Inhalt
— De quoi as-tu peur ? Que l’on me reconnaisse ? Que l’on croie que c’est vrai ? Tu sais que je place la littérature au-dessus de ça.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
„Wovor hast du Angst? Dass man mich erkennt? Dass man glaubt, dass es wahr ist? Du weißt, dass ich die Literatur über all das stelle.“
Zerfall eines Machtmenschen
Karine Tuils Roman La guerre par d’autres moyens (Gallimard, 2025) ist unter anderem eine schonungslose Reflexion über Macht, Enttäuschung und den Preis politischer Ambitionen. Im Zentrum steht Dan Lehman, ein ehemaliger französischer Präsident, der nach seiner Wahlniederlage in eine tiefe existentielle Krise stürzt. Der Roman ist aber mehr als eine politische Satire, er ist auch eine psychologische Untersuchung der Einsamkeit, der Desillusionierung und der sozialen Dynamiken, die sich hinter den Kulissen der Macht entfalten. Gallimard fasst zusammen: „Ein Jahr nach seinem Abschied aus dem Élysée-Palast ist der frühere Präsident Dan Lehman nur noch ein Schatten seiner selbst. Das ikonische Paar, das er mit der Schauspielerin Hilda Müller bildet, ist nur eine Fassade. Alkoholiker und von Gerichtsverfahren bedroht, versucht er, wieder auf die Medienbühne zurückzukehren, während Hilda die Hauptrolle in einem Film spielt, der für die Filmfestspiele in Cannes ausgewählt werden könnte. Doch die Brüche in ihrem Privatleben verwischen die Grenzen zwischen persönlichem Drama und Fiktion. Mit diesem kraftvollen neuen Roman lotet Karine Tuil die grausame Mechanik der Macht aus.“ 1 Lehmans Karriere steht exemplarisch für die Krise der politischen Linken in Frankreich: Einst als Hoffnungsträger der sozialen Gerechtigkeit gefeiert, wird er schließlich als Verräter der Arbeiterklasse dargestellt. Die Kritik an seinem Neoliberalismus und sein angeblicher Verrat an linken Werten erinnern an reale politische Figuren wie François Hollande oder Tony Blair. Besonders stark ist die Konfrontation mit einem Rentner im Fernsehen, der ihn als „Marionette der Eliten“ beschimpft – eine Szene, die die zunehmende Distanz zwischen Politik und Volk auf den Punkt bringt.
Paris se déployait sous ses yeux jamais lassés du spectacle d’une ville qui exhibait à la tombée de la nuit une beauté magnétique, crépusculaire. À quelques mètres des parois vitrées qui avaient été aménagées autour de la tour Eiffel en prévention d’éventuels actes terroristes, des migrants et des sans-abri tentaient de trouver le sommeil à même le sol jonché de détritus, enroulés dans des sacs de couchage de fortune, aux couleurs neutres qui disaient le devoir d’être invisibles, leurs chiens aimants collés contre eux, faisant à la fois office de chauffage d’appoint et de pare-suicide. Sur les quais, des dizaines de campements précaires s’entassaient autour desquels erraient des silhouettes sombres et indifférenciées. Lehman les observait à travers la vitre – « Si je suis président, plus personne ne dormira dans la rue ; si je suis président, je ferai de l’accès au logement une priorité nationale » – quand son portable sonna : c’était sa femme, Hilda. Elle lui dit qu’elle ne pouvait pas l’attendre pour dîner, elle avait pris un somnifère et tombait de sommeil, elle était épuisée, ajouta-t-elle sur un ton où l’on sentait poindre la culpabilité et la peur d’être prise en faute. Il eut envie de lui répondre : « Épuisée par quoi ? Tu es actrice, tu ne pointes pas à l’usine », pourtant il ne fit aucun commentaire, il avait la désagréable impression d’être devenu son père, et au fond ça l’arrangeait bien, elle dormirait, il pourrait boire sans subir ses reproches et ses regards pleins de cette pitié comminatoire.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Paris entfaltete sich vor seinen Augen, die nie genug vom Anblick einer Stadt bekommen konnten, die bei Einbruch der Nacht eine magnetische, dämmrige Schönheit zur Schau stellte. Nur wenige Meter von den Glaswänden entfernt, die zur Verhinderung von Terroranschlägen um den Eiffelturm herum errichtet worden waren, versuchten Migranten und Obdachlose auf dem mit Müll übersäten Boden zu schlafen, eingewickelt in provisorische Schlafsäcke in neutralen Farben, die von der Pflicht zeugten, unsichtbar zu sein, während ihre magnetischen Hunde an ihnen klebten, die gleichzeitig als Zusatzheizung und Selbstmordschutz dienten. Auf den Docks türmten sich Dutzende von prekären Lagern, um die herum dunkle, undifferenzierte Gestalten umherirrten. Lehman beobachtete sie durch das Fenster – „Wenn ich Präsident bin, wird niemand mehr auf der Straße schlafen; wenn ich Präsident bin, werde ich den Zugang zu Wohnraum zu einer nationalen Priorität machen“ -, als sein Handy klingelte: Es war seine Frau Hilda. Sie sagte ihm, dass sie nicht mit dem Abendessen auf ihn warten könne, da sie eine Schlaftablette genommen habe und nun schlafen werde, sie sei erschöpft, fügte sie in einem Tonfall hinzu, in dem sich Schuldgefühle und die Angst vor Schuldzuweisungen bemerkbar machten. Er hätte am liebsten geantwortet: „Von was erschöpft? Du bist Schauspielerin, du stempelst nicht in der Fabrik“, aber er kommentierte es nicht. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass er ihr Vater geworden war, und im Grunde kam ihm das sehr gelegen, sie würde schlafen, er könnte trinken, ohne sich ihren Vorwürfen und ihren Blicken voller Mitleid aussetzen zu müssen.
Bereits in den ersten Kapiteln wird deutlich, dass Lehman gelernt hat, sich als Marke zu betrachten: Seine Bestsellerlistenplatzierung, seine Fernsehauftritte und sein Einfluss auf die Medien beschäftigen ihn ebenso sehr wie seine politischen Ideale. Tuils Roman ist nicht nur eine Abrechnung mit der politischen Elite, sondern auch eine Charakterstudie eines Mannes am Abgrund, wobei die meisten Charaktere des Romans von Süchten geprägt sind: Alkohol, Antidepressiva, Drogen, Sex. Lehman erinnert an klassische tragische Helden – er ist intelligent, charismatisch, aber in seinen eigenen Schwächen gefangen. Seine Alkoholsucht, seine zerfallende Ehe mit der Schauspielerin Hilda Müller und seine wachsende Isolation sind zentrale Themen des Romans. Hier zeigt sich eine Parallele zu Philip Roths Figuren wie David Kepesh oder Mickey Sabbath: Männer, die einst mächtig waren und deren Niedergang durch ihre eigene Hybris beschleunigt wird. Auch in Lehman steckt ein solcher selbstzerstörerischer Zug. Seine Selbstgespräche, die er auf einem Diktiergerät aufnimmt, sind eine Mischung aus Größenwahn, Selbstmitleid und Nostalgie – ein verzweifelter Versuch, die eigene Geschichte zu kontrollieren, während die Realität ihn längst überholt hat.
— Vous êtes resté cinq ans à la tête de l’État. C’est quoi pour vous, le pouvoir ?
— Ah, ça, c’est Michel Foucault qui l’a le mieux défini lors de l’un de ses cours au Collège de France, au milieu des années 70. Il a dit, en paraphrasant Clausewitz : « La politique, c’est la guerre continuée par d’autres moyens. »
La journaliste blêmit. À une heure de très grande audience, il fallait revenir à quelque chose de plus grand public si on ne voulait pas perdre d’auditeurs. Elle lut sa fiche puis releva la tête.
— Est-ce que vous vous laissez influencer par ce qu’on écrit sur vous sur les réseaux sociaux ?
— Jamais. Moi je crois à une éthique de la responsabilité, quand notre époque donne au ressenti un retentissement illimité et une légitimité dangereuse. Je crois au courage intellectuel, à l’esprit de mesure.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
– Sie blieben fünf Jahre lang an der Spitze des Staates. Was bedeutet Macht für Sie?
– Ach, das hat Michel Foucault in einer seiner Vorlesungen am Collège de France Mitte der 1970er Jahre am besten definiert. Er sagte, Clausewitz paraphrasierend: „Politik ist der Krieg, der mit anderen Mitteln fortgesetzt wird“.
Die Journalistin erbleichte. Zu einer Zeit mit sehr hohen Einschaltquoten musste man zu etwas Mainstreamigerem zurückkehren, wenn man keine Hörer verlieren wollte. Sie las ihre Karteikarte und hob dann den Kopf.
– Lassen Sie sich von dem, was in den sozialen Netzwerken über Sie geschrieben wird, beeinflussen?
– Das tue ich nie. Ich glaube an eine Ethik der Verantwortung, wenn unsere Zeit dem Gefühl eine unbegrenzte Resonanz und eine gefährliche Legitimität verleiht. Ich glaube an intellektuellen Mut und an den Geist des Maßes.
Der Romanteil „Persona“ von Tuil verweist auf die vielschichtige Identität von Dan Lehman, sowohl in politischer als auch in persönlicher Hinsicht. Der Begriff „Persona“ stammt aus der römischen Theatertradition und bezeichnet die Maske, die Schauspieler tragen, um eine bestimmte Rolle darzustellen, und das Wort „Rolle“ durchzieht den gesamten Roman. In diesem Abschnitt des Romans untersucht Tuil, wie Lehman zwischen diesen Identitäten schwankt – der öffentliche Intellektuelle, der gescheiterte Politiker, der Ehemann, der Vater und letztlich der gesichtslose Mann im Exil. Auf der politischen Bühne bleibt Lehman zwar präsent, doch die Machtstrukturen haben sich verändert. Figuren wie sein ehemaliger Berater Éric de Mérieux oder sein Anwalt Mathieu Brassard zeigen, wie politische Loyalitäten fließend sind: Sie bleiben ihm verbunden, sind aber längst auf neue Opportunitäten ausgerichtet. Gleichzeitig verdeutlicht sein Umfeld, wie skrupellos das politische System ist: Die Medien, angeführt von Journalisten wie Rachel Pilote, zerlegen ihn mit derselben Intensität, mit der sie ihn einst aufgebaut haben. Innerhalb dieser Konstellation spielt auch Romain Nizan eine bedeutende Rolle – nicht nur als Hildas neuer Partner, sondern als jemand, der selbst die Mechanismen der Öffentlichkeit durch das Medium Film nutzt. Während Lehman in der Politik seine Wirkung verloren hat, zeigt sich, dass andere Medienformen, wie das Kino oder die Literatur, weiterhin Diskurse prägen und Identitäten formen können. Während der Teil „Le Capital“ sich stark auf die politische Vergangenheit und die gesellschaftliche Fallhöhe von Lehman konzentrierte, verschiebt sich in Persona der Fokus auf sein inneres Erleben und seine psychische Zerrissenheit. Seine Welt bricht nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zusammen. Seine Alkoholabhängigkeit eskaliert, seine Ehe mit Hilda zerbricht endgültig, und sein Glaube an sich selbst erodiert. Lehman bleibt nur noch eine Rolle: die des Vaters. Seine Beziehung zur Tochter Anna, die taub geboren wurde, ist die einzige echte Verbindung, die er noch hat. Er versucht, ihr Gebärdensprache beizubringen, um mit ihr kommunizieren zu können. Doch seine Unfähigkeit, ihre Welt wirklich zu verstehen, macht ihn hilflos. Ist Lehman nicht nur politisch, sondern auch als Mensch gescheitert? Während Anna ihm bedingungslose Liebe entgegenbringt, ist er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihr wirklich gerecht zu werden. Die Vater-Tochter-Dynamik ist von einer tiefen Tragik durchzogen: Anna sieht in ihm einen Helden, während er sich selbst als Versager betrachtet.
Michel Foucault formuliert in Veränderung des Clausewitz-Diktums in seinem Kurs Il faut défendre la société (1976): „Die Politik ist der fortgesetzte Krieg mit anderen Mitteln“. Foucault sieht in der Politik eine ununterbrochene Fortsetzung von Machtkämpfen, die nur ihre Formen und Mittel wechseln. In seiner Machtanalyse interpretiert Foucault den Staat nicht als neutrale Instanz, sondern als Schauplatz von Herrschaftsverhältnissen, in denen gesellschaftliche Gruppen um Einfluss kämpfen. Foucaults Kurs fand in einem politischen Kontext statt, in dem die Nachwirkungen der Protestbewegungen von 1968 noch spürbar waren. Foucault untersuchte u.a., wie der Staat durch Sicherheitsmaßnahmen und Überwachungstechniken soziale Unruhen unter Kontrolle brachte – eine moderne Form des politischen Kampfes. Diese Vorlesung bietet auch heute einen analytischen Rahmen, der im Kontext der Medialisiserung der Öffentlichkeit, des modernen Populismus und des Aufstiegs der Neuen Rechten relevant bleibt.
Karine Tuils Roman La guerre par d’autres moyens greift Foucaults These auf, indem er die Mechanismen des politischen und gesellschaftlichen Machtkampfes seziert: Der Kampf des ehemaligen Präsidenten Dan Lehman um seine öffentliche Wahrnehmung geschieht in einer Welt, in der politische Macht nicht durch offene Gewalt, sondern durch Manipulation, strategische Allianzen und symbolische Kämpfe ausgeübt wird – eine Form des „fortgesetzten Krieges mit anderen Mitteln“. Die Figuren im Roman agieren in einer Art Schlachtfeld, in dem öffentliche Meinung, Medieninszenierung und persönliche Beziehungen als Waffen dienen. So wird Foucaults Perspektive greifbar: Politik ist keine friedliche Sphäre der Vermittlung, sondern eine Fortsetzung von Konflikten mit subtileren, aber nicht minder gewaltsamen Mitteln. Foucaults Formulierung hilft, Macht und Politik als permanente Kämpfe um Einfluss und Kontrolle zu verstehen: Die Schlacht um Macht wird nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in den Diskursen und Medienkämpfen der modernen Gesellschaft ausgetragen.
Karine Tuil betonte in Interviews, dass ihr neues Buch kein Schlüsselroman sei. Das Buch ist „À la mémoire de Robert Badinter“ gewidmet, der im Februar 2024 mit 95 Jahren gestorben ist. Für Tuils Auseinandersetzung mit Politik, Recht und Ethik ist er eine wichtige Autorität. Bis 1965 war Badinter mit der Schauspielerin Anne Vernon verheiratet, seit 1966 dann mit der Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter. Beide, Lehman und Badinter, sind jüdischer Herkunft, identifizieren sich aber stark mit der französischen Republik und sehen sich primär als Republikaner. Lehman nennt sich einen „juif d’Etat“ und wird als „un Français, républicain, athée, attaché au judaïsme“ 2 beschrieben – eine Formulierung, die stark an Badinters Selbstverständnis erinnert. Badinter war Anwalt und später Justizminister für den Parti Socialiste, er war und blieb eine moralische Autorität. Auch Lehman begann seine Karriere als Jurist, bevor er in die Politik wechselte. Während Badinter als moralische Instanz galt, etwa in Bezug auf die Abschaffung der Todesstrafe, ist Lehman ein ambivalenter Charakter, der sich zwischen Macht, Privilegien und Korruption bewegt, der an der Macht festhält und dabei ethische Grenzen überschreitet. Lehman reflektiert einige Themen, die mit Badinters Leben verbunden sind: die Rolle des Rechts in der Politik, die Härte des öffentlichen Lebens und die Frage nach moralischer Integrität in der Macht. Durch die Widmung an Badinter setzt Tuil eine Kontrastfolie: Badinter als Ideal eines aufrechten Politikers, dessen private Persona sich nicht von der öffentlichen unterschied, Lehman als Beispiel für den Zerfall eines Machtmenschen.
Bei Tuil steht Léonie, die Tochter von Dan Lehman und Marianne Bassani für die neue Generation von Frauen, die sich – in der Nachfolge von Elisabeth Badinter – nicht mehr den traditionellen Geschlechterrollen unterwerfen, sondern aktiv für ihre Unabhängigkeit und gesellschaftlichen Werte eintreten. Ihr Charakter steht im starken Kontrast zu den älteren Frauenfiguren im Roman, insbesondere zu Hilda und Marianne, die in unterschiedlicher Weise durch ihre Beziehungen zu mächtigen Männern definiert wurden. Léonie hingegen sucht nach einer Identität, die nicht von männlicher Bestätigung oder familiärer Tradition abhängt. Léonie wird als selbstbewusste, politisch und sozial engagierte junge Frau gezeichnet. Sie studiert Politikwissenschaften und engagiert sich aktiv in sozialen Bewegungen, insbesondere im Bereich des Feminismus und der sozialen Gerechtigkeit. Anders als ihre Mutter Marianne, die sich über die Literatur definiert, und ihre Stiefmutter Hilda, die in der Filmbranche tätig ist, wählt Léonie einen direkten, politischen Aktivismus, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Tuil beschreibt Léonie als eine junge Frau, die die Mechanismen der Macht durchschaut und bewusst ablehnt. Sie distanziert sich von den opportunistischen Praktiken der älteren politischen Generation – einschließlich der politischen Strategien ihres Vaters. Während Lehman Kompromisse eingegangen ist, um politische Macht zu erlangen, bleibt Léonie moralisch konsequent und fordert strukturelle Veränderungen anstelle von taktischen Anpassungen. Während Lehman die politischen Gegebenheiten akzeptiert und innerhalb dieser Grenzen zu agieren versucht, fordert Léonie einen radikalen Bruch mit den bestehenden Strukturen. Ihre politische Aktivität ist nicht von strategischen Überlegungen geprägt, sondern von moralischer Überzeugung. Ein besonders starkes Bild für ihre Emanzipation ist die Szene, in der Léonie während einer Demonstration gegen soziale Ungerechtigkeit von der Polizei abgeführt wird. Während ihr Vater einst Demonstrationen als Instrument des politischen Drucks betrachtete, sieht Léonie darin eine authentische Form des Protests und der Selbstermächtigung.
Jüdischsein und Politik in Frankreich
Lehman schreibt eine Biografie über Karl Marx, was eine doppelte Bedeutung hat: Marx war jüdischer Herkunft, hat sich aber von seiner religiösen Identität distanziert. In seinem persönlichen Niedergang reflektiert Lehman immer wieder über jüdische Figuren der Geschichte, die zwischen Macht und Verfall standen. Jüdische Themen spielen eine bedeutende, aber subtil eingeflochtene Rolle in La guerre par d’autres moyens. Sie sind besonders relevant für die Charakterisierung von Dan Lehman als eine Figur, die mit Identität, Zugehörigkeit und politischer Wahrnehmung kämpft. Der Roman zeigt, wie jüdische Intellektuelle in der französischen Politik oft mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, insbesondere mit Antisemitismus und dem Druck, sich entweder ihrer Herkunft zu entledigen oder sich als „anders“ akzeptieren zu lassen.
Dan Lehman stammt aus einer jüdischen Familie mit kommunistischen Wurzeln. Seine Großeltern waren jüdische Immigranten aus Osteuropa und gehörten der kommunistischen Widerstandsbewegung FTP-MOI (Francs-Tireurs et Partisans – Main-d’Œuvre Immigrée) an. Dies zeigt eine Verbindung zwischen jüdischer Identität und politischem Aktivismus, insbesondere innerhalb der französischen Linken. Sein Vater, Abraham Lehman, hat sich jedoch von dieser Tradition distanziert und führt ein einfaches Leben als Besitzer eines Geschäfts für Scherzartikel. Dies deutet auf eine Entpolitisierung und Entideologisierung der jüdischen Identität innerhalb der Familie hin. Lehman selbst erwähnt mehrmals, dass er als Jude in der französischen Politik immer als „anders“ wahrgenommen wurde, auch innerhalb der jüdischen Gemeinde hatte der Aufsteiger das Spiel der Distinktionen als Ausgrenzung erlebt:
Ses premiers rapports de force sociaux, Lehman les a vécus à Cannes, entre juifs. Les puissants et les faibles. Les riches et les pauvres. Ceux qui ont de l’argent mais pas d’instruction. Ceux qui sont lettrés mais modestes. Tous avaient une ambition commune : que leurs enfants étudient – l’émancipation passait par la connaissance. Il se souvient des clans, des humiliations, les petits juifs à gourmette qui se moquaient de lui parce qu’il n’avait pas le bon blouson, ni les baskets à la mode, pas d’argent pour commander un coca aux terrasses des cafés, les filles du XVIe qui lui souriaient avant de se détourner quand il avouait qu’il était scolarisé dans un collège du 93. Plus tard, il intégrerait le lycée Louis-le-Grand et il passerait devant eux, un livre de philo à la main, avec un peu de condescendance et beaucoup de fierté. L’ostracisme social, l’indifférence sélective, il les avait expérimentés là-bas, et non pas dans la banlieue où il avait grandi. À l’époque, ses amis venaient de tous les milieux, ses convictions politiques le définissaient, sa judéité s’affirmait dans l’ombre, comme un élément secondaire, on prônait la différence et le mélange. De là, la certitude qu’il n’y avait pas de liberté, d’égalité et de fraternité possibles sans mixité, sans désir d’unité : le communautarisme ne pouvait mener qu’à la fracture et la fracture à la guerre civile.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Seine ersten sozialen Machtverhältnisse erlebte Lehman in Cannes unter Juden. Die Mächtigen und die Schwachen. Die Reichen und die Armen. Diejenigen, die Geld haben, aber keine Bildung. Diejenigen, die gelehrt, aber bescheiden sind. Alle hatten ein gemeinsames Ziel: dass ihre Kinder studieren sollten – Emanzipation ging nur über Wissen. Er erinnert sich an die Clans, die Demütigungen, die kleinen Juden mit dem Armband, die ihn auslachten, weil er nicht die richtige Jacke, nicht die modischen Turnschuhe oder kein Geld hatte, um in den Straßencafés eine Cola zu bestellen, die Mädchen aus dem 16. Arrondissment, die ihn anlächelten, bevor sie sich abwandten, als er zugab, dass er in ein Collège im 93. ging. Später würde er das Gymnasium Louis-le-Grand besuchen und mit einem Philosophiebuch in der Hand an ihnen vorbeigehen, mit ein wenig Herablassung und viel Stolz. Die soziale Ächtung und die selektive Gleichgültigkeit hatte er dort erfahren, nicht in der Banlieue-Vorstadt, in der er aufgewachsen war. Damals kamen seine Freunde aus allen Schichten, seine politischen Überzeugungen definierten ihn, sein Judentum behauptete sich im Schatten, als Nebensache, man predigte die Andersartigkeit und die Vermischung. Daraus entstand die Gewissheit, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ohne Vermischung, ohne den Wunsch nach Einheit nicht möglich waren: Kommunitarismus konnte nur zum Bruch führen und der Bruch zum Bürgerkrieg.
Während Lehmans Amtszeit und besonders nach seiner Niederlage tauchen antisemitische Untertöne in der öffentlichen Debatte auf. In einer Talkshow wird er indirekt mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er sich zu sehr mit der Finanzwelt und dem „großen Kapital“ verbündet habe – ein klassisches antisemitisches Narrativ. Es kursieren Karikaturen, die ihn als Marionette von Finanzeliten oder als Symbol für eine angebliche jüdische Kontrolle über die Politik darstellen. Diese Vergleiche erinnern an reale Angriffe auf jüdische Politiker in Frankreich, etwa auf Léon Blum oder Dominique Strauss-Kahn. Lehman sieht sich in der Tradition jüdischer Intellektueller wie Pierre Mendès France oder Léon Blum, die ebenfalls mit Misstrauen und Vorurteilen konfrontiert wurden. Er thematisiert seine kulturelle Zugehörigkeit ambivalent: Einerseits ist er stolz auf seine Herkunft, andererseits hat er das Gefühl, dass sie ihn in der französischen Politik immer zu einem Außenseiter gemacht hat. Dies spiegelt eine breitere gesellschaftliche Realität wider: die schwierige Position von jüdischen Intellektuellen und Politikern in einem Land, das immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert ist, sowohl von rechts als auch von Teilen der radikalen Linken.
Ein wiederkehrender historischer Bezugspunkt für Lehman ist Pierre Mendès France, der jüdische Premierminister Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er Jahren. In einem inneren Monolog sinniert Lehman über Mendès France als Symbol für die Schwierigkeit, in der französischen Politik als Jude vollständig akzeptiert zu werden. Hier erkennt Lehman eine Parallele zu seiner eigenen politischen Karriere. Wie Mendès France sieht er sich als Intellektuellen, der sich durch seine analytische Schärfe und seine wirtschaftspolitischen Reformen auszeichnete. Doch genau wie Mendès France wird er letztlich als „anders“ betrachtet und aus der politischen Elite verdrängt. Ein weiteres Motiv, das Tuil hier subtil einführt, ist das des Verratsvorwurfs, dem Mendès France ausgesetzt war – eine Parallele zu Lehmans eigener Situation. Während Mendès France vorgeworfen wurde, Algerien aufzugeben und Frankreich zu schwächen, wird Lehman als Verräter der Arbeiterklasse und der sozialistischen Werte diffamiert. Dies deutet darauf hin, dass jüdische Politiker in Frankreich oft nicht nur an ihren politischen Entscheidungen, sondern auch an tief verwurzelten antisemitischen Stereotypen scheitern.
Noch deutlicher wird die Parallele zu Léon Blum, dem ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs in den 1930er Jahren. Blum wurde wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner progressiven Politik von der extremen Rechten massiv angefeindet und später während des Zweiten Weltkriegs von der Vichy-Regierung interniert. Lehman erinnert sich an die Schmähungen, die Blum ertragen musste und verknüpft seine eigene politische Erfahrung mit der historischen Realität jüdischer Politiker: Sie werden oft als nicht ganz französisch wahrgenommen, als Außenseiter, denen man nicht vollständig vertraut. Während jüdische Intellektuelle oft eine Schlüsselrolle in linken Bewegungen spielen, werden sie oft dann geopfert, wenn sich das politische Klima verändert. Auch Lehman wurde zunächst als Hoffnungsträger der Linken gefeiert, bevor man ihn schließlich fallen ließ.
— Comment peut-on être juif et de gauche aujourd’hui ? Vous ne voulez pas voir le réel ! Il n’y a plus de place pour les juifs à gauche. Vous me donnez des leçons, vous êtes naïfs ! L’extrême gauche est gangrenée par l’antisémitisme. La haine d’Israël, du capitalisme, tout ça n’est qu’une autre façon d’exprimer leur haine du juif !
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
„Wie kann man heute jüdisch und links sein? Sie wollen die Realität nicht sehen! Es gibt keinen Platz mehr für Juden in der Linken. Ihr belehrt mich, ihr seid naiv! Die extreme Linke ist vom Antisemitismus durchsetzt. Der Hass auf Israel, auf den Kapitalismus, all das ist nur eine andere Art, ihren Hass auf Juden auszudrücken!“
In einem Akt der Selbstrechtfertigung erinnert Lehman sich daran, dass der jüdische Karl Marx selbst von tiefen Widersprüchen geprägt war. Beide hatten große politische Ideen, beide wurden von ihren eigenen politischen Bewegungen erst verehrt und dann in Frage gestellt. Während Lehman sich zunehmend dem Alkohol hingibt und von der politischen Bühne verdrängt wird, reflektiert er auch über das Exil als wiederkehrendes jüdisches Schicksal. Er fühlt sich wie ein politischer Paria, ein Mann ohne Heimat. Lehmans Reflexionen über jüdische Figuren wie Pierre Mendès France, Léon Blum und Karl Marx dienen als Spiegel seiner eigenen Krise. Durch ihre Biografien erkennt er ein historisches Muster: Jüdische Intellektuelle und Politiker steigen oft in hohe Positionen auf, werden jedoch in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe zu Sündenböcken gemacht.
Lächerlich, komisch und tragikomisch
Une fois seul, il ne put s’empêcher de boire puis enclencha son dictaphone : Que pouvait-il m’arriver de pire ? En politique, la seule chose qui tue, c’est le ridicule.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Als er allein war, konnte er nicht anders, als zu trinken, und schaltete dann sein Diktiergerät ein: Was hätte mir Schlimmeres passieren können? In der Politik ist die einzige Sache, die einen umbringt, die Lächerlichkeit.
Ein Klatschmagazin veröffentlichte ein Bild des französischen Ex-Präsidenten, auf dem er betrunken mit einer Clownsperücke und Clownsnase auf dem Balkon einer Privatwohnung während der Feierlichkeiten zu Purim zu sehen war. Der Artikel begleitete das Bild mit einem spöttischen Kommentar über das Glück Frankreichs, einen so feierfreudigen Präsidenten gehabt zu haben. Das Bild verbreitet sich rasend schnell in den Medien und sozialen Netzwerken. Memes und Parodien machten Lehman weltweit zum Gespött. Während andere Skandale möglicherweise hätten überstanden werden können, ist das Element des Lächerlichen in der Politik tödlich für Karrieren: Lehman wird als „der Clown“ gebrandmarkt, was seine politische Glaubwürdigkeit erheblich beschädigt. Nach der Veröffentlichung des Fotos zieht sich Lehman zurück, meidet öffentliche Auftritte und fällt in eine persönliche Krise. Trotz Ratschlägen seiner Berater, das Ganze auszusitzen, hat der Vorfall langfristige Auswirkungen auf sein Image. Als er später in der Öffentlichkeit auftritt, wird er von einem Mann beschimpft und angespuckt, der ihn als „großen Clown“ und „Betrüger“ bezeichnete. Dabei fallen auch antisemitische Beleidigungen. Schließlich versucht Lehman, die Kontrolle über die Erzählung zurückzugewinnen, indem er sich öffentlich zu den Angriffen äußert. Die Parallelisierung zu Dans Vater Abraham und seinem Lachen jenseits des Politischen (bzw. beider verschwiegene Traurigkeit) macht den Clown-Skandal besonders tragikomisch:
Mon père, Abraham Lehman, avait voulu échapper à la politique, il ne croyait ni en Dieu ni au communisme : il aimait rire et faire rire mais il n’avait pas réussi à en faire son métier et il avait fini par se résoudre à ouvrir un petit commerce de déguisements et farces et attrapes dans le XXe, à Paris. Il se déguisait, faisait des blagues qu’il mettait en scène pour amuser ses enfants, peut-être aussi échapper à son propre chagrin – il n’en parlait pas, on ne montrait pas ses émotions. Il n’était pas rare que je le découvre avec une perruque rouge sur la tête en rentrant de l’école, ou grimé en superhéros.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Mein Vater, Abraham Lehman, wollte der Politik entkommen und glaubte weder an Gott noch an den Kommunismus: Er liebte es zu lachen und andere zum Lachen zu bringen, aber er hatte es nicht geschafft, dies zu seinem Beruf zu machen und eröffnete schließlich ein kleines Geschäft für Verkleidungen und Scherzartikel im Pariser 20. Arrondissement. Er verkleidete sich, machte Witze, die er inszenierte, um seine Kinder zu unterhalten, vielleicht auch, um seinem eigenen Kummer zu entfliehen – er sprach nicht darüber, man zeigte seine Gefühle nicht. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich ihn mit einer roten Perücke auf dem Kopf entdeckte, wenn er von der Schule nach Hause kam, oder als Superheld verkleidet.
Karine Tuils Roman La guerre par d’autres moyens verwebt Politik, Medien, Macht und persönliche Tragödien zu einer komplexen Erzählung, die zwischen Satire, Komik und Tragikomik steht. Der Roman setzt auch komische Elemente ein, um Machtmechanismen und gesellschaftliche Dynamiken zu entlarven, Tragikomik erweist sich als Strategie, um die Ambivalenz menschlicher Existenz zwischen Lächerlichkeit und Verzweiflung darzustellen. Tuil entwirft eine satirische, fast groteske Darstellung der politischen Elite: Ihre Figuren sind getrieben von Narzissmus, Medienstrategien und egoistischen Interessen. Die Komik entsteht hier durch Überzeichnung und Ironie: Lehman, der sich selbst als größten Staatsmann seiner Generation sieht, verbringt seine Tage damit, die Amazon-Rankings seines Buches zu checken und sich über seine schwindende Relevanz zu grämen. Autoren, Intellektuelle und Filmschaffende erscheinen ebenso opportunistisch und selbstverliebt wie die Politiker. Die Kulturbranche, die vorgibt, gesellschaftskritisch zu sein, ist selbst ein Teil des Systems, das sie anprangert.
Während die Komik aus der Übertreibung und dem absurden Verhalten der Figuren resultiert, entfaltet sich die Tragikomik auf einer tieferen Ebene: Lehman ist nicht nur eine lächerliche Figur, sondern auch ein Mensch, der mit dem Verlust seiner Identität kämpft. Der Kontrast zwischen seinem einstigen Status als Präsident und seiner gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit erzeugt eine tragikomische Spannung. Sein Versuch, durch das Schreiben eines Buches wieder Anerkennung zu gewinnen, scheitert grandios – nicht nur, weil das Werk kaum gelesen wird, sondern weil sein Inhalt niemanden interessiert. Diese Situation erinnert an klassische tragikomische Heldenfiguren wie Don Quijote, deren Pathos sich aus dem Missverhältnis zwischen Selbstbild und Realität speist. Aber auch Lehman selbst ist sich seiner eigenen Lächerlichkeit bewusst. Wenn er beispielsweise nach einer Talkshow in seine Limousine steigt und sofort zu einer Flasche Alkohol greift, weil er die Leere seines Lebens nicht erträgt, wird die Tragik des Moments durch sein groteskes Verhalten verstärkt.
Neben der komischen Überzeichnung der Eliten entfaltet Tuil eine tiefere Ebene des Tragikomischen im Privaten. Die Ehe zwischen Lehman und Hilda Müller ist ein Musterbeispiel für die Absurdität moderner Beziehungen: Während Hilda ihre Karriere in der Kunstwelt weiterführt, indem sie in dem Film mitspielt, der auf dem Buch von Lehmans Ex-Frau basiert, versinkt Lehman in Selbstmitleid und Alkohol. Diese Dreieckskonstellation – ein ehemaliger Präsident, seine Ex-Frau als Schriftstellerin, die neue Ehefrau als Schauspielerin – erinnert an eine klassische Komödie des Missverständnisses, doch die emotionale Leere der Figuren macht die Situation tragikomisch. Sie alle sind Gefangene ihrer Eitelkeit und ihres verzweifelten Versuchs, Bedeutung zu finden.
Lehmans ständiges Bedürfnis nach Alkohol wird im Roman auch tragikomisch inszeniert, im Ritual, sich nach jeder Niederlage einen Drink zu gönnen. Tuil nutzt diese Komponente, um die Selbstzerstörung ihres Protagonisten mit einer gewissen Lakonie darzustellen: Sein Trinken ist nicht heroisch, sondern erbärmlich. Das Tragikomische erweist sich hier als dominierende Erzählstrategie, da die Figuren in ihrem Versuch, sich selbst ernst zu nehmen, ständig über sich selbst stolpern. Diese Form des Humors offenbart eine tiefe Melancholie und macht den Roman zu einer bitteren Reflexion über Macht, Vergänglichkeit und die Absurdität des menschlichen Daseins.
Frankreich hatte bisher keinen jüdischen Präsidenten. Jedoch die jüdischen Premierminister wie Léon Blum in den 1930er Jahren und Pierre Mendès France in den 1950er Jahren. Lehman, der erste jüdische (Ex-)Präsident Frankreichs, begegnet dem Antisemitismus mit lakonischem Humor. Ein Beispiel dafür ist eine Szene, in der er nach einer antisemitischen Beleidigung trocken bemerkt: „Finalement, un truc comme ça, aussi vite après l’affaire du clown, c’est peut-être la meilleure chose qui pouvait t’arriver.“ („Letztendlich ist so etwas so schnell nach der Sache mit dem Clown vielleicht das Beste, was dir passieren konnte.“) Hier zeigt sich eine typische Form jüdischen Humors: Die Fähigkeit, selbst schlimmste Demütigungen in eine ironische Pointe zu verwandeln. Ein weiteres Merkmal jüdischen Humors ist die Neigung zu pointierten historischen Vergleichen. In einem Gespräch wird Lehman mit den früheren jüdischen Politikern Léon Blum und Pierre Mendès France verglichen, die ebenfalls antisemitischen Angriffen ausgesetzt waren. Paul, einer seiner Berater, fasst dies mit einem trockenen Kommentar zusammen:
Dès que je suis entrée dans la pièce, Dan s’est levé, je me suis avancée vers lui et il m’a serrée dans ses bras, nous sommes restés un moment comme ça, debout et immobiles. Il m’a demandé de m’asseoir près de lui, sur le canapé, Paul et Éric étaient installés en face sur des fauteuils. Paul a rappelé que Blum s’était « fait casser la gueule en 36 par l’Action française. Et souviens-toi… Mendès France en 54… Jacques Duclos, le secrétaire du PC, l’avait traité de petit juif pleureur et même de merde ».
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Sobald ich den Raum betrat, stand Dan auf, ich ging auf ihn zu und er umarmte mich, wir blieben eine Weile so stehen und bewegten uns nicht. Er bat mich, neben ihm auf dem Sofa Platz zu nehmen, Paul und Eric saßen gegenüber auf Sesseln. Paul erinnerte daran, dass Blum 36 von der Action française „die Fresse poliert bekommen hatte. Und erinnere dich… Mendès France im Jahr 54… Jacques Duclos, der Sekretär der KP, hatte ihn als kleinen herumheulenden Juden und sogar als Scheiße bezeichnet“.
Lehmans Beziehung zur Religion ist ambivalent: Er sieht sich als „Franzose, Republikaner, Atheist, aber dem Judentum verbunden“. Dennoch besteht er darauf, jüdische Feste wie Jom Kippur oder Purim mit seinen Kindern zu feiern. Der Clown-Skandal an Purim ruiniert sein öffentliches Image. Die absurde Verbindung von jüdischem Fest, Alkohol und öffentlicher Demütigung entspricht einer klassischen Tragikomik des jüdischen Humors. Der jüdische Humor in Tuils Roman zeigt sich vor allem in Lehmans Fähigkeit, seine politische und persönliche Misere mit Ironie zu kommentieren. Seine trockenen Bemerkungen und der sarkastische Umgang mit seiner Situation sind typisch für eine humoristische Tradition, die oft aus Notwehr entstanden ist. Wie in den Erzählungen von Woody Allen oder Philip Roth dient der Humor nicht nur der Komik, sondern auch dem Umgang mit tiefen gesellschaftlichen Spannungen. Tuil integriert jüdischen Humor als Mittel der Selbstverteidigung, der Ironisierung politischer Macht und der Reflexion über Identität. Das Lachen dient hier nicht nur der Erheiterung, sondern auch als Überlebensstrategie in einer feindlichen Umwelt.
Präsidialliteratur und Diktaphon
Die Kommunikationsformen im Roman sind vielfältig und multiperspektivisch und prägen sowohl die Interaktion zwischen den Figuren als auch die übergeordnete Erzählstruktur. Lehman, der einst als brillanter Redner galt, verliert zunehmend die Kontrolle über die Sprache – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in seinen persönlichen Beziehungen. Besonders auffällig ist, dass er selbst auf strategische Kommunikation angewiesen bleibt, aber in Momenten der Krise entweder in Zynismus verfällt oder sich in kryptische Aussagen rettet. Seine Interviews sind kalkulierte Performances, bei denen er hofft, sein Image zu rekonstruieren, doch die mediale Maschinerie hat ihn längst durchschaut. Das Fernsehen und die sozialen Medien werden zu Plattformen, die nicht nur Macht vermitteln, sondern auch zerstören können. Insbesondere die Figur des Journalisten Bernard Breguettes verdeutlicht diesen Wandel: Er ist kein investigativer Enthüller, sondern ein Moderator, der die politische Arena eher als Unterhaltungsformat begreift.
Gleichzeitig zieht sich eine tiefgehende Sprachlosigkeit durch das Buch. In seiner Ehe mit Hilda wird kaum mehr direkt kommuniziert, stattdessen bestehen ihre Dialoge aus gegenseitigen Vorwürfen und nicht ausgesprochenen Enttäuschungen. Noch radikaler zeigt sich das in seiner Beziehung zu Marianne: Sie spricht nicht mehr mit ihm, sondern antwortet ihm nur über ihre Bücher, die Lehman obsessiv liest. Selbst die Beziehung zu seinen älteren Kindern ist durch Missverständnisse geprägt, insbesondere zu Léonie, die ihm sein politisches Versagen aus feministischer und sozialkritischer Perspektive vorhält. Auch in der Politik zeigt sich diese Sprachlosigkeit: Während Lehman einst für seine rhetorische Brillanz bekannt war, wirkt seine Kommunikation zunehmend hohl – seine Worte haben ihre politische Durchschlagskraft verloren. Erzählerisch bedient sich der Roman einer multiperspektivischen Struktur, die zwischen personaler Erzählweise und wechselnden Fokalisierungen changiert. Dies ermöglicht es, die gleiche Szene aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erleben und dadurch die Subjektivität von Wahrnehmung und Erinnerung herauszuarbeiten. Lehman steht oft im Mittelpunkt, aber die Perspektiven von Hilda und Marianne eröffnen alternative Lesarten der Ereignisse, die seine Selbstinszenierung dekonstruieren. Diese Technik verdeutlicht, dass es in der Politik – und im Leben allgemein – keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur konkurrierende Narrative.
Lehmans vorheriges Buch, L’élan, war ein Bestseller, doch sein aktuelles Werk über Karl Marx, L’amour et la lutte!, dümpelt in den unteren Rängen der Verkaufscharts. Schon hier wird deutlich, dass Lehman nicht nur politisch, sondern auch kulturell an Relevanz verloren hat. Lehmans Buch versucht, die komplexe Beziehung zwischen persönlichem Leben und politischem Engagement zu beleuchten: Über seine Biografie von Karl Marx thematisiert er, wie intime Beziehungen und persönliche Kämpfe das öffentliche Handeln und die politische Identität prägen. Lehman möchte so die Verbindungen zwischen Liebe, menschlichem Streben und sozialer Gerechtigkeit nachzudenken. Er drückt seine Abneigung gegenüber der gegenwärtigen politischen Landschaft aus und kritisiert die oberflächliche Wahrnehmung von Erfolgen und Misserfolgen. Er sieht die Notwendigkeit, menschliche Beziehungen ernst zu nehmen, und betrachtet den Sex als eine essentielle Dimension des Lebens, die es ihm ermöglicht, mit existenziellen Fragen umzugehen. Das Buch spiegelt seine innere Zerrissenheit wider und zeigt, wie persönliche Kränkungen und gesellschaftliche Erwartungen sein politisches Handeln beeinflussen. Das Buch wird in der Öffentlichkeit und von den Medien sehr kritisch rezipiert, so wird eine erotische Passage als unangemessen oder lächerlich wahrgenommen, was zu einem großen Spott in sozialen Medien führt. In einer Szene in einem Interview äußert Lehman, dass er die Verbindung zwischen dem persönlichen Leben und der politischen Welt in seinem Buch thematisieren wollte, was jedoch nicht die gewünschte positive Resonanz findet.
Il se convainc qu’il doit écrire un nouveau livre à partir de ses enregistrements, l’écriture est une façon de contourner le gouffre que la fin du pouvoir ouvre devant lui de façon brutale, sismique : Mémoires, correspondances – en France, rares étaient les hommes politiques qui n’avaient pas un jour ou l’autre manifesté le désir d’écrire, l’attachement à la littérature était presque une tradition, un passage obligé pour toute personnalité désireuse d’obtenir crédibilité et légitimité intellectuelle. Mitterrand, de Gaulle étaient des écrivains, il espérait lui aussi laisser une œuvre.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Er ist überzeugt, dass er aus seinen Aufnahmen ein neues Buch schreiben muss, das Schreiben ist eine Möglichkeit, den Abgrund zu umgehen, den das Ende der Macht brutal und seismographisch vor ihm auftut: Memoiren, Briefwechsel – in Frankreich gab es nur wenige Politiker, die nicht irgendwann den Wunsch geäußert hatten zu schreiben, die Verbundenheit mit der Literatur war fast schon eine Tradition, ein Muss für jede Persönlichkeit, die Glaubwürdigkeit und intellektuelle Legitimität erlangen wollte. Mitterrand und de Gaulle waren Schriftsteller, und er hoffte, dass auch er ein Werk hinterlassen würde.
Die Audionotizen des Expräsidenten Lehman bilden eine zentrale narrative Achse des Romans und stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zu den erzählerischen Passagen: Lehman nutzt sein Diktiergerät ähnlich wie Richard Nixon – als eine Art privates Ventil für Gedanken, die er in der Öffentlichkeit nicht äußern kann. Lehman zitiert Platons Gorgias in einem seiner Selbstgespräche und stellt sich die Frage, ob die Machtausübung ihn korrumpiert hat und wann genau der Moment der moralischen Erosion eingetreten ist. Die Audionotizen lesen wir als Gegenstimme zur öffentlichen Darstellung seines Falls, als ein Medium der Selbstreflexion. Sie offenbaren seine Ängste, sein politisches Scheitern, seine Eheprobleme und sein zunehmendes Gefühl der Ohnmacht. Während die Medien ihn als charismatischen Politiker und Teil eines „power couple“ inszenierten, zeichnet sein privates Audiotagebuch das Bild eines Mannes, der sich in einer distanzierten, leblosen Beziehung gefangen fühlt. Es zeigt den Kontrast zwischen öffentlicher Performance und privatem Verfall.
Le pouvoir est dangereux, impur ; plus on l’exerce, plus on occulte la violence et la domination qu’il suppose : il isole, altère les relations et jusqu’à la perception que l’on a de soi. C’est une jouissance peut-être, mais une jouissance qui abîme.
Lehman appuie sur la touche stop de son dictaphone, allume une cigarette et en tire quelques bouffées avant de reprendre : Pompidou avait avoué qu’il s’était senti prisonnier à l’Élysée, en marge du bonheur, expliquant avec une certaine mélancolie qu’on n’est pas pour les autres n’importe qui. Il y a une distance. Comme lui, je n’ai pas supporté cette distance. J’avais même réfléchi à la manière dont je devrais désormais me comporter avec mes proches, mon personnel et mes collaborateurs : il fallait maîtriser ses émotions, réprimer ses instincts. Mon prédécesseur me l’avait confié : à la tête de l’État, si vous ne détruisez pas ça en vous, vous mourrez. C’est l’inverse qui s’est produit : en gardant les autres à distance, en leur refusant tout accès à ma vie, je me suis autodétruit, car vivre sans les autres est impossible. Je ne veux pas vivre sans Marianne.
Il arrête l’enregistreur, se sert un verre d’eau qu’il ne touche pas, puis le rallume : J’ai cherché à rendre la vie supportable – la politique, la littérature et l’alcool ne sont que des moyens de répondre à une seule question : comment vivre ?
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Macht ist gefährlich und unrein; je mehr man sie ausübt, desto mehr verdrängt man die Gewalt und die Herrschaft, die sie mit sich bringt: Sie isoliert, verändert Beziehungen und sogar die Wahrnehmung, die man von sich selbst hat. Es ist vielleicht ein Genuss, aber ein Genuss, der beschädigt.
Lehman drückt die Stopptaste seines Diktiergeräts, zündet sich eine Zigarette an und nimmt ein paar Züge, bevor er fortfährt: Pompidou hatte zugegeben, dass er sich im Élysée-Palast als Gefangener gefühlt hatte, am Rande des Glücks, und erklärte mit einer gewissen Melancholie, dass man für die anderen nicht jedermann ist. Es gibt eine Distanz. Wie er konnte ich diese Distanz nicht ertragen. Ich hatte sogar darüber nachgedacht, wie ich mich künftig gegenüber meinen Angehörigen, meinem Personal und meinen Mitarbeitern verhalten sollte: Man müsse seine Emotionen beherrschen und seine Instinkte unterdrücken. Mein Vorgänger hatte mir anvertraut, dass man an der Spitze des Staates stirbt, wenn man das in sich nicht zerstört. Das Gegenteil war der Fall: Indem ich andere auf Abstand hielt und ihnen jeden Zugang zu meinem Leben verweigerte, zerstörte ich mich selbst, denn ohne andere zu leben, ist unmöglich. Ich möchte nicht ohne Marianne leben.
Er schaltet das Aufnahmegerät aus, schenkt sich ein Glas Wasser ein, das er nicht berührt, und schaltet es wieder ein: Ich habe versucht, das Leben erträglich zu machen – Politik, Literatur und Alkohol sind nur Mittel, um eine einzige Frage zu beantworten: Wie soll ich leben?
Diese Selbstzeugnisse stehen in Kontrast zu den journalistischen Berichten, die Lehman als Clown und gescheiterten Politiker inszenieren. Während die Medien ihn zum Gespött machen, zeigt sich in seinen Diktaten ein anderer Lehman: einer, der um die Mechanismen der Macht weiß, der sich selbst als Opfer sieht, der sich intellektuell über seine Kritiker erhebt, aber gleichzeitig in Alkohol und Selbstmitleid versinkt. In seinen eigenen Worten gesteht er, dass er dachte, die Kontrolle über sein Leben zu haben – nur um dann zu erkennen, dass er den viralen Mechanismen der Medien und der digitalen Öffentlichkeit hilflos ausgeliefert ist. Die erzählerischen Passagen hingegen stellen Lehman aus einer multiperspektivischen Distanz dar. Sie lassen andere Charaktere zu Wort kommen – Journalisten, ehemalige Berater, politische Gegner –, die ihn als abgehoben, zynisch oder verloren beschreiben. So entsteht eine differenzierte Spannung zwischen Lehmans Selbstwahrnehmung und seiner Außenwirkung.
Das Diktaphon ermöglicht zudem eine narrative Klammer: Es ermöglicht Rückblenden in Lehmans Vergangenheit – seine Kindheit, seine Familie, seine politischen Anfänge. Diese Passagen sind introspektiv und oft wehmütig. Sie zeichnen ein Bild von Lehman als einem Mann, der sich aus einem tiefen Bedürfnis nach Anerkennung der Politik zugewandt hat, letztlich aber nicht die Kontrolle über sein eigenes Narrativ behalten konnte. Die Audionotizen sind ein Versuch der Selbstermächtigung, doch sie offenbaren letztlich die Verletzlichkeit und Ohnmacht des ehemaligen Präsidenten.
Autorschaft und Wahrheit
À la recherche du désastre ist der Titel eines Romans von Marianne Bassani (und Titel eines Teils des Romans von Tuil!), von einigen Kritikerinnen wird Bassanis Roman als feministischer Roman gefeiert. Das Werk wird zudem als Film adaptiert, was eine zweite Erzählebene eröffnet. Die Bedeutung dieses fiktiven Romans reicht über seinen Inhalt hinaus: Er wird zum Medium der Selbstbehauptung einer weiblichen Autorin, zum Objekt politischer und medialer Kontroversen und zur Projektionsfläche für die Beziehungen zwischen Kunst, Macht und Gewalt. À la recherche du désastre ist nicht nur ein Roman innerhalb eines Romans, sondern eine Reflexion über Literatur und Öffentlichkeit. Karine Tuil spielt mit den Grenzen zwischen persönlichem Ausdruck und medialer Vereinnahmung. Ein Motiv in Mariannes Schaffen ist die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen in der Literatur. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist ihr früherer Roman M’arracher, in dem sie über ihre Kindheitstraumata geschrieben hatte. Dieser Ansatz verweist auf eine Form des autofiktionalen Schreibens, die in der zeitgenössischen französischen Literatur – insbesondere bei Autoren wie Annie Ernaux oder Édouard Louis – eine zentrale Rolle spielt. Bassanis Buch verarbeitet ein persönliches Trauma: Sie schreibt über ihre Kindheit und insbesondere über den sexuellen Missbrauch, den sie als Kind erlitten hat. In diesem Sinne folgt es einer literarischen Tradition, die in der zeitgenössischen französischen Literatur von Annie Ernaux bis Édouard Louis dominiert wird – dem Anspruch, individuelle Erfahrungen politisch aufzuladen.
Il y avait une autre raison, moins avouable, plus opportuniste. C’est connu, beaucoup d’écrivains boivent ou prennent des drogues, de manière fixe ou épisodique, les occasions ne manquent pas. Parfois ils le font ouvertement voire le revendiquent comme une marque de liberté, Charles Bukowski, Jim Harrison ou Marguerite Duras n’ont jamais caché qu’ils buvaient. Le poète Henri Michaux, qui ne buvait pas, pas même du café, et ne fumait pas, s’était mis à prendre des drogues sous contrôle médical afin de tester leurs effets sur son écriture. J’ai consommé de l’alcool dans l’idée de transformer mon état en expérience littéraire. J’avais été très marquée dans le livre de Philip Roth Ma vie d’homme par le chapitre « À la recherche du désastre » qui m’avait inspiré le titre de mon roman. Alors jeune auteur prometteur, le double de Roth avait choisi de se mettre en couple avec une femme qui le dégoûtait physiquement, dont il avait même un peu honte, parce que sa personnalité, sa vie paraissaient extrêmement romanesques au petit aspirant écrivain issu d’une famille juive trop traditionnelle, trop conventionnelle de Newark qu’il était à cette époque. Rechercher un combustible pour l’écriture pouvait passer par l’autosabotage. Je l’avais dit un jour à Dan : « Je suis prête à tout pour écrire un livre. »
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Es gab noch einen anderen Grund, der weniger zulässig war, opportunistischer. Es ist bekannt, dass viele Schriftsteller trinken oder Drogen nehmen, ob dauerhaft oder episodisch, es gibt viele Gelegenheiten. Charles Bukowski, Jim Harrison oder Marguerite Duras haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie trinken. Der Dichter Henri Michaux, der nicht trank, nicht einmal Kaffee, und nicht rauchte, begann unter ärztlicher Aufsicht Drogen zu nehmen, um deren Auswirkungen auf sein Schreiben zu testen. Ich konsumierte Alkohol mit der Idee, meinen Zustand in eine literarische Erfahrung zu verwandeln. In Philip Roths Buch Mein Leben als Mann hatte mich das Kapitel „Auf der Suche nach dem Desaster“ sehr beeindruckt, das mich zum Titel meines Romans inspiriert hatte. Als vielversprechender junger Autor hatte sich Roths Doppelgänger für eine Frau entschieden, die ihn körperlich anwiderte und für die er sich sogar ein wenig schämte, weil ihre Persönlichkeit und ihr Leben dem kleinen angehenden Schriftsteller aus einer zu traditionellen, zu konventionellen jüdischen Familie in Newark, der er damals war, extrem romantisch erschienen. Die Suche nach Brennstoff für das Schreiben konnte mit Selbstsabotage einhergehen. Ich hatte Dan einmal gesagt: „Ich bin bereit, alles zu tun, um ein Buch zu schreiben“.
Der Bezug zwischen Karine Tuils La Guerre par d’autres moyens und Philip Roths My Life as a Man zeigt sich insbesondere durch das explizite Zitieren von Roths Kapitels „À la recherche du désastre“. In beiden Romanen geht es um männliche Figuren, die mit dem Scheitern ihrer Beziehungen, ihrer Macht und ihrer Identität ringen. Tuils Ex-Präsident Dan Lehman und Roths Protagonist Peter Tarnopol erleben beide eine tiefe existenzielle Krise, die mit Alkohol, Depression und gescheiterten Frauenbeziehungen einhergeht. Roths Kapitel beschreibt die zerstörerische Beziehung zwischen dem Protagonisten Peter Tarnopol und seiner Frau Maureen. Die Beziehung ist von Manipulation, Gewalt und psychologischer Abhängigkeit geprägt. Tarnopol fühlt sich von Maureen erpresst und in eine Ehe gezwungen, die ihn zunehmend in den Wahnsinn treibt. Maureen nutzt Drohungen, insbesondere mit Selbstmord, um Tarnopol an sich zu binden. Ihre Beziehung eskaliert in immer heftigeren Streitigkeiten, bis schließlich Maureens Tod durch einen Unfall das abrupte Ende darstellt. Doch statt Erleichterung empfindet er ein tiefes existenzielles Vakuum – ein zentrales Motiv des Romans. Das Kapitel verdichtet Tarnopols Zerrissenheit zwischen Schuldgefühlen, Hass und der Sehnsucht nach Autonomie. Es zeigt eine zentrale Frage des Romans: Inwieweit ist ein Schriftsteller in der Lage, seine eigene Geschichte zu kontrollieren? Tarnopol versucht, seine Erfahrungen literarisch zu verarbeiten, scheitert jedoch immer wieder daran, eine kohärente „wahre“ Erzählung seines Lebens zu konstruieren. Der Titel „Auf der Suche nach dem Desaster“ spielt darauf an, dass Tarnopol nicht nur Opfer des Desasters ist, sondern sich auch aktiv in zerstörerische Beziehungen begibt – sei es mit Maureen oder mit seinem Psychoanalytiker Dr. Spielvogel. Diese Suche nach dem Desaster ist letztlich eine Suche nach einer tragfähigen Identität als Mann und als Autor. Roth fragt so, ob autobiografisches Schreiben wirklich eine Form der Befreiung sein kann oder nur eine weitere Form der Selbsttäuschung. Roths Tarnopol verarbeitet sein persönliches Desaster durch Literatur – er erschafft die Figur Nathan Zuckerman, die wiederum autobiografische Elemente enthält. Lehmans erste Frau Marianne ist Schriftstellerin, und ihre literarische Deutung ihres Ex-Mannes prägt die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. So entsteht eine mehrschichtige Reflexion über Autorschaft, Wahrheit und persönliche Narrative – ein zentrales Thema auch in Roths Werk. Tuils dritter Teil schließlich wird „À la recherche du désastre“ heißen. Tuil signalisiert eine thematische Parallele: Ihr Protagonist Dan Lehman ist ebenfalls ein Mann, der nach dem Verlust seiner Macht und Identität ins Bodenlose stürzt. Wie Tarnopol ist er gefangen in einem Netz aus Selbstzerstörung, gescheiterten Beziehungen und der Unfähigkeit, sich aus seiner Vergangenheit zu lösen. Das „Desaster“, nach dem gesucht wird, ist nicht nur ein äußeres – wie die politische Niederlage oder der Skandal um Lehman –, sondern vor allem ein inneres: die Konfrontation mit der eigenen Schwäche, der eigenen Geschichte und dem Scheitern als Mann und als öffentliche Figur. Wie bei Roth geht es nicht nur um individuelle Tragödien, sondern um ein größeres Narrativ: den Niedergang einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit, die auf Dominanz und Kontrolle basiert. Lehman sucht – bewusst oder unbewusst – nach dem Punkt, an dem alles endgültig zusammenbricht, ähnlich wie Tarnopol in Roths Roman. Marianne Bassanis Roman À la recherche du désastre wird in La Guerre par d’autres moyens nicht nur als literarische Abrechnung mit Dan Lehman dargestellt; sie verarbeitet darin ihre gescheiterte Ehe mit dem ehemaligen Präsidenten und zeichnet das Porträt eines Mannes, der von Machtbesessenheit, Eitelkeit und moralischer Ambivalenz geprägt ist. Der Roman thematisiert zugleich ihre eigenen Opfer – den Rückzug aus der Schriftstellerkarriere zugunsten seiner politischen Laufbahn – und die Demütigung durch seine öffentliche Affäre mit Hilda Müller. Tuil deutet an, dass Bassanis Buch auch als intellektuelle Reflexion über die Mechanismen männlicher Selbstüberschätzung und politischer Hybris dient. Es erhält einen renommierten Literaturpreis, was Lehman zusätzlich demütigt, da seine Ex-Frau nun als ernsthafte Autorin Anerkennung findet, während er als gescheiterter Politiker in Vergessenheit gerät.
Bei Roth bildet die fertiggestellte Ich-Erzählung von Tarnopol den umfangreicheren zweiten Teil des Werks: „Meine wahre Geschichte“, also Fiktion in der Fiktion. Tarnopols „wahre Geschichte“ ist mithin keine objektive Autobiografie, sondern eine literarische Konstruktion, die von verschiedenen Stimmen kommentiert wird. Tuil übernimmt diese Technik, indem sie in „À la recherche du désastre“ die Wahrnehmung von Dan Lehman nicht nur durch ihn selbst, sondern auch durch die literarische Darstellung seiner Ex-Frau Marianne verzerrt. Wie bei Roth wird die Frage aufgeworfen, wer die „wahre Geschichte“ eines Menschen erzählen kann – und ob es sie überhaupt gibt. Marianne, Lehmans Ex-Frau, verarbeitet als Schriftstellerin ihre Vergangenheit in einem Roman. Ihr literarischer Blick auf Lehman beeinflusst die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und möglicherweise auch den Leser. Dies erinnert an Roths Konzept: Tarnopol schreibt über sein Leben, aber auch seine Therapeuten, Familie und Kritiker geben Kommentare ab, die seine Wahrheit in Frage stellen. Beide Romane spielen mit der Idee, dass es keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur subjektive Konstruktionen. In Tuils „À la recherche du désastre“ könnte der Leser sich fragen, ob dieses Bild von Lehman als gescheiterte Figur wirklich seine Realität ist oder ob es durch die Erzählung von anderen (wie Marianne oder den Medien) geformt wurde.
Die Adaption von À la recherche du désastre durch den Regisseur Romain Nizan transformiert den literarischen Stoff in ein filmisches Spektakel, das nur noch wenig mit dem Buch zu tun hat, so fügt er einen Mord ein, der im Buch gar nicht vorkommt. Die Verfilmung thematisiert „toxische Männlichkeit“ und Machtverhältnisse in Paarbeziehungen. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Hauptrolle im Film an Hilda Müller vergeben wird. Die Situation ist in sich absurd: Die neue Ehefrau des Expräsidenten spielt die Protagonistin in einem Film, der auf dem Buch seiner Ex-Frau basiert. Dieses Casting sorgt für Spannungen, insbesondere da Lehman von dem Projekt nichts wusste. Hilda hatte die Rolle angenommen, ohne ihn zu informieren, da sie befürchtete, er könnte versuchen, sie davon abzubringen. Die Verflechtung von Politik, Kunst und persönlichen Beziehungen gibt dem Film eine zusätzliche Brisanz. Marianne muss sich der Frage stellen, ob ihr Schreiben ein Akt der Emanzipation oder ein weiteres Produkt eines Marktes ist, der die „Vermarktung des Traumas“ begünstigt. Ihre Ohnmacht gegenüber der filmischen Adaption zeigt, dass literarische Texte im Spannungsfeld zwischen Authentizität und kommerzieller Verwertung stehen. Die Premiere beim Filmfestival in Cannes gerät zum Skandal: Zuschauer verlassen schockiert den Saal, es gibt hitzige Debatten über die Darstellung von Gewalt. Diese Kontroverse verweist auf eine mediale Realität, in der das Leiden von Frauen oft zum konsumierbaren Bild wird – sei es in der Literatur oder im Film. Marianne verliert zunehmend die Kontrolle über ihr Werk, das in den Händen der Filmindustrie zu einem kalkulierten Schockeffekt mutiert.
Romain Nizan l’affirmait souvent en interview : les gens qui n’ont aucune conscience politique l’angoissaient. Les gens mous, qui ne recherchent que leur confort, les individualistes – du plus loin qu’il se souvienne, il avait toujours été en colère, il le répétait : je suis né comme ça, en colère. Il citait Truffaut : « Faire un film est un acte social. » Le cinéma lui permettait de supporter les vicissitudes de l’existence, il ne connaissait pas meilleur remède. À part le sexe, peut-être. Il ne croyait pas au couple traditionnel, il aimait être amoureux et, évidemment, ça ne durait pas. La fidélité l’ennuyait. L’époque était trop puritaine, trop moralisante pour lui. Il rêvait d’une vie libre, désentravée. Et consacrée au cinéma, son unique passion. Son adolescence, il l’avait passée à visionner des films de Ken Loach, Godard, Bergman. Ça avait éveillé sa vocation et sa conscience politique.
À la question « Où et à quel moment avez-vous été le plus heureux ? », il répondait : à tout âge, dans une salle de cinéma. Peut-être aussi dans le lit de certaines femmes. Rapport à l’époque, il se sentait limité. À quarante-sept ans, il n’osait plus montrer son désir ni tenter quoi que ce soit avec les femmes, surtout les jeunes, plus affirmées que leurs aînées. Devant quelques amis hommes, cependant, il osait parler : « Un conseiller harcèlement flique tout le monde sur les tournages, c’est l’enfer. L’époque a fait de nous des comptables et des juges » – ce genre de choses.
Fils d’une sociologue française, engagée dans les luttes sociales et féministes, disciple de Bourdieu et de Foucault, professeure à l’École normale supérieure, et d’un père chef-opérateur, diplômé de la FEMIS, section réalisation, Nizan avait connu son heure de gloire dès son premier film, Le cours des choses, œuvre intimiste, critique de la société de consommation : « Un coup de maître » (Libé), « La naissance d’un grand cinéaste » (Les Cahiers du cinéma). Il était alors perçu comme un petit prodige un peu arrogant et cérébral, capable de disserter pendant des heures sur Lacan et Gramsci. Il n’avait eu aucun mal à trouver le financement pour un nouveau film, c’était déjà l’adaptation d’un livre, Retour à Brest, un premier roman qui avait connu un grand succès de librairie, un best-seller, un page-turner – on remédiait à bien des déficits d’imagination en rachetant les droits d’un livre. Le tournage s’était relativement bien passé (un tournage ne pouvait pas bien se passer, trop d’imprévus et de contraintes budgétaires engendraient nécessairement la conflictualité), mais cette aventure cinématographique avait pris une tournure tragique : Retour à Brest avait été éreinté par la critique. « Nizan, la déception » (Le Monde), « Retour à la case départ » (Le Point), « Quand le vide s’impose en salles » (Le Figaro). Lors de la soirée chiffres, cette petite réunion informelle organisée par le distributeur avec l’ensemble de l’équipe pour faire le décompte en temps réel des entrées en salles du jour de la sortie, tout le monde faisait la gueule – au cinéma, tout se jouait à la séance de 9 h 10 à la salle des Halles, à Paris : à 11 h 30, on obtenait le nombre de places vendues et on savait si le film était mort. Dix-huit personnes dont quinze proches du producteur s’étaient déplacées à une heure où, normalement, elles dormaient à poings fermés, épuisées d’avoir dû traverser les longs couloirs glacés et impersonnels du Forum des Halles pour rejoindre la petite salle où le film serait projeté. Le seul à se gaver de petits-fours, c’était l’auteur du livre : il avait cédé ses droits pour deux cent mille euros, s’en était empoché quarante mille pour l’écriture d’un scénario minable, qu’un script doctor non crédité au générique, qui avait coûté un bras à la production, avait dû réécrire, et avait déjà signé un compromis de vente pour une maison de campagne avec piscine en Bourgogne. Le film avait été retiré de l’affiche au bout d’une semaine. Nizan avait alors fait un épisode dépressif sévère.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Romain Nizan behauptete es oft in Interviews: Menschen, die kein politisches Bewusstsein haben, machten ihm Angst. Weiche Menschen, die nur ihre Bequemlichkeit suchen, Individualisten – seit er sich erinnern kann, war er immer wütend gewesen, wie er immer wieder betonte: Ich bin so geboren, wütend. Er zitierte Truffaut: „Einen Film zu machen ist ein sozialer Akt“. Das Kino half ihm, die Wechselfälle des Lebens zu ertragen, er kannte kein besseres Heilmittel. Abgesehen vom Sex vielleicht. Er glaubte nicht an die traditionelle Ehe, er liebte es, verliebt zu sein, und natürlich hielt das nicht lange an. Treue langweilte ihn. Die Zeit war ihm zu puritanisch, zu moralisierend. Er träumte von einem freien, entfesselten Leben. Es sollte dem Kino gewidmet sein, seiner einzigen Leidenschaft. Seine Jugend hatte er damit verbracht, sich Filme von Ken Loach, Godard und Bergman anzusehen. Das hatte seine Berufung und sein politisches Bewusstsein geweckt.
Auf die Frage „Wo und wann waren Sie am glücklichsten?“ antwortete er: In jedem Alter, in einem Kinosaal. Vielleicht auch in den Betten einiger Frauen. Verhältnis zu dieser Zeit fühlte er sich eingeschränkt. Mit 47 Jahren traute er sich nicht mehr, sein Verlangen zu zeigen oder etwas mit Frauen zu versuchen, vor allem nicht mit jungen Frauen, die selbstbewusster waren als ihre älteren Kollegen. Vor einigen männlichen Freunden wagte er es jedoch, zu sprechen: „Ein Belästigungsberater verfolgt jeden bei den Dreharbeiten, es ist die Hölle. Die Zeit hat uns zu Buchhaltern und Richtern gemacht“ – solche Dinge.
Nizan, Sohn einer französischen Soziologin, die sich für soziale und feministische Kämpfe einsetzte, Anhängerin von Bourdieu und Foucault war und an der École Normale Supérieure lehrte, und eines Vaters, der Kameramann war und an der FEMIS in der Abteilung Regie studierte, hatte seinen Durchbruch bereits mit seinem ersten Film, Le cours des choses, einem intimen, die Konsumgesellschaft kritisierenden Werk: „Ein Volltreffer“ (Libération), die Geburt eines großen Cineasten“ (Les Cahiers du cinéma). Damals wurde er als ein etwas arroganter, zerebraler Wunderknabe wahrgenommen, der stundenlang über Lacan und Gramsci dozieren konnte. Er hatte keine Schwierigkeiten, die Finanzierung für einen neuen Film aufzutreiben, es war bereits die Verfilmung eines Buches, Retour à Brest, eines ersten Romans, der ein großer Bestseller, ein Pageturner war – man konnte so manches Defizit an Vorstellungskraft beheben, indem man die Rechte an einem Buch aufkaufte. Die Dreharbeiten waren relativ gut verlaufen (Dreharbeiten können nicht gut verlaufen, zu viele Unwägbarkeiten und Budgetbeschränkungen führen zwangsläufig zu Konflikten), aber dieses Filmabenteuer hatte eine tragische Wendung genommen: Retour à Brest wurde von den Kritikern niedergeschmettert. „Nizan, die Enttäuschung“ (Le Monde), „Zurück auf Start“ (Le Point), „Wenn die Leere sich in den Kinosälen durchsetzt“ (Le Figaro). Beim „Abend der Besucherzahlen“, einem kleinen informellen Treffen, das der Verleiher mit dem gesamten Team veranstaltet, um in Echtzeit die Zahl der Kinobesucher am Tag des Kinostarts zu ermitteln, machten alle ein langes Gesicht – im Kino entschied sich alles bei der Vorstellung um 9.10 Uhr im Salle des Halles in Paris. Um 11.30 Uhr stand die Zahl der verkauften Plätze fest und man wusste, ob der Film tot war. Achtzehn Personen, darunter fünfzehn enge Vertraute des Produzenten, hatten sich zu einer Zeit auf den Weg gemacht, zu der sie normalerweise fest schliefen, weil sie erschöpft waren, weil sie durch die langen, eiskalten und unpersönlichen Gänge des Forum des Halles gehen mussten, um den kleinen Saal zu erreichen, in dem der Film gezeigt werden sollte. Der einzige, der sich mit Petits Fours vollstopfte, war der Autor des Buches: Er hatte seine Rechte für zweihunderttausend Euro abgetreten, vierzigtausend Euro für das Schreiben eines miserablen Drehbuchs eingesteckt, das ein nicht im Abspann genannter Script Doctor, der die Produktion einen Arm gekostet hatte, umschreiben musste, und hatte bereits einen Vorvertrag für ein Landhaus mit Pool in Burgund unterzeichnet. Der Film war nach einer Woche aus dem Programm genommen worden. Nizan hatte daraufhin eine schwere depressive Episode erlitten.
Nizans Verfilmung löst heftige Reaktionen aus. Der Film wird von seiner Produzentin als „großer politischer und sozialer Film in der Tradition von Ken Loach oder den Brüdern Dardenne, mit der Subversivität von Lars von Trier“ beschrieben. 3 Nizan sieht sich in der Tradition eines politischen Kinos und betont, dass Filme eine Form des sozialen Kampfes sein sollten. In Interviews betont er, dass Filme „die Realität so zeigen müssen, wie sie ist“ und nicht nur unterhalten sollen. Diese Haltung entspricht dem Kino von Ken Loach, der stets betont, dass seine Filme nicht neutral, sondern politisch positioniert sind. In einer hitzigen Debatte mit Lehman verteidigt Nizan seinen Film als realistische Darstellung eines gesellschaftlichen Problems. Lehman jedoch wirft ihm vor, die Gewalt zu ästhetisieren und sich als moralischer Held aufzuspielen. Er zieht Parallelen zwischen Politik und Filmwelt: Beide sind von Inszenierung, Ego-Kämpfen und öffentlicher Wahrnehmung geprägt. Während Politiker sich jedoch zumindest formal dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlen, ist das Kino von einem radikal individualistischen Überlebenskampf geprägt. Lehman attackiert Nizan mit dem Vorwurf, dass dieser als wohlhabender Regisseur keinen authentischen Zugang zur Arbeiterklasse habe. Dies erinnert an die Kritik, die auch Ken Loach entgegenschlug – dass seine Filme zwar Missstände anprangern, er selbst aber ein privilegierter Filmemacher bleibt. Implizit gilt dies freilich auch für einen sozialistischen Ex-Präsidenten.
Während sich der Regisseur nach außen als Verfechter der #MeToo-Bewegung inszeniert, erhält er in Wahrheit jedoch dieselben patriarchalen Strukturen aufrecht, die er vorgibt zu bekämpfen. Indem er ein Buch verfilmt, das sich mit der Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt, reiht er sich in eine Reihe von Männern ein, die sich durch performativen Aktivismus einen moralischen Bonus erarbeiten, ohne ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen. Seine öffentliche Persona ist strategisch: Er erkennt die gesellschaftlichen Verschiebungen und passt sich an, um seine Position zu sichern. Doch diese Fassade beginnt zu bröckeln, als seine privaten Handlungen ans Licht kommen. Seine Beziehung zur Schauspielerin Hilda folgt einem klassischen Muster von Manipulation und Machtmissbrauch. Er nutzt die Hierarchie am Filmset zu seinem Vorteil, hält sie emotional abhängig und überschreitet skrupellos Grenzen, bis zur Eskalation: Der Regisseur wird zunehmend besitzergreifend, aggressiv und letztlich gewalttätig. Diese Eskalation entlarvt ihn als einen Mann, der sich nur solange für Gleichberechtigung einsetzt, wie es ihm selbst nützt. Seine subtile, aber besonders gefährliche Form des Sexismus ist die des getarnten Täters, der sich hinter der Maske des progressiven Verbündeten versteckt.
À cet égard, le roman est aussi une réflexion sur la possibilité de réinventer sa vie, professionnelle et personnelle, dans une société où l’on est obsédé par la sécurité, entravé par des peurs – la peur du risque, la peur d’aimer, la peur de souffrir.
Karine Tuil, „Pour les chefs d’État, on parle peu de ce que ça fait d’avoir été au centre des choses et de ne plus l’être“, Interview von Minh Tran Huy, Le Figaro, 5. März 2025.
In dieser Hinsicht ist der Roman auch eine Reflexion über die Möglichkeit, das eigene Leben im Berufs- und Privatleben in einer Gesellschaft neu zu erfinden, in der man von Sicherheit besessen ist und von Ängsten behindert wird – der Angst vor dem Risiko, der Angst davor zu lieben, der Angst zu leiden.
Lehman bewundert Marianne für ihre Fähigkeit, durch das Schreiben tief in psychologische und existenzielle Abgründe einzutauchen. Er beschreibt ihr Werk als „trouble, tourmenté, traversé par des questions existentielles, et une charge subversive qu’elle ne possédait pas ou qu’elle dissimulait dans sa vie“ („trüb, gequält, durchzogen von existenziellen Fragen und einer subversiven Ladung, die sie nicht besaß oder die sie in ihrem Leben verbarg“). Die Autorschaft von Marianne steht in direktem Kontrast zur politischen Karriere Lehmans, die auf Inszenierung und Imagekontrolle beruht. Während er seine öffentliche Persona durch strategische Kommunikation konstruiert, nutzt Marianne die Literatur als einen Ort der Aufrichtigkeit und Enthüllung. Dies könnte als ein Spiegel der generellen Spannung zwischen Politik und Literatur gedeutet werden, wobei die Schriftstellerei als moralische Instanz fungiert. Marianne Bassani steht für eine radikale Form der Authentizität und Selbstenthüllung in der Literatur, die sich von strategischer Konstruktion und äußerer Inszenierung abgrenzt.
J’aimerais pouvoir raconter une histoire de rédemption. Dire que j’ai sauvé Dan de l’alcool. C’est l’inverse qui s’est produit. Pendant ces deux jours passés ensemble, j’ai bu avec lui. Dans un roman, un scénario, on privilégie les fins ouvertes, les schémas porteurs d’espérance, les personnages sont sauvés, il y a une ligne d’évolution, ils traversent des phases tourmentées puis s’en sortent. Mais dans la vie, ça ne se passe pas comme ça, la force de saccage l’emporte.
Karine Tuil, La guerre par d’autres moyens, Gallimard, 2025.
Ich wünschte, ich könnte eine Geschichte über Erlösung erzählen. Sagen, dass ich Dan vor dem Alkohol gerettet habe. Das Gegenteil war der Fall. In den zwei Tagen, die wir zusammen verbrachten, habe ich mit ihm getrunken. In einem Roman oder Drehbuch werden offene Enden und hoffnungsvolle Muster bevorzugt, die Figuren werden gerettet, es gibt eine Entwicklungslinie, sie durchlaufen quälende Phasen und kommen dann wieder heraus. Aber im Leben läuft es nicht so, da siegt die zerstörerische Kraft.
Die Schriftstellerin Marianne nimmt als Ex-Frau des Ex-Präsidenten Lehman in Tuils La guerre par d’autres moyens eine besondere Rolle ein. Während die meisten Figuren in der dritten Person dargestellt werden, spricht Marianne als einzige in der ersten Person – eine stilistische Entscheidung, die ihre Innensicht privilegiert und ihre Authentizität unterstreicht, mit Ausnahme der intimen Perspektive von Dan Lehmans Audionotizen. Marianne ist nicht nur eine eigenständige Figur mit einer erfolgreichen Schriftstellerkarriere, sondern verkörpert auch eine spezifische Sicht auf die Literatur. Marianne sieht das Schreiben als einen intuitiven, fast zwanghaften Prozess, während Lehman eine strategische, fast mechanische Schreibweise für die Öffentlichkeit nutzt. Marianne verkörpert ein literarisches Ideal, das sich gegen die Vereinnahmung durch andere Diskurse – insbesondere Politik und Medien – wehrt. Marianne und Dan Lehman stehen für zwei unterschiedliche Formen der Machtausübung: Während er als Politiker mit öffentlichen Inszenierungen und strategischen Allianzen arbeitet, agiert sie in der stilleren, aber nicht weniger wirkungsvollen Welt der Literatur. Beide arbeiten reflektiert mit Sprache, doch sie setzen sie auf diametral entgegengesetzte Weise ein. Lehman nutzt Worte, um zu überzeugen, zu manipulieren und sich selbst in einem bestimmten Licht darzustellen. Marianne hingegen sucht in der Literatur nach Wahrheit – oder zumindest nach einer subjektiven Version davon. Ihr literarischer Erfolg basiert nicht auf schnellen politischen Manövern, sondern auf der Fähigkeit, komplexe menschliche Beziehungen in einer Tiefe zu durchleuchten, die über bloße Rhetorik hinausgeht. Nachdem ihre Ehe mit Lehman gescheitert ist, entscheidet sie sich nicht für Rache oder öffentliche Abrechnung, sondern für die subtilere, aber ebenso schmerzhafte Strategie des Schreibens. Ihr literarisches Schaffen wird zu einem Spiegel, in dem Lehman sich immer wieder erkennen muss – und oft nicht gefällt, was er sieht. Lehman liest ihre Bücher obsessiv, weil er spürt, dass sie in ihnen über ihn spricht, ohne seinen Namen zu nennen. Marianne gibt ihm keine direkte Möglichkeit zur Konfrontation, sondern zwingt ihn, sich selbst in ihren fiktiven Figuren zu erkennen. Diese indirekte Form der Auseinandersetzung entzieht ihm jegliche Kontrolle über das Narrativ. Während er als Politiker gewohnt war, die Deutungshoheit über seine Geschichte zu haben, entgleitet ihm diese im literarischen Raum völlig. Tuil nutzt hier eine metanarrative Strategie: Durch Marianne reflektiert der Roman seine eigene literarische Dimension und stellt die Frage, wem die Deutungshoheit über eine Geschichte gehört. Die Figur der Schriftstellerin wird zum Symbol für die literarische Macht, sich selbst und andere durch Worte zu erschaffen – und damit auch zu kontrollieren.
Anmerkungen- „Un an après avoir quitté l’Élysée, Dan Lehman, ancien président de la République, n’est plus que l’ombre de lui-même. Le couple iconique qu’il formait avec l’actrice Hilda Müller n’est qu’une façade. Alcoolique, menacé par des affaires judiciaires, il tente de revenir sur la scène médiatique tandis que Hilda tient le rôle principal d’un film qui pourrait être sélectionné au festival de Cannes. Mais les fractures de leur vie privée brouillent les frontières entre drame personnel et fiction. Avec ce nouveau roman puissant, Karine Tuil sonde les mécaniques cruelles du pouvoir.“>>>
- „Bien qu’il ne fût pas pratiquant et qu’il aimât se définir comme un Français, républicain, athée, attaché au judaïsme, Lehman aimait retrouver ses enfants trois ou quatre fois par an pour les principales fêtes juives ; il insistait pour maintenir ces réunions familiales malgré les reproches de Hilda qui critiquait sa façon de faire perdurer ce qu’elle appelait « une polygamie bourgeoise ». Le jour de Kippour, Lehman jeûnait seul, chez lui ; il ne rejoignait pas ses enfants à la synagogue où sa présence aurait créé un attroupement mais partageait le repas avec eux, dans l’appartement des Lilas que Marianne n’avait pas quitté – ils avaient un petit-fils de deux ans, Raphaël ; ces vestiges de coutumes avaient maintenu pendant des années une forme de stabilité. Il leur avait promis de célébrer Pourim avec eux cette année, une fête juive qui commémore le sauvetage des juifs de l’Empire perse dans l’Antiquité. À Pourim, il y a deux coutumes qui symbolisent la joie : boire du vin jusqu’à devenir quasiment saoul – ce qui plaisait beaucoup à Lehman – et se déguiser – ce qui rendait les enfants heureux.“ – „Obwohl Lehman nicht praktizierte und sich gerne als Franzose, Republikaner, Atheist und dem Judentum verbunden bezeichnete, traf er seine Kinder gerne drei- oder viermal im Jahr zu den wichtigsten jüdischen Feiertagen; er bestand darauf, diese Familientreffen trotz Hildas Vorwürfen aufrechtzuerhalten, die kritisierte, dass er eine, wie sie es nannte, „bürgerliche Polygamie“ aufrechterhielt. An Jom Kippur fastete Lehman allein zu Hause; er ging nicht zu seinen Kindern in die Synagoge, wo seine Anwesenheit zu einer Menschenansammlung geführt hätte, sondern teilte das Essen mit ihnen in der Wohnung in Les Lilas, die Marianne nicht verlassen hatte – sie hatten ein zweijähriges Enkelkind, Raphael; diese Reste von Bräuchen hatten über Jahre hinweg eine Art Stabilität aufrechterhalten. Er hatte ihnen versprochen, dieses Jahr mit ihnen Purim zu feiern, ein jüdisches Fest, das an die Rettung der Juden aus dem persischen Reich in der Antike erinnert. An Purim gibt es zwei Bräuche, die die Freude symbolisieren: Wein trinken, bis man fast betrunken ist – was Lehman sehr gefiel – und sich verkleiden – was die Kinder glücklich machte.“>>>
- „— Selon votre productrice, c’est un grand film politique et social dans la lignée du cinéma de Ken Loach ou des frères Dardenne avec le côté subversif de Lars von Trier, rien que ça. Enfin, moi je ne l’ai pas vu.“>>>