Die Jungfrau im lebendigen Diesseits: Kamel Daouds Doppelroman

„Houris“ (2024) und „Le peintre dévorant la femme“ (2018)

Pour les femmes, la guerre n’est jamais finie, même après la décolonisation. Et pour le totalitarisme islamique, la femme demeure l’obsession majeure.

François-Guillaume Lorrain, „Kamel Daoud : « On m’attaque car je ne suis ni communiste, ni décolonial encarté, ni antifrançais »“, Le Point, 8. August 2024.

Für Frauen ist der Krieg nie zu Ende, auch nicht nach der Entkolonialisierung. Und für den islamischen Totalitarismus bleibt die Frau die wichtigste Obsession.

Les houris possèdent un pays à elles et nous, en bas de l’échelle, nous sommes coincées là, dans cette vie, en Algérie. L’Éden est sans doute notre patrie perdue, à nous les femmes ! C’est pour cette raison que les hommes nous en veulent. C’est ce qui explique la rancune des mâles, les meurtres, le voile, les crachats. Tout n’est qu’une histoire de jalousie masculine.

Kamel Daoud, Houris, 2024.

Die Huris besitzen ein eigenes Land und wir, die wir ganz unten sind, stecken hier fest, in diesem Leben, in Algerien. Eden ist wohl die verlorene Heimat von uns Frauen! Deshalb sind die Männer so wütend auf uns. Das erklärt den Groll der Männer, die Morde, die Verschleierung, die Spuckattacken. Alles ist nur eine Geschichte männlicher Eifersucht.

Die Trennung von weiblicher Lebenswirklichkeit und männlich-religiöser Bildlichkeit der Frau wird durch die Gasse zwischen Frauensalon und Männermoschee im Roman Houris von 2024 des algerisch-französischen Schriftstellers Kamel Daoud anschaulich. Eigentlich sollte, könnte man pointieren, das Buch Ma petite Houri heißen, denn die schwangere Protagonistin vollzieht bei ihrer Zwiesprache mit der unschuldigen Tochter in ihrem Bauch ein irdisch-weiblich-mütterliches Reclaiming der männlichen Projektion jenseitiger Jungfrauen: „Huri“, ein Bild, das dem Wunsch nach metaphysischer Belohnung von islamistischen Selbstmordattentätern eine irdische Hoffnung entgegenhalten könnte, die einer zukünftigen Gesellschaft mit einem neuen Geschlechterverhältnis.

Vers 13 heures, chaque vendredi depuis des semaines, cela donne des scènes de guerre muette, ma Houri ! L’on sent une tension entre mon salon et la mosquée, que seule une ruelle sépare. Mes clientes apprécient cet esprit de résistance qui prévaut dans ma boutique. Pendant que mes deux employées coiffent, teignent, lissent, l’imam d’en face crie qu’il faut craindre la loi du ciel et protéger l’honneur, la réputation et la vertu. D’un côté l’imam jure et hurle que le paradis patiente avec une armée imberbe d’« adolescentes aux regards chastes, d’égale jeunesse, vierges, vivant retirées sous leurs tentes, épouses pures que ni les hommes ni les djinns n’auront touchées, et semblables au rubis, au corail et à des perles en coquilles », et nous, de l’autre côté, derrière nos murs, nous retenons de grands rires irrespectueux et jasons de tout et de rien, cheveux nus, cuisses relevées pour les soins d’épilation. Dans ces moments, moi, mi-homme mi-femme, mi-morte mi-vivante, mi-muette mi-bavarde, mi-égorgée mi-souriante, je m’amuse et savoure ce millénaire d’ironie pure qui m’installe entre Dieu et nos sexes.

Kamel Daoud, Houris, 2024.

Gegen 13 Uhr, seit Wochen jeden Freitag, spielen sich Szenen eines stummen Krieges ab, meine Huri! Man spürt die Spannung zwischen meinem Salon und der Moschee, die nur durch eine Gasse getrennt ist. Meine Kundinnen schätzen den Widerstandsgeist, der in meinem Laden herrscht. Während meine beiden Angestellten frisieren, färben und glätten, ruft der Imam auf der anderen Straßenseite, man müsse das Gesetz des Himmels fürchten und Ehre, Ruf und Tugend schützen. Auf der einen Seite schwört und brüllt der Imam, dass das Paradies aufwartet mit einer bartlosen Armee von „Mädchen mit keuschen Blicken, von gleichbleibender Jugend, Jungfrauen, die zurückgezogen in ihren Zelten leben, rein gebliebene Ehefrauen, unberührt von Männern wie von Dschinns, Rubinen gleichend, Korallen und Muschelperlen“; und wir, auf der anderen Seite, hinter unseren Mauern, halten ein lautes, respektloses Lachen zurück und schwatzen untereinander über alles und nichts, mit nacktem Haar und hochgezogenen Schenkeln für die Enthaarungsbehandlung. Halb Mann halb Frau, halb tot halb lebendig, halb stumm halb geschwätzig, halb verachtet und halb lächelnd, amüsiere ich mich in diesen Momenten und genieße das Jahrtausend reiner Ironie, das mich zwischen Gott und unseren Geschlechtern platziert.

Für Aube ist ihre Schwangerschaft durchaus kein Anlass zur Freude, sondern eine bedrohliche Situation, die sie in tiefe Verzweiflung stürzt. Sie empfindet die Schwangerschaft als etwas Fremdes, das in sie eingedrungen ist und ihr Leben zerstören könnte, etwas, das Ablehnung und Angst bei ihr auslöst.

In Algerien und Frankreich ist Kamel Daoud als Kolumnist in Le Quotidien d’Oran und in Le Point öffentlich sichtbar. In Deutschland ist er allgemein wohl vor allem durch seine Stellungnahme zu den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte bekannt geworden. Unter dem Titel „Köln, ein Ort der Fantasmen“ publizierte Daoud im Januar 2016 einen beiderseits des Rheins viel diskutierten Artikel 1, aber bereits mit seiner Gegenerzählung zu Camus’ L’Étranger von 2013, Meursault, wendet Daoud probehalber die Perspektive des algerienfranzösischen Autors Camus um, dessen Familie seit 1871 in Algerien ansässig war. Hier wählt Daoud die Erzählperspektive des Bruders des (bei Camus namenlos bleibenden) Arabers, den Meursault in L’Étranger tötet. Beim Erscheinen des Buchs 2016 in Deutschland äußert sich Daoud in der Frankfurter Allgemeinen auf den Satz der Interviewerin hin, „Sie sagen, man könne eine Gesellschaft an ihrem Umgang mit der Frau beurteilen“:

Ja, davon bin ich überzeugt. Am Verhältnis zur Frau zeichnet sich das Verhältnis zur Fantasie, zum Begehren, zum Körper, zum Leben ab. Wie soll eine Gesellschaft gesund sein, die den Ursprung des Lebens verachtet? Es ist ganz einfach: Solange wir dieses Problem nicht geregelt haben, kommen wir nicht weiter. Das ist wohl das Einzige, das ich dem Westen neide: die Freiheit der Frau.

Annabelle Hirsch, „Keiner wird als Islamist geboren. Im Gespräch: Kamel Daoud“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Februar 2016.

Einen ersten Literaturpreis 2024 für Houris hat Kamel Daoud von der Zeitschrift Transfuge bereits erhalten, er steht aktuell zudem auf der Longlist des Prix Goncourt (es wäre sein zweiter Erfolg nach Meursault, contre-enquête). Der Autor hat Algerien vor einem Jahr verlassen, um von Frankreich aus dieses Buch über die Opfer des algerischen Bürgerkriegs schreiben zu können, wie er selbst im Sender France Inter sagte. In Le Point kurz vor Erscheinen seines Romans bekennt sich Daoud nicht nur zu Frankreich, sondern warnt auch vor der komplexen Verbindung der Dekolonialisten mit dem antiwestlichen Islamismus in Algerien: „Frankreich ist auch meine Heimat. Und ich habe das Glück, in Algerien geboren zu sein und hier zu sein. Das Jenseits mit seinen Gärten und Weinflüssen existiert für mich in Paris. Das Jenseits ist Frankreich. Ich möchte also nicht, dass es in diese Richtung einer x-ten Niederlage vor diesem Faschismus geht. Aber das ist immer möglich. Wenn man sich ansieht, was in Belgien passiert, muss man befürchten, dass ein Emirat im Herzen eines zerknirschten und von Schuld und Feigheit geblendeten Europas entsteht …“ 2 Es ist nicht auszuschließen, dass es Versuche geben wird, Daouds Position in Frankreich prokolonialistisch zu vereinnahmen, Etienne de Montety schrieb für den Figaro über Daoud: „Sein Sprechen hat ein Ziel: das Paradoxon der algerischen Macht aufzuzeigen. Diese hat beschlossen, die Geschehnisse des Jahrzehnts 1990 – 2000, unter denen alle gelitten haben, zu vertuschen und die Wunden des Unabhängigkeitskriegs zu schüren, eine Zeit, die immer weniger Menschen erlebt haben, die aber in den offiziellen Reden allgegenwärtig ist.“ 3 Eine der Stärken von Daouds Position ist gleichwohl, dass er nicht Opfer von Simplifizierungen oder Ankläger eines westlichen Popanz werden möchte, wie er in Le Monde im Jahr 2020 äußerte: „In der Tat gibt es eine Art Konvergenz der Kämpfe um das beste Ende einer Welt: Viktimisten, Antirassisten, aber auch intellektuelle Masochisten und professionelle Skeptiker, Suprematisten und ästhetische Defätisten. Der Wunsch, den Westen zu verändern, wird durch den Wunsch, ihn leidend sterben zu sehen, zutiefst kontaminiert. Und im Zuge dessen wird die selbstmörderische Konsequenz verwischt, dass man durch seinen Tod sich selbst töten wird, den Traum töten wird, dort zu leben oder mit Ruderbooten oder Flugzeugen dorthin zu gelangen, man tötet mit dem Westen den einzigen Raum, in dem es eben möglich ist, seine Wut herauszuschreien.“ 4

Daouds Meursault-Roman wurde vor allem postkolonial rezipiert, er bietet aber auch bereits eine feministische Perspektive, eine anschauliche Interpretation männlichen Begehrens im Algerien der Zeit, die nicht nur die Differenz zu den christlichen Vierteln, sondern auch die Ambivalenz von Begehren und Verachtung weiblicher Körper jenseits der erlaubten leidenschaftslosen Ehen erzählt:

Je n’en suis pas sûr, mais dans notre maison, à cette époque, flottait comme une odeur de femelles rivales : M’ma et une autre. Quelqu’un que je n’ai jamais vu, mais dont Moussa portait la trace dans la voix, les yeux et la manière qu’il avait de rejeter violemment les insinuations de M’ma. Une tension de harem si je puis dire. Comme une sourde lutte entre un parfum étranger et une odeur de cuisine trop familière. Dans le quartier, les femmes étaient toutes des “sœurs”. Un code de respect empêchait les amours intéressantes, réduisant le jeu de la séduction aux fêtes de mariages ou aux simples œillades pendant que les femmes étendaient le linge sur les terrasses. Pour les jeunes de l’âge de Moussa, je suppose que les sœurs du quartier offraient la perspective de mariages presque incestueux et sans grande passion. Or, entre notre monde et celui des roumis, en bas, dans les quartiers français, traînaient parfois des Algériennes portant des jupes et aux seins durs, des sortes de Marie-Fatma inquiètes, que nous, gamins, nous traitions de putes et lapidions avec les yeux. Fascinantes proies qui pouvaient promettre le plaisir de l’amour sans la fatalité du mariage. Ces femmes provoquaient souvent des amours violentes et des rivalités haineuses.

Kamel Daoud, Meursault: une contre-enquête. 5

Ich bin mir dessen nicht sicher, aber in unserem Haus hing zu dieser Zeit ein Geruch wie von rivalisierenden Weibchen: M’ma und eine andere. Eine, die ich nie gesehen habe, aber deren Spuren Moussa in der Stimme trug, in den Augen und der Art und Weise, wie er M’mas Anspielungen heftig zurückwies. Eine Haremsspannung, wenn ich das so sagen darf. Wie ein dumpfer Kampf zwischen einem fremden Parfüm und einem allzu vertrauten Küchengeruch. In der Nachbarschaft waren alle Frauen „Schwestern“. Ein Kodex des Respekts verhinderte interessante Liebschaften und reduzierte das Spiel der Verführung auf Hochzeitsfeiern oder einfache Augenaufschläge, während die Frauen auf den Terrassen die Wäsche aufhängten. Für Jugendliche in Moussas Alter boten die „Schwestern“ in der Nachbarschaft wohl die Aussicht auf fast inzestuöse Ehen ohne große Leidenschaft. Zwischen unserer Welt und der Welt der Christen, unten in den französischen Vierteln, trieben sich manchmal Algerierinnen mit Röcken und steifen Brüsten herum, eine Art unruhige Maria Fatima, die wir als Kinder als Huren bezeichneten und mit den Augen steinigten. Faszinierende Beute, die Liebesvergnügen ohne Unausweichlichkeit der Ehe versprechen mochten. Diese Frauen entfachten oft heftige Liebe und hasserfüllte Rivalitäten.

Tragisch hat sich die Disposition zwischen Überhöhung und Missachtung des Weiblichen auch in der Entführung jüdischer Frauen im Oktober 2023 durch die Hamas bestätigt, wie Daoud 2024 in einem Nachwort schreibt:

On kidnappa à la fin quelques jeunes femmes pour le harem des grottes et des forêts. Elles seraient violées, engrossées puis tuées. Le massacre fit en une nuit plus de 1000 morts (peut-être plus car beaucoup n’étaient pas inscrits à l’état civil). Et lorsque je donnai ce chiffre de retour à Oran, on grimaça et on ne sut quoi en faire.

Kamel Daoud, „Postface“, in Un pogrom au XXIe siècle : Israël, 7 octobre 2023, Flammarion/Le Point, 2024, zit. nach Étienne Gernelle, „Le livre pour ne pas oublier ce qui s’est passé en Israël le 7 octobre 2023“, Le Point, 8. Januar 2024.

Am Ende wurden einige junge Frauen für den Harem in Höhlen und Wäldern entführt. Sie sollten vergewaltigt, geschwängert und dann getötet werden. Das Massaker forderte in einer Nacht mehr als 1.000 Tote (vielleicht sogar mehr, da viele nicht beim Einwohnermeldeamt registriert waren). Und als ich diese Zahl nach meiner Rückkehr nach Oran nannte, verzogen sie das Gesicht und wussten nicht, was sie damit anfangen sollten.

Im Roman Houris und seinen drei Teilen mit je ca. 33 Kapiteln (wie in Dantes Divina Comedia, hier: 1. „La voix“, 2. „Le labyrinthe“, 3. „Le couteau“) bricht Kamel Daoud das Schweigen über die Hölle des Bürgerkriegs im Algerien der dunklen 1990er Jahre. Aber die drei Romanteile bilden keine Jenseitsreise wie bei Dante, sondern eine Reise zurück in ein lebendiges Diesseits, eine Revolte gegen die Unterdrückung der eigenen Stimme, eine Selbstermächtigung in der Generationenreihe der Frauen, eine subjektive wie kollektive Heilung von den Traumata der Bürgerkriegsmassaker, eine Gegenerzählung auch zur verordneten Erinnerungspolitik des algerischen Staatspräsidenten. Denn die fehlende Stimme der Protagonistin Faj, französisch „Aube“, also „Morgenröte“, steht nicht nur metonymisch für die Unfreiheit der algerischen Frauen, sondern auch für das gesetzliche Verbot der Aufarbeitung dieser traumatisierenden Zeit. Die drei Teile des Romans unterscheiden sich in Thematik, Bildlichkeit und Handlungsstruktur signifikant, die zusammen das Gesamtbild der Erzählung formen. Der erste Teil „Die Stimme“ ist introspektiv gehalten, mit dem dominierenden Thema der Sprachlosigkeit und der Suche nach Identität. Die Bildlichkeit ist symbolisch angelegt und die Handlung tritt zurück. Der zweite Teil „Das Labyrinth“ erweitert die Erkundung zu einer labyrinthischen Reise der Selbstfindung und Suche nach Gesundung. Die Bildsprache ist düster und die Handlung episodisch, geprägt von Einzelbegegnungen und Herausforderungen. Der dritte Teil „Das Messer“ konzentriert sich auf den finalen Konflikt mit einer direkten und intensiven Bildsprache und einer eskalierenden Handlung, die auf die endgültige Entscheidung von Aube hinausläuft. Die Protagonistin hatte das Massaker an Verwandten überlebt, aber ihre Stimmbänder wurden durch einen Kehlschnitt verletzt. Nun steht sie vor der Entscheidung, ob sie die Tochter, die sie erwartet (ob nach einer Vergewaltigung, wird nicht geklärt), wirklich zur Welt bringen soll in eine Welt der religiös begründeten Entwertung der Frau, ich erinnere nochmal an Daouds Köln-Kommentar:

L’islamisme est un attentat contre le désir. Et ce désir ira, parfois, exploser en terre d’Occident, là où la liberté est si insolente. Car « chez nous », il n’a d’issue qu’après la mort et le jugement dernier. Un sursis qui fabrique du vivant un zombie, ou un kamikaze qui rêve de confondre la mort et l’orgasme, ou un frustré qui rêve d’aller en Europe pour échapper, dans l’errance, au piège social de sa lâcheté : je veux connaître une femme mais je refuse que ma sœur connaisse l’amour avec un homme.

Kamel Daoud „Cologne, lieu de fantasmes“, Le Monde, 29. Januar 2016.

Der Islamismus ist ein Attentat auf das Begehren. Und dieses Begehren wird manchmal in der westlichen Welt explodieren, wo die Freiheit so unverschämt ist. Denn „bei uns“ gibt es einen Ausweg nur nach Tod und Jüngstem Gericht. Ein Aufschub, der aus dem Lebenden einen Zombie macht, oder einen Kamikaze, der davon träumt, den Tod mit dem Orgasmus zu verbinden, oder einen Frustrierten, der davon träumt, nach Europa zu gehen, um auf der Irrfahrt der sozialen Falle seiner Feigheit zu entkommen: Ich will eine Frau kennenlernen, aber ich verbiete, dass meine Schwester die Liebe mit einem Mann kennenlernt.

Die Bücher von Kamel Daoud ergänzen sich gegenseitig in ihrem Blick auf die Notwendigkeit, den Islam in die Moderne zu führen. Der Autor verneinte 2021 in Le Monde die Möglichkeit, dass der Islam aus den muslimischen Ländern heraus reformierbar sei, um einen erstarrten Konservatismus hinter sich zu lassen. 6 In diesen Ländern selbst – Ländern der radikalen Orthodoxie und des strengen Apostasieverbots – sieht er gegenwärtig keine zukunftsorientierte Perspektive; er zieht als historische Parallele die Reformation heran, die gerade nicht im Vatikan, sondern eben in Deutschland ihren Ausgang nahm. So weist Daouds Vision Frankreich eine universalistische Rolle für einen republikanischen Islam zu, etwa mit dem Imamrat – mit Imamen, die dem französischen Gesetz unterworfen sind: „Frankreich hat alles, um die Zukunft dieser Glaubensrichtung zu gestalten: eine große muslimische Gemeinschaft, eine tiefe Identitätskrise, das Martyrium durch den Terrorismus, den Status eines Ziels der internationalen Radikalen und einen Staat, der aus der kolonialen Schuld und Amnesie ausbrechen will.“ 7

Die Imagination der Houris begegnet uns bereits in Daouds Le peintre dévorant la femme, hier überblendet der Text das Aktmodell Marie-Thérèse chiastisch mit einer Huri-Jungfrau, aber eben mit einer Diesseits-Jenseits-Verkehrung:

Marie-Thérèse est peinte comme une houri, mais avant la mort. Les houris sont ces femmes, vierges et éternelles, que l’on offre en récompense au croyant, homme de Dieu, dans un Paradis ouvert après le Jugement dernier. Cette féminité liée à la mort est devenue puissante dans la mythologie du radical. Curieusement, elle semble surinvestie à l’ère du YouPorn plus qu’elle ne l’a été aux temps anciens, au Moyen Âge musulman. On la décrit de mille et une façons dans les prêches et on détaille son anatomie jusqu’à l’hallucination. Étrange nœud du sexe, de la mort et de la frustration. Comme si le radicalisme était un retentissant échec érotique. Les houris sont évoquées dans le Coran, mais aussi dans la tradition orthodoxe, et incarneront cette morbide sexualité d’Abdellah. Sous son regard fiévreux, Marie-Thérèse est une houri d’avant la mort et Picasso la peint à la manière même dont Abdellah en rêve : désordonnée par la fièvre, mêlant sa chair aux objets autour d’elle, vue à travers la violence et l’impatience, mordue et pourtant jeune pour l’éternité. Marie-Houri est offerte dans l’immédiateté du désir, dans une sorte d’éternité, vierge à chaque mouvement de son corps. Elle est dessinée, mille et mille fois encore. Un fleuve de désir y mène et sa virginité est restaurée, aux yeux du peintre, après chaque rapport. La houri est décrite immobilisée, figée dans l’éternité qui attend le Récompensé, le croyant, le sacrifié, le porteur de l’épée et du tapis. Elle est assise sur des coussins, allongée dans des jardins, elle a des yeux immenses et larges qui lui dévorent le visage, débordent dans l’espace et font éclater les géométries routinières.

Kamel Daoud, Le peintre dévorant la femme, „Marie-Houri“.

Marie-Thérèse wird als Huri gemalt, allerdings vor ihrem Tod. Huris sind jene ewig jungfräulichen Frauen, die dem Gläubigen, dem Mann Gottes, in einem nach dem Jüngsten Gericht im Paradies als Belohnung angeboten werden. Diese mit dem Tod verbundene Weiblichkeit ist in der Mythologie des Radikalen mächtig geworden. Seltsamerweise scheint sie im Zeitalter von YouPorn überbetont zu werden, mehr als in früheren Zeiten, im muslimischen Mittelalter. In den Predigten wird sie auf tausendundeine Weise beschrieben und ihre Anatomie wird bis zur Halluzination ausgebreitet. Ein seltsamer Komplex aus Sex, Tod und Frustration. Als wäre der Radikalismus ein grandioses erotisches Scheitern. Die im Koran, aber auch in der orthodoxen Tradition erwähnten Huris verkörpern diese morbide Sexualität Abdellahs. Unter seinem fiebrigen Blick ist Marie-Thérèse eine Huri vor dem Tod, und Picasso malt sie so, wie Abdellah von ihr träumt: unordentlich im Fieber, ihr Fleisch vermischt sich mit den Gegenständen um sie herum, betrachtet mit Gewalt und Ungeduld, versehrt und doch jung für die Ewigkeit. Marie-Huri wird in der Unmittelbarkeit des Begehrens dargeboten, in einer Art Ewigkeit, jungfräulich bei jeder Bewegung ihres Körpers. Sie wird gezeichnet, abertausende Male. Ein Strom des Begehrens führt zu ihr, und in den Augen des Malers wird ihre Jungfräulichkeit nach jedem Geschlechtsakt wiederhergestellt. Die Huri wird bewegungslos beschrieben, stillgestellt in der Ewigkeit, auf den Belohnten, den Gläubigen, den Geopferten, den Träger des Schwertes und des Teppichs wartend. Sie sitzt auf Kissen, liegt in Gärten, mit riesigen, weit aufgerissenen Augen, die ihr Gesicht verschlingen, in den Raum ausgreifen und die routinierten Geometrien sprengen.

Daouds Roman Houris und sein imaginärer Museumsdialog Le peintre dévorant la femme zwischen Picassos erotischer Malerei und dem Dschihadisten Abdellah, der diese Kunst zerstören möchte (Kann Kunst bewirken, dass er von der Gewalt ablässt und ein lebendiges Diesseits dem Jenseits vorzieht?), lassen sich als komplementäre Studien, als Doppelroman über ein grundlegendes Problem männlichen Begehrens lesen, das religiösen Bildern der Reinheit und Unreiheit folgt:

L’Occident est un corps et son art est le corps du corps, la consécration d’un ordre contraire à celui d’un Dieu. Dans l’univers de mon personnage, le corps est purifié par l’eau, le sable, la mort et le jeûne. Et il est rendu impur par la désobéissance, les règles menstruelles, la nourriture (surtout celle des interdits alimentaires), les orgasmes, les défécations et urines, le sommeil, la nudité, l’art.

Kamel Daoud, Le peintre dévorant la femme, „Néo-trinité“. 8

Der Westen ist ein Körper, und seine Kunst ist der Körper dieses Körpers, die Weihe einer Ordnung, die der eines Gottes zuwiderläuft. In der Welt meiner Figur wird der Körper durch Wasser, Sand, durch Tod und das Fasten gereinigt. Und unrein wird er durch Ungehorsam, Menstruation, Essen (vor allem verbotene Speisen), Orgasmen, Fäkalien und Urin, Schlaf, Nacktheit, Kunst.

Übrigens ist Picassos Erotik bei Daoud keineswegs unschuldig, so wird der Maler als viriler Erotomane beim Kunstschaffen selbst übergriffig:

Picasso, comme je l’ai lu quand j’ai voulu me documenter sur cet étranger, aimait les encerclements de sujet, les répétitions, les croquis, les entames, les retours, de mille façons possibles, ces variantes de toiles qui se confondent par leurs titres redondants. Épuisants allers-retours entre le sexe et la toile. Comme pour le confirmer, son modèle de l’année 1932 parlait de viols et de peintures, en alternance de plus en plus désespérée. « Il viole d’abord la femme et puis après on travaille », confiait Marie-Thérèse.

Kamel Daoud, Le peintre dévorant la femme, „Les couleurs sont ses dents“.

Picasso, so las ich, als ich mich über diesen mir Fremden informieren wollte, liebte die Umkreisungen des Themas, die Wiederholungen, die Skizzen, die Anfänge, die Wiederkehr, auf tausend mögliche Arten, in diesen Gemäldevarianten, die mit ihren redundanten Titeln ineinander übergehen. Ein erschöpfendes Hin und Her zwischen Sexus und Leinwand. Wie zur Bestätigung sprach sein Modell des Jahres 1932 von Vergewaltigungen und Gemälden, in einem immer verzweifelteren Wechselspiel. „Zuerst vergewaltigt er die Frau, und dann arbeiten wir“, gestand Marie-Thérèse.

Um in Zabor ou les psaumes das Außenseitertum des Protagonisten zu betonen, stellt ihn Daoud uns als unbeschnittenen Mann im Moment seiner Morgenerektion vor, auch hier an Jungfrauen denkend: „Am Morgen betrachtete ich oft mein Geschlechtsteil. Wie ein Zeigefinger in den Himmel gereckt, lang und dünn, vielleicht auf die Jungfrauen im Paradies weisend, oder auf die Milchbildung in der Nacht. Ich war anders, und nur mein Vater und meine Tante wussten das. Ich war als Kind nicht beschnitten worden.“ 9 Daouds fiktionaler Kunstgriff in Le peintre dévorant la femme ist die Konstruktion einer Figur religiöser Männlichkeit, die er mit Sexus und Leinwand konfrontiert. Eine polemische Konstruktion freilich:

Abdellah sera toujours dans le malaise face à la nudité. Elle signifiera désobéissance, perte des racines, errance, immoralisme. Mais ce ne sont que des mots qui escamotent l’essentiel : son rapport à son propre corps. Son refus de reconnaître qu’il en a un, qu’il doit le porter et que ce corps est le contrepoids précis de l’invisible. Abdellah, comme beaucoup, rêve de ne pas avoir de corps, de se désincarner, de devenir invisible. D’imiter Dieu. Il lavera son corps selon les rites, le purifiera, le martyrisera, l’acculera à la sueur ou au jeûne. Comme tous les monothéismes, il croira résoudre la Chute biblique par un délestage et une trahison. Le nu est le contraire du ciel. C’est une insulte faite au ciel, d’ailleurs. Le nu le terrorisera comme une révélation avant l’heure, un chamboulement du calendrier messianique. D’où la colère de mon personnage face à la femme nue, face au sexe ou face au désir. C’est un cruel rappel de notre condition à la fois contrite et infinie dès qu’elle rencontre un autre corps désiré. Le plus beau corps-à-corps amoureux est celui où n’arrivent à s’immiscer ni rites, ni dieux, ni lois, ni témoins ou assesseurs. C’est celui que peint Picasso, cette année peut-être, à mi-chemin entre la volupté et la cruauté.

Kamel Daoud, Le Peintre dévorant la femme, „Je vais t’appeler Abdellah“.

Abdellah wird sich immer unwohl fühlen, wenn er nackt ist. Nacktheit bedeutet Ungehorsam, Verlust der Wurzeln, Umherirren und Unmoral. Aber das sind nur Worte, die das Wesentliche verschleiern: seine Beziehung zu seinem eigenen Körper. Seine Weigerung, anzuerkennen, dass er einen hat, dass er ihn tragen muss und dass dieser Körper das genaue Gegengewicht zum Unsichtbaren ist. Abdellah träumt, wie viele andere, davon, keinen Körper zu haben, sich zu entkörpern, unsichtbar zu werden. Gott nachzuahmen. Er wird seinen Körper nach den Riten waschen, ihn reinigen, ihn martern, ihn zum Schwitzen oder Fasten zwingen. Wie in allen Monotheismen wird er glauben, den biblischen Sündenfall durch Ungehorsam und Verrat lösen zu können. Nacktheit ist das Gegenteil des Himmels. Sie ist sogar eine Beleidigung des Himmels. Die Nacktheit wird ihn wie eine vorzeitige Offenbarung heimsuchen, eine Abkehr von der messianischen Zeitordnung. Daher der Zorn meiner Figur gegenüber der nackten Frau, gegenüber dem Sex oder dem Verlangen. Es ist eine grausame Erinnerung an unseren Zustand, der zugleich zerknirscht und unendlich ist, sobald er auf einen anderen begehrten Körper trifft. Der schönste Liebesakt ist der, in den sich keine Riten, Götter, Gesetze, Zeugen oder Beisitzer einmischen können. Picasso malt ihn vielleicht in jenem Jahr, auf halbem Weg zwischen Lust und Grausamkeit.

Houris dagegen ist der Roman eines algerischen Mannes, der eine traumatisierte Frau sprechen lässt. Die Männerfiguren sind hier durchweg bedrohlich oder situativ ambivalent, selbst in Situationen, in denen sie kurzfristig hilfreich erscheinen, vielleicht mit Ausnahme der Väter. In Daouds Roman Zabor ou Les Psaumes von 2017 hat der uneheliche Sohn Zabor die Gabe, durch das Erzählen Menschen vor dem Tod zu bewahren, aber er muss sich entscheiden, ob er den kranken Vater retten soll, der ihn sein Leben lang nicht anerkannt und verstoßen hat. Aubes Tochter in Houris wird freilich keinen Vater als Schutz des Mädchens gegen andere Männer haben. Eine positive Perspektive neuer Männlichkeit ist im gesellschaftlichen Rahmen und mit der gewählten Erzählperspektive schwerlich möglich. Ein taxifahrender, selbst traumatisierter Literat, Aïssa, mag stellvertretend für den Schriftsteller Daoud stehen, jener versucht, die Auslöschung der Erinnerung mit seinem Schreiben zu verhindern, und er liest seine Begegnung mit Aube als Zeichen: „Alles wurde ausgelöscht, es bleibt nichts übrig, es ist, als wäre alles in meinem Kopf erfunden, und dann tauchst du plötzlich auf der Straße auf.“ 10

Die Struktur männlichen Begehrens in der islamischen Welt ist ein Hauptpunkt der Kritik Daouds an einer todessüchtig-metaphysischen Verherrlichung der unberührten Frau als jenseitiger Preis für Märtyrer (und damit heute für Selbstmordattentäter im Westen), eine Verherrlichung, die allerdings einhergeht mit der Unterdrückung und Verachtung des Erotischen und des lebendigen Weiblichen, dies gilt insbesondere in Houris über die blendend schönen Jungfrauen in den Paradiesgärten, keusche Reinheit, die zur Befriedigung männlicher sexueller Bedürfnisse bereitsteht. Im Gespräch mit einer französischen Buchhandlung äußert Daoud:

Houris, ce sont les 72 fameuses vierges qui attendent les kamikazes quand ils tuent les autres selon leurs croyances, c’est la femme objet. Moi je les appelle les poupées gonflables de la métaphysique. Et c’est un fantasme morbide parce qu’ils sexualisent la mort et désexualisent la vie. Ils enlèvent toute sa charge de beauté et d’érotisme à la vie. Pour la donner à la mort, ils subliment le cadavre au lieu de sublimer le corps vivant. Et qui faussent le rapport au monde, le rapport à la femme, le rapport à l’amour. Et donc ce fantasme-là, on le conçoit pas beaucoup en Occident mais qui est fondamental dans la perception de la sexualité, de la féminité, de la femme de la vie dans certaines géographies. Et d’un autre côté, la guerre civile a été marquée, au-delà de la mort, par le kidnapping systématique des jeunes filles, les vierges qui étaient kidnappées des villages, qui étaient prises dans les maquis, tuées, torturées, engrossées, violées. Et qui, après la réconciliation, se seront trouvées à payer de leur corps aussi parce qu’elle reviennent avec des enfants “illégitimes“, elles reviennent avec le déshonneur. Elles ne retrouvent pas leurs familles, est-ce que leurs familles les acceptent? Et donc je voulais parler de cet arc de cruauté. Et rendre hommage aux vrais Houris, c’est les femmes de maintenant. Celles que nous rencontrons, celles d’où nous descendons, celles que nous aimons, celles que nous touchons, que nous croisons, que nous embrassons. Et plaider contre ces Houris fantasmées qui sont des objets funèbres, des objets de l’au-delà. C’est quelque chose d’important pour moi, les vrais Houris, ce sont celles que nous voyons tous les jours, c’est pas celles que nous espérons après la mort.

Kamel Daoud, Houris, librairie Mollat, youtube.com.

Huris, das sind die 72 berühmten Jungfrauen, die auf die Selbstmordattentäter warten, wenn diese andere nach ihrem Glauben töten, das ist die Frau als Objekt. Ich nenne sie die Sexpuppen der Metaphysik. Und sie sind eine morbide Fantasie, weil sie den Tod sexualisieren und das Leben entsexualisieren. Sie nehmen dem Leben seine ganze Ladung an Schönheit und Erotik. Um sie dem Tod zu geben, sublimieren sie den Leichnam, anstatt den lebenden Körper zu sublimieren. Und sie verfälschen das Verhältnis zur Welt, das Verhältnis zur Frau und das Verhältnis zur Liebe. Und so ist diese Fantasie im Westen nicht sehr verbreitet, aber sie ist grundlegend für die Wahrnehmung der Sexualität, der Weiblichkeit, der Frau des Lebens in bestimmten Gebieten. Und auf der anderen Seite war der Bürgerkrieg über den Tod hinaus von der systematischen Entführung junger Mädchen geprägt, Jungfrauen, die aus den Dörfern entführt wurden, in den Maquis gerieten, getötet, gefoltert, geschwängert und vergewaltigt wurden. Und die nach der Versöhnung mit ihrem Körper bezahlen müssen, auch weil sie mit „unehelichen“ Kindern zurückkehren, sie kehren mit Schande zurück. Sie finden nicht zu ihren Familien zurück, werden sie von ihren Familien akzeptiert? Und so wollte ich über diesen Bogen der Grausamkeit sprechen. Und die wahren Huris zu ehren, das sind die Frauen von heute. Die, die wir treffen, die, von denen wir abstammen, die, die wir lieben, die wir berühren, denen wir begegnen, die wir küssen. Und gegen diese fantasierten Huris argumentieren, die Grabbeigaben sind, Objekte aus dem Jenseits. Das ist mir wichtig: Die echten Huris, das sind die Frauen, die wir jeden Tag sehen, das sind nicht die, auf die wir nach dem Tod hoffen.

Kamel Daoud hat mit seiner imaginären Konfrontation eines Dschihadisten im Museum vor erotischer Frauenmalerei eine konsequente Ergänzung seiner Bücher vorgelegt, mit Houris verleiht er der geschändeten Frau eine Stimme. Véronique Ovaldé las das Picassobuch analog zu Meursault als Rollenwechsel, als Travestie: „Denn die Erotik führt an dieselbe Grenze wie der Glaube, sie führt zum Eifer. Der Westen ist ein Frauenkörper. Der Dschihadist stellt den Mythos von Robinson auf den Kopf, er ist der Wilde, der den Westen neu einkleiden will. Für diesen werden der Körper und die Glückseligkeit für das Jenseits sein, das Sterben ist ein Vorspiel.“ 11 In der Erzählsammlung Le Minotaure 504 hatte Daoud die Stadt Algier allegorisch als Überschreitung der Geschlechterordnung gelesen:

Tu sais (là, il se penche vers moi avec ses petits yeux qui se veulent malicieux, et pour que les autres passagers ne nous entendent pas), Alger, c’est pas une femme et ce n’est pas un homme comme toi et moi. C’est… c’est comme un truc que j’ai vu un jour sur Canal +. Oui, j’ai regardé Canal + la nuit, comme tous, mais moi je le dis (il rit en m’indiquant du menton nos compagnons, en visant son rétroviseur), je ne le cache pas. J’ai vu — que Dieu nous préserve — une sorte de femme qui avait des seins et un sexe d’homme tendu vers la caméra. Alger, c’est comme ça : c’est une transsexuelle comme on dit. Personne ne sait. Y à des gens qui veulent la téter et elle les empale. Y a des gens qui veulent l’épouser et c’est elle qui les déflore.

Kamel Daoud, Le Minotaure 504, Wespieser, 2011.

Weißt du (nun er beugt sich mit seinen kleinen Augen, die schelmisch aussehen wollen, und damit die anderen Passagiere uns nicht hören können, zu mir), Algier ist keine Frau und kein Mann wie du und ich es sind. Sie ist … es ist wie etwas, das ich einmal auf Canal + gesehen habe. Ja, ich habe nachts Canal + geschaut, wie alle, nur dass ich es zugebe (er lacht und deutet mit dem Kinn auf unsere Begleiter, wobei er auf seinen Rückspiegel zielt), ich verhehle es nicht. Ich habe – Gott bewahre – eine Art Frau gesehen, die Brüste hatte und das Geschlechtsteil eines Mannes, das sie in die Kamera streckte. So ist Algier: eine Transsexuelle, wie man so sagt. Niemand weiß es. Es gibt Leute, die an ihr nuckeln wollen, aber sie penetriert sie. Es gibt Leute, die sie heiraten wollen, aber sie entjungfert sie.

Die staatliche Befriedung Algeriens bleibt in Houris ambivalent. Als die Charta für Frieden und nationale Versöhnung im Jahr 2005 angenommen wird, um mit einer Amnestie den Bürgerkrieg per Referendum zu entschärfen, setzt der Roman die öffentlich vorgegebene Sprache in Anführungszeichen und hält dem trügerischen Frieden die verzweifelte Empörung der Mutter Aubes entgegen:

Le 29 septembre 2005, jour de la réconciliation des meurtriers avec les meurtriers (dixit ma mère), il a fait beau. La mer jouait avec son foulard bleu et gris et des mouettes se disputaient dans les airs. On a été appelés à voter « oui » ou « non » pour la « Réconciliation ». « Pas de place pour la nuance ? » (c’est ma mère qui crie). Pas de morts-vivants, d’amputés par les bombes, de moitiés d’égorgés, de filles violées et engrossées dans les broussailles, pas de droit au doute : oui ou non. Pour une fois, on imposa à tous de parler à ma façon, avec un trou dans la gorge. Tu manges, oui ou non ? Tu as écrit ton texte, oui ou non ? Tu es vivante, oui ou non ? Et là ce fut un drame, en ce jour qui fut un jour heureux, je dois le dire.

Kamel Daoud, Houris, 2024.

Am 29. September 2005, dem Tag der Versöhnung der Mörder mit den Mördern (sagte meine Mutter), war das Wetter schön. Das Meer spielte mit ihrem blau-grauen Kopftuch, und Möwen stritten sich in der Luft. Wir wurden aufgefordert, mit „Ja“ oder „Nein“ für die „Versöhnung“ zu stimmen. „Kein Platz für Differenzierung?“ (schreit meine Mutter). Keine lebenden Toten, von Bomben Amputierte, Körperhälften von Aufgeschlitzten, vergewaltigte und geschwängerte Mädchen im Gebüsch, kein Recht auf Zweifel: Ja oder Nein. Für einmal wurde allen auferlegt, auf meine Weise zu sprechen: mit einem Schnitt in der Kehle. Isst du, ja oder nein? Hast du deinen Text geschrieben, ja oder nein? Bist du am Leben, ja oder nein? Und so war es eine Tragödie, an diesem Tag, der ein glücklicher Tag war, wie ich formulieren muss.

Ohne die Amnestie verteidigen zu wollen, muss aber auch angemerkt werden, dass Blutverbrechen, Massenmorde, öffentliche Sprengstoffanschläge und auch Vergewaltigungen hier explizit ausgeschlossen waren, zumindest auf dem Papier. 12 Die Militärsperren der 1990er Jahre scheinen für die Erzählerin die Machtgesten der lange schon abgezogenen französischen Kolonisatoren immer noch nachzuahmen. 13 Und so ist der Roman im Kern einer auch über verordnetes Vergessen und den Versuch der Erinnerung.

Je me souviens que, la première année, on fêta un peu la « Réconciliation nationale ». Je veux dire qu’on fêta l’acte du président et son courage et sa générosité, et on écouta encore des discours sur la paix. Puis, la troisième année, on la célébra un peu moins, puis la quatrième on ne fit rien. Cette fois, je compris qu’on ne voulait plus se souvenir de nous. On exigeait de nous que l’on doute de notre mémoire. Le pays entier ne pansait pas ses blessures, mais les gommait et en faisait des doutes, puis des courants d’air. Oh que oui ! Pour être franche, moi aussi je me suis mise à douter et à envisager, peu à peu, que rien n’était jamais arrivé. Je me suis efforcée de croire que ce n’était pas aussi terrible que le racontait le trou dans ma gorge dans cette langue qui se mordait la queue en moi. C’est que, vois-tu, un souvenir est toujours écrit sur de l’eau, du sable, des matières qui changent et fuient.

Chaque fois, je revivais l’histoire de ce héros de la guerre de libération venu dans notre école nous réciter comment, à dix-sept ans, il avait vaincu la mort et la France. « À votre âge, j’étais déjà engagé dans la guerre pour libérer ce pays. » Puis il se taisait et on attendait la suite et il reprenait. Je me disais qu’il avait dû raconter cette histoire mille fois. Mais le pire c’était quand, le soir dans ma chambre, ce discours se défaisait de son sens et me collait à la peau comme un refrain.

Kamel Daoud, Houris, I, 28.

Ich erinnere mich, dass im ersten Jahr die „nationale Versöhnung“ ein wenig gefeiert wurde. Ich meine, man feierte die Tat des Präsidenten und seinen Mut und seine Großzügigkeit, und man hörte sich wieder Reden über den Frieden an. Dann, im dritten Jahr, feierte man ihn ein bisschen weniger und im vierten Jahr tat man nichts. Dieses Mal wurde mir klar, dass man sich nicht mehr an uns erinnern wollte. Man wollte von uns, dass wir an unserer Erinnerung zweifeln. Das ganze Land leckte seine Wunden nicht, sondern überklebte sie und machte sie zu Zweifeln und dann zu Luftzügen. Oh ja, so war es! Um ehrlich zu sein, fing auch ich an zu zweifeln und allmählich glaubte ich, dass nie etwas passiert war. Ich versuchte zu glauben, dass es nicht so schlimm war, wie es das Loch in meinem Hals erzählt hatte, in meiner Zunge, die sich in mir selbst die Spitze abbiss. Es ist so, siehst du, eine Erinnerung ist immer auf Wasser geschrieben, auf Sand, auf Stoffe, die sich verändern und fliehen.

Jedes Mal erlebte ich die Geschichte dieses Helden des Befreiungskriegs, der in unsere Schule kam und uns erzählte, wie er mit siebzehn Jahren den Tod und Frankreich besiegt hatte. „Als ich so alt war wie ihr, bin ich in den Krieg gezogen, um dieses Land zu befreien“, sagte er. Dann schwieg er, und wir warteten auf die Fortsetzung, und er begann wieder. Ich dachte, dass er diese Geschichte bestimmt schon tausendmal erzählt hat. Aber das Schlimmste, wenn ich abends in meinem Zimmer saß und diese Rede ihren Sinn verlor und wie ein Refrain an mir klebte.

Auf die Frage des Nouvel Observateur, wie sich Kamel Daoud im Exil fühle, lehnte er den Ausdruck „Exil“ ab, denn er sei im Gegenteil in Frankreich nun angekommen. „Ich konnte in Algerien nicht mehr schreiben und atmen, wo die Freiheit des Schriftstellers den Zorn aller hervorruft: des Regimes, der Islamisten, der intellektuellen Rentiers der Entkolonialisierung … Natürlich vermisse ich das Meer und meine Lieben, meinen Zitronenbaum und den Geschmack der Früchte, aber ich lebe. Wie meine Heldin schließlich begreifen wird, sind die Toten gestorben, damit wir leben, tanzen, trinken, lachen, lieben, schwimmen … können. Dieses Buch ist im Grunde eine Geschichte der Wiederauferstehung. Ich wollte nicht über einen Krieg schreiben, sondern darüber, wie man aus ihm herauskommt. Deshalb habe ich meine Figur Aube genannt; es ist die schwierige Stunde zwischen zwei Welten, in der die Sonne und die Nacht zusammenleben, aber die Dinge wieder von vorne beginnen.“ 14 Die vormals stumme Erzählerin endet ein Jahr nach der Geburt der Tochter, die sie nach einer Stimme benennt, nach der ägyptischen Sängerin Kalthoum, ein Moment der Hoffnung auf eine mögliche Zukunft.

Tout peut me l’enlever : le vent, la mer, la moindre mouette qui la survole en tournant autour, le soleil ou une chaloupe jalouse. Même lorsqu’elle est sous mes yeux, je crains pour elle. Parce que tout réside en elle : ses cheveux sont la flamme, sa vivacité relance le temps. J’observe ses jambes qui s’agitent dans son berceau vert, ses petites mains, ses pieds qui ont laissé une empreinte dans le sable. Tout peut me l’enlever et me faire mourir et m’arracher ma voix. Puisque je parle enfin. J’ai accouché il y a un an et je bavarde de nouveau. Ma langue intérieure et ma langue extérieure concordent en elle. Ah, peu de mots, à peine un seul d’ailleurs. Cependant, ma voix est là, affamée, heureuse, mouillée de salive. Khadija est assise à côté de nous. Elle est toujours traumatisée par ma fugue et les risques que j’ai pris, mais elle se garde désormais de ternir mon bonheur par ses tourments. Et puis, elle est heureuse d’être grand-mère.

[…]

Kalthoum chante sa mémoire du paradis dans ses babillements amusants. Puis elle pleure, agacée par une mouette insaisissable pour ses petites mains. Alors, je me donne à elle, pour qu’elle me dévore : je sors mon sein, je le lui offre et elle tète. Elle me fixe jusqu’à ce que je ne bouge plus, et m’avale dans son ventre. Sa petite bouche m’électrise ; elle mélange la douleur et les preuves de vie ; je suis son fleuve de vin, de lait et de miel ; son cheval sans fatigue ; ses fruits sans fin ; sa tente d’émeraudes ; sa peau transparente ; ses yeux aux paupières immenses ; sa chevelure rousse qui plonge dans le domaine des dieux. Rien n’atteint aussi profondément mon corps vivant.

Kamel Daoud, Houris, 2024.

Alles kann mir sie nehmen: der Wind, das Meer, die kleinste Möwe, die über ihr kreist, die Sonne oder ein eifersüchtiges Ruderboot. Selbst wenn sie direkt vor meinen Augen ist, habe ich Angst um sie. Denn in ihr liegt alles: Ihr Haar ist die Flamme, ihre Lebendigkeit lässt die Zeit neu beginnen. Ich beobachte ihre Beine, die in ihrer grünen Wiege strampeln, ihre kleinen Hände und ihre Füße, die einen Abdruck im Sand hinterlassen haben. Alles kann mir sie wegnehmen und mich sterben lassen und mir meine Stimme entreißen. Da ich nun endlich spreche. Ich habe vor einem Jahr entbunden und schwatze wieder. In ihr stimmen meine innere und meine äußere Sprache überein. Ach, nur wenige Worte, eigentlich kaum eines. Dennoch, meine Stimme ist da, hungrig, glücklich, nass von Speichel. Khadija sitzt neben uns. Sie ist immer noch traumatisiert von meinem Weglaufen und den Risiken, die ich eingegangen bin, aber sie achtet jetzt darauf, mein Glück nicht mit ihren Sorgen zu trüben. Außerdem ist sie glücklich, Großmutter zu sein.

[…]

Kalthoum singt in ihrem niedlichen Gebrabbel von ihrer Erinnerung an das Paradies. Dann weint sie, genervt von einer Möwe, die für ihre kleinen Hände nicht fassbar ist. Dann gebe ich mich ihr hin, damit sie mich verschlingt: Ich hole meine Brust hervor, biete sie ihr an und sie saugt. Sie starrt mich an, bis ich mich nicht mehr bewege, und verschlingt mich dann in ihren Bauch. Ihr kleiner Mund fasziniert mich; er mischt Kummer und Lebenslust; ich bin ihr Fluss aus Wein, Milch und Honig; ihr unermüdliches Pferd; ihre unerschöpfliche Frucht; ihr Zelt aus Smaragden; ihre durchsichtige Haut; ihre Augen mit riesigen Lidern; ihr rötliches Haar, das in das Reich des Göttlichen eintaucht. Nichts durchdringt so tief meinen lebendigen Körper.

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. Kamel Daoud „Cologne, lieu de fantasmes“, Le Monde, 29. Januar 2016. Übersetzung aus dem Französischen von Claus Josten, Deutschsprachige Erstveröffentlichung in Emma 2, 2016.>>>
  2. „La France est aussi mon pays. Et j’ai la chance d’être né en Algérie et d’être ici. L’au-delà, avec ses jardins et ses fleuves de vin, existe pour moi à Paris. L’au-delà, c’est la France. Donc je n’ai pas envie que ça aille dans ce sens-là d’une énième défaite devant ce fascisme. Mais c’est toujours possible. Si on regarde ce qui se passe en Belgique, il y a de quoi craindre de voir émerger un émirat au coeur d’une Europe contrite et aveuglée par la culpabilité et la lâcheté…“ François-Guillaume Lorrain, „Kamel Daoud : « On m’attaque car je ne suis ni communiste, ni décolonial encarté, ni antifrançais »“, Le Point, 8. August 2024.>>>
  3. „Sa parole a un objet : relever le paradoxe du pouvoir algérien. Ce dernier a décidé d’étouffer ce qui s’était passé durant la décennie 1990 – 2000, dont tout le monde a souffert, et d’attiser les blessures de la guerre d’indépendance, temps que de moins en moins de gens ont connu, mais qui est omniprésent dans les discours officiels.“ Etienne de Montety, „Houris, de Kamel Daoud: la promesse d’Aube“, Le Figaro, 4. September 2024.>>>
  4. „De fait, il y a comme une convergence des luttes pour la meilleure fin d’un monde : victimaires, antiracistes, mais aussi masochistes intellectuels et sceptiques professionnels, suprémacistes et défaitistes esthètes. Le vœu de changer l’Occident se retrouve contaminé, profondément, par celui de le voir mourir dans la souffrance. Et, dans l’élan, on gomme cette conséquence suicidaire que par sa mort on se tuera soi-même, on tuera le rêve d’y vivre ou d’y aller par chaloupes ou par avions, on tue le seul espace où il est justement possible de crier sa colère.“ Kamel Daoud, „L’Occident est imparfait et à parfaire, il n’est pas à détruire“, Le Monde, 22. Juni 2020.>>>
  5. Die deutsche Übersetzung von Claus Josten ist 2017 verlegt bei Kiepenheuer & Witsch.>>>
  6. Kamel Daoud, „La France a tout pour inventer l’avenir de l’islam“, Le Monde, 29. Januar 2021.>>>
  7. „L’Hexagone a tout pour inventer l’avenir de cette confession : une communauté musulmane importante, une crise profonde des identités en confrontation, le martyre causé par le terrorisme, un statut de cible de l’internationale des radicaux et un Etat qui veut sortir de la culpabilité et de l’amnésie coloniale.“ Ebd.>>>
  8. Eine deutsche Übersetzung von Barbara Heber-Schärer hat Kiepenheuer & Witsch verlegt.>>>
  9. „Je regardais souvent mon sexe, au matin. Dressé vers le ciel comme un index, long et maigre, indiquant les vierges du paradis, peut-être, ou la lactation de la nuit. J’étais différent, et seuls mon père et ma tante le savaient. Je n’avais pas été circoncis petit.“ Kamel Daoud, Zabor ou les psaumes, Kap. 32.>>>
  10. „« Tout a été effacé, il ne reste rien, c’est comme si tout avait été inventé dans ma tête et là, tu surgis sur la route. »“, Kamel Daoud, Houris, II, 7.>>>
  11. „Car l’érotisme mène à la même frontière que la croyance, il mène à la ferveur. L’Occident est un corps de femme. Le djihadiste renverse le mythe de Robinson, c’est le sauvage qui veut rhabiller l’Occident. Pour celui-ci, le corps et la félicité seront pour l’au-delà, mourir est un préliminaire.“ Véronique Ovaldé, „Lydie Salvayre, Kamel Daoud : le journal des lectures en poche“, Le Monde, 12. September 2020.>>>
  12. Vgl. die Meldung „Algérie : M. Bouteflika annonce un référendum sur la réconciliation nationale“, Le Monde/AFP, 14. August 2005.>>>
  13. „Sie sahen hungrig aus und mussten die Helden des Befreiungskriegs und Patrioten spielen, wie es in Algerien seit dem Weggang Frankreichs ständig getan wird. „Aussteigen und Hände über den Kopf!“, schrie einer, der mich aufforderte, an den steinigen Seitenstreifen zu fahren.“ – „Ils avaient l’air affamés et devaient jouer les héros de la guerre de libération et les patriotes, comme on le fait tout le temps en Algérie depuis le départ de la France. « Descends, et mains sur la tête ! » a crié celui qui m’a intimé l’ordre de me ranger sur le bas-côté rocailleux.“ Kamel Daoud, Houris, II, 8.>>>
  14. „Je ne pouvais plus écrire ni respirer en Algérie où la liberté de l’écrivain provoque l’ire de tous : le régime, les islamistes, les intellectuels rentiers du décolonial… Bien sûr, la mer et les miens me manquent, mon citronnier et le goût des fruits aussi, mais je suis vivant. Comme mon héroïne finira par le comprendre, les morts sont morts pour que nous puissions vivre, danser, boire, rire, aimer, nager… Ce livre, c’est au fond une histoire de résurrection. Je ne voulais pas écrire une guerre, mais comment on en sort. C’est pour cela que j’ai appelé mon personnage Aube ; c’est l’heure difficile, entre deux mondes, où cohabitent le soleil et la nuit, mais où les choses recommencent.“, Marie Lemonnier, „Kamel Daoud : « Je ne pouvais plus écrire ni respirer en Algérie »“, Nouvel Observateur, 3. September 2024.>>>