Gegenarchiv der Kinderkolonie: Simon Johannin

Simon Johannins „Le Fin Chemin des anges“ (2025) rekonstruiert das Schicksal der Jungen, die in der Kinderkolonie auf der Île du Levant – einer von Isolation, Gewalt und Zwangsarbeit geprägten Einrichtung – lebten und starben. Im Mittelpunkt steht Louis, ein sensibler, homoerotisch empfindender Junge, dessen „Abweichung“ im 19. Jahrhundert zur moralischen und juristischen Verurteilung führt und ihn in das System der Kolonie schleudert. Dort werden die Kinder entkräftet, gedemütigt und zu Arbeit gezwungen; viele sterben an Hunger, Krankheit oder Misshandlung. Louis’ Leben wird aus Fragmenten, Erinnerungsflashs und Archivresten rekonstruiert, während die Ruinen des Ortes als Resonanzraum der ausgelöschten Stimmen erscheinen. Der Roman zeigt die Kolonie nicht als pädagogische Einrichtung, sondern als Maschine der systematischen Zerstörung junger Körper und Biografien – und macht die gewaltvolle Geschichte eines Ortes hörbar, den das Archiv weitgehend zum Schweigen gebracht hat. – Johannins Roman ist exemplarisch für die neue Buchreihe „Locus“, indem er einen verlassenen Ort als palimpsestartigen Speicher traumatischer Geschichte lesbar macht. Der Artikel zeigt, wie Johannin räumliche, archivische und poetische Ebenen miteinander verschränkt, um jenen Kindern eine Stimme zurückzugeben, die in den offiziellen Dokumenten entindividualisiert und ausgelöscht wurden. Besonders hervorgehoben wird die doppelte Bewegung des Texts: Einerseits die präzise Analyse der Architektur der Kolonie als Disziplinarapparat, andererseits die imaginative Rekonstruktion einer einzelnen Biographie, die stellvertretend für eine Vielzahl verloren gegangener Leben steht. Die Rezension arbeitet heraus, wie Johannin Sexualität, Körperlichkeit und Erinnerung politisch auflädt, indem er die Pathologisierung von Louis’ Homosexualität als gesellschaftlichen Gewaltmechanismus offenlegt und die Poetik der Berührung – die „flashs“, die aus den Ruinen hervorgehen – als Form literarischer Zeugenschaft interpretiert. Insgesamt weist der Aufsatz den Roman als ein Gegenarchiv aus, das die Stille eines gewaltsam vergessenen Ortes in erzählerische Präsenz verwandelt und damit die ethische Dimension von Literatur sichtbar macht.

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Nouvelle Vague als Roman: Patrick Roegiers

Patrick Roegiers’ „Nouvelle Vague, roman“ (2023) übersetzt das Denken des Kinos in Prosa, diese erzählt die Nouvelle Vague nicht nach, sondern inszeniert sie neu als ästhetische Bewegung. Statt chronologischer Filmgeschichtsschreibung oder biografischer Porträts entsteht ein cineastisches Gewebe, das Szenen, Räume und Figuren wie Einstellungen einer unsichtbaren Kamera montiert. Roegiers lässt den Leser durch die Redaktionsräume der „Cahiers du cinéma“ treiben, durch die Wohnungen, Drehorte und symbolischen Landschaften, in denen Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer und Varda ihre filmische Sprache erfanden. Historische Fakten, anekdotisches Material und ikonische Filmszenen werden wie found footage in einen größeren literarischen Rhythmus eingespeist, der die Erzählung nicht motivisch festschreibt, sondern als fragile, vibrierende Komposition aus Bildern, Bewegungen und Blicken gestaltet. Die Rezension argumentiert, dass der Roman seine Kraft gerade daraus bezieht, dass er die ästhetischen Prinzipien der Nouvelle Vague selbst performativ in seine Prosa einschreibt. Er wird nicht als Beitrag zur Filmhistoriografie verstanden, sondern als literarische Choreografie, die das Denken der Filmemacher – ihr Misstrauen gegenüber Konventionen, ihre Vorliebe für Fragment, Gegenwart, Improvisation und direkte Beobachtung – in Textform reproduziert. Dabei zeigt die Interpretation, wie Roegiers’ Montageverfahren, seine anachronistischen Begegnungen und die Verschmelzung von dokumentarischem Material und Fiktion jene Offenheit und Beweglichkeit reaktivieren, die die Nouvelle Vague zur ästhetischen Revolution gemacht haben. Die literarische Form wird selbst zum Labor einer frei beweglichen Wahrnehmung, die historische Figuren entmythologisiert, sie zugleich aber in ihrer ästhetischen Radikalität neu sichtbar macht – als Fortsetzung einer Revolte, die nie abgeschlossen war.

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Fantasia kolonial und postkolonial: Ritualpraxis bei Assia Djebar und Fouad Laroui

Fouad Larouis Roman „La vie, l’honneur, la fantasia“ (2025) rekonstruiert aus der Perspektive eines erwachsenen Ich-Erzählers ein Kindheitserlebnis: den ritualisierten Mord an Arsalom während der marokkanischen Reiterzeremonie der Fantasia. Diese Hinrichtung erscheint als kollektiver Akt der Ehrwiederherstellung gegenüber einer als korrupt imaginierten Moderne, in der Arsalom mit seiner „mobilité arrogante“ und ökonomischen Gier zum Feindbild wird. Die Fantasia wird dabei zur sozialen Matrix, in der Macht, Verschleierung und rituelle Gewalt ineinander greifen; die Präzision des Schießrituals zu Pferde – „eine einzige Detonation aus fünfzehn anderen“ – markiert die symbolische Einheit des „corps collectif“ und entlarvt zugleich die Dysfunktion staatlicher Institutionen, die Korruption und informelle Ehrencodizes nicht aufzubrechen vermögen. – Im Vergleich dazu öffnet Assia Djebars „L’amour, la fantasia“ (1985) das koloniale Archiv Algeriens poetisch und polyphon: Die Fantasia wird zum ambivalenten Symbol zugleich männlicher Machtdemonstration, weiblicher Verletzbarkeit und literarischer Erinnerung gegen koloniale Geschichtspolitik. Wo Djebar fragmentierende Vielstimmigkeit einsetzt, um verdrängte Vergangenheit zu reaktivieren, arbeitet Laroui mit analytischer Linearität, um zeitgenössische Verstrickungen von Ehre, Ökonomie und Institution sichtbar zu machen. Die Rezension betont diese komplementäre Spannung: Djebar erzeugt ein Gegenarchiv der Stimmen; Laroui seziert die Gegenwart und zeigt, wie ritualisierte Gewalt in moderne Rechtslogiken hineinragt. Beide Narrative zusammen lassen die Fantasia als Schnittstelle zwischen Geschichte und Gegenwart erscheinen, an der sich Kontinuitäten kolonialer Gewalt und ihre postkolonialen Transformationen exemplarisch ablesen lassen.

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Die Schönheit archaischer Gewalt: Pierre Michon und Aischylos

Pierre Michons „Agéladas d’Argos (Contre Thèbes)“ (Flammarion, 2025) interpretiert den thebanischen Mythos von Aischylos durch die Linse der Kunst neu. Die Handlung wechselt zwischen dem modernen Museum von Reggio Calabria, dem Aufbewahrungsort der gefundenen Riace-Bronzen, und den antiken Schauplätzen, wobei die Stimmen des Autors Michon, des Dramatikers Aischylos und des Bildhauers Agéladas II miteinander verschmelzen. Michon konzentriert seine Reflexion obsessiv auf die Materialität der Bronze, die er als die einzig dauerhafte Form begreift, in der die „rohe, blutige Historie“ gebannt wird. Im Zentrum steht der Krieger Tydeus (Bronzefigur A), den Michon zum „schönsten Mörder der Kunstgeschichte“ überhöht und dessen archaische Wildheit zur unentrinnbaren Definition von Schönheit selbst wird – eine poetische Prämisse, die bereits sein Homer-Buch „J’écris l’Iliade“ bestimmte. Wie in der „Ilias“, wo archaische Gewalt und Begehren zur ekstatischen Erfahrung des Erzählens werden, transformiert Michon in „Agéladas d’Argos“ die rohe, blutige Historie in die materielle, unvergängliche Form der Bronze. – Die Rezension konzentriert sich auf Michons radikale politiktheoretische Thesen, die eine schockierende, ununterbrochene Linie der Gewalt in der Zivilisation ziehen. Michon etabliert eine direkte Analogie zwischen den „Sept Chefs“ des thebanischen Feldzugs und den „Onze“ (in Michons gleichnamigem Roman) der Französischen Revolution – den „tueurs du roi“. Er interpretiert diesen historischen Fluss als Konsequenz des „entscheidenden Putsches des Logos“ im 6. Jahrhundert v. Chr., wodurch die Demokratie als zynisches „Massaker mit gutem Gewissen“ entlarvt wird. In dieser Lesart verkörpert Tydeus die Ambivalenz politischer Macht: Er ist zugleich „die legitime Gewalt des Logos“ und die „nicht weniger legitime Gewalt, die die Welt im Gegenzug ausübt“. Das Werk endet mit der Behauptung der ewigen Wirkmächtigkeit der archaischen Gewalt, die den kommerziellen und intellektuellen Konventionen der Moderne trotzt.

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Ruhe in einer Welt der Gespenster: Cyrille Falisse

Cyrille Falisses Debütroman „Seuls les fantômes“ (Belfond, 2025) beginnt mit einem abrupten Zusammenbruch: Melvile, von seiner Partnerin verlassen, verliert jede innere Stabilität. Die Trennung wird nicht als Liebesleid, sondern als körperlich-psychischer Kollaps dargestellt, in dem das Verstummen des Begehrens durch die wiederkehrende Formel „Je ne jouis plus“ sichtbar wird. Melviles Rückzug, seine fragmentierten Alltagsfunktionen und die Stimmen, die seinen inneren Monolog verdichten, markieren eine Überreizung der Psyche. Zentral ist die Figur des „Gespenstischen“ – die „fantômes“ – als Metapher für intrusive Erinnerungen und unerledigte emotionale Prägungen, die Melvile zu einer systematischen Aufarbeitung seiner Vergangenheit treiben. Verfall, körperliche Impotenz, obsessive Gedanken und die bedrückende Wohnung spiegeln seine Krise. Zugleich strukturiert er seine innere Welt über Schreiben und digitale Identität, wobei Natur- und Wasserbilder die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen illustrieren. Das narrative Zentrum bleibt die Suche nach verlorenen Bezugspersonen, die Konfrontation mit Schuld und die allmähliche Integration von Verlust, während die Geschichte zu einem Reise- und Suchnarrativ hinführt, das weniger geografisch als psychologisch motiviert ist. – Falisses Argumentation liegt in der engen Verknüpfung von innerer Krise, psychischer Verarbeitung und narrativer Form. Die präzise, unpathetische Sprache macht emotionale Erschütterungen unmittelbar erfahrbar und verbindet metaphorische Dichte mit konkreter Körperlichkeit. Digitale Kommunikationsformen, mentale Schleifen und fragmentierte Zeitstruktur bilden ein erzählerisches System, das Melviles Isolation, Reflexion und langsame Stabilisierung sichtbar macht. Das Buch zeigt, dass Erinnerung, Verlust und Begehren nicht aufgehoben, sondern bearbeitet und integriert werden müssen. Falisse gelingt es, existenzielle Erfahrungen in einer Balance zwischen Verletzlichkeit und formaler Strenge darzustellen: Die Geister der Vergangenheit bleiben, verlieren aber ihre zerstörerische Macht, und Melvile erkennt seine Zerbrechlichkeit als Stärke – ein Schluss, der psychologisches Verständnis und literarische Präzision miteinander verbindet.

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Der Naive und die Spießer bei Voltaire und Dominique Fernandez

In „Un jeune homme simple“ (2024) zeichnet Dominique Fernandez den Weg des jungen Auvergnaten Arthur nach, der als unverbildeter Provinzler in das hyperideologisierte Paris gerät. Seine Begegnungen u.a. mit radikal-feministischen, ökologischen und literarischen Milieus machen die Gegenwartsgesellschaft als von Moralismus, Woke-Dogmen und kulturellem Konformismus durchdrungen sichtbar. Die Naivität des Helden fungiert dabei als Prüfstein moderner Eliten: Gerade weil Arthur die „Codes“ der Hauptstadt nicht versteht, legt er deren Heuchelei frei und entscheidet sich am Ende für die Rückkehr in die Auvergne, wo „valeurs sûres, éprouvées“ und eine einfache Liebe auf ihn warten. – Die Rezension ordnet den Roman explizit in eine intertextuelle Linie zu Voltaires „L’Ingénu“ ein und deutet Arthur als gegenwärtige Reinkarnation des aufgeklärten Außenseiters. Wie Voltaires Hurone entlarvt auch Arthur durch sein unverstelltes Urteil die Absurditäten der jeweiligen Epoche – einst der religiösen Riten, heute der ideologischen Orthodoxien. Dabei kehrt sich Voltaires Impuls jedoch um: Wo der Ingénu zum Widerstand in der Welt gezwungen wird, erscheint bei Fernandez der Rückzug als einzige verbleibende Form von Integrität. Die Argumentation der Rezension arbeitet folglich mit einem doppelten Vergleich: Sie liest Fernandez’ Satire als moderne Fortsetzung voltairischer Kritik – und zugleich als ironische Antithese, in der der naive Held nicht mehr kämpft, sondern die korrumpierte Zivilisation hinter sich lässt. – Zentral für die Rezension ist zudem die Beobachtung, dass Fernandez die sexuelle Befreiung der Gegenwart nicht als Fortschritt, sondern als neue Form des Konformismus zeichnet: Was einst transgressiv war, erscheint im Pariser Milieu als kommerzialisiertes Ritual, das seine rebellische Energie verloren hat. Die Werkgeschichte der Homosexualität bei Fernandez zeigt diesen Verlust der „gloire du paria“ als wiederkehrendes Motiv: Seit „L’Étoile rose“ (1978) und „La Gloire du Paria“ (1987) über den Doppelroman „L’homme de trop“ (2021/2022) beschreibt er die Assimilation der einst widerständigen Minderheit als kulturelle Nivellierung, die Wünsche nach einer neuen radikalen Differenz – zuletzt im Transgender – hervorbringt.

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Okzitanische Transgression: Alain Guiraudie

Die vier Romane des Filmemachers und Schriftstellers Alain Guiraudie bilden eine zusammenhängende Saga, in der sich die Logik des Roman-Flux entfaltet: „Ici commence la nuit“ (2014) eröffnet das Universum mit einem düsteren Dreieck aus Gewalt, Begehren und okzitanisch grundierter Außenseiterexistenz; „Rabalaïre“ (2021) radikalisiert dies zu einer tausendseitigen, delirierenden Odyssee, die den ländlichen Süden Frankreichs in ein zugleich realistisches und mythisches Terrain verwandelt, in dem sexuelle, kriminelle und fantastische Energien ineinanderströmen; „Pour les siècles des siècles“ (2024) verschiebt das Projekt ins Metaphysische, indem die Fusion von Jacques und dem Priester Jean-Marie zu einer theologischen, erotischen und philosophischen Reflexion über Identität, Körper und Koexistenz wird; „Persona non grata“ (2025) schließlich zeigt die Konsequenzen dieser Fusion auf institutioneller Ebene und vertieft das Motiv der Ausgrenzung, während es den paranoid-politischen Resonanzraum der Reihe erweitert. Als Werkganzes bilden die Bände einen immer weiter mäandrierenden Fluss, in dem Genregrenzen, moralische Kategorien und ontologische Fixpunkte systematisch aufgelöst werden. – Die Rezension argumentiert, dass Guiraudies Werk aus dem Prinzip der radikalen Entgrenzung heraus zu deuten ist: Die poétique du flux wirkt als ästhetischer, politischer und anthropologischer Schlüssel, der die Verschmelzung von Oralität, okzitanischer Sprachsubversion, sexueller Transgression und philosophischer Spekulation glaubwürdig macht. Ihre Argumentation setzt auf die konsequente Rückbindung der erzählerischen Exzesse an ein strukturelles Programm – die Aufhebung von Identität als stabiler Kategorie, die erzählerische Durchlässigkeit zwischen Realem und Fantastischem sowie die Verbindung von ländlichem Terroir und utopischer Sehnsucht. Durch diese Perspektive erscheinen selbst die extremsten Motive nicht als Provokationen um ihrer selbst willen, sondern als Bausteine einer literarischen Utopie, die das Begehren als verbindende, politisch wirksame Kraft begreift. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Zusammenhang von Trobadors und Sade fassen: Guiraudie aktualisiert die mittelalterliche Dichtung des Begehrens, die bei den Trobadors als kultivierte, oft unerfüllte und zugleich transzendierende Kraft erscheint, und verschränkt sie mit de Sades Erforschung der Körpergrenzen, der Ambivalenz von Lust und Grausamkeit und der radikalen Freiheit jenseits moralischer Kodifikationen.

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Schönheit durch Bedrohung: Camille Goudeau

Camille Goudeaus „Crache le soleil“ entwirft ein Paris am Rand des Zusammenbruchs: eine Stadt aus Kälte, Wut und erstarrter Infrastruktur, in der Menschenmassen zu drängenden Körpern werden und das Individuum in Angst, Atemlosigkeit und Fluchtimpulsen zerrieben wird. Éléonore, aus einer gewaltsamen Beziehung geflohen, versucht in diesem urbanen Chaos ein neues Gleichgewicht zu finden. Félix bewegt sich zugleich durch dieselbe Stadt wie durch ein deformiertes Farblabyrinth, tastend, verletzlich, aber empfänglich für jedes Leuchten. Das Street-Art-Porträt von Éléonore, geschaffen von der jungen Künstlerin Vérité, wird zum zentralen Signum dieser Welt: ein flüchtiges Bild, das im brüchigen Stadtraum aufscheint, überschrieben wird, wiederkehrt – und die Möglichkeit eröffnet, inmitten der Erschöpfung ein anderes Selbst sichtbar zu machen. So formt der Roman eine Anti-Dystopie, die nicht mit totalitären Schreckensbildern arbeitet, sondern mit den Mikroverletzungen des Alltags, den psychischen Erschütterungen und der ästhetischen Durchlässigkeit einer Stadt im Zustand schleichender Desintegration. – Die Rezension betont diese doppelte Bewegung: einerseits die zeichnerische Härte, mit der der Roman den urbanen Druck sichtbar macht, andererseits das poetische Aufleuchten, das den Figuren einen Raum der Reorientierung schenkt. Sie hebt die körpernahe Sprache hervor, die Kälte, Erschöpfung und innere Zersetzung unmittelbar erfahrbar macht, und unterstreicht die Bedeutung der Licht- und Farbsymbolik, die Éléonore, Félix und Vérité miteinander verbindet. Die soziale Dimension der Street-Art-Motivik erweist Sichtbarkeit als Machtressource, die im übermalten, verwischten, wiedererscheinenden Porträt verhandelt wird. Schließlich zeigt die Besprechung, wie der Roman ästhetische Intensität in eine fragile Hoffnung verwandelt: Die Begegnung der beiden beschädigten Existenzen am Ende wirkt nicht wie ein Happy End, sondern wie ein Aufglimmen von Möglichkeit – ein kurzer Moment, in dem eine erfrorene Welt Wärme freisetzt.

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Moralistik und Misstrauensgemeinschaft: Lise Charles, François de La Rochefoucauld und Aladin El-Mafaalani

Der Artikel liest Lise Charles’ Roman „Paranoïa“ (P.O.L., 2025) einerseits durch die moralistische Optik La Rochefoucaulds (der im Roman als Prince Marsillac erscheint), andererseits mit El-Mafaalanis soziologischer Diagnose moderner „Misstrauensgemeinschaften“ (Kiepenheuer & Witsch, 2025). Auf dieser Achse erscheint Charles’ Werk als literarisches Labor der Post-Wahrheit, in dem die siebzehnjährige Louise Milton exemplarisch jene „zu schwere Selbstwahrnehmung“ verkörpert, die sowohl moralistisch-demaskierend als auch soziologisch-systemisch beschrieben werden kann. Hier wird Louises Paranoia nicht als pathologische Einzelstörung gelesen, sondern als strukturelle Erfahrung einer von medialen Rückkopplungen deformierten Moderne begriffen: Ihre permanente Überwachungsangst, die Enteignung ihres Ichs durch Mutter, Medien und sogar Autorin sowie die Zersetzung ihrer Identität im zweiteiligen System des Romans werden als literarische Verdichtung eines gesellschaftlichen Grundmodus gelesen. Die romanimmanente Metafiktionalität – Louise als „Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“ – wird dabei zum stärksten Bild für eine Gegenwart, in der sich Kontrollverlust, Selbstverlust und Wirklichkeitsverlust überschneiden. Gleichzeitig zeigt der Artikel, wie Charles die Moralistik des 17. Jahrhunderts in das Herz ihrer Paranoia-Poetik transponiert. Der Prince de Marsillac fungiert als literarischer Wiedergänger La Rochefoucaulds und strukturiert die zweite Romanhälfte als hermeneutisches Regime des Argwohns. Seine Lehre vom amour-propre liefert Louise ein System, das Misstrauen nicht pathologisiert, sondern rationalisiert – und damit an El-Mafaalanis Beschreibung moderner Misstrauensgemeinschaften anschließt: Misstrauen wird zur Funktionsbedingung von Handlungsfähigkeit in einer unübersichtlichen, überkomplexen Welt. Die Besprechung argumentiert, dass Charles in dieser Verbindung von barocker Demaskierung und spätmoderner Vertrauenskrise den Kern einer neuen paranoiden Ästhetik freilegt. „Paranoïa“ steht so nicht nur im Dialog mit der klassischen französischen Moralistik, sondern kann als zeitdiagnostisches Schlüsselwerk gedeutet werden, das die Identitätskrise der Gegenwart – zwischen Überwachung, Performanz und moralischem Dogmatismus – in eine literarische Versuchsanordnung überführt, in der die Grenze zwischen Wahrheit und Täuschung endgültig porös geworden ist.

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Neue Phase französischer Erinnerungsliteratur: Matthieu Niango und Benny Malapa

„Le Fardeau“ von Matthieu Niango und „Un nègre qui parle yiddish“ von Benny Malapa (beide 2025) zeichnen zwei Familiengeschichten, in denen das 20. Jahrhundert als genealogische Erschütterung sichtbar wird. Niangos Roman verfolgt die archivgestützte Spurensuche eines Sohnes, der die Lebensborn-Herkunft seiner Mutter und das paradoxe Erbe aus jüdischer Opferlinie und NS-Täterlinie freilegt. Malapas epochenumspannendes Familienepos erzählt die Liebes- und Überlebensgeschichte eines kamerunisch-deutschen Mannes und einer polnisch-jüdischen Frau als Widerlegung jedes ethnischen Reinheitsmythos. Beide Bücher zeigen, wie Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus ineinandergreifen und wie Hybridität zur Gegenfigur totalitärer Ideologien wird. In unterschiedlicher Ästhetik – dokumentarisch-analytisch bei Niango, mündlich-episch bei Malapa – demonstrieren sie, dass Identität ein offener Prozess der Erinnerung ist: ein Geflecht aus Brüchen, Weitergabe und Verantwortung. – Die Rezension argumentiert, dass beide Romane eine neue Phase der französischen Erinnerungsliteratur markieren, in der nationale Geschichte nicht mehr über große kollektive Narrative, sondern über intime Familienarchive, Minderheitenbiografien und transgenerationale Traumata erschlossen wird. Sie liest die beiden Werke als Gegenentwürfe zu identitären, ethnonationalen Deutungen von „französischer“ Herkunft. Niango und Malapa legen genealogische Assemblagen frei, die die Gewaltgeschichte Europas relational denken. Die Romanformen modellieren zwei Ethiken des Erinnerns: Verantwortung durch Analyse (Niango) und Verantwortung durch Weitergabe (Malapa).

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Poetik des Erzitterns: Maria Pourchet

Maria Pourchets „Tressaillir“ (2025) entfaltet das „Erzittern“ als poetischen Erkenntnismodus – ein vibrierendes Zusammenspiel von Körper, Sprache und Umwelt. Im Zentrum steht Michelle Darras, Kinderbuchautorin und Mutter, die nach dem Ende ihrer Beziehung zu Sirius in die Schwebe gerät. Der Roman beginnt im Mikrokosmos des Banalen – mit dem Gießen von Pflanzen auf einem Pariser Balkon – und dehnt sich zu einer kartographischen Bewegung der Angst aus: über den Körper, die Sprache und das Wetter. Michelles Haut, die sich entzündet und schält, wird zur sprechenden Membran zwischen Innen und Außen, zur Oberfläche der Erinnerung. Wasser, Erde, Wind und Haut bilden das Vokabular einer organischen Poetik, in der die Angst selbst Erkenntnis wird. Das Trauma eines Sturms in der Kindheit und das nationale Trauma um den Fall „Grégory“ durchziehen den Text als mythologische Tiefenschicht. In der Konfrontation mit diesen Urängsten, mit der Mutterrolle, der Krankheit und der unauflöslichen Spannung zwischen Fürsorge und Zerstörung findet Michelle schließlich zu einer Form des Wissens, die nicht rational, sondern sensibel ist. Die Rezension liest „Tressaillir“ als ein vibrierendes Organ aus Sprache – ein Text, der selbst bebt. Sie betont Pourchets Poetik der Porosität, in der Körper und Text, Krankheit und Erkenntnis, Wetter und Gefühl ineinander übergehen. Besonders hervorgehoben wird die Fähigkeit der Autorin, analytische Präzision und eruptive Emotionalität zu verschränken: Das Messbare (Wasser, Temperatur, Haut) trifft auf das Unkontrollierbare (Angst, Begehren, Erinnerung). Die Kritik erkennt im Namen des männlichen Partners, „Sirius“, das Gegenprinzip zum Erzittern – Licht ohne Wärme, Kontrolle statt Resonanz – und deutet die Trennung Michelles als kosmologische Befreiung aus einer starren Umlaufbahn. Stilistisch würdigt sie Pourchets parataktische, atmende Syntax als Spiegel des physischen Zitterns und die Körpermetaphorik als ethische Aussage: Verletzlichkeit ist Erkenntnisform. So versteht die Rezension den Roman nicht als psychologische Fallstudie, sondern als literarisches Experiment über das Lebendige selbst.

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Jenseits der Zivilisation: Fabrice Humbert

Fabrice Humberts Roman „De l’autre côté de la vie“ (2025) entfaltet eine apokalyptische Fluchtgeschichte, in der der Ich-Erzähler – ein Pariser Anwalt – mit seinen Kindern einer in Bürgerkrieg versinkenden Hauptstadt entkommt. Die Reise in Richtung einer halbmythischen „République du Jura“ wird zur moralischen Abwärtsbewegung: Was als Schutzversuch beginnt, verwandelt sich in eine phänomenologische Studie der Verrohung. Sprache selbst wird als Trägerin des Giftes sichtbar – „die Worte bereiteten den Boden“ –, während Gewalt aus Angst und Anpassung erwächst. Der Roman verbindet dystopische Gesellschaftsanalyse mit einer existenziell aufgeladenen Poetik: Kindheit erscheint als letzter Rest des Humanen, Natur als trügerischer Trost, Utopie als fragiles Wunschbild, das im Feuer vergeht. Die Parabel zeigt nicht primär äußere Katastrophen, sondern die Erosion des Menschlichen durch den Zerfall gemeinsamer Werte und des sozialen „Flüssigen“ früherer Höflichkeit. – Die Besprechung interpretiert diesen Roman als Fortschreibung von Humberts Gesamtwerk und stellt ihn in einen systematischen, thematisch wie poetologisch kohärenten Kontext. Sie argumentiert doppelt: einerseits wird der Roman als literarische Verdichtung aller bisher entwickelten Motive gelesen – Zerfall sozialer Bindungen, mediale Vergiftung der Realität, die Illusion von Utopien –, andererseits als radikalisierte Selbstkorrektur des Autors, die frühere moralische Hoffnungen skeptisch bricht. Die Kritik macht sichtbar, wie der Erzähler als Jurist seine eigene Sprache einer „Reinigung“ unterzieht und das Werk als Gegenrede zur Gewalt formuliert, obwohl es zugleich die Grenzen solcher Rede demonstriert. Die Rezension macht deutlich, dass Humbert sein zentrales Thema – die Selbstgefährdung des zivilisierten Menschen – in diesem Roman zu einer kompromisslosen literarischen Konsequenz führt.

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Jordan Bardellas Wunschfrankreich: Schönheit und Größe des Ersatzkandidaten

Jordan Bardellas beide Bücher – „Ce que je cherche“ (2024) und „Ce que veulent les Français“ (2025) – bilden eine strategische Doppelfigur aus Selbstmythos und Selbstlegitimierung. Das erste Werk stilisiert Bardellas Aufstieg vom Banlieue-Kind zum „republikanischen Erfolgsmodell“ im Rassemblement National und verbindet dies mit einer Pathetik nationaler Größe, die an Bonaparte und De Gaulle anknüpft. Die Suche nach „Grandeur“ wird zum Selbstrechtfertigungsnarrativ eines Erlösers der „vergessenen Franzosen“. Das zweite Buch transformiert diesen Erlösungsanspruch in eine Galerie scheinbar authentischer Bürgerporträts, die freilich nur die Stimmen eines homogenen, arbeitsethisch moralisierten „Volkes“ repräsentieren, das er selbst verkörpert. Bardella verschmilzt so Erzähljournalismus, politische Mythologie und Wahlkampfrhetorik zu einer ästhetischen Form des populistischen Pathos, in der „Empathie“ zur Bühne ideologischer Vereinfachung wird. Die Nation erscheint als Sakralgemeinschaft gegen Eliten, Migration und Europa; Differenz wird moralisch entwertet. – Der Artikel liest diese Werke als Zwillingsakte politischer Selbstvermarktung: Literatur als Kandidatur. Er zeigt, wie beide Bände den Bolloré-Medienkomplex und dessen rechtspopulistische Agenda stützen: das erste als Biographie eines „designierten Ersatzkandidaten“ für Marine Le Pen, das zweite als emotionalisierter Wahlkampf unter dem Deckmantel volksnaher Authentizität. Die Analyse deutet Bardellas Pathos vom „wahren Frankreich“ als projektive Selbstvergöttlichung und macht sichtbar, dass sein Wunschfrankreich nicht auf Pluralität, sondern auf Symbolmacht zielt: Schönheit und Größe eines Kandidaten – ästhetisch präzise, politisch gefährlich.

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Frankreichs Glasvitrine und Algeriens Schädel: Clara Breteau

Clara Breteaus Roman „L’Avenue de verre“ (2025) unternimmt durch die Figur der Dozentin Anna eine dichte Untersuchung kolonialer Nachwirkungen und familiärer Schweigeverhältnisse. Ausgangspunkt ist das rätselhafte Doppelleben des Vaters, eines algerischen Einwanderers aus den Aurès-Bergen, der als Fensterputzer in Frankreich arbeitete und seine Herkunft hinter einer „Glashaut“ der Assimilation verbarg. Die titelgebende Avenue de verre wird zur Chiffre einer Nation, die sich selbst in spiegelnden Oberflächen betrachtet und ihre koloniale Schuld überblendet. Annas Nachforschungen führen sie von den eigenen familiären Leerstellen – dem verweigerten Namen, der Verstoßung durch den Vater, dem administrativen „NÉANT“ auf der Heiratsurkunde der Großeltern – bis in die Archive der kolonialen Gewalt, wo sie auf die enthaupteten algerischen Widerstandskämpfer stößt, deren Schädel im Musée de l’Homme lagern. Breteau verbindet hier intime Erinnerung mit politischer Archäologie: Die gläserne Transparenz des Vaters steht für das Schweigen der Geschichte, das Anna durchbrechen will. Doch die Erkenntnis, dass Sichtbarkeit selbst ein Akt der Verschleierung ist, prägt ihre Suche – jede Klärung erzeugt neuen Nebel, jedes Wort gebiert Schweigen. In diesem Zusammenhang greift der Roman auch Kamel Daouds Motiv des „verschwundenen Körpers“ auf, um die Erfahrung einer postkolonialen Entkörperlichung zu beschreiben, in der die Nachgeborenen nur noch Schatten und Spiegelbilder ihrer Geschichte sehen. – Die Rezension liest Breteaus Roman als eine Poetik der Auslöschung, in der Glas, Spiegel und Transparenz zu zentralen semantischen Feldern des postkolonialen Bewusstseins werden. Sie hebt hervor, dass Breteau das familiäre Schweigen nicht psychologisch, sondern politisch deutet: als koloniale Disziplinierung der Erinnerung, die in den Körpern und Biographien weiterwirkt. Der Vater, der sich in „Johnny“ umbenennt und Spuren löscht, problematisiert ein System, das koloniale Gewalt in Sauberkeit und Ordnung verwandelt. Die Besprechung betont die Doppeldeutigkeit von Reinigung und Verschmutzung, Sichtbarkeit und Verschwinden – eine Dialektik, die Annas Forschung ebenso strukturiert wie ihre eigene Identität. Durch den Rückgriff auf Abdelmalek Sayads Konzept der „double absence“ und Kateb Yacines Idee des „néant“ zeigt der Roman, dass das Schweigen kein Fehlen, sondern ein sedimentierter Widerstand ist. Der abschließende Akt – die Weitergabe des Namens Hadj und das Singen eines kabylischen Liedes – wird in der Rezension als Geste der Heilung gelesen, die das Trauma nicht tilgt, sondern es in eine poetische Kraft der Rückverwandlung überführt: aus der gläsernen Leere entsteht ein durchlässiges, atmendes Gedächtnis.

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Chronik der Macht von Versailles nach Silicon Valley: Marc Dugain

Marc Dugains „Légitime violence“ (2025) erscheint als fulminante Rückkehr des Autors zur historischen Erzählung, die zugleich das gesamte politische Denken seines Werks bündelt. Im Frankreich Ludwigs XIV. verknüpft Dugain die „Affaire des poisons“ mit einer Anatomie der Macht, deren Strukturen vom höfischen Zeremoniell bis in die intimsten Beziehungen reichen. Der Roman zeichnet den Hof als mikropolitisches System permanenter Kontrolle: Rituale, Sprache und Architektur verwandeln Unterwerfung in Bewunderung, Gewalt in Ordnung. In der Figur der Marquise de Brinvilliers, die sich aus der patriarchalen Enge befreien will, verdichtet Dugain das Spannungsverhältnis von Geschlecht, Körper und Herrschaft – ihre „Verbrechen“ sind Akte der Revolte gegen eine göttlich legitimierte Gesellschaftsordnung. Die höfische Welt erscheint dabei als Laboratorium der modernen Macht, in dem Schönheit und Disziplin ununterscheidbar werden. Dugain dekonstruiert die Ästhetik des Barock als politische Technik: Versailles selbst wird zum Symbol einer „alchimie du pouvoir“, die Unterdrückung in Glanz verwandelt. – Der Aufsatz liest den Roman als den historischen Endpunkt einer dreißigjährigen „Chronik der Macht“, die von den gueules cassées des Ersten Weltkriegs (in „La Chambre des officiers“) über die geheimdienstliche Manipulation in „L’Emprise“ bis zur digitalen Überwachung in „Transparence“ reicht. „Légitime violence“ führt diese Linie genealogisch zurück zum Ursprung: zur Erfindung der „legitimen“ Gewalt im Absolutismus. Dugain zeigt, dass sich der Zwang zur Ordnung und die Legitimation von Herrschaft – ob durch Krone, Staat oder Algorithmus – nur in ihren Formen verändern. Der König, der seine Macht durch Glanz stabilisiert, ist der Vorläufer des modernen Technokraten, der Transparenz zur Tugend erklärt. Damit wird das 17. Jahrhundert bei Dugain zum Spiegel des 21.: Die sichtbare Gewalt des Schwerts ist durch die unsichtbare Gewalt des Systems ersetzt. „Légitime violence“ ist weniger historische Fiktion als politische Archäologie – der Roman legt die Tiefenschicht frei, in der sich Macht, Ästhetik und Legitimation bis heute gegenseitig hervorbringen.

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Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières

Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.

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Die zerlegte Republik und ein Wal-Skelett: Aurélien Bellanger

Im Jahr 2023 verbringt der Erzähler seine Zeit damit, Höhlen in der französischen Provinz zu erforschen, die Knochen eines an der Normandieküste verendeten Wals zu sammeln und an den Pariser Protesten gegen die Rentenreform teilzunehmen. Aurélien Bellangers „Grottes, baleine, révolution“ (2025) entwirft ein poetologisch-politisches Triptychon der Moderne, in dem Höhlen, Walfischknochen und Revolutionsversuche zu Denkfiguren einer historischen Reflexion werden. Das Buch verwandelt das kartographische Projekt früherer Werke in eine Topographie des Unterirdischen: „Grottes“ stehen für das Bewusstsein als geologischen Raum, „baleine“ für den Tod als Naturprozess, „révolution“ für die erschöpfte Idee kollektiver Erneuerung. Aus der Vermischung von autobiographischer Erfahrung, geologischer Empirie und mythischer Symbolik entsteht eine Poetik des Grabens – das Denken als Sedimentation, das Schreiben als Erdarbeit. Bellanger macht aus dem Erzählen eine Form des Wissens, in der Materie, Erinnerung und Geschichte ineinandergreifen, und formuliert so eine Moderne, in der Erkenntnis nicht Erleuchtung, sondern Verdunkelung bedeutet. – Im Verhältnis zu Bellangers „Le vingtième siècle“ und „Les Derniers Jours du Parti socialiste“ erscheint das neue Buch als Umkehrung und Verkörperung ihres intellektuellen Systems. Während die Revolution dort als ideologische oder archivische Spur behandelt wurde – einmal als technokratischer Verdachtsbegriff des Staates, einmal als rhetorische Hülse der erlahmten Linken –, wird sie hier zum tektonischen, fast tellurischen Ereignis, zur Naturkraft der Geschichte. Bellanger führt die benjaminische Idee des „Eingedenkens“ aus der Bibliothek ins Erdreich zurück: Das Denken steigt hinab in das Dunkel der Materie, um das Vergessene zu retten. Die Revolution und der tote Wal werden zu Relikten des Realen, zu Fossilien des Politischen, die nur noch im Schreiben bewegt werden können.

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Die unauffindbare Medaille: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvigniers monumentaler Roman „La maison vide“ (2025) ist seine Familiensaga und eine Archäologie des Schweigens. Ausgangspunkt ist eine Kommode voller Relikte – Fotos mit ausgeschnittenen Gesichtern, verschwundene Briefe, eine unauffindbare Medaille. Aus diesen Lücken rekonstruiert der Erzähler fünf Generationen seit napoleonischer Zeit, voller Kriege, Scham, Mythen und verschwiegener Traumata. Der Aufsatz zeigt, dass Mauvignier Erfindung nicht als Lüge, sondern als einzige poetologische Möglichkeit begreift, Vergangenheit vor dem Verschwinden zu retten. Familienmythen werden demontiert, verdrängte Geschichten – besonders die von Frauen wie Marguerite – wieder hörbar gemacht. „La maison vide“ erweist sich als Metaroman, der zugleich intime Familiengeschichte, kritische Reflexion über Erinnerungspolitik, poetologisches Manifest und Summa des eigenen Werks ist.

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Überwachen und Erschöpfen: Guillaume Poix nach Michel Foucault

Guillaume Poix‘ Roman „Perpétuité“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) erweitert den Begriff der lebenslangen Haft über das Strafrecht hinaus zu einer existenziellen Dauer, die nicht nur Insassen, sondern auch das Gefängnispersonal erfasst, gefangen in einem System aus Routine, Traumata und unentrinnbarer Zeit. Der Aufseher Pierre hört das metallische „clac“ des Tors in Albträumen. Der alte Pförtner Abraham verbringt seine Nachtwachen gefangen in Erinnerungen an die Vergewaltigung seiner Tochter durch Ex-Häftlinge, wobei Vergangenheit und Gegenwart in einer quälenden Endlosschleife verschmelzen. Selbst Gefängnisleiterin Bianca Mariani, obwohl eine „Kriegerin“ gegen die Überbelegung, ist durch den Suizidversuch ihrer Tochter und die manipulative Konfrontation mit dem Serienmörder Duquesne zutiefst verletzlich. Das Gefängnis, das der Roman als ein überlastetes und dysfunktionales System zeigt, in dem Überwachung zu einem Kaleidoskop individueller Erschöpfung und institutionellen Zerfalls führt, wird in der Aufsatzargumentation als Gesellschaftsdiagnose gedeutet, die es als Brennspiegel einer überlasteten und strukturell ungerechten Spätmoderne darstellt. Dabei wird insbesondere herausgearbeitet, wie Poix Michel Foucaults Konzeption der Disziplinargesellschaft aktualisiert und überwindet, indem er Figuren wie die psychisch zerrütteten Aufseherinnen Houda und Maëva, oder die von Schuldgefühlen geplagte Stellvertreterin Émilie Lavorel in den Mittelpunkt rückt, die alle zeigen, wie das Personal selbst zu Objekten der Macht wird. Der Roman zeigt das Gefängnis somit nicht als Modell disziplinierender Macht, sondern als Symbol für gesellschaftlichen Zerfall, die Unfähigkeit zur Resozialisierung und die teilprivatisierte Verwaltung von Leid, welche alle Beteiligten in einer „Perpétuité“ gefangen hält.

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Invasive Pflanzen und drittes Geschlecht: Caroline Lamarche

Caroline Lamarches Roman „Le bel obscur“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) ist eine Erkundung von Liebe, Erinnerung und Geschlechteridentitäten, in der eine Erzählerin nach dem Zerbrechen ihrer Ehe ihre eigene Identität und genealogische Vergangenheit ergründet. Der zentrale Titel „Le bel obscur“ ist eng mit dem verborgenen, queeren Leben ihres Vorfahren Edmond verbunden, dessen Auslöschung aus dem Stammbaum die Unterdrückung seiner irritierende Zwischenstellung repräsentiert. Der Roman dekonstruiert binäre Geschlechterordnungen, indem er Liebe als fluides, unsichtbares Band neu definiert, wobei die Erzählerin die Notwendigkeit des „Dritten“ gegenüber der exklusiven Zweierkonstellation auch für sich selbst als Ehefrau eines homosexuellen Mannes betont. In seiner hybriden Form aus Roman, Essay und Traumprosa transformiert „Le bel obscur“ persönliches Leid in eine universelle poetische Erfahrung, die die Fragilität menschlicher Beziehungen, die Unsichtbarkeit bestimmter Identitäten und die schöpferische Kraft des Erzählens bekräftigt.

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rentrée littéraire
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