes parents, quand mon père a été frappé d’un infarctus. Il est mort en trois jours. Encore aujourd’hui, je vois ce moment comme un séisme, un retournement. Avec des pensées d’une extrême violence. Je voyais tout ce qui m’avait séparée de mon père et c’était irrémédiable. Je voyais cette acculturation, particulièrement réussie dans mon cas puisque mon grand-père paternel ne savait pas lire, que mon père avait été garçon de ferme, ouvrier, cafetier, et que je venais d’être admise prof de lettres. Je plongeais dans le gouffre de la séparation définitive d’avec mon père. Sans possibilité de me racheter. Après, il n’a plus été question d’écrire comme j’avais écrit quelques années auparavant, mais d’écrire sur quelque chose qui, justement, n’avait pas encore de nom pour moi. Beaucoup plus tard, la sociologie m’apprendra que ma situation est celle des « transfuges de classe ». Je ne sais même pas si ce nom-là existait à la fin des années 1960. […] Ce qui me tenait fortement, c’était l’enjeu politique de mon entreprise. Remonter le monde du café-épicerie de mon enfance, c’était en même temps décrire la culture de ce milieu populaire, montrer qu’elle n’était pas, lorsqu’on était façonné par elle, ce qu’un regard cultivé juge avec mépris ou condescendance. Et ce qui m’importait, c’était de dévoiler les mécanismes par lesquels on transforme un individu en quelqu’un d’autre, en ennemi de son propre milieu. C’était une mise en question de la culture, ce qu’une forme de culture fait à l’individu, cette séparation-là. Et finalement la violence de l’écriture était ce qui correspondait le mieux pour dire ces choses. Dans les deux livres suivants, Ce qu’ils disent ou rien et La femme gelée, j’aurai encore cette écriture à la violence, en somme, exhibée. Aussitôt après la publication des Armoires vides, j’avais commencé d’écrire sur mon père, dans cette même tonalité. J’ai senti que ça n’allait pas. Mais je ne voyais pas pourquoi. Il m’a fallu, j’en ai le souvenir, un travail d’analyse d’ordre sociopolitique : moi, la fille d’un père ouvrier, devenue prof de lettres, j’allais écrire sur lui et offrir à des lecteurs — qui appartiennent la plupart du temps, au minimum, à la classe moyenne — le récit d’une existence et la description d’une culture qu’ils ne considèrent pas faire partie de leur monde à eux. J’ai compris que l’écriture violente des Armoires vides appliquée, cette fois, non à une narratrice disant « je » mais à « il », mon père, plaçait celui-ci en position de « dominé », par rapport à moi-même qui avais la « supériorité » d’écrire sur lui, et surtout par rapport au lecteur. D’une certaine manière, l’écriture de dérision des Armoires vides me plaçait du côté des dominants, creusait la distance avec mes ascendants. Tout cela peut paraître compliqué mais c’est du même ordre que le malaise qu’on peut ressentir quand quelqu’un fait en toute bonne conscience une réflexion acerbe ou ironique sur les femmes de ménage ou les « culs-terreux » et qu’on est soi-même né d’une femme de ménage ou de paysans. Le malaise d’être complice d’une expression de la domination touchant un proche. Je ne voulais pas ajouter la domination par l’écriture à la domination — réelle — subie par mon père. Il y avait deux manières d’ajouter à cette domination, le misérabilisme — ne montrer que l’aliénation, noircir le tableau — et le populisme — montrer la grandeur d’une condition d’ouvrier, cet éloge qui masque, supprime, tout ce qui ressortit à la domination économique et culturelle. La seule façon qui m’est apparue pour éviter ce double piège, c’était une écriture factuelle, « plate », ai-je écrit, mais je ne voulais pas dire journalistique, sans recherche, non, une écriture de constat, soigneusement débarrassée de jugements de valeur, une écriture au plus près de la réalité, dépouillée d’affects. C’était plonger dans le monde de mon père avec juste les mots nécessaires pour faire ressentir les espérances et les limites de ce monde, qui a été aussi le mien et dont, ainsi, je ne me désolidarisais plus. C’est ainsi que dans La place — je suis en train de parler de ce livre, bien sûr — la violence n’est plus exprimée, elle est « rentrée » pour ainsi dire, comme l’émotion. […] Dix ans plus tard, Les armoires vides est un livre consciemment politique. J’écris contre. Contre une forme de domination culturelle, contre la domination économique, la domination des femmes contraintes à l’avortement clandestin en 1972. J’écris contre la langue que j’enseigne, la langue légitime, en choisissant d’écrire dans une langue qui véhicule des mots populaires et des mots normands, dans une syntaxe déstructurée. Les armoires vides c’est tous azimuts « contre », d’une certaine manière. Mais il y a une autre façon d’écrire, tout aussi « contre », c’est de simplement montrer, comme si le réel se dévoilait de lui-même. C’est l’écriture de La place, faire en sorte que l’écriture soit transparente, qu’on ne soit pas arrêté par les sentiments du narrateur, qu’il n’y ait pas d’écran entre le narrateur et les choses qu’il représente. Peut-être est-ce plus efficace que la violence. Mais il me fallait commencer par la violence des Armoires vides.

Annie Ernaux, Le vrai lieu – entretiens avec Michel Porte.

Ein einschneidendes Ereignis, der Tod meines Vaters, hat, würde ich sagen, meinen Wunsch zu schreiben verändert. Ich war am Tag zuvor mit meinem kleinen Sohn in Yvetot angekommen, um eine Woche bei meinen Eltern zu verbringen, als mein Vater einen Herzinfarkt erlitt. Er starb innerhalb von drei Tagen. Noch heute sehe ich diesen Moment als ein Erdbeben, als einen Umbruch. Mit Gedanken von extremer Gewalt. Ich sah alles, was mich von meinem Vater getrennt hatte, und es war unwiderruflich. Ich sah diese Akkulturation, die in meinem Fall besonders erfolgreich war, da mein Großvater väterlicherseits nicht lesen konnte, mein Vater Bauernjunge, Arbeiter und Cafébesitzer gewesen war und ich gerade als Literaturlehrerin eingestellt worden war. Ich stürzte in den Abgrund der endgültigen Trennung von meinem Vater. Ohne Möglichkeit, mich zu rehabilitieren. Danach ging es nicht mehr darum, so zu schreiben, wie ich einige Jahre zuvor geschrieben hatte, sondern über etwas zu schreiben, das für mich noch keinen Namen hatte. Viel später lernte ich in der Soziologie, dass meine Situation die einer „Klassenflüchtigen” war. Ich weiß nicht einmal, ob dieser Begriff Ende der 1960er Jahre überhaupt existierte. […] Was mich stark beschäftigte, war die politische Dimension meines Vorhabens. Die Welt des Kaffee- und Lebensmittelladens meiner Kindheit wiederaufleben zu lassen, bedeutete gleichzeitig, die Kultur dieses Milieus zu beschreiben und zu zeigen, dass es, wenn man von ihm geprägt war, nicht das war, was ein gebildeter Betrachter mit Verachtung oder Herablassung beurteilt. Und mir war es wichtig, die Mechanismen aufzudecken, durch die ein Mensch zu jemand anderem, zum Feind seines eigenen Milieus, wird. Es war eine Infragestellung der Kultur, dessen, was eine Kulturform dem Individuum antut, dieser Trennung. Und letztendlich war die Gewalt der Sprache das Mittel, das am besten geeignet war, um diese Dinge auszudrücken. In den beiden folgenden Büchern, Ce qu’ils disent ou rien und La femme gelée, habe ich diesen gewalttätigen Schreibstil wieder aufgegriffen. Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Armoires vides begann ich, in demselben Tonfall über meinen Vater zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber ich wusste nicht warum. Ich erinnere mich, dass ich eine soziopolitische Analyse durchführen musste: Ich, die Tochter eines Arbeiters, die Literaturlehrerin geworden war, wollte über ihn schreiben und den Lesern – die meist zumindest der Mittelschicht angehören – die Geschichte eines Lebens und die Beschreibung einer Kultur präsentieren, die sie nicht als Teil ihrer Welt betrachten. Ich verstand, dass der gewalttätige Schreibstil von Armoires vides, der diesmal nicht auf eine Ich-Erzählerin, sondern auf „er”, meinen Vater, angewendet wurde, ihn in eine „untergeordnete” Position brachte, gegenüber mir, die ich die „Überlegenheit” hatte, über ihn zu schreiben, und vor allem gegenüber dem Leser. In gewisser Weise stellte mich der spöttische Schreibstil von „Les Armoires vides“ auf die Seite der Dominanten und vergrößerte die Distanz zu meinen Vorfahren. Das mag kompliziert erscheinen, aber es ist dasselbe Unbehagen, das man empfindet, wenn jemand in aller Unschuld eine bissige oder ironische Bemerkung über Putzfrauen oder „Bauernschläger“ macht und man selbst Tochter einer Putzfrau oder eines Bauern ist. Das Unbehagen, sich mitschuldig zu machen an einer Herrschaftsausübung, die einen nahestehenden Menschen betrifft. Ich wollte die Dominanz, unter der mein Vater litt, nicht noch durch meine eigene Dominanz als Schriftsteller verstärken. Es gab zwei Möglichkeiten, diese Herrschaft noch zu verstärken: Miserabilismus – nur die Entfremdung zeigen, alles schwarz malen – und Populismus – die Größe des Arbeiterdaseins preisen, eine Lobeshymne, die alles verschleiert und ausblendet, was mit wirtschaftlicher und kultureller Herrschaft zu tun hat. Der einzige Weg, dieser doppelten Falle zu entgehen, schien mir ein sachlicher, „flacher“ Schreibstil zu sein, wie ich schrieb, aber ich meinte damit nicht journalistisch, ohne Recherche, nein, ein Schreibstil, der Feststellungen festhält, sorgfältig von Werturteilen befreit, ein Schreibstil, der der Realität so nah wie möglich ist, frei von Emotionen. Es bedeutete, in die Welt meines Vaters einzutauchen, mit nur den Worten, die nötig waren, um die Hoffnungen und Grenzen dieser Welt zu vermitteln, die auch meine Welt war und von der ich mich so nicht mehr distanzierte. So kommt es, dass in La place – ich spreche natürlich von diesem Buch – Gewalt nicht mehr zum Ausdruck kommt, sie ist sozusagen „zurückgenommen“, wie die Emotionen. […] Zehn Jahre später ist Les armoires vides ein bewusst politisches Buch. Ich schreibe dagegen. Gegen eine Form der kulturellen Herrschaft, gegen die wirtschaftliche Herrschaft, gegen die Herrschaft über Frauen, die 1972 zu illegalen Abtreibungen gezwungen wurden. Ich schreibe gegen die Sprache, die ich lehre, die legitime Sprache, indem ich mich dafür entscheide, in einer Sprache zu schreiben, die Volksausdrücke und normannische Wörter in einer destrukturierten Syntax verwendet. Les armoires vides ist in gewisser Weise ein Rundum-„Gegen“. Aber es gibt noch eine andere Art zu schreiben, die ebenso „gegen“ ist, nämlich einfach zu zeigen, als würde sich die Realität von selbst offenbaren. Das ist die Schreibweise von La place, dafür zu sorgen, dass das Schreiben transparent ist, dass man nicht von den Gefühlen des Erzählers aufgehalten wird, dass es keine Barriere zwischen dem Erzähler und den Dingen gibt, die er darstellt. Vielleicht ist das wirkungsvoller als Gewalt. Aber ich musste mit der Gewalt von Armoires vides beginnen.

Durch diese neue Form der Darstellung gelingt es Ernaux, sich selbst nicht mehr als Fremde gegenüber dem Leben ihres Vaters zu positionieren. Indem sie eine Sprache wählt, die keine Überlegenheit ausdrückt, sondern Nähe und Genauigkeit sucht, kann sie das, was sie selbst war und woher sie kommt, anerkennen – ohne sich davon zu distanzieren oder es zu verraten. Ernaux begründet den Wandel ihres Schreibens mit der existentiellen Erfahrung (dem Tod des Vaters), die zur politischen Einsicht führt: Dass Sprache Macht ausübt, dass Erzählhaltungen soziale Ungleichheit reproduzieren können und dass es für sie als Annie Ernaux beschreibt in diesem Text einen tiefgreifenden Wandel ihres Schreibens, den sie mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters in Verbindung bringt. Dieser Einschnitt erschüttert nicht nur ihr persönliches Verhältnis zum Vater, sondern verändert auch ihre Haltung zur Literatur grundlegend. Ihre bisherigen Schreibweisen erscheinen ihr nicht mehr angemessen.

Ernaux nimmt damit ihre Selbstdeutung als „transfuge de classe“, als Klassenüberläuferin, ernst, also als jemand, der seine Herkunftsgruppe verlässt – sei es politisch, ideologisch oder sozial –, um sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Sie verlässt die soziale Klasse, in die sie geboren wurde, steigt in eine andere auf, unter anderem durch Bildung. Für Ernaux bedeutet „transfuge de class„“ eine biografische Realität, aber auch ein intellektuelles und literarisches Problem: Sie ist Tochter eines einfachen Arbeiters, der Cafetier war, und kommt aus einem kleinbürgerlich-ländlichen Milieu. Durch schulischen und beruflichen Aufstieg – sie wird Literaturlehrerin – verlässt sie diese Herkunftsklasse. Dieser Aufstieg bedeutet aber nicht nur sozialen Gewinn, sondern auch Verlust: Verlust von Nähe, Sprachgemeinschaft, Zugehörigkeit – insbesondere zu den Eltern.

Als „transfuge de classe“ steht Ernaux zwischen den Klassen: Sie kennt die Sprache, Werte und Realität der Herkunftsklasse – aber auch die der intellektuellen Elite, für die sie schreibt. Das bringt ein ethisches Dilemma mit sich: Wenn sie über „unten“ schreibt, spricht sie aus der Perspektive „oben“ – und könnte so ungewollt die eigene Herkunft klassistisch darstellen, also verzerrt oder herablassend. Darum versucht sie, eine gerechte Sprache zu finden: Eine, die nicht urteilt, nicht herabsieht, nicht verklärt, sondern sichtbar macht, was ist – respektvoll, genau, ohne emotionale Überformung. Das ist die von ihr so genannte „écriture plate“. „Transfuge de classe“ beschreibt für Ernaux nicht nur ihren sozialen Weg, sondern eine tiefgreifende Spaltung des Selbst: Sie ist gleichzeitig Tochter eines Arbeiters und akademische Intellektuelle – und ihr Schreiben steht immer im Spannungsfeld dieser beiden Welten. Ihr literarisches Ziel ist es, diese Spannung nicht zu leugnen, sondern sichtbar und spürbar zu machen, ohne Herrschaft auszuüben – weder sprachlich noch kulturell.

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Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist ein sich mit jedem Buch entwickelndes Projekt, die Autobiografie als Instrument der soziologischen und historischen Analyse zu nutzen. Obwohl jedes ihrer Bücher einen einzigartigen Fokus hat, lassen sich deutliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrer Herangehensweise an die Kindheit feststellen. Die Kindheit ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern wirkt sich kontinuierlich auf das erwachsene Selbst aus. Ob es die „eingefrorene Frau“ ist, die sozialen Unterschiede in La place sind, die fortdauernde Scham in La honte oder die dekonstruierte Erinnerung in Mémoire de fille – die kindlichen Erfahrungen bilden die Grundlage für die Herausforderungen und Konflikte des späteren Lebens. Ernaux‘ Schreiben über die Kindheit ist ein Akt der unermüdlichen Suche nach der Wahrheit der gelebten Erfahrung, oft unter Ablehnung konventioneller Erzählformen und der „Verschleierung“ des Realen. Sie strebt danach, Dinge „auszugraben“, selbst wenn sie schmerzhaft oder „unanständig“ sind, und lehnt es ab, sich an eine „vorgefasste Idee“ anzupassen. Gemeinsam ist allen Büchern eine Ablehnung der romantisierten Kindheit: Ernaux vermeidet konsequent eine nostalgische oder idealisierte Darstellung. Stattdessen beleuchtet sie die Kindheit als Phase der Prägung durch soziale Realitäten, Klassenzugehörigkeit und Geschlechterrollen. Diese Phase ist selten unbeschwert, sondern oft ein Ort von Scham, Angst, Verwirrung oder frühem Leid.

Ernaux‘ Blick auf die Kindheit ist insofern der einer „Ethnologin ihrer selbst“, als sie die Gesetze, Riten, Überzeugungen und Werte ihres Milieus beschreibt, die das kindliche Leben prägten, und individuelle Erfahrungen in einen breiteren sozialen Kontext einordnet. Dies ermöglicht es ihr, persönliche Scham als ein Produkt gesellschaftlicher Normen zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit Sprache – der Dichotomie zwischen der „rohen“ Sprache des Elternhauses und der „reinen“ Sprache der Bildung und Literatur – ist ein wiederkehrendes Element. Kindheit wird als der Moment beschrieben, in dem diese sprachliche Spaltung entsteht und eine innere Zerrissenheit hervorruft. Gleichwohl wechselt der Fokus von Ernaux‘ Kindheitsdarstellungen: In Les armoires vides ist die Kindheit eng mit der sexuellen Entdeckung und dem sozialen Aufstieg verbunden, der mit Scham über die eigene Herkunft einhergeht. La honte konzentriert sich auf ein einzelnes traumatisches Kindheitsereignis als Ursprung einer tief sitzenden Scham und als Objekt methodischer Untersuchung. La femme gelée beleuchtet die Kindheit als eine Phase der Potenzialentfaltung und der Freiheit von Geschlechterrollen, die später durch die gesellschaftliche Realität beschnitten wird. La place nutzt die Kindheit als Ausgangspunkt für die Analyse der sozialen Mobilität und der Klassenunterschiede, insbesondere im Verhältnis zur Vaterfigur. Une femme betrachtet die Kindheit der Erzählerin durch die mütterliche Prägung und Transmission von Werten und Ambitionen, sowie den späteren Verlust dieser mütterlichen Verbindung. Les années bietet eine kollektive Kindheit, die durch gemeinsame historische, soziale und materielle Erfahrungen einer Generation geformt wird, unter Verzicht auf ein individuelles „Ich“. Mémoire de fille ist eine dezidierte Dekonstruktion der Mädchenzeit im Kontext einer ersten, komplexen sexuellen Erfahrung und der damit verbundenen Scham und Selbstwahrnehmung.

Die Erzählhaltung entwickelt sich von einer stärker „erfundenen“ (wenn auch autobiografisch inspirierten) Perspektive in Les armoires vides zu einer immer objektiveren, ethnologischeren und quasi-wissenschaftlichen Haltung in späteren Werken wie La honte und Les années. In Mémoire de fille wird diese Distanzierung sogar zur Dekonstruktion des eigenen früheren Ichs. Wohl damit zusammenhängend, verändert sich die zeitliche Dimension von eher punktuellen Kindheitserinnerungen der frühen Werke, Les années erweitert die Kindheit zu einer langen historischen Dauer und macht sie zu einem kollektiven Phänomen. Mémoire de fille wiederum zoomt extrem nah an einen spezifischen Sommer heran, um dessen Dauer und Intensität durch das Schreiben erfahrbar zu machen. Insgesamt stellt Annie Ernaux die Kindheit in ihrem Werk als einen komplexen, oft schmerzhaften Schmelztiegel der Identitätsbildung dar, der untrennbar mit sozialen, sprachlichen und historischen Kräften verbunden ist. Ihre Poetik der Kindheit ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, die darauf abzielt, die Wahrheit über die eigene Herkunft und die Rolle der Gesellschaft bei der Formung des Individuums ans Licht zu bringen, oft durch innovative Erzählstrategien und eine schonungslose Selbstbefragung. Letztendlich ist das Schreiben für Ernaux ihr „wahrer Ort“ („mon vrai lieu“). Es ist der einzige immaterielle Ort, der alle anderen Orte ihrer Existenz, einschließlich derer ihrer Kindheit, in sich birgt. Es ist ein Ort der Freiheit und der Konstruktion, der es ihr ermöglicht, ihre Erfahrungen und die soziale Realität zu erfassen und zu hinterfragen, und der ihr ein Gefühl des wirklichen Lebens vermittelt. 8

Anmerkungen
  1. Vgl. Le vrai lieu: entretiens avec Michelle Porte.>>>
  2. Annie Ernaux, „L’enfance et la déchirure“, Europe 798 (Oktober 1995).>>>
  3. Vgl. Le vrai lieu: entretiens avec Michelle Porte. >>>
  4. Annie Ernaux, « Première enfance », in Jardins d’enfance, hrsg. von Clarisse Cohen (Le Cherche midi, 2001), 79-88, online: https://www.annie-ernaux.org/fr/textes/premiere-enfance-2/.>>>
  5. Vgl. « Entretien avec Annie Ernaux, Maison des écrivains, 9 mars 2002 » und Jean Pierrot, « Annie Ernaux et l’ „écriture plate“ », dans Écritures Blanches, sous la direction de Dominique Rabaté et Dominique Viart, Presses Universitaires de Saint-Étienne, 2009.>>>
  6. „Rien n’est moins sûr. L’écriture, quoi qu’on fasse, « engage », véhiculant, de manière très complexe, au travers de la fiction, une vision consentant plutôt à l’ordre social ou au contraire le dénonçant. Si l’écrivain et ses lecteurs n’en ont pas conscience, la postérité ne s’y trompe pas. Il n’y a pas d’apolitisme au regard de l’histoire littéraire. Roland Barthes a eu un jour cette formule sur l’écriture : « c’est le choix de l’aire sociale au sein de laquelle l’écrivain décide de situer la Nature de son langage ». Elle est sans doute plus juste que toutes les affirmations sur l’innocence de l’art et de l’artiste.“ Annie Ernaux, „Littérature et politique“, écrit pendant l’été 1989, publié dans Nouvelles nouvelles, n° 15, in: Annie Ernaux, Hôtel Casanova et autres textes brefs, Folio, 2011/2020.>>>
  7. Ich referiere hier Ernaux‘ Argumentation, nach meiner Lektüre wird bei Simon die Einladung zu einem offiziellen Empfang aber durchaus zum Ausgangspunkt für eine assoziativ-sprunghafte Reflexion über Macht, Entfremdung, Rituale und politische Repräsentation.>>>
  8. Vgl. Le vrai lieu: entretiens avec Michelle Porte. >>>

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