Übersehenes Interieur: Partikel, Zeichen und Kratzer bei Thomas Clerc

Thomas Clercs Bücher „Intérieur“ und „Cave“ sind eng miteinander verbunden und bilden eine kohärente, doch sich entwickelnde Erkundung des Raums, des Selbsts und des Schreibakts. Während „Intérieur“ eine akribische Bestandsaufnahme des eigenen Wohnraums darstellt, erweitert „Cave“ diese topografische Obsession zu einer Reise in das Verborgene, das Unausgesprochene und das Begehren. Die Bewegung vom sichtbaren, oberirdischen Leben zum unsichtbaren, unterirdischen Reich der Höhle symbolisiert dabei einen doppelten Prozess: die Fortführung einer bereits etablierten literarischen Methode und ihre radikale Vertiefung in die Komplexität menschlicher Innerlichkeit und seines Begehrens.

Frankreich als griechische Polis: François Hartog

François Hartogs so gewichtiger wie schmaler Band von gerade mal 54 Seiten, Das antike Griechenland ist die schönste Erfindung der Neuzeit (2021), der als dritter Teil der Gunnar Hering Lectures erschienen ist, lädt dazu ein, die gewohnte Rolle Griechenlands in der westlichen Kultur kritisch zu überdenken. Die Arbeit, die sich explizit an Paul Valérys berühmten …

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Gärten der Verwandlung: Marivaux und Emmanuelle Bayamack-Tam

Der Artikel verbindet Pierre de Marivaux’ „Le Triomphe de l’amour“ (1732) mit zwei zeitgenössischen Werken von Emmanuelle Bayamack-Tam, der Theateradaption „À l’abordage!“ (2021) und dem Roman „Arcadie“ (2018). Gemeinsamer Kern ist eine dramaturgische Grundkonstellation: Eine junge Figur dringt in eine abgeschottete Welt ein – sei es die philosophische Enklave Hermocrates, die sektenhafte Gemeinschaft Kinbotes oder die utopische Kommune Arcadys. In allen Fällen wird die Ordnung durch Liebe, Begehren und Verwandlung herausgefordert. Dabei variiert der Modus: Marivaux’ Komödie inszeniert eine strategische Maskerade zur Wiederherstellung der Ordnung; Bayamack-Tam transformiert dieses Modell in „À l’abordage!“ zur queeren Farce und in „Arcadie“ zur melancholischen Selbstsuche. Die Maske wird zur Identität, das theatrale Spiel zur existenziellen Transformation. Der Artikel zeigt, wie Bayamack-Tam Marivaux nicht nur aktualisiert, sondern auch radikal umcodiert: Statt einer binären Welt aus Vernunft und Gefühl entwirft sie fluide Identitäten, deren Begehren nicht normativ gezähmt, sondern politisch befreit ist. Während Marivaux die Liebe als Mittel der Restauration inszeniert, wird sie in „À l’abordage!“ zur lustvollen Destabilisierung und in „Arcadie“ zum Prüfstein utopischer Heilsversprechen. Farah ist dabei nicht mehr nur Subjekt der Verkleidung, sondern der Verwandlung selbst. Der Aufsatz liest Bayamack-Tams Werke als Hommage an Marivaux durch subversive Fortschreibung – ein queerer Humanismus, der Masken nicht fallen lässt, um Wahrheit freizulegen, sondern um Identität als offenes Werden zu behaupten.

Kindheit und Selbsttransformation: Edouard Louis und Didier Eribon

Edouard Louis stellt in „Changer : méthode“ (Seuil, 2021) die Kindheit als fundamentales Ursprungsmilieu des Schmerzes, der Ausgrenzung und des unaufhaltsamen Drangs nach Flucht dar; die Erfahrungen von Armut, die Rauheit des sozialen Umfelds und insbesondere die ständige Demütigung und Schmähung aufgrund wahrgenommener Weiblichkeit und Homosexualität schaffen beim Erzähler eine tiefe Wunde und das Bewusstsein für ein vorbestimmtes, zu meidendes Schicksal. Dieser existenzielle Zwang zur Flucht wird zum Motor einer lebenslangen und radikalen Selbsttransformation, die nicht als natürliche Entwicklung, sondern als bewusste, disziplinierte und methodische „Arbeit“ am eigenen Körper und Sein begriffen wird, die oft durch Rollenspiel und Nachahmung erlernt wird. Die Kindheit liefert nicht nur die Motivation für den Wandel, sondern auch – durch frühe Überlebensstrategien – die ersten Ansätze dieser „Methode“, während spätere kindliche und jugendliche Begegnungen (z.B. mit Bibliothekaren und Elena) als Katalysatoren und Wegbereiter für den Bruch mit der Herkunftswelt dienen. Auch im Erwachsenenalter bleibt die Kindheit eine ständige, oft schmerzhafte Referenz, die die fortlaufende Notwendigkeit der Veränderung antreibt und das Ringen um Identität und Zugehörigkeit prägt.

Poetiken der Kindheit: Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme (2021)

Jean-Baptiste Del Amos Roman „Le Fils de l’homme“ (Gallimard, 2021, deutsch von Karin Uttendörfer: „Der Menschensohn“, Matthes und Seitz, 2025) entwirft eine Kindheitserfahrung im Grenzbereich zwischen Trauma, Naturgewalt und archaischer Initiation. In einer Sprache von minimalistischer poetischer Verdichtung und biblischer Wucht wird geformt, deformiert und gebrochen: Die Kindheit erscheint hier nicht als Ort der Unschuld, sondern als Durchgangsstadium des Werdens, geprägt von Schweigen, Körperlichkeit und unauflöslicher Ambivalenz zwischen Nähe und Entfremdung. Im Zentrum des Romans steht das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem Sohn – ein Verhältnis, das nicht durch Dialog oder gegenseitiges Verständnis geprägt ist, sondern durch körperliche Präsenz, Sprachlosigkeit und archaische Rituale. In einer Prosa von dichter Schönheit und unerbittlicher Genauigkeit erkundet Del Amo die Dynamik zwischen einem Mann, der aus der Geschichte gefallen zu sein scheint, und einem Kind, das in dieser Geschichte aufwächst, ohne sie begreifen oder benennen zu können.

Verrückt ist, wer die Wirklichkeit in die Fresse bekommt

Ce matin, Franck propose de me montrer sa face de loup-garou, un simulacre de métamorphose, pour que je comprenne, que je fasse l’expérience de la peur, pour me prouver je ne sais quoi, sa folie ou le contraire. Il m’emmène dans sa chambre, me fait asseoir, se tient debout face à moi l’air concentré et en un éclair change d’expression, ses yeux fixes exorbités, se met à trembler, crispe sa mâchoire, retrousse ses babines, sort les crocs, serre les dents à s’en faire péter l’émail, souffle et crache, cela dure, je soutiens faiblement son regard, il insiste, sa veine temporale qui palpite, le rouge qui monte au front. Puis Franck s’arrête net, rigole, satisfait de sa performance – alors, t’as flippé ?

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Die Zerbrechlichkeit der Körper angesichts undurchschaubarer Gefahren

Certains soirs, ou avant de m’endormir, je m’étais mis à revivre notre voyage passé à Florence, avec la sensation que jamais nous ne connaîtrions à nouveau pareils moments d’insouciance et d’harmonie. Ils appartenaient à hier, sans espoir de retour. Ce sentiment de perte m’oppressait. Nous avions vécu comme une expérience normale ce qui ne l’était pas. Un des derniers moments de nos vies d’avant, sans que personne ne nous ait alertés. Personne à moins que Marina A, avec ses performances énigmatiques aux apparences gratuites ou absurdes, ne nous eût montré une voie aux contours énigmatiques. La fragilité des corps face à des dangers insaisissables, notre mortalité de feuilles légères accrochées au fil de la vie quand on nous promettait l’éternité bionique.

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Es hört gar nicht auf, geboren zu werden

 

Pendant que je roulais avec le corps de mon frère, en train de se décomposer légèrement, tous deux trimbalés sur l’autoroute, j’écoutais l’Incarnatus est de la plus belle des messes de Haydn. Ce petit bout de musique chantée prétendait opérer en quelques minutes un miracle : Et homo factus est. Un homme ? Une femme ? Un être humain prend corps devant nous. Et par paliers, ça s’incarne, c’est fait. Ça n’arrête pas de naître, des fleurs s’ouvrent en accéléré, la peau se construit et les yeux s’ouvrent. Ça se fabrique sous nos yeux.

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Musik-Fiktionen: Kerangal mit Pinget, Garcia und Reza

Maylis de Kerangals „Canoës“ bündelt einige der Dimensionen musikalischer Bezüge bei Pinget, Garcia und Reza, zum einen die semiotisch-formale Strukturierung und Arbeit der intertextuellen Bezüge, dann aber auch die tiefe Verbindung von Musikalität und Körperlichkeit, eigener Identität und musikalischer Erlebnisdimensionen. Resonanz meint, wenn ein Körper mit einem anderen mitschwingt oder mittönt, etwa bei den Bordunsaiten von Lauten.

Ende der Welt, Klimafiktion, Götterdämmerung

Reverdys „Climax“ führt im Norden Norwegens zerstörte Natur bei einem Fischerdorf vor, mit sterbenden Bären und Fischen, schmelzenden Gletschern und einem Unfall auf der Ölplattform. Wie in der nordischen Legende findet ein Kampf zweier Prinzipien statt. Das Ende der Welt wird in dem so düsteren wie schönen dystopischen Roman eingeläutet.

Afrika, Europa und der dritte Kontinent

Der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr legt mit seinem fünften Buch einen weiteren Baustein seiner politischen Literatur vor, neben Themen bisheriger Bücher wie Migration nach Sizilien (Silence du chœur), Homosexualität im Senegal (De purs hommes), Dschihadismus in der Sahelzone (Terre ceinte) tritt nun mit „La plus secrète mémoire des hommes“ die Literatur selbst in seinen Fokus.

Maske, Porträt, vergrößert, unscharf

Célia Houdart liefert ein gegenseitiges Doppelporträt zweier Fotografen, die das Buch „Journée particulière“ motivieren. Houdart reflektiert die ästhetischen Zugänge zur Welt, die mit der Fotografie möglich geworden sind. Ein flüchtiger Blick, der den kurzen Szenen ihres Schreibens entsprechen mag.

Erinnerungsblitze – und Vergessen: Proust und Modiano

Patrick Modiano zu lesen, wie ein Werk, in der Zeit strukturiert und sich erneut der Erinnerung und dem Verschwinden stellend, das lässt ihn als „ein Marcel Proust unserer Zeit“ erscheinen, in der Formulierung des Ständigen Sekretärs der Schwedischen Akademie, Peter Englund.

Kulturelle Aneignung als Tragikomödie der Generationen

Der frisch pensionierte Geschichtsprofessor mit Hang zum Alkohol, geschieden, ist der Protagonist von Abel Quentins zweitem Roman, „Le Voyant d’Étampes“, den die konservative Presse wie der Figaro und Valeurs actuelles bereits als Menetekel der Cancel Culture feiert – Quentin persifliert die medialen Reaktionen auf Jean Roscoffs Buch und nimmt damit auch die Debatte um seinen eigenen Roman vorweg.

Schüler: verbannter Engel

Wenn man Bücher für den Französischunterricht sucht, ist schnell von prosaischen Ausdrücken die Rede, von ‚Ganzschriften‘ oder ‚Kompetenzen‘. Pädagogisch-didaktische Absichten tendieren leicht zu landeskundlichen oder moralischen guten Absichten, aber es gibt auch diese dunklere Faszination für die Abgründe der Pubertät, des Heranwachsens, bei denen selbst ein Lehrer seine überlegene Distanz verlieren kann und besessen wird. Hierzu gehört der Roman Bélhazar. Das Eingangsmotto von Thomas Wolfes Coming of Age Roman Look homeward, Angel, französisch L’Ange exilé, knüpft an Eugene Gant an, eine autobiographisch gefärbte jugendliche Figur in einer schwierigen Familie, und er ist „als Fremder sich selbst ein Gespenst (…), der in seiner Seele so einsam ist wie in der Welt“. 1

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Anmerkungen
  1. « … en ses douloureuses et sombres entrailles un étranger avait été porté à la vie, nourri d’éternité par des messages perdus, un étranger qui serait à lui-même son propre fantôme, qui hanterait sa propre demeure ; seul dans son âme, seul au monde. Ô perdu ! »>>>

Provinz im Niedergang: eine Art Inventar der Tiefen unseres Landes

« Après tout, la France est la France, comme vous le disiez hier. »

Honoré de Balzac, Le Médecin de campagne.

Daniel Rondeau reiht sich in die Gruppe der Schriftsteller ein, die Romane als Zyklus schreiben. Ob das eine Serialisierung wie bei Filmserien ist oder ein Marketinginstrument, muss man im Einzelfall beurteilen. Sein Zyklus ist noch unvollständig, die Titel 1. Mécaniques du chaos, 2. Arrière-pays und 3. Hors-sol (noch nicht erschienen, livres hebdo nennt diesen Schlussband allerdings Les fils) deuten ein dystopisches Panorama an. Après tout, la France soll die Trilogie heißen. Après tout, das bedeutet: „cependant ; tout bien considéré ; quoi qu’il en soit ; dans le fond“. Also vielleicht: Alles in allem Frankreich; Frankreich wie dem auch sei; Letztendlich Frankreich, oder: Dennoch Frankreich.

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Das große Schweigen im Vater-Prozess, im Barbie-Prozess

Roger de Wecks Bericht zum Barbie-Prozess für die Zeit erwähnte damals auch den Autor des Vaterromans Enfant de salaud: „Sorj Chalandon, der glänzende Berichterstatter von Libération, verzweifelte über den „tausend Fragen“, die im Barbie-Prozeß hätten gestellt werden sollen, meist nicht gestellt wurden, in Ausnahmefällen nicht gestellt werden durften.“ 1 Der Roman verknüpft nun Chalandons Auseinandersetzung mit der großen Geschichte – dem Schlächter von Lyon Klaus Barbie – und mit intimer Familiengeschichte – dem eigenen, 2014 verstorbenen Vater, der bereits 2015 Gegenstand des Romans Profession du père war. Zum Prozess ging der Autor nach eigenen Angaben auf Vorschlag des Vaters und gemeinsam mit ihm:

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Anmerkungen
  1. Roger de Weck, „Schweigen vor dem Leid der Opfer“, Die Zeit, 3. Juli 1987.>>>
rentrée littéraire
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