C’est la fin du monde. Cette phrase est passée dans votre esprit au moment où tout a disparu dans un grand bruit.
Thomas Reverdy, Climax
Das ist das Ende der Welt. Dieser Satz ging Ihnen durch den Kopf, als alles mit einem lauten Geräusch verschwand.
Die Silhouette des Menschen ist schwarz, er scheint den Mond zu halten, in der eisigen Nacht, auf dem Umschlag des Buchs. Reverdys als Abenteuerroman oder als „Real Fantasy“ 1 lesbares Buch Climax führt im Norden Norwegens zerstörte Natur bei einem Fischerdorf vor, mit sterbenden Bären und Fischen, schmelzenden Gletschern und einem Unfall auf der Ölplattform. Als Ingenieur kehrt der Junge Noah zurück und begegnet seiner Jugendliebe Anå und alten Freunden wieder, in Rollenspielen hatte er damals den Namen Sigurd gewählt, die nordische Form von Siegfried. Das wird der Name der Plattform sein, deren Bohrunfall hier berichtet wird. Der talentierte Geologe Noah hat sein Know How längst an die Ölgesellschaft verkauft, während Anders als Forscher Idealist geblieben ist. Wie in der nordischen Legende also ein Kampf zweier Prinzipien. Das Ende der Welt wird in dem so düsteren wie schönen dystopischen Roman eingeläutet:
Il en faut peu parfois, il suffit d’un accident, d’un grain de sable dans l’équilibre fragile des jours, pour que tout s’écroule sans prévenir. Il suffit d’un rien. Le temps coule depuis si longtemps. Les secondes s’ajoutent aux secondes. On n’y pense pas. Et puis soudain, c’est comme s’il y en avait une de trop. Elle n’est la cause de rien, cette seconde-là n’est pourtant pas différente des autres, elle n’est qu’un grain de sable de plus, mais soudain, comme dans un sablier, c’est tout le tas qui glisse et qui s’effrite et qui s’effondre sous elle. Et c’est la fin du monde.
Thomas Reverdy, Climax
Manchmal braucht es nicht viel, nur einen Unfall, ein Sandkorn im fragilen Gleichgewicht der Tage, damit alles ohne Vorwarnung zusammenbricht. Es braucht nur eine Kleinigkeit. Die Zeit ist schon so lange im Fluss. Sekunden häufen sich auf Sekunden. Man denkt darüber nicht nach. Und dann ist es plötzlich so, als wäre es eine Sekunde zu viel. Sie ist nicht die Ursache von irgendetwas, diese eine Sekunde unterscheidet sich nicht von den anderen, sie ist nur ein Sandkorn mehr, aber plötzlich, wie in einer Sanduhr, kommt der ganze Haufen ins Rutschen, wird instabil und bricht unter diesem Korn zusammen. Und das ist das Ende der Welt.
Thomas Reverdy gilt als Autor des Verschwindens und deutet sich auch selbst so. 2 In Climax erzählt er eine posthumane Dystopie, aus der Perspektive eines Glaziologen, der statt über seine eigenen Gefühle und Sehnsüchte über die Arktis schreibt, Tiere beobachtet, Landschaften durchwandert und vom Verschwinden berichtet. Die Schönheit der Welt, selbst in Untergangsszenarien des Klimawandels ein Zauber, der den Menschen nicht zu brauchen scheint.
C’est son univers : la banquise des îles, la montagne, le glacier. La dernière nature inviolée, malgré le tourisme qui se développe depuis quelques années. La dernière nature, et c’est un désert. De la glace.
C’est là qu’il se sent bien, dans le silence de la nature ponctué des craquements du glacier et des cris stridents des chouettes et des rapaces, des croassements des corbeaux aventureux qui quittent leurs forêts, dans la solitude des sommets entourés de nuages roulants, c’est là, baigné dans l’évidence de la beauté du monde sous les étoiles, qu’il se sent chez lui, tout à fait dans son corps, rendu à ses sensations de fatigue et de froid, son silence intérieur qui hésite sur les mots. C’est là qu’il noircit son carnet, le remplit de notes, d’études, de réflexions. C’est là qu’il écrit, pour se taire.
Thomas Reverdy, Climax
Dies ist seine Welt: die Eisschollen der Inseln, die Berge, der Gletscher. Die letzte unberührte Natur, trotz des Tourismus, der sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Die letzte Natur, und sie ist eine Wüste. Eis.
Hier fühlt er sich wohl, in der Stille der Natur, unterbrochen vom Knarren des Gletschers und den schrillen Schreien der Eulen und Raubvögel, dem Krächzen der abenteuerlustigen Krähen, die ihre Wälder verlassen, in der Einsamkeit der Gipfel, umgeben von wogenden Wolken, hier, im Licht der Schönheit der Welt unter den Sternen, fühlt er sich zu Hause, ganz in seinem Körper, zurückgekehrt zu seinen Empfindungen von Müdigkeit und Kälte, seiner inneren Stille, die um Worte ringt. Dort füllt er sein Notizbuch mit Notizen, Studien und Überlegungen. Dort schreibt er, um zu schweigen.
Ökofiktion ist in den letzten Jahren neben dem Nature Writing ein Bestandteil der Romanthemen geworden, häufig engagiert und anklagend, aber immer engagiert.
- Thomas B. Reverdy, Climax, éd. Flammarion (Ölbohrunfall und Zusammenbruch eines Gletschers),
- Emmanuelle Salasc, Hors gel, éd. P.O.L. (Bedrohung eines Dorfs durch Eismassen),
- Jean-François Hardy, La Riposte, éd. Plon (Paris zerrüttet von der ökologischen Krise: Lebensmittelrationierung, Hitzewelle und Krankheiten ),
- Jérémie Brugidou, Ici, la Béringie, éd. de l’Ogre (globale Erwärmung in Sibirien und Alaska),
- Wilfried N’Sondé, Femme du ciel et des tempêtes (Gasausbeutung),
- Corinne Royer, Pleine Terre, éd. Actes Sud (Zusammenbruch der bäuerlichen Welt),
- Éric Fottorino, Mohican, éd. Gallimard (Windräder, bäuerliche Umweltverschmutzung).
Diese Titelliste von Fanny Arlandis reiht Reverdy ein in eine Tendenz der Neuerscheinungen 2021, sie schreibt das mit Verweis auf neuere literaturwissenschaftliche Studien zum Genre der Climate Fiction von Jean-Christophe Cavallin und Pierre Schoentjes, 3 Reverdy sieht seine Rolle zwar in diesem Kontext, aber kontemplativ, testimonial und erklärend eher denn kämpferisch:
Je me contente d’écrire un récit du désastre en cours, tant qu’on peut encore le faire. C’est modeste, comme rôle, pour lutter contre la fonte des glaces et le réchauffement climatique. Mais c’est sûrement utile de se donner des histoires pour arriver à vivre. Après les catastrophes, il ne reste jamais que les mots pour témoigner de ce qui y a mené.
Thomas Reverdy 4
Ich begnüge mich damit, einen Bericht über die laufende Katastrophe zu schreiben, solange wir das noch können. Es ist eine bescheidene Rolle, die wir im Kampf gegen das schmelzende Eis und die globale Erwärmung spielen können. Aber es ist sicher nützlich, Geschichten zu haben, nach denen man leben kann. Nach Katastrophen gibt es nur noch Worte, die bezeugen, was zu ihnen geführt hat.
Reverdys Nachwort berichtet von den besorgniserregenden Sonderberichten des Weltklimarats über die Arktis und die Kryosphäre, als ein „programmiertes Verschwinden“ im „Anthropozän“. Explizit verweist der Roman auf den Namen Götterdämmerung, Ragnarök (von altnordisch røkkr, Dunkelheit, eigentlich aber „Schicksal der Götter“), und damit auf nordische Mythologie und Werke von Wagner und Tolkien, der nordischen Götterdämmerung gehen ja auch Naturkatastrophen wie der dreijährige große Winter voraus. Im Roman führt der Autor ein Klimachaos von Dürre, Waldsterben, extremen Unwettern und Artensterben vor, und als die Aktienmärkte beunruhigt reagieren, vergleicht der Erzähler die beiden mathematischen Modellbildungen von Finanzmathematik und Meteorologie 5 Der Status von Reverdys Klimafiktion verknüpft Wissenschaft und Imagination:
Je n’ai pas établi de hiérarchie entre les études scientifiques et les enquêtes historiques d’une part, les récits d’aventures et la fiction d’autre part, parce que je crois que ce que nous appelons l’imaginaire – l’imaginaire des légendes et des mythologies, mais aussi des jeux et des romans dont nous faisons nos vies – fait partie de la réalité des choses. La fiction façonne notre monde. Sans elle, tout cela serait irrémédiable. Sans elle, la banquise, ce ne serait jamais que de la glace.
Thomas Reverdy, Climax, Note de l’auteur
Ich habe keine Hierarchie zwischen wissenschaftlichen Studien und historischen Untersuchungen einerseits und Abenteuergeschichten und Fiktion andererseits aufgestellt, weil ich glaube, dass das, was wir das Imaginäre nennen – das Imaginäre der Legenden und Mythologien, aber auch der Spiele und Romane, die wir zu unserem Leben machen – Teil der Realität der Dinge ist. Die Fiktion formt unsere Welt. Ohne sie wäre all dies nicht wieder gutzumachen. Ohne sie wäre das Packeis nichts anderes als Eis.
In teils berauschend schönen Bildern wird uns Landschaft gezeigt, und der Mensch verschwindet in ihr, etwa im Schnee:
Les averses de pluie gelée des premiers jours du voyage et leurs fleurs de grésil qui rebondissaient sur la mousse et le tapis d’aiguilles ont laissé place à la neige qui recouvre et dissimule les racines. Elle tombe tout le jour, mollement, inlassablement. Elle brouille la vue, étouffe les bruits de la forêt. Elle rend le ciel indistinct, la terre incertaine, les arbres fantomatiques. Parfois, vos propres silhouettes vous semblent des spectres cherchant à disparaître.
Thomas Reverdy, Climax
Die gefrorenen Regenschauer der ersten Tage der Reise und ihre Kristallblumen, die vom Moos und dem Nadelteppich abprallen, sind dem Schnee gewichen, der die Wurzeln bedeckt und versteckt. Er fällt den ganzen Tag über, sanft und unermüdlich. Er trübt die Sicht, legt sich über die Geräusche des Waldes. Er macht den Himmel unbestimmt, das Land ungewiss, die Bäume gespenstisch. Manchmal wirken die eigenen Silhouetten wie Gespenster, die verschwinden wollen.
Diese negative Schönheit ist nicht Ökofiktion im Sinne eines Gleichgewichts von Mensch und Natur. Aber gerade beim Idealisten Anders kann die empfundene kosmologische Verbindung durchaus ins Traumhaft-Existenzielle reichen:
C’est un ciel à l’envers et le monde paraît s’être retourné. Au-dessus de la tête d’Anders, la voûte céleste et son poudroiement d’étoiles ont l’air plus solides, plus profondes dans leurs ténèbres que la neige opalescente dans laquelle il plante ses pieds pour ne pas glisser, se donnant l’impression de marcher sur un nuage, comme s’il partait à l’ascension du ciel lui-même, vers des vallées de vide et des sommets d’étoiles, suivant la Voie lactée comme un chemin de crête de ce mont analogue où habitaient les dieux.
Thomas Reverdy, Climax
Der Himmel ist verkehrt, und die Welt scheint auf den Kopf gestellt zu sein. Über Anders’ Kopf scheinen der Himmel und seine pulverförmigen Sterne fester, tiefer in ihrer Dunkelheit als der opalisierende Schnee, in den er seine Füße setzt, um nicht auszurutschen, und der ihm den Eindruck vermittelt, auf einer Wolke zu gehen, als würde er den Himmel selbst erklimmen, hin zu den Tälern der Leere und den Gipfeln der Sterne, der Milchstraße folgend wie ein Kammweg jenes sinngemäßen Berges, in dem die Götter lebten.
Die Landschaftsfotografien von Thomas Reverdys Instagram-Profil geben eine Ahnung, wie schön Natur sein kann. Hier interessiert ihn intakte Landschaft, Licht, Bewegung, Jahreszeit.
Mich überzeugt der Roman vor allem in seiner Ambivalenz: In seiner Ökonomie der Verschwendung wird uns das Ende der Welt überbordend sinnlich vorgeführt, eine herrliche Dystopie gewissermaßen, eine erhabene Mythologie vom Ende, ein ästhetisches Naturschauspiel des Verschwindens, eine Aufführung der Götterdämmerung mit so düsterem Hintergrund:
La montagne craquait. Elle a basculé dans le vide, dans la nuit. Elle s’est détachée dans un craquement monumental et sinistre fait de millions de crépitements et d’explosions simultanés, comme le final d’un monstrueux feu d’artifice. Elle a glissé. Elle est partie derrière un dernier écran de poudre scintillante. Il n’y a plus eu que la nuit. Le silence qui a suivi était aussi assourdissant que le vacarme de sa chute. La montagne avait disparu. Vous avez regardé au loin, vers la mer, vers la ville, mais ses lumières se sont éteintes comme si on avait soufflé une bougie. La ville n’était plus là. Il n’y avait plus jusqu’à l’horizon que le noir de la terre et de la mer confondus, sous un ciel encore bleu en train de s’épaissir, de tomber tel un rideau de théâtre qu’on aurait descendu à la fin du monde comme à celle d’une comédie, un vieux rideau troué d’étoiles.
Thomas Reverdy, Climax
Der Berg knackte. Er stürzte ins Leere, in die Nacht. Mit einem monumentalen, unheimlichen Knall aus Millionen gleichzeitiger Knister- und Explosionsgeräusche brach er auseinander, wie das Finale eines monströsen Feuerwerks. Er kam ins Rutschen. Er hinterließ eine letzte Schicht aus glitzerndem Pulver. Es gab nichts mehr außer Nacht. Die darauf folgende Stille war so ohrenbetäubend wie das Getöse seines Sturzes. Der Berg war verschwunden. Sie haben den Blick in die Ferne gerichtet, auf das Meer, auf die Stadt, aber ihre Lichter sind erloschen, als ob eine Kerze ausgeblasen worden wäre. Die Stadt war nicht mehr da. Bis zum Horizont blieb nur noch die ineinander vermischte Schwärze des Landes und des Meeres, unter einem immer noch blauen, sich verdichtenden Himmel, der wie ein Theatervorhang fiel, den man am Ende der Welt wie für eine Komödie heruntergelassen hat, ein alter Vorhang mit sternförmigen Löchern.
Kai Nonnenmacher
- „Im Wechsel zwischen realistischen ökologischen Geschichten und phantastischen Projektionen, wissenschaftlichen Studien und nordischer Mythologie erfindet Reverdy ein neues literarisches Genre: ‚Real Fantasy‘, in dem Greta Thunberg (euphorisch) in einem üppigen Fjord Dungeons and Dragons spielt, Climax von Thomas B. Reverdy.“ Marine de Tilly, „La « réelle fantasy » de l’écrivain Thomas B. Reverdy“, Le Point, 1er octobre 2021>>>
- Vgl. etwa Florence Bouchy, „Thomas B. Reverdy, un romancier contre le chaos“, Le Monde, 18. September 2021.>>>
- Fanny Arlandis, „Réchauffement du climat, dégradation de l’environnement… La littérature se saisit, enfin, des questions écologiques. Romans et dystopies nous alertent. Et explorent, aussi, des mondes où l’homme n’est plus au centre“, Télérama, 22. September 2021. Gemeint sind Jean-Christophe Cavallin, Valet noir: pour une écologie du récit (José Corti, 2021) und Pierre Schoentjes, Littérature et écologie: le mur des abeilles (José Corti, 2020).>>>
- In Florence Bouchy, „Thomas B. Reverdy, un romancier contre le chaos“, Le Monde, 18. September 2021.>>>
- „Les mêmes modèles mathématiques étudiaient la complexité du climat et les variations folles de la finance.“ – „Dieselben mathematischen Modelle untersuchten die Komplexität des Klimas und die wilden Schwankungen der Finanzmärkte.“>>>