Postkolonialer Pikaroroman: Zied Bakir
„La naturalisation“ ist ein Roman über den Akt der Einbürgerung, der für den Erzähler nicht den Eintritt in die nationale Gemeinschaft Frankreichs bedeutet, er legt deren groteske Kulissen frei. Elyas Z’Beybi, der Ich-Erzähler des Textes, berichtet in einem dichten, episch-atmenden, satirisch-ernsten Ton von seinem Weg aus einem tunesischen Dorf nach Paris, von seiner Kindheit im Schatten des autoritären Regimes Bourguibas, von gescheiterten Bildungsprojekten, sexueller Frustration, dem Versuch, ein Dichter zu werden, und seinem allmählichen Abrutschen in die Prekarität. Der vorliegende Artikel versteht den Text als Geschichte einer scheiternden Akkulturation und als Reaktivierung und Transformation eines literarischen Modells: des Pikaro, jenes illusionslosen Erzählers von unten, der sich durch eine fragmentierte Welt laviert, ohne je heimisch zu werden. Der Pikaro hat sich als äußerst anschlussfähig für postkoloniale, migrantische Erzählungen erwiesen. „La naturalisation“ verbindet die Elemente dieses Modells mit einer radikalen Gegenwartsanalyse: Der moderne Pikaro trägt ein Smartphone in der Tasche und rezitiert dennoch Victor Hugo. Statt in die französische Gesellschaft aufgenommen zu werden, erfährt der Erzähler immer wieder Ausschluss, Entfremdung und symbolische Erniedrigung. Seine Erzählung ist weder eine klassische Erfolgsgeschichte noch ein lineares Bildungsnarrativ. Vielmehr folgt sie den Umwegen, Sprüngen und Umständen eines postkolonialen Schelms, eines Pikaros in der Migrationsgesellschaft.