Nürnberger Prozesse ohne Schlussstrich: Alfred de Montesquiou

Der Artikel liest Alfred de Montesquious Roman „Le crépuscule des hommes“ (2025, Prix Renaudot Essai) als Gegenentwurf zu popularisierenden Darstellungen der Nürnberger Prozesse, wie sie etwa James Vanderbilts Film „Nuremberg“ (2025) bietet. Während der Film das Geschehen auf ein psychologisches Duell zwischen Hermann Göring und seinem amerikanischen Psychiater verengt und damit einem personalisierenden „Kino der großen Männer“ folgt, entfaltet Alfred de Montesquiou ein vielstimmiges Panorama. Sein Roman interessiert sich nicht für Urteile oder Täterpsychologie, sondern für die Peripherie des Tribunals: Journalisten, Fotografen, Übersetzer und Beobachter, die Nürnberg als Übergangsraum erfahren. Die Stadt erscheint als semantisch überladener Ort zwischen nationalsozialistischer Selbstinszenierung, juristischer Zäsur und moralischer Ungewissheit. Sprache, Übersetzung und mediale Vermittlung werden dabei als fragile Instrumente sichtbar, die an der Aufgabe, das Ungeheure erzählbar zu machen, notwendig scheitern. Argumentativ verortet die Rezension den Roman im Denkraum von Karl Jaspers und Hannah Arendt. Wie bei Jaspers verschiebt sich der Fokus weg von der rein juristischen Schuld hin zu einer moralischen Selbstprüfung der Beobachter, die sich ihrer eigenen Verstrickung bewusst werden. Arendts Skepsis gegenüber abschließenden Erklärungen spiegelt sich in der konsequenten Verweigerung eines narrativen oder moralischen Abschlusses. Der roman vrai erscheint dabei als epistemische Form, die dort ansetzt, wo Akten und Urteile an ihre Grenzen stoßen. Nürnberg wird nicht als Endpunkt der Geschichte erzählt, sondern als Schwebezustand: als „Menschendämmerung“, in der das Ende der Täter keine moralische Klarheit garantiert. Die Lektüre macht deutlich, dass de Montesquiou Nürnberg nicht abschließt, sondern offenhält – als Raum des Übergangs, in dem Recht, Erinnerung und Erzählen selbst auf dem Prüfstand stehen.

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Mutterverlust als Metamorphose bei Constance Joly und als Dokument bei Annie Ernaux

Der Romanvergleich stellt Constance Jolys Roman „Reverdir“ (Flammarion, 2025) und Annie Ernaux’ „Je ne suis pas sortie de ma nuit“ (Gallimard, 1997) als zwei radikal unterschiedliche literarische Bearbeitungen der Alzheimer-Erkrankung der Mutter gegenüber und entfaltet ihre Argumentation konsequent entlang der Pole Metamorphose versus Dokumentation. Während Jolys Roman den geistigen Verfall der Mutter in eine dichte Metaphorik aus Botanik, Carrolls Alice im Wunderland und zyklischer Zeitstruktur einbettet und die Krankheit als Katalysator einer existentiellen Neuerfindung der Tochter deutet, beschreibt Ernaux in ihrem fragmentarischen Tagebuch den körperlichen und sprachlichen Zerfall der Mutter ohne jede tröstende Sinnstiftung als ausweglose Bewegung in eine zeitlose „Nacht“. Die Rezension arbeitet diese Differenz systematisch aus, indem sie Erzählhaltung, Zeitstruktur, Kommunikationsformen und Metaphorik kontrastiert: Jolys poetische Einhegung des Schmerzes zielt auf Resilienz, „Spätblühen“ und Selbstwerdung, während Ernaux’ Schreiben sich der „Gewalt der Empfindungen“ aussetzt und den Text bewusst als bloßen „Überrest eines Schmerzes“ versteht. Argumentativ folgt die Rezension dabei einer komparatistischen Logik, die nicht wertend, sondern typologisch verfährt: Sie zeigt, wie beide Texte unterschiedliche ethische und ästhetische Antworten auf denselben Erfahrungskern geben. Der Schluss pointiert diese Gegenüberstellung, indem er die divergierenden Romanenden als Ausdruck zweier unvereinbarer Zeit- und Sinnmodelle liest – hier das symbolische Wiederergrünen nach der Katastrophe, dort das endgültige Versinken in der Nacht –, und macht so deutlich, dass literarische Alzheimer-Narrative weniger über die Krankheit selbst als über die Möglichkeiten und Grenzen narrativer Bewältigung Auskunft geben.

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Von der Fußnote zur Gegengeschichte: Olivier Rolin zu Victor Hugo

Olivier Rolin entwickelt in „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“ (Gallimard, 2025) aus einer randständigen Passage der „Misérables“ eine konsequente Gegengeschichte. Bei Hugo erscheinen Emmanuel Barthélemy und Frédéric Cournet nur als exemplarische Figuren innerhalb der Barrikadenmythologie von 1848, deren Schicksal in wenigen Sätzen moralisch geschlossen wird. Rolin löst sie aus dieser symbolischen Funktion und rekonstruiert ihre Lebenswege von den Junikämpfen über das Londoner Exil bis zu Duell und Galgen. Aus Hugos Miniatur entsteht eine materialreiche Chronik, in der Barthélemy als Produkt des Bagno und Cournet als widersprüchlicher Republikaner erscheinen – nicht als Typen, sondern als historische Existenzen ohne Erlösungslogik. Die Rezension liest Rolins Buch als Entmythologisierung durch Präzision. Rolin widerspricht Hugo nicht offen, sondern setzt dort an, wo dessen epische Ordnung brüchig wird. Gegen Hugos Verdichtung stellt er Chronologie, Archivmaterial und erzählerische Nüchternheit. So verschiebt sich der Maßstab von Sinnstiftung zu Beschreibung: Jean Valjeans Erlösung steht Barthélemys Verhärtung gegenüber, der emphatische Titel „Les Misérables“ der administrativen Kälte von „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“. Der nüchterne Schluss am Galgen wird als methodische Setzung gelesen: Geschichte erzeugt keinen Sinn von selbst. Literatur kann sie sichtbar machen – aber nicht erlösen.

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Shakespeare als Leerstelle: Philippe Forest

Philippe Forests „Shakespeare: quelqu’un, tout le monde et puis personne“ (Flammarion, 2025) ist ein ebenso radikales wie poetisches Buch, das sich bewusst gegen jede traditionelle Biografie richtet und stattdessen das Konzept der „Antibiografie“ formuliert. Ausgehend von der fast vollständigen biografischen Leere Shakespeares begreift Forest diese Leerstelle nicht als Mangel, sondern als produktiven Raum literarischer Erkenntnis. Shakespeare erscheint darin weniger als historisches Individuum denn als Figur des „Jemand, Jeder und Niemand“ – ein Resonanzraum menschlicher Existenz, in dem sich Fragen nach Identität, Macht, Liebe, Zeit, Tod und dem Nichts bündeln. Forest schreibt dabei nicht nur über Shakespeare, sondern durch ihn hindurch und zugleich über sich selbst; jede Biografie wird zur verdeckten Autobiografie, jede Analyse zur Fabel, in der sich Leben und Werk, Theorie und persönliche Erinnerung unauflöslich verschränken. Die Analyse hebt hervor, wie Forest Shakespeare als Denker der Existenz, als radikal skeptischen Dichter eines leeren Himmels und eines theatralen Weltverständnisses liest, in dem Identität Maske, Geschichte Illusion und Literatur ein sanftes, tröstendes Sprechen im Angesicht des Nichts ist. Es ist ein Buch, das keine bloße Wissensvermittlung anstrebt, sondern vielmehr eine existenzielle Erfahrung des Lesens darstellt.

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Sternenhimmel über Rom: Renaud Rodier

Vor dem Hintergrund eines politisch verfallenden Roms am Wahlabend Giorgia Melonis begibt sich in Renaud Rodiers drittem Buch „Si Rome meurt“ (Anne Carrière, 2025) der angehende Filmemacher Pietro auf eine obsessive Suche nach seinem verschollenen Vater, den er in der Gestalt eines prophetischen Obdachlosen an den Rändern der Gesellschaft wiederzuentdecken glaubt. Geleitet von der astrophysikalischen Theorie des holografischen Universums gestaltet Pietro sein zentrales Filmvorhaben als einen Prozess filmischen Schreibens, der in grobkörnigen Super-8-Aufnahmen versucht, die urbane Entropie Roms in ein kohärentes ästhetisches Konstrukt zu transformieren. Renaud Rodiers Roman entwickelt sich als ein intermediales Palimpsest, das die existentielle Frage nach dem, was gerettet werden kann, wenn Rom stirbt, in einer dichten Verwebung von traumatischer Erinnerung und filmischer Vision verhandelt. Indem der Roman die astrophysikalische Metaphorik zur Weltraumdichtung erhebt, transformiert er die soziale Entropie Roms in eine transzendente, astronomische Topografie, die den Diskurs um die „Ewige Stadt“ als unzerstörbaren Informationscode jenseits des zeitlichen Verfalls neu verortet.

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Globale Orte, geteilte Bedeutungen: Olivier Wieviorka und Michel Winock

Die Rezension widmet sich dem Sammelband „Les lieux mondiaux de l’Histoire de France“ (Perrin, 2025), der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie bestimmte Orte zu globalen Bezugspunkten werden und welche kulturellen, literarischen, historischen und politischen Bedeutungen sich an ihnen verdichten. Der Band versammelt interdisziplinäre Beiträge, die „Orte in der Welt“ nicht nur als geografische Fixpunkte, sondern als dynamische Räume der Erinnerung, der Macht, der Migration und der Imagination analysieren. Die Rezension arbeitet die zentralen theoretischen Prämissen des Bandes heraus, insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen lokaler Verankerung und globaler Zirkulation von Bedeutungen. Zugleich diskutiert sie die methodische Vielfalt der Beiträge sowie deren Ertrag für aktuelle raumtheoretische und kulturwissenschaftliche Debatten. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, inwiefern „Les lieux mondiaux“ neue Perspektiven auf die symbolische Konstruktion von Weltläufigkeit eröffnet und welche Impulse der Band für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Raum, Globalisierung und kultureller Übersetzung liefert.

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Die profane Geburt: Kindheit, Hoffnung und uneingelöste Erlösung

Philippe Forests Roman Et personne ne sait (Gallimard, 2025) erzählt von einem jungen, gescheiterten Maler im winterlichen New York, der an einem Weihnachtsabend einem rätselhaften, alleinstehenden Mädchen begegnet, dessen Herkunft, Status und Wirklichkeit ungewiss bleiben. Diese Begegnung wird zum Ausgangspunkt eines poetischen Nachdenkens über Kunst, Erinnerung und Verlust, das sich zwischen Roman, Filmvorlage und persönlicher Erfahrung des Erzählers entfaltet. Während der Maler versucht, das Kind – später die Frau – in einem Bild festzuhalten, reflektiert der Text zugleich die Bedingungen des Darstellens selbst: das Scheitern von Sinn, die Wiederholung von Motiven und die Unmöglichkeit, Leben oder Tod durch Kunst zu bewahren. So entwickelt sich eine melancholische Erzählung über das Vergehen der Zeit, die Fragilität von Hoffnung und die Rolle der Kunst als einziger, stets unzureichender Ort, an dem das Verlorene noch einmal erscheinen kann. Der Roman entwirft eine Schwebe, in der Realität, Erinnerung und Imagination unaufhörlich ineinander übergehen, ohne je stabil unterscheidbar zu werden. In der Figur des Malers und in der Erscheinung des Kindes verdichtet sich eine ästhetische Existenzform, die aus Verlust, Wiederholung und der Erfahrung eines radikal entleerten Sinnhorizonts hervorgeht. Weihnachten, Winter und Kindheit verheißen hier nicht Erlösung, sondern die fragile Möglichkeit von Bedeutung im Moment des Erzählens selbst. Kunst entsteht nicht als Offenbarung, sondern als vorsichtiger Versuch, dem Unverfügbaren für einen Augenblick Gestalt zu verleihen.

Mais un enfant seul dans la nuit – et surtout si cette nuit est celle de Noël –, on ne le laisse pas sans compagnie. Il appartient au premier venu de se soucier de lui. C’est une règle universelle et à laquelle nul ne saurait se soustraire. Le monde confie aux grands le salut de tous les petits. Parce que les seconds ne survivraient pas sans les soins que leur prodiguent les premiers. On dirait cette enfant née de nulle part en cette nuit de Noël. Conçue par l’opération du Saint-Esprit, déposée sur terre par quelques anges descendus du ciel. Afin d’y porter la possible bonne nouvelle qu’expèrent les hommes. La petite fille joue à la marelle. Sur l’échelle qu’à la craie, en écartant la neige, elle a tracée à même le trottoir et où elle jette le gros caillou qu’elle a ramassé sous un arbre. En prenant garde à ne surtout pas mordre sur les lignes qui séparent les cases, elle saute à cloche-pied. Montant de la Terre au Ciel. Elle accompagne sa routine d’une petite chanson étrange dont chaque syllabe sonne à chacun de ses pas qui se pose sur l’une des cases de la marelle et qui résonne sur le pavé.

Aber ein Kind allein in der Nacht – und erst recht, wenn diese Nacht die des Weihnachtsfestes ist –, lässt man nicht ohne Begleitung. Es ist Sache des Erstbesten, sich seiner anzunehmen. Das ist eine universelle Regel, der sich niemand entziehen kann. Die Welt legt das Heil aller Kleinen in die Hände der Großen. Denn die einen würden ohne die Fürsorge der anderen nicht überleben. Man könnte meinen, dieses Kind sei in jener Weihnachtsnacht aus dem Nichts geboren. Empfangen durch das Wirken des Heiligen Geistes, von ein paar Engeln, die vom Himmel herabstiegen, auf die Erde gesetzt. Um hier die mögliche gute Nachricht zu tragen, auf die die Menschen hoffen. Das kleine Mädchen spielt Himmel und Hölle. Auf der Leiter, die sie mit Kreide, den Schnee beiseiteschiebend, direkt auf den Gehweg gezeichnet hat und auf die sie den großen Stein wirft, den sie unter einem Baum aufgelesen hat. Sorgfältig darauf bedacht, die Linien zwischen den Feldern ja nicht zu berühren, hüpft sie auf einem Bein. Von der Erde zum Himmel hinauf. Ihre Bewegungen begleitet sie mit einem seltsamen kleinen Lied, dessen Silben je mit einem ihrer Schritte erklingt, der in eines der Felder setzt und auf dem Pflaster widerhallt.

Die Weihnachtsszene wirkt im Gesamtroman nicht primär als religiöses Motiv, sondern als kulturell tief codierter Ausnahmezustand: Weihnachten markiert einen Moment, in dem soziale Regeln nicht nur gelten, sondern in besonderer Weise aktiviert werden. Die emphatische Behauptung einer „universellen Regel“, wonach ein Kind in dieser Nacht nicht allein gelassen werden dürfe, hebt das Fest aus dem bloß Kalenderhaften heraus und macht es zum moralischen Prüfstein der Welt. Weihnachten steht hier für ein Versprechen kollektiver Verantwortung, für eine fragile Übereinkunft, dass Schutz, Fürsorge und Solidarität zumindest einmal im Jahr unverhandelbar seien.

Die subtile Anspielung auf die Geburt Christi – das „aus dem Nichts geborene“ Kind, die Engel, die „mögliche gute Nachricht“ – wird dabei bewusst entmythologisiert und in eine weltliche, prekäre Gegenwart überführt. Das spielende Mädchen wird nicht zur Erlöserfigur, sondern zur Chiffre einer Hoffnung, die sich nur im Spiel, in der Bewegung zwischen Erde und Himmel, artikulieren kann. Das Himmel-und-Hölle-Spiel übersetzt die christliche Heilserzählung in ein kindliches Ritual, das weder Erlösung garantiert noch Transzendenz erreicht, sondern lediglich deren Möglichkeit imaginiert. Weihnachten erscheint so als poetischer Schwebezustand: zwischen Glauben und Zweifel, Sinnstiftung und Leere, zwischen dem Wunsch nach einer „guten Nachricht“ und dem Wissen, dass ihr Eintreten allein von den „Großen“ abhängt, die Verantwortung übernehmen – oder versagen.

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Doukipudonktan: Die Geschichte des Französisch-Schreibens bei Gabriella Parussa

In ihrer Studie „Écrire le français“ (2025) zeichnet die historische Linguistin Gabriella Parussa die Geschichte des Französisch-Schreibens als komplexen, sozialen und kulturellen Prozess nach. Das Buch zeigt, wie das gesprochene Französisch über Jahrhunderte hinweg seinen Weg in die Schrift fand, welche politischen, institutionellen und technischen Entscheidungen die Orthographie prägten und warum das lateinische Alphabet trotz seiner Unzulänglichkeiten übernommen wurde. Parussa verbindet historische Detailkenntnis mit einer kritischen Gegenwartsdiagnose und macht deutlich, dass das französische Schriftsystem historisch kontingent, sozial umkämpft und funktional vielschichtig ist – von der ersten Fixierung im 9. Jahrhundert bis zu den digitalen Schreibpraktiken der Gegenwart. Die Rezension zeigt, wie Parussa nicht nur die Entstehung der Norm, sondern auch literarische und spielerische Nutzungsmöglichkeiten historisch einordnet. Anhand von Fallbeispielen wie Jacques Peletier du Mans und Raymond Queneau zeigt die Besprechung, dass Reform und ästhetische Reflexion zwei komplementäre Perspektiven auf dasselbe Phänomen bieten: Die französische Orthographie als kulturelles Reservoir und soziales Instrument. Die Rezension beleuchtet zudem die Anschlussfähigkeit des Buches an Literaturgeschichte, Poetik und Literatursoziologie und macht deutlich, wie Parussas Arbeit das Schreiben selbst als historisch gewachsene, reflexive Praxis sichtbar macht.

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Québecs großer Moment im Spiegel der Desillusionierung: Carl Leblanc

Carl Leblancs Roman „Le printemps en novembre“ (2025) entwickelt seine Handlung zwischen dem euphorischen Wahlsieg des Parti québécois am 15. November 1976 und der desillusionierten Gegenwart des Jahres 2006. Im Zentrum steht Étienne Vallières, der an der Premiere eines Dokumentarfilms über den historischen Wahlsieg teilnimmt. Diese äußere Rahmenhandlung führt Étienne in seine Jugend in der Gaspésie zurück, wo sich politische Erweckung und private Initiation überlagern: Der kollektive Triumph der Unabhängigkeitsbewegung fällt mit seiner Liebe zu Julianne zusammen, deren plötzliche Abreise den politischen Aufbruch bereits im Moment seines Entstehens unterminiert. Der Roman verschränkt kollektive Geschichte und individuelles Begehren, indem er den „einzigen großen Sieg“ Québecs zugleich als Höhepunkt und Verlust markiert. Die zeitliche Struktur – der ständige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart – macht sichtbar, dass das nationale Projekt nur noch in der Erinnerung fortlebt, während es politisch gescheitert ist. Die Rezension liest den Roman als eine poetische Neubewertung des québécoischen Autonomiekampfs darstellt. Der Dokumentarfilm wird als ästhetisches Widerstandsmedium gelesen, das der „Barbarei des Vergessens“ entgegentreten soll, indem es dem historischen Moment eine emotionale Evidenz verleiht, die der nüchternen Gegenwart fehlt. Zugleich dekonstruiert der Text jede triumphale nationale Narration: Die Autonomie erscheint als unerfülltes Versprechen, das sich in Nostalgie, Ironie und Zynismus verflüchtigt. Étiennes persönliches Scheitern – seine emotionale Immobilität, sein Verharren im Diskursiven – wird dabei zur Allegorie eines postnationalen Québecs, das zwischen individuellem Liberalismus und dem Verlust eines kollektiven „nous“ schwankt. Die Rezension liest den Roman somit als melancholische, aber notwendige Selbstvergewisserung: nicht als Verteidigung eines souveränistischen Programms, sondern als literarischen Akt der Erinnerung, der die emotionale Wahrheit des Aufbruchs bewahrt, selbst wenn das politische Projekt gescheitert ist.

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Literatur als eigenständige Denkform: François Jullien

In „Puissance du pensif ou comment pense la littérature“ (2025) entwickelt der Sinologe François Jullien eine Meditation über die Literatur als eigenständigen Denkmodus, der sich grundlegend vom begrifflichen Denken der westlichen Philosophie unterscheidet. Literatur „denkt“, so Jullien, nicht durch Definition, Argumentation oder Abschluss, sondern durch Indirektheit, Dauer, Offenheit und Affektivität: Sie evoziert, erzählt, verzögert und lässt Sinn in Schwebe, wodurch sie einen Zustand der Nachdenklichkeit (pensivité) erzeugt, der das Leben in seiner prozessualen, unbestimmten Existenz erfahrbar macht. Die Rezension arbeitet heraus, wie Jullien diese literarische Denkform historisch an der Schwelle zur Moderne verortet, systematisch von der westlichen Ontologie des Seins abgrenzt und in ein produktives Spannungsverhältnis zum chinesischen Denken von Prozess, Wirksamkeit und Umweg stellt. Sie diskutiert Julliens zentrale Begriffe für eine Literatur der Nachdenklichkeit (Indirektheit, Ambiguität, Indexikalität, Affektivität) und die Verbindung von theoretischer Argumentation und exemplarischer Lektüre (Balzac, Poesie). Zugleich wird deutlich, dass Julliens Buch nicht nur eine Theorie der Literatur, sondern auch eine implizite Kritik der Philosophie formuliert.

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Ende des Gulag, ohne Erlösung: Antoine Sénanque

Die Rezension liest Antoine Sénanques „Adieu Kolyma“ (2025) als radikal desillusionierenden Roman der Nachgeschichte, der das Ende des Stalinismus nicht als historischen Bruch, sondern als Kontinuität einer Gewaltordnung begreift. Ausgangspunkt ist die These, dass die Logik des Gulag – paradigmatisch verkörpert durch die Landschaft des Flusses Kolyma als extremsten Ort – zeitlich, räumlich und sozial über sich hinauswirkt: in das postrevolutionäre Budapest von 1957, in kriminelle Clanstrukturen und in die affektiven Dispositionen der Überlebenden. Die ungarische Revolution erscheint dabei nicht als Freiheitsereignis, sondern als blutige Episode ohne Folgen; Geschichte fungiert lediglich als „Dekor“ für private Rache, Loyalität und Verrat. Zentral ist die Analyse einer „Poetik der Kälte“, in der Gefühle als gefährlich und dysfunktional erscheinen und in der der Permafrost der Kolyma Schuld, Gewalt und Erinnerung konserviert, statt sie aufzulösen. Figuren wie Pal und Lazar Vadas oder Sylla Bach verkörpern unterschiedliche Modi dieser posttotalitären Existenz: funktionalisierte Gewalt, entleerte Affekte und ein Körpergedächtnis, das jede moralische Sinnstiftung unterläuft. Die Rezension verortet den Roman programmatisch auf der Seite Warlam Schalamows gegen jede Erlösungsnarration à la Solschenizyn und betont die konsequente Entmythologisierung von Leiden, Überleben und Freiheit. „Adieu Kolyma“ erscheint so als Text radikaler Immanenz, der zeigt, dass Totalitarismus nicht endet, sondern lediglich seine Träger wechselt – und dass die Zeit danach eine Zeit ohne Zukunftshorizont bleibt.

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Der Schriftsteller zu Pferde und die Krise der Dialektik: Pierre Drieu la Rochelle

Années noires

Pierre Drieu la Rochelle ist eine zutiefst widersprüchliche Figur der Literaturgeschichte, dessen Werk oft ideologisch blockiert rezipiert wurde. Er war ein produktiver Autor von Theaterstücken, Novellen, Gedichten, Romanen, Essays und journalistischen Beiträgen. Biografisch ist festzuhalten, dass Drieu einerseits ab den 1930er Jahren zu einem einflussreichen Fürsprecher des französischen Faschismus sowie einem Protagonisten der intellektuellen Kollaboration wurde. Andererseits heiratete er in erster Ehe eine jüdische Frau, liebäugelte nie aufhörend mit dem Kommunismus und nutzte seine Verbindungen zur Deutschen Botschaft, um nahestehende Freunde wie Jean Paulhan vor Verfolgung zu schützen. Seine ästhetische Qualität ist unumstritten, wobei die Beurteilung seines Schaffens stets eng mit seiner politischen und moralischen Kompromittierung verbunden ist. In Drieus Werk zeigt sich eine tiefe Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit, die von alternierendem Selbst- und Fremdhass sowie Kriegsphantasien geprägt ist.

Andreas Geislers wissenschaftliches Vorhaben, festgehalten in der Monographie L’écrivain à cheval: das Erzählwerk Pierre Drieu la Rochelles zwischen Moderne, Antimoderne und Postmoderne (Brill Fink, 2024), zielt auf eine umfassende Neulektüre von Pierre Drieu la Rochelles Prosa. Das Kernanliegen der Arbeit ist es, das Werk und den Menschen Drieu la Rochelle in ein sorgfältig abgewogenes Verhältnis zu bringen und so diejenigen Schichten sichtbar zu machen, die bisher hinter der Dominanz der biografischen und politischen Verortung des Autors verborgen blieben. Geislers Arbeit wurde an der Universität Bonn angefertigt. Der Anstoß für die Arbeit entstand in einem Seminar an der Universität Heidelberg, wo Catherine Péant Geislers Interesse für die widersprüchliche Literaturproduktion der années noires weckte. Paul Geyer, der Betreuer der Arbeit in Bonn, stellte auch den Kontakt zu Jean-François Louette an der Sorbonne her.

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Ein Sieg der Lise Meitner gegen Otto Hahn: Cyril Gely

Cyril Gelys Roman „Le Prix“ (2019) inszeniert einen intensiven psychologischen Schlagabtausch zwischen Otto Hahn und Lise Meitner am Tag von Hahns Nobelpreisverleihung 1946. Auf engstem Raum, in einer Stockholmer Hotelsuite, entfaltet sich ein moralisches und intellektuelles Duell, das die ungleichen Machtverhältnisse, die Geschlechterdynamik in der Wissenschaft und die ethischen Verfehlungen des Nationalsozialismus verhandelt. Gelys dramatische Prosa verwandelt historische Tatsachen in ein huis clos, in dem Lise Meitner ihre unterdrückte wissenschaftliche Leistung einfordert und Hahn gezwungen wird, sich seiner moralischen Schuld zu stellen. Am Ende bleibt der Nobelpreis Hahns – doch die wahre Anerkennung gilt Meitner, deren stille Gerechtigkeit als unauslöschliches Echo die Geschichte neu schreibt.

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Verloren im digitalen Labyrinth: Lucie Rico

Standortfreigabe: Technik, Trauer und Obsession

Lucie Ricos GPS (2022) folgt der sozial zurückgezogenen Ariane, die nur widerwillig ihre Wohnung verlässt, um an den Verlobungsfeierlichkeiten ihrer Jugendfreundin Sandrine teilzunehmen. Als Sandrine ihr die Standortfreigabe schickt, wird der digitale Punkt auf dem Smartphone für Ariane zu einer Art Leitfaden, der eine fast magische Nähe suggeriert. Doch am nächsten Morgen ist Sandrine verschwunden, und obwohl ihr verkohlter Körper am Rand eines Sees gefunden wird, bewegt sich der GPS-Punkt weiter – als würde Sandrine noch leben. Ariane steigert sich zunehmend in die Verfolgung dieser Spur hinein, verwischt die Grenze zwischen Realität und Projektion und deutet jede Bewegung als Botschaft, die nur für sie bestimmt ist. Während Polizei, Umfeld und Verlobter im Dunkeln tappen, folgt Ariane dem GPS immer weiter, bis der Punkt sie zu einem finalen Ort führt, an dem ihre Obsession, ihre Trauer und ihr Wunsch nach Bindung in eine letzte, unheilvolle Konfrontation mit der Wahrheit münden.

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Gegenarchiv der Kinderkolonie: Simon Johannin

Simon Johannins „Le Fin Chemin des anges“ (2025) rekonstruiert das Schicksal der Jungen, die in der Kinderkolonie auf der Île du Levant – einer von Isolation, Gewalt und Zwangsarbeit geprägten Einrichtung – lebten und starben. Im Mittelpunkt steht Louis, ein sensibler, homoerotisch empfindender Junge, dessen „Abweichung“ im 19. Jahrhundert zur moralischen und juristischen Verurteilung führt und ihn in das System der Kolonie schleudert. Dort werden die Kinder entkräftet, gedemütigt und zu Arbeit gezwungen; viele sterben an Hunger, Krankheit oder Misshandlung. Louis’ Leben wird aus Fragmenten, Erinnerungsflashs und Archivresten rekonstruiert, während die Ruinen des Ortes als Resonanzraum der ausgelöschten Stimmen erscheinen. Der Roman zeigt die Kolonie nicht als pädagogische Einrichtung, sondern als Maschine der systematischen Zerstörung junger Körper und Biografien – und macht die gewaltvolle Geschichte eines Ortes hörbar, den das Archiv weitgehend zum Schweigen gebracht hat. – Johannins Roman ist exemplarisch für die neue Buchreihe „Locus“, indem er einen verlassenen Ort als palimpsestartigen Speicher traumatischer Geschichte lesbar macht. Der Artikel zeigt, wie Johannin räumliche, archivische und poetische Ebenen miteinander verschränkt, um jenen Kindern eine Stimme zurückzugeben, die in den offiziellen Dokumenten entindividualisiert und ausgelöscht wurden. Besonders hervorgehoben wird die doppelte Bewegung des Texts: Einerseits die präzise Analyse der Architektur der Kolonie als Disziplinarapparat, andererseits die imaginative Rekonstruktion einer einzelnen Biographie, die stellvertretend für eine Vielzahl verloren gegangener Leben steht. Die Rezension arbeitet heraus, wie Johannin Sexualität, Körperlichkeit und Erinnerung politisch auflädt, indem er die Pathologisierung von Louis’ Homosexualität als gesellschaftlichen Gewaltmechanismus offenlegt und die Poetik der Berührung – die „flashs“, die aus den Ruinen hervorgehen – als Form literarischer Zeugenschaft interpretiert. Insgesamt weist der Aufsatz den Roman als ein Gegenarchiv aus, das die Stille eines gewaltsam vergessenen Ortes in erzählerische Präsenz verwandelt und damit die ethische Dimension von Literatur sichtbar macht.

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Christlich-jüdisches Frankreich und identitäre Zwangsassimilation: Eric Zemmour

Die Präsidenten der Französischen Republik suchten jeweils eigene Wege, um das Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstverständnis Frankreichs als historisch christlich geprägte Nation und den Prinzipien der strikt laizistischen Republik politisch auszugleichen. „La messe n’est pas dite“ (2025) präsentiert Éric Zemmours rechtsextreme Vision einer zivilisatorischen Wiedergeburt Europas durch eine Rückkehr zu seinen christlichen Fundamenten. In seiner Darstellung bildet das Christentum das historische, kulturelle und politische Fundament Europas. Daraus leitet er allerdings die Forderung nach einer intensiven autoritären Rechristianisierung ab, die sowohl juristische Maßnahmen (z. B. Einschränkungen der Vornamenswahl, Remigration, Einschränkung richterlicher Befugnisse) als auch eine kulturelle und moralische Umformung der Gesellschaft umfasst. Diese Neuordnung verbindet er mit der Idee einer „großen Allianz“ zwischen traditionalistischen Katholiken und assimilierten Juden, die gemeinsam den kulturellen Bestand Europas sichern sollen. – Die Rezension zeichnet nach, wie Zemmours Argumentation auf einer selektiven Geschichts- und Religionsdeutung beruht, die komplexe kulturelle und politische Dynamiken auf ein dualistisches Bedrohungsszenario reduziert. Sie zeigt, dass Zemmour Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Universalismus – Werte, die er selbst als christliches Erbe beschreibt – im Namen einer identitären Selbstbehauptung zurückdrängen will. Die Rezension zeigt auf, wie Zemmour sowohl den Islam als auch den modernen Liberalismus als monolithische Feindbilder konstruiert und dabei mit Doppelstandards operiert, etwa durch selektive Lektüre religiöser Texte oder die Vereinfachung historischer Beispiele. Darüber hinaus zeigt sie, wie Zemmour den Laizismus funktionalisiert, um ihn von einem Prinzip staatlicher Neutralität in ein Instrument kultureller Dominanz zu verwandeln. Zemmours Programm stellt weniger eine Verteidigung des christlich geprägten Erbes dar als vielmehr eine autoritär-identitäre Revision der republikanischen Tradition, die die Grundlagen der Fünften Republik grundlegend infrage stellt.

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Poetiken der Kindheit: David Ducreux Sincey

David Ducreux Sinceys „La loi du moins fort“ (Gallimard, 2025) entwirft ein düsteres Bild der Kindheit und des Erwachsenwerdens, in dem Trauma, Gewalt und Machtspiele zentrale Rollen spielen. Der Ich-Erzähler wächst in einer feindseligen Umgebung auf, geprägt durch die Misshandlung durch seine Mutter und die frühe Konfrontation mit Tod und Morbidität. Seine Begegnung mit dem jungen Politiker Romain Poisson eröffnet ihm eine Möglichkeit zur Befreiung, die jedoch nur über die radikale Übernahme einer eigenen, gnadenlosen Überlebenslogik gelingt. Vom kindlichen Spiel bis hin zu politischen Manipulationen entfaltet der Roman die schrittweise Transformation eines Opfers zum Täter, in der das titelgebende Gesetz der Schwächeren, das Töten vor dem Getötetwerden legitimiert – zur zentralen Lebensphilosophie wird. – Die Rezension zeigt, wie der Roman politische Dimensionen mit der Kindheitsgeschichte verknüpft und die Mechanismen von Macht, Manipulation und Gewalt offenlegt. Die Analyse verdeutlicht, dass „La loi du moins fort“ nicht nur ein Initiationsroman ist, sondern auch eine Reflexion über die dunklen Seiten menschlicher Existenz und die fatalistische Logik des Überlebens bietet.

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Nouvelle Vague als Roman: Patrick Roegiers

Patrick Roegiers’ „Nouvelle Vague, roman“ (2023) übersetzt das Denken des Kinos in Prosa, diese erzählt die Nouvelle Vague nicht nach, sondern inszeniert sie neu als ästhetische Bewegung. Statt chronologischer Filmgeschichtsschreibung oder biografischer Porträts entsteht ein cineastisches Gewebe, das Szenen, Räume und Figuren wie Einstellungen einer unsichtbaren Kamera montiert. Roegiers lässt den Leser durch die Redaktionsräume der „Cahiers du cinéma“ treiben, durch die Wohnungen, Drehorte und symbolischen Landschaften, in denen Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer und Varda ihre filmische Sprache erfanden. Historische Fakten, anekdotisches Material und ikonische Filmszenen werden wie found footage in einen größeren literarischen Rhythmus eingespeist, der die Erzählung nicht motivisch festschreibt, sondern als fragile, vibrierende Komposition aus Bildern, Bewegungen und Blicken gestaltet. Die Rezension argumentiert, dass der Roman seine Kraft gerade daraus bezieht, dass er die ästhetischen Prinzipien der Nouvelle Vague selbst performativ in seine Prosa einschreibt. Er wird nicht als Beitrag zur Filmhistoriografie verstanden, sondern als literarische Choreografie, die das Denken der Filmemacher – ihr Misstrauen gegenüber Konventionen, ihre Vorliebe für Fragment, Gegenwart, Improvisation und direkte Beobachtung – in Textform reproduziert. Dabei zeigt die Interpretation, wie Roegiers’ Montageverfahren, seine anachronistischen Begegnungen und die Verschmelzung von dokumentarischem Material und Fiktion jene Offenheit und Beweglichkeit reaktivieren, die die Nouvelle Vague zur ästhetischen Revolution gemacht haben. Die literarische Form wird selbst zum Labor einer frei beweglichen Wahrnehmung, die historische Figuren entmythologisiert, sie zugleich aber in ihrer ästhetischen Radikalität neu sichtbar macht – als Fortsetzung einer Revolte, die nie abgeschlossen war.

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Fantasia kolonial und postkolonial: Ritualpraxis bei Assia Djebar und Fouad Laroui

Fouad Larouis Roman „La vie, l’honneur, la fantasia“ (2025) rekonstruiert aus der Perspektive eines erwachsenen Ich-Erzählers ein Kindheitserlebnis: den ritualisierten Mord an Arsalom während der marokkanischen Reiterzeremonie der Fantasia. Diese Hinrichtung erscheint als kollektiver Akt der Ehrwiederherstellung gegenüber einer als korrupt imaginierten Moderne, in der Arsalom mit seiner „mobilité arrogante“ und ökonomischen Gier zum Feindbild wird. Die Fantasia wird dabei zur sozialen Matrix, in der Macht, Verschleierung und rituelle Gewalt ineinander greifen; die Präzision des Schießrituals zu Pferde – „eine einzige Detonation aus fünfzehn anderen“ – markiert die symbolische Einheit des „corps collectif“ und entlarvt zugleich die Dysfunktion staatlicher Institutionen, die Korruption und informelle Ehrencodizes nicht aufzubrechen vermögen. – Im Vergleich dazu öffnet Assia Djebars „L’amour, la fantasia“ (1985) das koloniale Archiv Algeriens poetisch und polyphon: Die Fantasia wird zum ambivalenten Symbol zugleich männlicher Machtdemonstration, weiblicher Verletzbarkeit und literarischer Erinnerung gegen koloniale Geschichtspolitik. Wo Djebar fragmentierende Vielstimmigkeit einsetzt, um verdrängte Vergangenheit zu reaktivieren, arbeitet Laroui mit analytischer Linearität, um zeitgenössische Verstrickungen von Ehre, Ökonomie und Institution sichtbar zu machen. Die Rezension betont diese komplementäre Spannung: Djebar erzeugt ein Gegenarchiv der Stimmen; Laroui seziert die Gegenwart und zeigt, wie ritualisierte Gewalt in moderne Rechtslogiken hineinragt. Beide Narrative zusammen lassen die Fantasia als Schnittstelle zwischen Geschichte und Gegenwart erscheinen, an der sich Kontinuitäten kolonialer Gewalt und ihre postkolonialen Transformationen exemplarisch ablesen lassen.

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Was aus Texten wird, wenn der Mensch verschwunden ist: François Gagey

François Gageys Erstlingsroman „Combustions“ (2025) erzählt von drei Freunden, die nach der Explosion des Atomkraftwerks Flamanville in einer verstrahlten Zone ums Überleben kämpfen und dabei mit den Trümmern ihres eigenen Lebens konfrontiert werden. Zwischen Rückblenden in die Pariser Haute Finance, gescheiterten Beziehungen und existenziellen Verlusten entfaltet der Roman ein vielschichtiges Panorama gesellschaftlicher und individueller Erschöpfung: Paul, der dekadente Investmentbanker, Darko, der desillusionierte Suchende, und Baptiste, dessen private Katastrophe die äußere überlagert. Während die Katastrophe das Land physisch verwüstet, legt der Roman zugleich die geistige und moralische Auszehrung einer ganzen Zivilisation offen. Am Ende schreibt Baptiste, isoliert auf dem Mont Saint-Michel, die Geschichte seiner Gefährten nieder – im Bewusstsein, dass vielleicht niemand sie je lesen wird –, und findet in der Geste des Erzählens den letzten möglichen Widerstand gegen Sinnverlust und Vergessen. – Der Artikel deutet Combustions als Gesellschaftsroman, der die nukleare Katastrophe als radikale Offenlegung eines bereits im Inneren kollabierten Systems einsetzt. Seine Argumentation folgt der These, dass physische Zerstörung und moralische Dekadenz miteinander verschränkt sind: Die Explosion erscheint als sichtbare Manifestation eines lange schwelenden inneren Abbrennens von Elite, Staat und sozialen Bindungen. Die Rezension arbeitet heraus, wie der Roman über existenzielle Motive – Isolation, ungelebte Authentizität, die Erosion des Sinns von Literatur und Kommunikation – eine Diagnose der Gegenwart formuliert, die zugleich poetologisch ist: Schreiben wird zur letzten menschlichen Geste, die sich dem Nichts entgegensetzt. So erzählt der Roman weniger von der Katastrophe, als davon, was von Menschen, Beziehungen und Geschichten bleibt, wenn die Welt um sie herum verbrennt.

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