Geplante Obsolenz: Guillaume Poix

Armut als Kunstprojekt

Im Roman Les fils conducteurs (éd. Verticales, 2017), ausgezeichnet mit dem Prix Wepler-Fondation La Poste, konfrontiert uns Guillaume Poix mit den Widersprüchen des westlichen Idealismus, den verheerenden Folgen der globalen Konsumgesellschaft und der moralischen Korruption, die sich einstellt, wenn wohlmeinende Absichten auf komplexe Realitäten der Ausbeutung treffen. Die Entstehung des Romans ist im Kontext eines Bühnenstückes Waste (2015, vgl. das künstlerische Dossier mit zahlreichen Fotografien, das Stück deutsch in Scène 20, 2017) des Theatermachers Guillaume Poix zu sehen. Der Roman, der uns in die gefährliche Welt der Elektroschrottdeponie Agbogbloshie in Ghana entführt, erzählt die parallelen Geschichten des französisch-schweizerischen Fotojournalisten Thomas und des jungen ghanaischen Jungen Jacob. Die Mülldeponie gibt es real, in der Hauptstadt Accra, sie wird als einer der am stärksten verschmutzten Orte der Welt bezeichnet wird, und es leben Tausende Menschen, darunter viele Jugendliche und Kinder, an diesem Ort. Obwohl internationale Abkommen wie das Basler Übereinkommen den Export von gefährlichem Müll verbieten, wird der Elektroschrott oft als „Gebrauchtware“ deklariert, um die Gesetze zu umgehen.

Die lokalen Akteure in Agbogbloshie, insbesondere Wisdom und Justice, stehen Thomas‘ Kunstprojekt zynisch gegenüber. Sie sind vertraut mit „lästigen“ ausländischen Besuchern, die „herumschnüffeln, befragen, aufnehmen, zusammenstellen, sammeln und verewigen“. Sie betrachten Thomas‘ Bemühungen als ein routiniertes „Bla-Bla“, das vor allem dazu dient, bei „wohlhabenden Gewissen“ in der westlichen Welt Spenden für ihre eigenen „parallelen Geschäfte“ zu mobilisieren. Diese Diskrepanz zwischen Thomas‘ idealistischer Mission und der zynischen Realität auf der Deponie ist ein zentraler Aspekt der Kunstdebatte im Roman. Sie stellt die Frage nach der Authentizität, den ethischen Implikationen und der potenziellen Ausbeutung in der Kunst, wenn westliche Künstler das Leid und die Umstände in Entwicklungs- oder Schwellenländern thematisieren. Die spätere Kritik anlässlich der Fotoausstellung, dass Thomas‘ Foto einen „wohlwollenden Blick auf das Elend“ zeige, unterstreicht die Sorge, dass solche Darstellungen das Leid ästhetisieren oder kommerzialisieren könnten, anstatt echte Veränderungen herbeizuführen. Die Ästhetisierung der Armut ist ein zentrales Stilmittel von Poix, und Agbogbloshie wird hierbei zum „lebenden Monstrum“:

Son territoire semble s’étendre sur des kilomètres, infinis hectares de tumeurs en plastique agglomérées, alvéoles sinueuses et creuses comme les caries d’un géant, cavernes déjà oubliées, anfractuosités profondes et dentelées telles des coquilles d’huîtres, dénivelés insensés, vastes plaines aussi, vastes plaines de fraisil et de poudre noire, damiers de chrysalides, escaliers d’immondices, crêtes et bassins, de quoi randonner pendant des jours les pieds dans une boue mouvante qui se dilate et grignote chaque jour un peu plus d’espace.

Guillaume Poix, Les fils conducteurs, Éditions Verticales, 2017.

Sein Territorium scheint sich über Kilometer zu erstrecken, endlose Hektar aus aneinandergewachsenen Plastiktumoren, gewundene, hohle Kammern wie die Karies eines Riesen, längst vergessene Höhlen, tiefe, gezackte Spalten wie Austernschalen, unsinnige Höhenunterschiede, aber auch weite Ebenen, weite Ebenen aus Frisil und schwarzem Pulver, Schachbrettmuster aus Puppenhüllen, Treppen aus Unrat, Kämme und Becken, genug, um tagelang mit den Füßen in einem sich bewegenden Schlamm zu wandern, der sich ausdehnt und jeden Tag ein bisschen mehr Raum verschlingt.

Agbogbloshie ist von „dicken Nebeln“ und „giftigen Ausdünstungen“ umhüllt, die eine permanente Dämmerung erzeugen und die Sicht trüben. Nie ist dort „volles Sonnenlicht, niemals Dunkelheit“. Die ständig brennenden Feuer in Agbogbloshie werden als „flamme souveraine, immortelle“ (souveräne, unsterbliche Flamme) mit variierenden Farben wie „rougeoyante, vivace, parfois bleue, orange ou verte“ (rot leuchtend, lebhaft, manchmal blau, orange oder grün) gezeigt. Diese Beschreibung verleiht der Zerstörung eine fast hypnotische Qualität. Die Deponie wird durch intensive sensorische Beschreibungen lebendig: der Geruch von Aas und verbranntem Plastik, das Gefühl von kriechendem Schlamm und brennenden Partikeln auf der Haut, und der Geschmack von verschmutztem Essen. Die Umwelt der Deponie verändert die Körper der Menschen, die dort leben und arbeiten, tiefgreifend. Jacob fühlt sich, als würden seine Knochen zu Metall, magnetisiert von der Deponie. Die Arbeiter werden als „fließendes Meer aus Leid und Bitterkeit“ beschrieben, ihre Individualität geht verloren. Jacobs Alpträume beinhalten das Eindringen und die Zersetzung seines Körpers durch die Umgebung. Poix verwendet hier biologische Metaphern wie „tumeurs“ (Tumore), „caries d’un géant“ (Karies eines Riesen) oder „coquilles d’huîtres“ (Austernschalen), um anorganische Abfälle zu beschreiben. Dies verleiht der Müllhalde eine organische, lebendige, aber auch krankhafte und monströse Qualität. Das Meer und die Korle Lagoon sind einerseits Transportwege für den Elektroschrott, andererseits aber auch Orte der Verunreinigung. Jacob badet in der „grünlichen Gischt“, die seine Haut wie eine „ätzende Lösung“ irritiert. Moïse stellt sich vor, wie sein Körper im verseuchten Wasser des Lagons zerfällt und ihn nach San Francisco tragen wird. Gleichzeitig sehnt sich Jacob danach, sich in den von Ama verkauften „Poches d’eau claire“ (Säckchen mit klarem Wasser) oder im Regen zu reinigen, was eine Sehnsucht nach Reinheit und Unschuld inmitten der Verschmutzung symbolisiert. Aber die „Plastiktumore“ suggerieren eine Krankheit des Planeten, eine Folge menschlichen Handelns, die nun ein Eigenleben führt. Die Kinder werden oft als „Kiddy“ oder „junge Jetons“ bezeichnet und wie „Metalle“ behandelt, die in einer „ätzenden Lösung“ zerfressen werden. Moïses Lunge „rasselt wie ein Schlepper“. Jacob, Isaac und Moïse sind selbst in Gefahr, „obsolète“ zu werden, da ihre Körper durch die giftigen Dämpfe und Substanzen irreparabel geschädigt werden. Giftys sich schälende Haut wird als „envoûtante beauté d’une pluie d’été“ (bezaubernde Schönheit eines Sommerregens) beschrieben, eine morbide Ästhetisierung des Leidens. Die Deponie selbst ist ein „parterre de peaux mortes“ (Beet aus toten Häuten), als ob ein ganzes Volk sich gehäutet hätte. Bizarre, poetische Bezeichnungen wie „damiers de chrysalides“ (Schachbretter aus Puppen) oder „escaliers d’immondices“ (Treppen aus Unrat) verleihen dem Chaos eine unerwartete, surreale Ästhetik. Gleichzeitig wird die Gefahr durch die „boue mouvante“ (beweglicher Schlamm) und die unermessliche Ausdehnung des Ortes betont. Diese Ästhetisierung des Hässlichen ist zentral für Poix’s Poetik und dient dazu, die Komplexität des Ortes und die Anpassung der Charaktere an ihn zu vermitteln.

Urs Fischer, zum Bühnenstück Waste von Guillaume Poix, Dossier artistique, 2016.

Die zentrale Problemstellung des Romans ist die Demontage westlicher Überheblichkeit und Naivität, die sich in der Figur Thomas‘ manifestiert. Thomas, getrieben von seinem Idealismus und dem Wunsch nach Relevanz, will die ökologische Katastrophe und illegale Recyclingpraktiken in Agbogbloshie aufdecken. Doch seine Reise wird zu einem moralischen Abstieg, der ihn zur Mitschuld an einer Tragödie werden lässt. Die Erzählung problematisiert, wie der westliche Blick, der zwischen Dokumentation und Voyeurismus schwankt, letztlich zur Komplizenschaft beiträgt. So ist zu fragen, wie Poix die Kollision von globaler Konsumgesellschaft und menschlicher Not in Agbogbloshie inszeniert. Inwiefern wird die brutale Realität der Armut in Les fils conducteurs paradoxerweise als Kunstprojekts gezeigt, und welche Funktion hat diese Ästhetisierung? Wie spiegelt Thomas‘ tragische Reise eine schonungslose Kritik an der westlichen Interventionslogik wider, und welche Rolle spielen dabei die einzigartige Sprache und Metaphorik des Romans?

Digitaler Friedhof der Welt

Der Titel Les fils conducteurs (Die Leitungsdrähte) ist vieldeutig: Er verweist auf die Kupferkabel, die aus dem Elektroschrott gewonnen werden, die buchstäblichen „Leitungen“ in diesem globalen Kreislauf der Verschwendung. Aber auch auf die „Leitfiguren“ oder „Leiter“, die Menschen, die diesen Kreislauf steuern oder in ihm gefangen sind: Wisdom und Justice, die Kinder auf der Halde, und Thomas, der Fotograf, der sich selbst als „Leitfigur“ versteht, die die Wahrheit „leiten“ will. Letztendlich werden alle zu „leitenden Drähten“ in einem System, das niemand wirklich kontrolliert und das tragische Opfer fordert. Die Geschichte mündet in der Erkenntnis, dass die „Abfälle“ des Westens nicht nur materielle Güter, sondern auch menschliche Leben sind, die im „Grabfeld unserer Fortschritte“ enden. Poix zwingt uns, die Konsequenzen unserer Konsumgesellschaft zu sehen und zu hinterfragen, welche Rolle wir selbst in diesem zerstörerischen Kreislauf spielen.

Les fils conducteurs ist eine scharfe Kritik an der globalen Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Der Roman stellt die direkte Verbindung zwischen der westlichen „Obsolescence Programmée“ (geplanten Obsoleszenz) und der Existenz von Agbogbloshie her, das als „digitaler Friedhof der Welt“ und „Beinhaus unseres Fortschritts“ beschrieben wird. Paradoxerweise wird die Deponie von den Kindern auch als „nouveau monde“ (neue Welt) oder „eldorado provisoire“ (vorübergehendes Eldorado) betrachtet, da sie dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Es ist ein Ort des Überlebenskampfes, der eine seltsame Anziehungskraft auf Jacob ausübt, der von der „bosse“ „envoûté“ (bezaubert) ist und sich dorthin „greifen“ möchte. Der Eingang zur Deponie trägt den ironischen Namen „Golden Gate“, der auf Reichtum und Möglichkeiten anspielt, während er in Wirklichkeit zu Elend und Gefahr führt. Wisdom bezeichnet die Deponie auch als „Babel“, da sie „bis zum Himmel klettert“ und eine „zweite, die Rohre verstopfende Erde“ bildet. Dies weist auf die enorme Anhäufung von Müll und die Verwirrung durch die verschiedenen Sprachen und Klänge hin. Poix zeigt drastisch, wie der Überfluss des Nordens zur Existenzgrundlage und gleichzeitig zur Todesfalle für den globalen Süden wird. Die Metapher der „programmierten Obsoleszenz“ wird sogar auf das menschliche Leben übertragen: Die Kinder der Deponie, wie Jacob, Isaac und Moïse, drohen selbst „obsolètes“ zu werden, wenn sie die Deponie nicht verlassen, ihre „Obsoleszenz“ ist „programmierbar“. Der Roman ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte vor dystopischem Hintergrund. Jacobs physische und moralische Transformation im Angesicht extremer Umstände wird detailliert dargestellt. Sein Übergang von der Kindheit zur Härte des Überlebens wird durch die Akzeptanz seiner Rolle auf der Müllhalde und die gesundheitlichen Folgen seiner Arbeit („Toute façon, le cancer je l’ai tel“ – Ich habe sowieso Krebs) verdeutlicht.

Gleichzeitig demaskiert der Roman die Ambivalenz des westlichen Blicks. Thomas‘ Kunstprojekt, finanziert vom globalen Energiekonzern Total, ist ein Paradebeispiel dafür, wie selbst gut gemeinte Absichten in die Logik der Ausbeutung integriert werden können. Thomas möchte seine „Mitmenschen alarmieren“ und das „apokalyptische“ und „alptraumhafte“ Szenario von Agbogbloshie aufzeigen, überzeugt von der Wirkung seiner Fotografie auf das Gewissen der wohlhabenden Welt. Doch seine Bemühungen werden von lokalen Vermittlern wie Wisdom und Justice zynisch instrumentalisiert, um „kalibrierte Informationen“ zu generieren, die internationale Gelder für ihre „parallelen Geschäfte“ anziehen sollen. Der Roman kritisiert damit die Vorstellung, komplexe Probleme aus der Ferne lösen zu können, und zeigt, wie der „westliche Blick“ in diesem System mitschuldig wird.

Der Roman Les fils conducteurs ist als Tragödienform angelegt, die klassische Elemente wie Idealismus, Hybris, Fall und kathartische Erkenntnis auf die Figur des Thomas anwendet. Thomas, der junge, idealistische Fotojournalist, beginnt als tragischer Held, der die ökologische Katastrophe in Agbogbloshie für ein Kunstprojekt dokumentieren und seine „Mitmenschen alarmieren“ will, um das Gewissen der wohlhabenden Welt zu erreichen. Seine Hybris manifestiert sich in westlicher Überheblichkeit, Naivität und Selbstüberschätzung, da er die brutale Realität vor Ort unterschätzt und einfachen Zugang zu „kalibrierten Informationen“ erwartet. Der dramatische Umschwung (Peripetie) beginnt mit seinem physischen und moralischen Verfall und erreicht seinen Höhepunkt im „Deal“ mit zwielichtigen Vermittlern, der sexuelle Ausbeutung von Kindern beinhaltet. Thomas rationalisiert seine Entscheidung, indem er den „Impact“ seiner Arbeit über seine „kleine Moral“ stellt, und verstrickt sich somit in das System der Ausbeutung. Die Katastrophe gipfelt in Jacobs Tod, zu dem Thomas durch seine Handlungen beiträgt und dessen Leiche er vergräbt, um Spuren zu verwischen. Der zynische Erfolg seiner Ausstellung in Paris, mit dem Titel „Job“ und mit Jacobs Foto, unterstreicht die ironische Anerkennung und die schonungslose Entlarvung seiner heuchlerischen Position und der Komplizenschaft des Westens. Für den Leser führt dies zu einer Katharsis, indem der Roman als „schonungslose Demontage westlicher Überheblichkeit“ ein Gefühl des Mitleids für die Opfer und der Furcht vor den zerstörerischen Auswirkungen naiver oder eigennütziger Interventionen hervorruft.

Trotz der grausamen Realität findet Poix eine subtile und oft paradoxe Ästhetik in der Zerstörung. Die Müllhalde wird nicht bloß als Deponie dargestellt, sondern als eine „gigantesque excroissance“ (gigantische Auswucherung), deren Topographie durch organische Metaphern wie „tumeurs en plastique agglomérées“ (agglomerierte Plastiktumore) oder „caries d’un géant“ (Karies eines Riesen) beschrieben wird. Diese Sprachbilder verleihen dem Ort eine mythische, ja biblische Dimension, die ihn zu einem „Beinhaus unseres Fortschritts“ und „Massengrab unserer Spezies“ erhöht. Die ständig brennenden Feuer werden als „flamme souveraine, immortelle“ mit variierenden Farben beschrieben, was der Zerstörung eine hypnotische Qualität verleiht. Die Materialien selbst – die „fils conducteurs“ oder seltenen Erden – erhalten einen mystischen Wert, oft als „trésors enfouis“ (vergrabene Schätze) bezeichnet. Diese „Ästhetisierung des Hässlichen“ dient dazu, die Komplexität des Ortes und die Anpassung der Charaktere an ihn zu vermitteln.

Zugleich entzaubert der Roman die westliche Rede von einer entmaterialisierten, digitalisierten Welt, indem er die brutale Materialität der Wegwerfgesellschaft in den Vordergrund rückt. Die Elektroschrottdeponie wird hierbei zur zentralen Metapher und zum Gegenbild zur westlichen Illusion des immateriellen Fortschritts. Wisdom, eine der lokalen Figuren, entlarvt diese westliche Selbstwahrnehmung zynisch: Während im Westen von „digital“ und „kabellos“ gesprochen wird, wird im Globalen Süden aus den weggeworfenen Gütern eine „zweite, die Rohre verstopfende Erde“, ein „Babel“, das „bis zum Himmel klettert“ und „Migräne und Erbrechen“ verursacht. Die Deponie ist ein Ort, an dem die materiellen Überreste der westlichen Überflussgesellschaft nicht nur entsorgt, sondern auch symbolisch begraben und verbrannt werden. Diese drastische Darstellung der Deponie als groteske, lebendige Entität unterstreicht die physische, oft toxische Realität hinter der Fassade der digitalen Leichtigkeit.

Der Roman erweitert die westliche Idee der „programmierten Obsoleszenz“ von Technologie auf das menschliche Leben selbst. Die „fils conducteurs“ (Leitungsdrähte) symbolisieren nicht nur die physischen Kabel, die von den Kindern unter tödlichen Bedingungen geborgen werden, sondern auch die unsichtbaren, aber gefährlichen Verbindungen zwischen der Überflussgesellschaft des Westens und den Orten der Ausbeutung. Der Roman verdeutlicht, dass die „geplante Obsoleszenz“ westlicher Produkte direkt zu den Müllbergen und der Ausbeutung in Ländern wie Ghana führt. Jacob, Isaac und Moïse sind direkt von dieser „programmierten Obsoleszenz“ betroffen; ihre Körper werden durch die giftigen Dämpfe und Schwermetalle unwiderruflich geschädigt, sodass sie, wenn sie die Deponie nicht verlassen, „schnell obsolet werden“ und ihre Lebenserwartung drastisch verkürzt wird. Ihre Anpassungsfähigkeit an diese tödliche Umgebung, wie die Entwicklung einer einzigartigen, hybriden Sprache, spiegelt paradoxerweise auch ihren Verlust von Unschuld und Identität wider, geformt durch die brutale Materialität ihrer Existenz.

Thomas, der idealistische westliche Fotojournalist, der die Misere dokumentieren will, wird selbst zum unfreiwilligen Teil dieser Entzauberung. Sein Projekt, das vom Energiekonzern Total finanziert wird, ist ein Beispiel dafür, wie selbst „gut gemeinte Absichten in die Logik der Ausbeutung integriert werden können“. Seine naive Erwartung, „kalibrierte Informationen“ zu erhalten und die Realität aus der Ferne zu „alarmieren“, prallt auf die unerbittliche Komplexität von Agbogbloshie. Letztlich führt Thomas‘ Verstrickung in das System der Ausbeutung – insbesondere in die sexuelle Ausbeutung Jacobs – zu Jacobs Tod und einer „schonungslosen Demontage westlicher Überheblichkeit“, die glaubt, globale Probleme aus der Ferne lösen zu können. Der Roman kritisiert den „westlichen Blick“, der zwischen Anteilnahme und Voyeurismus schwankt und letztlich zur Komplizenschaft neigt, indem er Thomas‘ Erfolg als Künstler auf Kosten des Leidens und Todes eines Kindes entlarvt.

Thomas muss sich auf einen „Deal“ einlassen, der die sexuelle Ausbeutung von Kindern impliziert, um Zugang zur Deponie und „kalibrierte Informationen“ für seine Fotografie zu erhalten. Obwohl Thomas „fassungslos und angewidert“ ist von der expliziten Natur dessen, was von ihm verlangt wird – „Er stopft sie dir rein, und du steckst sie rein“ („il te la flanque et tu l’emboîtes“) – rationalisiert er seine Entscheidung. Er stellt den „Impact“ seiner Arbeit über seine „kleine Moral“ („petite morale“), um die „öffentliche Empörung“ durch seine weltweit ausgestellten Fotografien zu erreichen. Der Roman enthüllt, dass die von Wisdom und Justice den Jungen angebotene „Arbeit“ oder der „Deal“ tatsächlich sexuelle Ausbeutung durch Männer bedeutet. Die Männer „begehren die Fürsorge/Aufmerksamkeit“ („convoitent le soin“) der Jungen, und die Bemerkung, dass Jacobs Reifung „den Männern gefallen könnte“ („avant que ça plaise plus aux mectons“), deutet stark darauf hin. Moïse wirft Isaak direkt vor, „seinen Hintern zu verkaufen“ („sa croupe qui se colonise de mâlerie“). Die Jungen, die sich für diesen „Job“ anbieten, werden als „kleine Jetons“ („petits jetons“) beschrieben, die gefügig und ergeben sein sollen. Thomas versucht zunächst, eine sexuelle Handlung zu vermeiden, wird aber von Jacob, der den „Job“ genau zu verstehen scheint, immer wieder in diese Richtung gedrängt. Thomas, physisch und emotional geschwächt durch die Hitze und die giftigen Dämpfe der Deponie, leidet unter Übelkeit und Kopfschmerzen. Er erlebt Jacobs Berührung als eine unkontrollierbare „Attraktion“. Die Szene des sexuellen Übergriffs, aus Jacobs Perspektive beschrieben, ist verstörend und explizit. Während dieses Übergriffs, überwältigt von der toxischen Umgebung und Thomas‘ physischem Zusammenbruch, versagt Jacobs Herz, was zu seinem Tod führt. Thomas‘ anschließende Reaktion ist von Panik, Adrenalin und Verdrängung geprägt. Er versucht, die Schuld zu leugnen und Jacobs Tod auf dessen „fragiles Herz“ und die giftigen Dämpfe der Deponie zu schieben. Um alle Spuren zu beseitigen, vergräbt er Jacobs Körper in der Müllhalde.

Menschen auf Halde

Thomas ist der tragische Held des Romans, ein Fotojournalist in den Dreißigern, der von einem ausgeprägten Idealismus und dem Wunsch nach persönlicher Relevanz angetrieben wird. Sein Ziel ist es, die ökologische Katastrophe in Agbogbloshie zu dokumentieren und die „apokalyptische“ Situation aufzuzeigen, um die „Mitmenschen zu alarmieren“. Paradoxerweise wird sein Projekt von Total finanziert, einem Konzern, dessen System er insgeheim „sabotieren“ will. Seine Hybris liegt in seiner westlichen Überheblichkeit und Naivität; er erwartet einfachen Zugang und „kalibrierte Informationen“. Die Realität der Deponie überfordert ihn jedoch physisch und moralisch. Er leidet unter Seekrankheit, Asthma, Infektionen und den giftigen Dämpfen, die Migräne und Übelkeit verursachen. Moralisch offenbart er Ungeduld, Frustration und Selbstzweifel, nennt sich „null“ oder „dumm“ („con“). Der Wendepunkt ist der „Deal“ mit Wisdom und Justice, der sexuelle Ausbeutung von Kindern beinhaltet. Thomas verstrickt sich in ein System der Ausbeutung und verliert seine anfängliche Integrität. Letztendlich trägt seine Anwesenheit zur weiteren Zerstörung bei und er wird Teil des Problems, das er anprangern wollte.

Photo-reportage: Pieter Hugo, zum Bühnenstück Waste von Guillaume Poix, Dossier artistique, 2016.

Jacob ist der elfjährige Protagonist, dessen Kindheit abrupt endet, als er nach dem Tod seines Vaters zum Elektroschrottsammler wird. Er repräsentiert die verlorene Unschuld und die erzwungene Reife unter extremen Bedingungen. Sein Spitzname „Job“ verweist auf die biblische Figur des Hiob, die für ihr unverdientes Leid bekannt ist. Er ist fasziniert von der „bosse“ und ihrer „Musik“, passt sich schnell an die Umgebung und ihre Sprache an. Jacobs Begegnung mit Thomas mündet in seinem tragischen Tod.

Ama: Jacobs Mutter, die den Übergang vom Landleben zur städtischen Existenz nur schwer bewältigt. Sie verkauft Wasser am Rande der Deponie. Ihre Liebe und Sorge für Jacob sind tief, doch sie muss hilflos zusehen, wie er in die gefährliche Welt der Müllhalde eintaucht, da sie als Wasserverkäuferin am Eingang der Deponie kaum genug verdient.

Golden Gate, peut-on lire en lettres rouges, inscription évocatrice griffonnée sur une pancarte de bois, linteau de fortune barrant le haut du portail par lequel ils s’engouffrent au-devant des nuées brunes, « Golden Gate », murmure Ama en découvrant l’appellation, Golden Gate, et chacun le matin, lorsqu’il passe sous le panneau, chuchote pour lui-même ces deux mots qui peut-être apporteront la chance.

Guillaume Poix, Les fils conducteurs, Éditions Verticales, 2017.

Golden Gate steht in roten Buchstaben auf einem Holzschild geschrieben, einer provisorischen Beschriftung über dem Tor, durch das sie vor den braunen Wolken hindurchstürmen. „Golden Gate”, flüstert Ama, als sie den Namen entdeckt, Golden Gate, und jeden Morgen, wenn sie unter dem Schild hindurchgeht, flüstert sie für sich diese beiden Worte, die ihr vielleicht Glück bringen werden.

Der Name „Golden Gate“ evoziert die berühmte Brücke in San Francisco, ein Symbol für Wohlstand und Chancen. Hier jedoch wird er zum Portal in eine Hölle aus Elektroschrott, Rauch und Elend. Die Diskrepanz zwischen dem verheißungsvollen Namen und der trostlosen Realität ist eine bittere ironische Anspielung auf die globale Ungleichheit. Die Arbeiter betreten diesen Ort in der Hoffnung auf „Glück“ und „Chance“, aber in Wirklichkeit führt er sie in Krankheit und Ausbeutung. Es ist ein Sinnbild dafür, wie die globalisierte Welt ihre „Abfälle“ – materiell und menschlich – an ihren Rändern „entsorgt“.

Jacob entscheidet sich trotz des anfänglichen Widerstands seiner Mutter Ama dazu, auf der Müllhalde zu arbeiten. Hier verrichtet Jacob die gefährliche und anstrengende Arbeit der „Fouille“, was das Durchsuchen, Sammeln und Bergen von Metallen und wertvollen Komponenten aus Elektroschrott bedeutet. Seine Aufgabe ist es, Drähte und Kabel („fils conducteurs“) von ihrer isolierenden Hülle zu befreien, um an die darin enthaltenen Metalle wie Blei, Quecksilber, Kadmium, Kupfer, Aluminium oder sogar Gold und Silber zu gelangen. Dieser Prozess ist extrem gefährlich, da die Drähte noch Strom führen oder giftige Substanzen freisetzen können. Er bekommt von Isaac einen Plastiksack, eine provisorische Spitzhacke und eine Art Schubkarre, um seine Funde zu transportieren. Jacob lernt, wie man Metalle sortiert, wertvolle Teile identifiziert und sich in der Hierarchie der Deponie bewegt. Trotz der Härte des Ortes findet Jacob eine seltsame Faszination an der „Bosse“, die er als „Freiluftschmiede“ und „neue Welt“ wahrnimmt, und empfindet die elektronischen Abfälle als „Schätze“. Er versucht auch, gefundene Geräte an Händler wie Daddy Jubilee zu verkaufen, auch wenn er dabei oft betrogen wird.

Isaac & Moïse: Jacobs Freunde und Mentoren auf der Halde. Sie verkörpern unterschiedliche Facetten des Überlebenskampfes. Moïse leidet an einer chronischen Atemwegserkrankung, die ihn schließlich das Leben kostet. Isaac, der Pragmatiker, ist in profitable Geschäfte verwickelt.

Wisdom & Justice: Die „Paten“ und Vermittler, die Thomas durch die Müllhalde führen und das Geschäft kontrollieren. Ihre Namen sind selbstironisch, da sie weder Weisheit noch Gerechtigkeit verkörpern. Sie nutzen Thomas zynisch für ihre „parallelen Geschäfte“.

Daddy Jubilee ist der korrupte, aber charmante Händler und Boss, der das Geschäft auf der Müllhalde kontrolliert. Er spielt die Rolle des exzentrischen Weisen, um seine „authentische Verdorbenheit“ zu verbergen. Daddy Jubilees zynische Parabel vom „achten Schöpfungstag“ ist ein zentrales Element in Guillaume Poix‘ Roman: Der korrupte Händler und Boss der Deponie erklärt, dass die Menschen in seiner Welt die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte kennen, in der Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat – Licht, Wasser, Erde, Tiere, Männer und Frauen, die ganze Palette. Doch dann fügt er mit beißendem Spott hinzu, dass es für seine Leute, im Gegensatz zum Westen, einen achten Schöpfungstag gab. Dieser achte Tag war notwendig, „ganz einfach, um den Berg Scheiße wegzuräumen, den der Kerl, den man am sechsten Tag erfand, am siebten Tag konsumiert hat, indem er sich den Arsch auf dem Sofa platt saß!“ Daddy Jubilee bricht die Vorstellung einer sauberen, mühelosen digitalen Welt, in der Produkte einfach „verschwinden“. Er zeigt die hässliche, materielle Kehrseite des westlichen Konsums auf, die in den Müllbergen von Agbogbloshie landet. Der „achte Tag“ symbolisiert die Bürde, die der Globale Süden trägt: Er muss den Müll des Globalen Nordens entsorgen und die toxischen Konsequenzen des westlichen Überflusses verarbeiten. Die Menschen in Agbogbloshie, insbesondere die Kinder wie Jacob, sind diejenigen, die buchstäblich die „Scheiße wegräumen“, die andere produziert und genossen haben. Die Parabel suggeriert, dass die Menschen in Agbogbloshie selbst zu „Abfall“ werden, zu Objekten, die dazu dienen, die Überreste anderer zu verarbeiten. Moïses Tod und Jacobs Schicksal, die beide an den giftigen Bedingungen der Deponie zugrunde gehen und schließlich selbst in den Müll integriert werden, untermauern diese düstere Sichtweise. Daddy Jubilees Charakter verkörpert diesen Zynismus. Er ist selbst Teil des ausbeuterischen Systems, das er kritisiert, aber seine Worte sind eine brutale Wahrheit, die die Heuchelei des Westens entlarvt. Er manipuliert Thomas, um seine eigenen Geschäfte zu fördern, während er gleichzeitig die Realität der Deponie in schockierender Weise offenlegt.

Gifty ist eine rätselhafte junge Frau, die auf einer Säule aus Elektroschrott lebt. Sie ist eine symbolische Figur für Widerstandsfähigkeit und eine Art Hüterin des Ortes, ihre Präsenz wird als ästhetisch beschrieben. Gifty ist eine der rätselhaftesten und symbolträchtigsten Figuren in Guillaume Poix‘ Roman. Sie wird als ein junges Mädchen im Alter von etwa neun bis zehn Jahren beschrieben, das hoch oben auf einer imposanten Säule aus Elektroschrott lebt, die sie aus Kühlschränken, Fernsehern und sogar einem Gasherd zusammengebaut hat. Diese Säule ist ein markanter Orientierungspunkt in Agbogbloshie, ein „Phare bienfaisant“ (wohltätiger Leuchtturm) inmitten der giftigen Dämpfe und des Chaos. Gifty ist unverkennbar durch ihr Aussehen: Sie trägt ein auffallend weisses Kleid mit feiner Spitze, eine mutige Wahl in der schmutzigen Umgebung, die ihren Kontrast zur Realität des Ortes hervorhebt. Ihre schälende Haut wird paradoxerweise als „bezaubernde Schönheit eines Sommerregens“ beschrieben, was die vom Roman angestrebte Ästhetisierung des Hässlichen widerspiegelt. Ein rosa Band um ihre Taille, das wie ein Kohlkopf geformt ist, birgt angeblich Schätze und dient ihr als Schutz.

Zum Bühnenstück Waste von Guillaume Poix, Dossier artistique, 2016.

Ihre Haupttätigkeit besteht darin, Feuerzeuge an die Arbeiter der Deponie zu verkaufen und unermüdlich Funken und Flammen zu erzeugen. Diese Handlung ist zutiefst metaphorisch, da sie nicht nur das gefährliche Feuer der Deponie kontrolliert, das zur Metallgewinnung dient, sondern auch für Widerstandsfähigkeit und eine besondere Art von Spiritualität in dieser zerstörten Umgebung steht. Strukturell spielt sie die Rolle einer Hüterin und einer fast mystischen Figur, einer „pythie“ (Prophetin), die durch ihre Präsenz Schutz und eine unbestimmte Hoffnung vermittelt. Obwohl der Roman anfangs angibt, dass ihre Stimme unbekannt ist und sie nur durch Kopfnicken, Grimassen oder Lachen kommuniziert, spricht sie am Ende des Romans das einzige Wort „Viens“ („Komm“), um Isaac vor dem Feuer zu retten. Diese einzige verbale Äusserung bricht ihre vorherige Stummheit und unterstreicht die tiefe Empathie und Handlungsfähigkeit, die sie in einem Moment extremer Gefahr besitzt.

Gifty ist eine Figur der paradoxen Schönheit und stillen Stärke, die inmitten von Zerstörung und Leid existiert. Ihre Darstellung zeugt von der Fähigkeit des Menschen, sich an widrigste Umstände anzupassen und dennoch eine innere Reinheit und Hoffnung zu bewahren. Sie symbolisiert die „fils conducteurs“ (Leitungsdrähte) auf einer tieferen Ebene: nicht nur die physischen Verbindungen, sondern auch die unsichtbaren Ströme von Leben, Tod, Widerstandsfähigkeit und der paradoxen Schönheit, die in den dunkelsten Ecken der globalen Wegwerfgesellschaft zu finden sind. Jacobs Fantasien über Gifty sind rein und sehnsüchtig. Er stellt sich vor, sie zu halten, zu küssen und mit ihr eine tiefe Intimität zu teilen, die im krassen Gegensatz zur Brutalität seiner Umgebung steht. Die Szene, in der er Gifty während des Regens ansieht und „selig, sie betrachtet und anbetet“, zeugt von einer unschuldigen, fast spirituellen Zuneigung: Jacob empfindet eine tiefe Zuneigung zu ihr, besonders in seinen letzten Momenten, als Symbol für unschuldige Liebe und eine verlorene Zukunft.

Sprache und Bild im Roman

Poix‘ Poetik zeichnet sich durch eine duale Perspektive aus, die den Leser sowohl in die Gedanken des privilegierten westlichen Beobachters Thomas als auch in die harte Realität der Kinderarbeiter von Agbogbloshie eintauchen lässt. Der Roman nutzt dabei geschickt das generische Pronomen „On“ (man/wir), das oft zwischen einer allgemeinen, unpersönlichen Erzählerstimme und den inneren Monologen von Thomas oder Jacob wechselt, wodurch eine unmittelbare Identifikation, aber auch eine kritische Distanz ermöglicht wird. Die Sprache des Romans ist eine weitere Besonderheit: Einerseits poetisch und metaphorisch, um die düstere Realität der Müllhalde zu beschreiben, andererseits rau und ungeschliffen, wenn die Kinder von Agbogbloshie in ihrem einzigartigen Argot sprechen. Die Sprache ist im Roman nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Ausdruck von Macht, Widerstand und kultureller Identität. Der spezielle, hybride Argot der Arbeiter auf der Halde, ein „idiome obscur et métissé“ (dunkles und vermischtes Idiom), ist ein Zeichen ihrer Selbstbehauptung und Distanz zur Außenwelt. Sie ist dynamisch und eng mit der Realität der Deponie verbunden. Die Kommunikation in Les fils conducteurs ist vielschichtig und spiegelt die Kluft zwischen den Welten wider. Die Sprache auf der Deponie ist dynamisch, entwickelt sich ständig weiter und ist tief in der harten Realität des Alltags in Agbogbloshie verwurzelt. Sie ist direkt, rau und unverblümt, aber auch voller Metaphern und Bildlichkeit, die das Grauen ästhetisieren, wie Jacobs Bezeichnung des Metalls in den Kabeln als „l’âme“ (Seele). Das Beherrschen dieser Sprache symbolisiert Jacobs Integration in die Gemeinschaft der Deponiearbeiter. Im Gegensatz dazu steht Thomas‘ westliche Kommunikation, die oft von technischen Schwierigkeiten und Fragmentierung geprägt ist, wie seine gescheiterten Skype-Anrufe mit seiner Mutter zeigen. Diese Kommunikationsstörungen betonen die Entfremdung und das Unverständnis zwischen den Welten.

Der Roman ist reich an Phänomenen der Intermedialität. Die Deponie selbst wird als eine Art „Anti-Kunstwerk“ beschrieben, eine „Landschaft und Kunstinstallation“. Begriffe wie „digitaler Friedhof des Planeten“ oder „Babel, das bis in den Himmel ragt“ verwandeln den Müllhaufen in ein monumentales Symbol für Größenwahn und Verwirrung. Die „säulenartigen Gebilde“ aus Elektroschrott werden zu unbeabsichtigten Denkmälern. Poetische Metaphern wie Thomas‘ blaue Adern, die als „Schaltkreis“ („circuit“) beschrieben werden, verbinden den menschlichen Körper metaphorisch mit der Technologie und dem Elektroschrott. Selbst die Geräusche und die „Musik“ der Deponie – „ständige Knackgeräusche“, „nervtötendes mechanisches Rollen“ – schaffen eine akustische Landschaft, die das Chaos und die Vitalität des Ortes widerspiegelt. Die Umdeutung von Objekten, wie weggeworfene Videokassetten, die von Kindern als „Pfeile“ und „Lassos“ zum Ärger von Kühen genutzt werden, zeigt die Kreativität im Angesicht der Zerstörung.

Photo-reportage: Pieter Hugo, zum Bühnenstück Waste von Guillaume Poix, Dossier artistique, 2016.

Der Roman Les fils conducteurs thematisiert eine ambivalente und oft problematische fotografische Ästhetik, die sich exemplarisch in der Figur des Thomas manifestiert und gleichzeitig durch die eigene Poetik des Romans gespiegelt und kritisiert wird. Thomas wird von den lokalen Vermittlern Wisdom und Justice als „Export-Typ“ (mecton d’export) betrachtet und für deren eigene Zwecke instrumentalisiert, um internationale Gelder zu generieren. Dies zeigt die Komplizenschaft des westlichen Blickes in der Ausbeutung. Trotz der düsteren Thematik findet der Roman eine subtile und oft paradoxe Ästhetik in der Zerstörung. Die sprachliche Ästhetisierung des Grauens der Deponie spiegelt die ästhetische Absicht Thomas‘ wider, der diese „Hölle“ fotografisch festhalten will, aber auch die Art und Weise, wie die Charaktere sich an diesen Ort anpassen und darin Schönheit oder Wert finden. Thomas selbst vergleicht seine Fotos von der Deponie mit „Pollock-Gemälden“ und einer „Ameisenfarm“.

Der Text steuert auf einen erschütternden Höhepunkt zu, der Thomas‘ westlichen Blick und Jacobs Schicksal auf unlösbare Weise miteinander verbindet. Thomas hat Schwierigkeiten, sich auf der Deponie zu orientieren, leidet unter Übelkeit, Kopfschmerzen und den giftigen Dämpfen. Er macht Hunderte von Fotos, die er mit Pollock-Gemälden und einem „Ameisenhaufen“ vergleicht. Er passt sich der Umgebung an, aber die Gerüche sind für ihn als Asthmatiker eine Belastung. Thomas, der „authentische“ Fotos machen und „beweisen“ will, dass „l’enfer c’est pas open bar“ (die Hölle kein offenes Haus ist), bezahlt Wisdom und Justice, um Zugang zur Halde zu erhalten und dort einen der Jungen für Fotos zu „mitrailler“ (abzuschießen/fotografieren). Thomas trifft Jacob, der alleine Schrott sammelt. In einem perversen Deal soll Jacob Thomas sexuell befriedigen: Wisdom und Justice fordern Thomas auf, Jacob in sein Hotel mitzunehmen, was auf eine sexuelle Transaktion hindeutet, und verlangen 500 Cedi. Doch Jacob stellt sich überraschend dazwischen und bietet sich selbst an. Er besteht darauf, allein mit Thomas zu gehen. Thomas ist beunruhigt, willigt aber ein, Isaac und Jacob gemeinsam zu fotografieren, was ein „sehr gutes Foto“ ergibt, das sie „ganz allein auf der Welt“ erscheinen lässt.

Obwohl Thomas dies nicht beabsichtigt und Jacob dies nicht will, führt die toxische Atmosphäre der Müllhalde dazu, dass Thomas krank wird und in Ohnmacht fällt. In seiner Panik und Verwirrung, als Jacob ihn halten will, tötet Thomas versehentlich den Jungen. Er vergräbt Jacobs Leiche in der Müllhalde, um alle Spuren zu verwischen. Dieser Akt ist die ultimative Konsequenz der westlichen Intervention: Der Wunsch nach Dokumentation und einer „authentischen“ Erfahrung führt zur Zerstörung des Individuums, das dokumentiert werden sollte. Der Roman endet nicht mit diesem Mord, sondern mit einer bitteren Ironie. Ein „junger Junge“ (Isaac) trägt am nächsten Morgen „den leblosen Körper eines anderen Jungen“ (Moïse), der an seiner Krankheit gestorben ist, damit sein Körper im Korle Lagoon „nach San Francisco“ treiben soll. Thomas‘ Fotos werden später in der Maison Européenne de la Photographie in Paris ausgestellt. Die Ausstellung feiert das „talent singulier“ des „jeune photographe franco-suisse“. Eines der markantesten Bilder, betitelt „Job“, zeigt zwei junge Schrottsammler – vermutlich Isaac und Moïse, da Jacob bereits tot ist. Die Rezeption des Fotos ist ambivalent: „certains y décelant un regard complaisant vis-à-vis de la misère, d’autres lui reprochant sa théâtralité morbide. Malgré cette controverse, on s’est toutefois accordé sur la beauté du cliché. Le photographe est désormais… un artiste « dans le vent »“. Einige Kritiker werfen Thomas einen „wohlwollenden Blick auf das Elend“ (regard complaisant vis-à-vis de la misère) vor, während andere die „morbide Theatralik“ bemängeln. Diese Debatte spiegelt die ambivalente Wirkung westlicher Kunstprojekte wider, die zwar Aufmerksamkeit erregen können, aber auch die Gefahr bergen, die dargestellten Personen zu objektivieren oder ihr Leid zu trivialisieren. Der Roman dekonstruiert somit, wie Thomas‘ Erfolg als Künstler auf der moralischen Kompromittierung und dem Tod eines Kindes basiert.

Der Roman Les fils conducteurs ästhetisiert Ghana und insbesondere die Mülldeponie Agbogbloshie auf eine Weise, die der Rezeption von Thomas‘ eigenem Kunstprojekt ähnelt und diese kritisch spiegelt. Anstatt die brutale Realität nur deskriptiv darzustellen, verwendet der Roman eine evokative, oft poetische und metaphorische Sprache, die selbst das Grauenvolle zu einem Objekt intensiver Betrachtung und symbolischer Bedeutung erhebt. Der Roman von Guillaume Poix wendet den Vorwurf der ästhetischen Ausnutzung von Leid nicht explizit auf sich selbst an. Stattdessen integriert und thematisiert er diesen Vorwurf durch die Erfahrungen und die Rezeption von Thomas‘ Fotografie. Der Roman agiert dabei als eine Art metafiktionale Reflexion, die den „westlichen Blick“ kritisch hinterfragt und die Komplexität sowie die ethischen Fallstricke der Darstellung von Elend aufzeigt. Er zwingt den Leser, über die Ursachen und die Folgen des dargestellten Leidens nachzudenken, anstatt nur eine Oberfläche der Ästhetik zu bieten. Thomas wird schließlich als Künstler gefeiert, obwohl er sich an der Ausbeutung und dem Tod eines Kindes mitschuldig gemacht hat. Sein „Erfolg“ ist ein moralisches Scheitern. Die „Erkenntnis“ des Romans ist hier nicht Thomas‘ eigene Einsicht, sondern die schonungslose Entlarvung seiner heuchlerischen Position und der Komplizenschaft des Westens. Das System der Ausbeutung und Umweltzerstörung besteht trotz der westlichen Aufmerksamkeit weiter. Thomas wird zum Teil des Problems, das er eigentlich beleuchten wollte.

Parallelen im Werk von Guillaume Poix

Star (2023)

Der Roman Star erzählt die Geschichte eines ehrgeizigen französisch-schweizerischen Schauspielers, der zunächst versucht, in Paris im Filmgeschäft Fuß zu fassen. Trotz einer frühen, wenn auch stummen, Rolle in Nicole Garcias Film Un beau dimanche, erlebt er eine Reihe von beruflichen Rückschlägen und Demütigungen. Dies führt ihn schließlich dazu, als Barman in Los Angeles zu arbeiten, wohin er nach dem Gewinn einer Green Card gezogen ist. Dort entwickelt er eine intensive Faszination für Ariel Winthrop, einen unbekannten amerikanischen Statisten, dessen Filmografie er akribisch studiert und dessen flüchtige Auftritte und „Gesten“ in über sechzig Filmen er dokumentiert. Diese Obsession, die sogar dazu führt, dass er Ariels Bewegungen im Alltag nachahmt, kostet ihn seinen Job. Nach dem Entzug seiner Green Card kehrt er nach Paris zurück und arbeitet als Kellner. Er erhält schließlich eine kleine Rolle in Alice Diops Film Saint Omer, die er trotz seiner ursprünglichen Ambitionen als Wunder betrachtet und die Ariel’s Philosophie der bedeutsamen, unscheinbaren Erscheinung widerspiegelt. Der Roman kulminiert in der bitteren Erkenntnis, dass sein als einzigartig empfundenes Projekt bereits Jahre zuvor von einer Journalistin akribisch dokumentiert wurde, was sein Lebenswerk als Plagiat entlarvt. Die Erzählung ist eine Reflexion über Ruhm, Scheitern und die Suche nach Identität in der gnadenlosen Welt der Filmindustrie.

Die Darstellung von Thomas‘ Scheitern und seiner verzerrten Realitätswahrnehmung in Les fils conducteurs findet eine faszinierende Parallele in Guillaume Poix‘ Roman Star (2023). Obwohl Thomas ein Fotojournalist und der Protagonist in Star ein angehender Schauspieler ist, kämpfen beide mit der Konstruktion ihrer eigenen Identität und der Realität unter dem Druck externer Erwartungen und der Suche nach Anerkennung. In Star versucht der namenlose Erzähler, ein Schauspieler zu werden, und sehnt sich nach Hollywood-Ruhm. Er beschreibt, wie „Spielen … die Kunst ist, die Last der Wahrheit und die Grenzen des Seins jemand anderen zu tragen“ und wie ein Schauspieler „zu sehen verlangt“. Dies spiegelt Thomas‘ Wunsch nach „Relevanz“ und dem „Impact“ seiner Fotografie wider. Beide Charaktere sind auf eine Weise „Performer“: Thomas inszeniert die „apokalyptische“ Situation von Agbogbloshie, während der Erzähler in Star akribisch „Gesten“ studiert, um sich in Rollen einzufügen.

Die interne Unsicherheit und Selbstverachtung, die Thomas empfindet – er nennt sich „null“ oder „dumm“ – spiegelt sich in den Selbstbeschreibungen des Erzählers in Star wider, der sich als „unbedeutend,“ „nutzlos,“ „wehleidig“ und „passiv“ bezeichnet. Beide Figuren sind Produkte eines Systems, das sie zu manipulieren versuchen, aber letztlich von ihnen manipuliert werden: Thomas durch Wisdom und Justice, der Erzähler in „Star“ durch die zynische Filmindustrie und seine eigenen Illusionen. Die Idee des „Autobiopic“ in Star, in dem das Leben wie ein Film kuratiert wird und der Protagonist „Szenen seiner Biographie nach Belieben schneiden“ möchte, um „schlechte Überraschungen zu ersparen“, ist ein direkter Spiegel von Thomas‘ Versuch, seine eigene Erzählung zu kontrollieren. Thomas begräbt Jacobs Leiche, um „Spuren zu beseitigen“, und präsentiert eine „schöne“ aber kontrovers diskutierte Fotografie seines „Erfolgs“. Beide Protagonisten verbergen unbequeme Wahrheiten, um ihre öffentliche (oder persönliche) „Performance“ aufrechtzuerhalten.

Diese übergreifende Thematik in Poix‘ Werken – die Konstruktion von Realität und Identität durch den äußeren Blick und innere Narrative – legt nahe, dass die Tragödie von Les fils conducteurs nicht nur eine Kritik an der globalen Ungleichheit ist, sondern auch eine tiefere Reflexion über die menschliche Anfälligkeit für Selbsteinszenierung und die letztendliche Unmöglichkeit, der Wahrheit dauerhaft zu entkommen. Die Angst ist ein unsichtbarer Motor hinter den Handlungen von Thomas und dem Erzähler in Star, die sich verzweifelt nach Bestätigung und dem „richtigen“ Auftritt sehnen. Beide Romane zeigen, wie Menschen in repressiven oder wettbewerbsorientierten Umgebungen interne und externe „Performances“ aufrechterhalten, die oft zu tiefer moralischer Kompromittierung oder psychischem Leid führen.

Là d’où je viens a disparu (2020)

Die Romane Les fils conducteurs und Là d’où je viens a disparu beleuchten den Gegensatz zwischen westlicher Wohlstandsexistenz und prekärer Überlebensrealität, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und erzählerischen Formen. In Les fils conducteurs wird die wohlhabende westliche Existenz direkt als Verursacherin und Profiteurin einer globalen Ausbeutungsökonomie dargestellt. Thomas, der französisch-schweizerische Fotojournalist, der die Elektronikschrottdeponie Agbogbloshie in Ghana dokumentieren will, verkörpert einen westlichen Idealismus, der von Überheblichkeit und Naivität geprägt ist. Sein von Total finanziertes Projekt führt ihn nicht zur erhofften Aufklärung, sondern in die Mitschuld an einer Tragödie, die in der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jacobs tragischem Tod gipfelt. Das Werk ist eine „schonungslose Demontage westlicher Überheblichkeit“, die aufzeigt, wie die „geplante Obsoleszenz“ westlicher Produkte direkt das Leid und die Umweltzerstörung im Globalen Süden bedingt und der „westliche Blick“ die Mechanismen der Ausbeutung durch seine Komplizenschaft verstärkt.

Im Gegensatz dazu legt Là d’où je viens a disparu seinen Fokus auf die prekäre Existenz von Migranten und Geflüchteten sowie die inneren Konflikte und Ängste innerhalb westlicher Gesellschaften, die aus diesen globalen Realitäten resultieren. Als Chorroman präsentiert er eine Vielzahl von Stimmen und Schicksalen, die das Thema des Exils nicht nur geografisch, sondern auch emotional und sozial beleuchten. Der Roman schildert die Brutalität der Migrationsrouten, wie am Beispiel des Ertrinkens eines salvadorianischen Vaters und seiner Tochter im Rio Grande oder den langen Listen anonymer toter Migranten. Während Charaktere wie Thomas in Les fils conducteurs als privilegierte Beobachter agieren, ringen die Figuren in Là d’où je viens a disparu selbst mit den Folgen von Flucht und Prekarität oder sind wie Hélène mit der politischen und persönlichen Zerrissenheit konfrontiert, die durch Migrationsthemen in der westlichen Gesellschaft entsteht.

Der Vergleich beider Romane zeigt eine komplementäre Kritik an der westlichen Welt. Les fils conducteurs entlarvt die strukturelle Ungleichheit, die sich aus dem Wohlstand des Nordens speist und im Globalen Süden verheerende Auswirkungen hat. Die Tragödie liegt hier in der direkten Kausalität zwischen westlichem Konsum und externer Ausbeutung. Là d’où je viens a disparu vertieft die Analyse, indem es die psychologischen und sozialen Kosten der Prekarität innerhalb und an den Rändern westlicher Gesellschaften aufzeigt, insbesondere durch die Darstellung von Migration als Ergebnis und gleichzeitig als Spiegelbild dieser Ungleichheiten. Beide Romane fordern den Leser auf, die komplexen und oft unbequemen Zusammenhänge zwischen westlicher Lebensweise und globaler Prekarität zu erkennen, wobei der eine die externen Auswirkungen der Konsumgesellschaft und der andere die tiefgreifenden menschlichen und gesellschaftlichen Folgen von Vertreibung und dem Umgang damit im Westen beleuchtet.


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