Rehabilitation der Mutter: Émilie Lanez über Hervé Bazins „Vipère au poing“

Émilie Lanez’ Enthüllungsbuch „Folcoche: le Secret de Vipère au poing“ zeigt, dass Hervé Bazins berühmter Roman „Vipère au poing“ weniger eine autobiografische Anklage gegen eine monströse Mutter als vielmehr eine kalkulierte literarische Rache eines kriminell belasteten Sohnes war, der damit seine Vergangenheit tilgen und sein Erbe erzwingen wollte: Während Bazin in seinem Bestseller die Mutter Paule als sadistische „Folcoche“ inszeniert, die ihre Kinder quält, rekonstruiert Lanez auf Basis von Polizeiakten, psychiatrischen Dossiers und Familienkorrespondenzen, dass Jean Hervé-Bazin ein mythomaner Betrüger war, dessen Roman als Erpressungsinstrument diente und dessen Darstellung der Mutter ein „Mord auf Papier“ war; zugleich zeigen Lanez’ weitere Werke „La Garçonnière de la République“, eine Recherche über die geheimen, kaum rechenschaftspflichtigen Machtpraktiken der politischen Elite rund um die präsidiale Residenz La Lanterne, und „Noël à Chambord“, eine Analyse von Emmanuel Macrons monarchisch anmutender Selbstdarstellung im Schloss Chambord, dass die Autorin systematisch die Lücke zwischen öffentlicher Inszenierung und verborgener Wahrheit offenlegt – so dass die Rezension argumentiert, Lanez zerstöre nicht nur den Mythos des heroischen Sohnes in „Vipère au poing“, sondern entlarve grundsätzlich die moralische Blindheit französischer Institutionen, die Täter schützen und Opfer zum Schweigen bringen.

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Ruhe in einer Welt der Gespenster: Cyrille Falisse

Cyrille Falisses Debütroman „Seuls les fantômes“ (Belfond, 2025) beginnt mit einem abrupten Zusammenbruch: Melvile, von seiner Partnerin verlassen, verliert jede innere Stabilität. Die Trennung wird nicht als Liebesleid, sondern als körperlich-psychischer Kollaps dargestellt, in dem das Verstummen des Begehrens durch die wiederkehrende Formel „Je ne jouis plus“ sichtbar wird. Melviles Rückzug, seine fragmentierten Alltagsfunktionen und die Stimmen, die seinen inneren Monolog verdichten, markieren eine Überreizung der Psyche. Zentral ist die Figur des „Gespenstischen“ – die „fantômes“ – als Metapher für intrusive Erinnerungen und unerledigte emotionale Prägungen, die Melvile zu einer systematischen Aufarbeitung seiner Vergangenheit treiben. Verfall, körperliche Impotenz, obsessive Gedanken und die bedrückende Wohnung spiegeln seine Krise. Zugleich strukturiert er seine innere Welt über Schreiben und digitale Identität, wobei Natur- und Wasserbilder die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen illustrieren. Das narrative Zentrum bleibt die Suche nach verlorenen Bezugspersonen, die Konfrontation mit Schuld und die allmähliche Integration von Verlust, während die Geschichte zu einem Reise- und Suchnarrativ hinführt, das weniger geografisch als psychologisch motiviert ist. – Falisses Argumentation liegt in der engen Verknüpfung von innerer Krise, psychischer Verarbeitung und narrativer Form. Die präzise, unpathetische Sprache macht emotionale Erschütterungen unmittelbar erfahrbar und verbindet metaphorische Dichte mit konkreter Körperlichkeit. Digitale Kommunikationsformen, mentale Schleifen und fragmentierte Zeitstruktur bilden ein erzählerisches System, das Melviles Isolation, Reflexion und langsame Stabilisierung sichtbar macht. Das Buch zeigt, dass Erinnerung, Verlust und Begehren nicht aufgehoben, sondern bearbeitet und integriert werden müssen. Falisse gelingt es, existenzielle Erfahrungen in einer Balance zwischen Verletzlichkeit und formaler Strenge darzustellen: Die Geister der Vergangenheit bleiben, verlieren aber ihre zerstörerische Macht, und Melvile erkennt seine Zerbrechlichkeit als Stärke – ein Schluss, der psychologisches Verständnis und literarische Präzision miteinander verbindet.

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Neue Phase französischer Erinnerungsliteratur: Matthieu Niango und Benny Malapa

„Le Fardeau“ von Matthieu Niango und „Un nègre qui parle yiddish“ von Benny Malapa (beide 2025) zeichnen zwei Familiengeschichten, in denen das 20. Jahrhundert als genealogische Erschütterung sichtbar wird. Niangos Roman verfolgt die archivgestützte Spurensuche eines Sohnes, der die Lebensborn-Herkunft seiner Mutter und das paradoxe Erbe aus jüdischer Opferlinie und NS-Täterlinie freilegt. Malapas epochenumspannendes Familienepos erzählt die Liebes- und Überlebensgeschichte eines kamerunisch-deutschen Mannes und einer polnisch-jüdischen Frau als Widerlegung jedes ethnischen Reinheitsmythos. Beide Bücher zeigen, wie Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus ineinandergreifen und wie Hybridität zur Gegenfigur totalitärer Ideologien wird. In unterschiedlicher Ästhetik – dokumentarisch-analytisch bei Niango, mündlich-episch bei Malapa – demonstrieren sie, dass Identität ein offener Prozess der Erinnerung ist: ein Geflecht aus Brüchen, Weitergabe und Verantwortung. – Die Rezension argumentiert, dass beide Romane eine neue Phase der französischen Erinnerungsliteratur markieren, in der nationale Geschichte nicht mehr über große kollektive Narrative, sondern über intime Familienarchive, Minderheitenbiografien und transgenerationale Traumata erschlossen wird. Sie liest die beiden Werke als Gegenentwürfe zu identitären, ethnonationalen Deutungen von „französischer“ Herkunft. Niango und Malapa legen genealogische Assemblagen frei, die die Gewaltgeschichte Europas relational denken. Die Romanformen modellieren zwei Ethiken des Erinnerns: Verantwortung durch Analyse (Niango) und Verantwortung durch Weitergabe (Malapa).

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Jenseits der Zivilisation: Fabrice Humbert

Fabrice Humberts Roman „De l’autre côté de la vie“ (2025) entfaltet eine apokalyptische Fluchtgeschichte, in der der Ich-Erzähler – ein Pariser Anwalt – mit seinen Kindern einer in Bürgerkrieg versinkenden Hauptstadt entkommt. Die Reise in Richtung einer halbmythischen „République du Jura“ wird zur moralischen Abwärtsbewegung: Was als Schutzversuch beginnt, verwandelt sich in eine phänomenologische Studie der Verrohung. Sprache selbst wird als Trägerin des Giftes sichtbar – „die Worte bereiteten den Boden“ –, während Gewalt aus Angst und Anpassung erwächst. Der Roman verbindet dystopische Gesellschaftsanalyse mit einer existenziell aufgeladenen Poetik: Kindheit erscheint als letzter Rest des Humanen, Natur als trügerischer Trost, Utopie als fragiles Wunschbild, das im Feuer vergeht. Die Parabel zeigt nicht primär äußere Katastrophen, sondern die Erosion des Menschlichen durch den Zerfall gemeinsamer Werte und des sozialen „Flüssigen“ früherer Höflichkeit. – Die Besprechung interpretiert diesen Roman als Fortschreibung von Humberts Gesamtwerk und stellt ihn in einen systematischen, thematisch wie poetologisch kohärenten Kontext. Sie argumentiert doppelt: einerseits wird der Roman als literarische Verdichtung aller bisher entwickelten Motive gelesen – Zerfall sozialer Bindungen, mediale Vergiftung der Realität, die Illusion von Utopien –, andererseits als radikalisierte Selbstkorrektur des Autors, die frühere moralische Hoffnungen skeptisch bricht. Die Kritik macht sichtbar, wie der Erzähler als Jurist seine eigene Sprache einer „Reinigung“ unterzieht und das Werk als Gegenrede zur Gewalt formuliert, obwohl es zugleich die Grenzen solcher Rede demonstriert. Die Rezension macht deutlich, dass Humbert sein zentrales Thema – die Selbstgefährdung des zivilisierten Menschen – in diesem Roman zu einer kompromisslosen literarischen Konsequenz führt.

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Hinter der Maske: David Thomas

David Thomas’ „Un frère“ (2025, Auswahlliste prix Goncourt) stellt sich einer doppelten Herausforderung: einerseits erzählt der Autor vom Leben und Sterben seines Bruders Édouard, der vier Jahrzehnte an Schizophrenie litt; andererseits reflektiert er zugleich die Schwierigkeit, über psychische Krankheit literarisch zu schreiben, ohne das Subjekt auf seine Diagnose zu reduzieren. Wie kann ein fiktionaler oder literarisch verarbeiteter Text der Erfahrung psychischer Krankheit gerecht werden? Wie lassen sich Leid, Fremdheit und die fragmentierte Wahrnehmung, die Schizophrenie mit sich bringt, in narrative Formen übersetzen, ohne voyeuristisch oder vereinfachend zu wirken?

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Von der Idealisierung zur Problematisierung: Mutterbilder in der französischen Gegenwartsliteratur

Transformationen und Dekonstruktionen

Der Band Mater Genetrix: les images de la mère dans la littérature contemporaine d’expression française, herausgegeben von Marina Hertrampf, bietet eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der Darstellung von Müttern in der aktuellen französisch- und frankophonen Literatur. Das Werk beleuchtet die Transformation und Dekonstruktion überkommener Mutterbilder und zeigt, wie literarische Texte als Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen fungieren.

Die Mutter wird von der Herausgeberin als Ursprung allen Lebens und der literarischen Kreation hervorgehoben, wobei der Umgang mit diesen „uralten und archetypischen“ literarischen Topoi von der Mythologisierung und Verherrlichung bis zur Dekonstruktion reicht. Die Definition von Mutterschaft umfasst biologische und soziale Aspekte, wobei literarische Darstellungen oft eine imaginierte Mutterschaft widerspiegeln. Historische Umbrüche wie die industrielle Revolution, die beiden Weltkriege und die feministischen Bewegungen haben das Frauen- und Mutterbild verändert, doch traditionelle Rollen hielten sich lange in der Literatur. Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Mütter zunehmend autonom und stehen im Zentrum der Werke, wobei das Schreiben über Mutterschaft sich zusehends „feminisiert“. Besonders in der frankophonen Literatur des Maghreb und Quebec zeigt sich eine Verschiebung von passiven, idealisierten Müttern zu aktiveren, kritisch hinterfragten Figuren. Das Schreiben über die Mutter wird zu einer neuen literarischen Tendenz, oft autobiografisch, als Suche nach dem verlorenen Selbst und der Identität, und erfüllt eine therapeutische Funktion. Das Spektrum der Darstellungsweisen reicht dabei von nostalgischem Lob bis hin zu extrem problematisierten Mutterfiguren und der Thematisierung von Tabus wie toxischen Müttern, Kindstötung, Post-Partum-Pathologien, dem Tod des Kindes, alternativen Mutterschaftsformen oder der Nicht-Mutterschaft.

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Kindheit als Bühne, Theater als Heilung: Axel Auriant

Axel Auriants Roman „Rue de la Gaîté“ (2025) verfolgt die Entwicklung eines jungen Mannes namens Baptiste, der in der Welt des Theaters nicht nur eine berufliche Bestimmung, sondern vor allem ein Vehikel zur Bewältigung seiner Kindheitstraumata und zur Neubewertung seines Ichs findet. Der Roman verwebt die inneren Kämpfe des Protagonisten mit den äußeren Erfahrungen im Cours Florent und im Théâtre Montparnasse.

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Das Leben ändern: Claudine Galea

Claudine Galeas Roman „Les choses comme elles sont“ (Éd. Verticales, 2019) nimmt die Kindheit und Jugend einer namenlosen Protagonistin in Marseille und ihrer Umgebung in den 1960er und 70er Jahren zum Ausgangspunkt einer Erkundung der Kindheit, der familiären Dynamiken und der Auswirkungen historischer Ereignisse auf die individuelle Entwicklung. Im Kern ist es die Geschichte der „Petite“, die sich von einem neugierigen Kind zu einer rebellischen Jugendlichen und schließlich zu einer jungen Frau an der Schwelle aller Möglichkeiten entwickelt. Der Roman zeichnet eine existenzielle Familiengeschichte von großer Härte, geprägt von „schwarzen Löchern“, die unaussprechlich, aber unauslöschlich sind. Gleichzeitig atmet man die sprachliche Dichte der durchlebten Epochen in Marseille und die bitteren Nachwehen der Geschichte von einem Ufer zum anderen des Mittelmeers. Galeas Fresko verbindet eine lyrische Schreibweise mit der Distanz einer Untersuchung der dunklen Zonen der nationalen Erzählung Frankreichs.

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Davids Stern zurückgeben: Nathacha Appanah

Der Roman „Le dernier frère“ (Éditions de l’Olivier, 2007, deutsch: Unionsverlag, 2012) der mauritischen Autorin Nathacha Appanah ist ein Werk von großer poetischer Dichte und erzählerischer Komplexität. Im Zentrum steht eine kindliche Freundschaft zwischen Raj, dem Erzähler, und David, einem jüdischen Jungen, der mit dem Internierungsschiff „Atlantic“ nach Mauritius kam. Der Roman kreist um die Frage, wie sich individuelle Identität durch Erinnerung, Verlust und Erlebnisse von Gewalt herausbildet. Der Text ist dabei zugleich historische Aufarbeitung und intime Erzählung. Appanah verknüpft die individuelle Geschichte eines mauritischen Jungen mit dem größeren historischen Kontext der Internierung jüdischer Geflüchteter durch britische Kolonialbehörden auf Mauritius während des Zweiten Weltkriegs. Damit entsteht ein erzählerisches Gewebe aus historischen Fakten, psychologischer Innenschau und poetischer Reflexion, das für den Leser nicht nur eine literarische, sondern auch eine ethische Erfahrung darstellt.

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Geplante Obsolenz: Guillaume Poix

Im Roman „Les fils conducteurs“ (2017), ausgezeichnet mit dem Prix Wepler-Fondation La Poste, konfrontiert uns Guillaume Poix mit den Widersprüchen des westlichen Idealismus, den verheerenden Folgen der globalen Konsumgesellschaft und der moralischen Korruption, die sich einstellt, wenn wohlmeinende Absichten auf komplexe Realitäten der Ausbeutung treffen. Der Roman, der uns in die gefährliche Welt der Elektroschrottdeponie Agbogbloshie in Ghana entführt, erzählt die parallelen Geschichten des französisch-schweizerischen Fotojournalisten Thomas und des jungen ghanaischen Jungen Jacob. Die zentrale Problemstellung des Romans ist die Demontage westlicher Überheblichkeit und Naivität, die sich in der Figur Thomas‘ manifestiert. Der Fotograf Thomas, getrieben von seinem Idealismus und dem Wunsch nach Relevanz, will die ökologische Katastrophe und illegale Recyclingpraktiken in Agbogbloshie aufdecken. Doch seine Reise wird zu einem moralischen Abstieg, der ihn zur Mitschuld an einer Tragödie werden lässt. Die Erzählung problematisiert, wie der westliche Blick, der zwischen Dokumentation und Voyeurismus schwankt, letztlich zur Komplizenschaft beiträgt.

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Poetiken der Kindheit: Clothilde Salelles, Nos insomnies (2025)

Der Roman „Nos insomnies“ (2025) erzählt die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Ende der 1990er Jahre in einem ländlichen Vorort aufwächst. Das zentrale und streng gehütete Familiengeheimnis ist die chronische Schlaflosigkeit, die „wie ein böser Zauber“ von einem Familienmitglied zum nächsten gleitet. Die Protagonistin ist eine aufmerksame Beobachterin, die ihren Vater, seine mysteriöse Arbeit im Labor und seine Reaktionen auf die Außenwelt (insbesondere Lärm und die Bedrohung durch die sich ausbreitende „Lotissement“-Bebauung) mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Sie führt „sehr ernsthafte Ermittlungen“ durch, um die unausgesprochenen Wahrheiten zu entschlüsseln, empfindet dabei aber Neid auf die „Probleme“ ihrer Freundin Julie, die benennbar sind und ihrer Existenz eine „Konsistenz“ verleihen. Sommerurlaube auf einem Campingplatz bieten eine temporäre Auszeit von der heimischen Beklemmung; hier scheint der Vater aufzublühen, und die Insomnie tritt in den Hintergrund, auch wenn der Sommer schließlich selbst von ihr „kontaminiert“ wird.

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Sohn der Toten: Asya Djoulaït

Der Roman „Ibn“ erzählt die erschütternde Geschichte des fünfzehnjährigen Issa, dessen Welt zusammenbricht, als seine Mutter Leïla während des Nachmittagsgebets stirbt. Die fünf täglichen Gebete – Fajr, Dhuhr, ’Asr, Maghrib und ’Icha – strukturieren dabei nicht nur die Zeit, sondern spiegeln auch Issas emotionale Odyssee wider und markieren die zunehmende Verzweiflung und Entschlossenheit des Protagonisten. Getrieben von seiner Trauer und der Ablehnung, seine Mutter (nach dem Tod seines Vaters) erneut in die Hände fremder Bestattungsrituale zu geben, unternimmt Issa den mutigen, aber aussichtslosen Versuch, die Bestattungsrituale selbst zu inszenieren. Er plant, für seine Mutter ein persönliches Mausoleum zu bauen und die rituelle Waschung sowie die Totengebete eigenhändig durchzuführen, selbst wenn er dabei gegen traditionelle Normen verstößt. Diese eigenmächtigen Handlungen stehen im starken Kontrast zu den Erwartungen und der Sorge seiner Mutter Leïla, die sich stets bemüht hatte, ihm ein Ankommen und eine stabile Position in Frankreich zu ermöglichen, sei es durch Bildung, die bewusste Wahl des Wohnorts in Montreuil, um Ghettobildung zu vermeiden, oder die Teilnahme an der Koran-Schule, um ihn in der muslimischen Gemeinschaft zu verankern und zu verhindern, dass er sich „verloren“ fühlt. Issa navigiert dabei zwischen religiösen Regeln, persönlichen Überzeugungen und der harten Realität des Todes, der ihn mit seiner eigenen Identität als „Sohn der Toten“ konfrontiert.

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Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux

Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist eine sich entwickelnde, zentrale Dimension ihres Werks, die persönliche Erinnerung untrennbar mit kollektiven, sozialen und historischen Dimensionen verknüpft. Ihre Kindheit im elterlichen Café-Lebensmittelgeschäft in Yvetot prägte ein tiefes Gefühl des „Dazwischenseins“ und der „Zerrissenheit“ – entstanden durch fehlende Privatsphäre, frühe Konfrontation mit Armut und sozialen Unterschieden, die sich in ihrer Privatschulzeit verstärkten und einen Bruch mit dem Herkunftsmilieu bewirkten. Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, oft indem sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.

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Transformationen der Verwandlung: Kafka und Leclair

Bertrand Leclairs Buch „Transformations“ ist eine grundlegende Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, die durch die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der psychischen Krise seiner Tochter R. und dem Umgang seiner Familie damit gefiltert wird. Leclair verschmilzt autobiografische Reflexionen mit literaturwissenschaftlicher Analyse und bietet eine vielschichtige Interpretation von Kafkas Werk und seiner Relevanz für das Verständnis familiärer Dynamiken.

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Kindheit und Selbsttransformation: Edouard Louis und Didier Eribon

Edouard Louis stellt in „Changer : méthode“ (Seuil, 2021) die Kindheit als fundamentales Ursprungsmilieu des Schmerzes, der Ausgrenzung und des unaufhaltsamen Drangs nach Flucht dar; die Erfahrungen von Armut, die Rauheit des sozialen Umfelds und insbesondere die ständige Demütigung und Schmähung aufgrund wahrgenommener Weiblichkeit und Homosexualität schaffen beim Erzähler eine tiefe Wunde und das Bewusstsein für ein vorbestimmtes, zu meidendes Schicksal. Dieser existenzielle Zwang zur Flucht wird zum Motor einer lebenslangen und radikalen Selbsttransformation, die nicht als natürliche Entwicklung, sondern als bewusste, disziplinierte und methodische „Arbeit“ am eigenen Körper und Sein begriffen wird, die oft durch Rollenspiel und Nachahmung erlernt wird. Die Kindheit liefert nicht nur die Motivation für den Wandel, sondern auch – durch frühe Überlebensstrategien – die ersten Ansätze dieser „Methode“, während spätere kindliche und jugendliche Begegnungen (z.B. mit Bibliothekaren und Elena) als Katalysatoren und Wegbereiter für den Bruch mit der Herkunftswelt dienen. Auch im Erwachsenenalter bleibt die Kindheit eine ständige, oft schmerzhafte Referenz, die die fortlaufende Notwendigkeit der Veränderung antreibt und das Ringen um Identität und Zugehörigkeit prägt.

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Poetiken der Kindheit: Anouk Grinberg, Respect (2025)

Am 13. Mai 2025 wurde Gérard Depardieu vom Pariser Strafgericht wegen sexueller Übergriffe auf zwei Frauen während eines Filmdrehs im Sommer 2021 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem wird er in das Register für Sexualstraftäter aufgenommen. Die Lektüre von Anouk Grinbergs Buch „Respect“ ist von diesem Prozess nicht zu lösen, die Schauspielerin hat sich während der Verhandlungen mehrfach öffentlich dazu geäußert. Anouk Grinbergs autobiografisches Werk „Respect“ (2025) konfrontiert Leserinnen und Leser mit einer Kindheit, die von Gewalt, Vernachlässigung und der systematischen Zerstörung des Selbst geprägt ist. Die Kindheit ist in diesem Text nicht nur Thema, sondern Ursprung und Motivationsquelle der literarischen Bewegung selbst. Grinberg geht über eine bloße Darstellung von Leid hinaus: Sie untersucht die Mechanismen des Schweigens, der Scham und des Überlebens und entwickelt daraus eine radikale Erzählform, die private Traumata in ein politisches Zeugnis verwandelt. Ausgangspunkt ihres öffentlichen Sprechens war die Unterstützung der Schauspielerin Charlotte Arnould im Verfahren gegen Gérard Depardieu, was schließlich dazu führte, dass Grinberg sich auch ihrer eigenen Geschichte stellte.

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Himmlers Zuchtbefehl: Caroline de Mulder

Caroline De Mulders Roman „La pouponnière d’Himmler“ erzählt das Lebensborn-Programm des Nationalsozialismus als Schrecken einer durchideologisierten Kindheit: Kindheit wird nicht als schützenswerte Lebensphase gezeigt, sondern als Produkt eines rassistischen Zuchtprogramms – verwaltet, vermessen, umbenannt und ihrer Herkunft beraubt. Die Körper von Frauen, Kindern und Männern erscheinen nicht als Subjekte, sondern als biopolitisches Material im Dienst einer totalitären Ideologie. Die Frau wird als „Gebärmaschine“ dargestellt, deren Wert sich ausschließlich aus ihrer Reproduktionsfähigkeit für die „Rasse“ ergibt. Renée, die als junge schwangere Französin im Lebensborn-Heim entrechtet wird, Helga, die als Oberschwester zwischen Pflichterfüllung und Schuld taumelt, und Marek, der als Zwangsarbeiter entmenschlicht wird, verkörpern drei Varianten existenzieller Ausgeliefertheit an ein System, das Körper zählt, aber Leben entwertet. Gleichzeitig deutet der Roman an, dass die völlige Indienstnahme der Körper nicht gelingt: In poetischen Momenten innerer Bilder, sinnlicher Erfahrung und zwischenmenschlicher Nähe blitzen Möglichkeiten von Subjektivität auf. Die Erzählerin des Romans versucht im Rückblick, das Schweigen der Vergangenheit zu durchbrechen, und begegnet der historischen Leerstelle mit Sprache, Imagination und dokumentarischen Fragmenten. Die vielstimmige Struktur des Romans – zwischen innerem Monolog, Archivtexten und Gegenwartserzählung – spiegelt die Fragmentierung traumatisierter Kindheiten wider und macht literarisch erfahrbar, was historisch mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 ausgelöscht werden sollte.

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Poetiken der Kindheit: Marie NDiaye, Le bon Denis (2025)

Im Rahmen der autobiografischen Reihe „Traits et portraits“ des Mercure de France, die seit Jahren hybride Selbstentwürfe zwischen Bild und Text fördert, fügt NDiaye ihrer eigenen literarischen Untersuchung familiärer Konstellationen ein weiteres Kaleidoskop hinzu – diesmal im Zeichen der Vaterschaft. Marie NDiayes „Le bon Denis“ (2025) ist ein Werk von nur 136 Seiten, das sich dennoch in die autobiografische Spurensuche der Autorin einreiht – und diese weiter verkompliziert. Bereits mit ihrem „Autoportrait en vert“ (2005) hatte NDiaye in derselben Reihe das Porträt ihrer Mutter vorgelegt – ein Text, der weniger enthüllte als verwischte, der autobiografisches Erzählen nicht als Akt der Erinnerung oder als Bekenntnis darstellte, sondern als poetisch-performative Praxis, als ein Spiel mit Erscheinung, mit Verschiebung und Verunsicherung inszenierte. „Le bon Denis“ steht in dieser Tradition und steigert zugleich den poetischen Gestus des Nichtwissens und der Konstruktion im Angesicht der biografischen Leerstelle des Vaters. Der in vier Prosastücke gegliederte Band umkreist die Abwesenheit und Abgründigkeit des Vaters, der einst die Familie verließ – ohne diesen Verlust psychologisch zu erklären oder aufzulösen. Stattdessen legt NDiaye ein literarisches Kaleidoskop vor, das mit Perspektivverschiebungen, ironischem Sprachgebrauch, dem Spiel mit Fakt und Fiktion sowie intermedialen Einschüben operiert.

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Poetiken der Kindheit: Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme (2021)

Jean-Baptiste Del Amos Roman „Le Fils de l’homme“ (Gallimard, 2021, deutsch von Karin Uttendörfer: „Der Menschensohn“, Matthes und Seitz, 2025) entwirft eine Kindheitserfahrung im Grenzbereich zwischen Trauma, Naturgewalt und archaischer Initiation. In einer Sprache von minimalistischer poetischer Verdichtung und biblischer Wucht wird geformt, deformiert und gebrochen: Die Kindheit erscheint hier nicht als Ort der Unschuld, sondern als Durchgangsstadium des Werdens, geprägt von Schweigen, Körperlichkeit und unauflöslicher Ambivalenz zwischen Nähe und Entfremdung. Im Zentrum des Romans steht das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem Sohn – ein Verhältnis, das nicht durch Dialog oder gegenseitiges Verständnis geprägt ist, sondern durch körperliche Präsenz, Sprachlosigkeit und archaische Rituale. In einer Prosa von dichter Schönheit und unerbittlicher Genauigkeit erkundet Del Amo die Dynamik zwischen einem Mann, der aus der Geschichte gefallen zu sein scheint, und einem Kind, das in dieser Geschichte aufwächst, ohne sie begreifen oder benennen zu können.

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Poetiken der Kindheit: Maria Pourchet, Champion (2015)

Maria Pourchets Roman „Champion“ (Gallimard 2015, folio 2019) ist eine wütende Kindheitserzählung in Monologform, eine Geschichte über Gewalt, Einsamkeit – und über die heilende, wenn auch ambivalente Macht der Imagination. Erzählt wird aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Fabien Bréckard, der sich in einer Art psychiatrischem Schreibauftrag rückblickend an ein zentrales Jahr seiner Kindheit erinnert. Das Ergebnis ist ein Text, der weniger einen psychologischen Fall als vielmehr eine literarische Poetik der Kindheit vorführt: Kindheit nicht als idyllischer Ursprung, sondern als sprachlich gebrochene Erfahrung von Ausgrenzung, Gewalt und Einsamkeit – und zugleich als Ort poetischer Schöpfung. Die Literatur ist kein Ornament, sondern das Medium, in dem das Kind Subjekt wird.

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rentrée littéraire
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