Mathieu Palains Sale gosse („Drecksgör“, 2019) zeigt Kindheit in prekären sozialen Verhältnissen als Brennspiegel gesellschaftlicher Strukturen und individueller Schicksale, er gibt ein Porträt der Verwundbarkeit, der Suche nach Anerkennung und der Sprachlosigkeit am Rand der Gesellschaft. Der Roman erzählt nicht nur vom Scheitern individueller Biografien, sondern entwirft – subtil und ohne falsches Pathos – eine eigene Poetik der Kindheit.
Der Titel macht die Mischung aus sozialer Determinierung und Diskriminierung deutlich, die unausgesprochenen Urteile von Sozialarbeitern, Richtern, Lehrern auf Kinder aus schwierigen Verhältnissen, die sich nicht einfügen, die stören und provozieren. Problemkinder. Diese Schnellurteile werden in Palains Buch entlarvt. Der Roman beginnt mit der Inszenierung einer schlaflosen Nacht: Marc Winzembourg, erfahrener Sozialarbeiter der französischen Jugendjustiz, wird von innerer Unruhe heimgesucht. Die Szene dient weniger der psychologischen Charakterisierung als der Einführung eines Grundthemas: die Unvereinbarkeit individueller Biografie und institutioneller Verantwortung. Die Unfähigkeit zur Ruhe spiegelt die prekäre Stellung Marcs zwischen Empathie und Erschöpfung wider. Sein bevorstehendes Gespräch mit der drogensüchtigen Mutter Louise über das Sorgerecht für ihren Sohn Wilfried wird zur emblematischen Situation, in der sich die existenzielle Last sozialstaatlicher Entscheidungen kristallisiert. Bereits hier deutet sich an, dass Sale Gosse weniger an individuellen Schuldfragen interessiert ist als an der Darstellung systemischer Verstrickungen: Marc steht beispielhaft für eine Generation von Sozialarbeitern, die inmitten von Scheitern, Gewalt und institutioneller Blindheit um ihre moralische Integrität kämpfen.
Die Darstellung einer Fallkonferenz über Wilfried führt die institutionellen Dynamiken vor Augen, die Palain als zentrales Kritikmotiv entwickelt: Kompetenzgerangel, Ressourcenmangel, formelhafte Bürokratie. Trotz der erkennbaren Gefährdungslage wird der Fall zwischen den verschiedenen Behörden verschoben, minimiert oder verzögert. Marc und seine Kollegen stehen dabei exemplarisch für die moralische Dissonanz, die entsteht, wenn formale Kriterien über reale Bedürfnisse gestellt werden. Die Entscheidung, Wilfried aus der Familie zu nehmen, wird nicht aufgrund akuter Überzeugung, sondern aus dem Zwang zur Risikominimierung gefällt: ein Mechanismus, der ethische Verantwortung in Verwaltungsakte übersetzt und individuelle Dramatik systematisch neutralisiert.
Sale gosse erzählt vor allem zwei Geschichten: die von Marc und die von Wilfried, dem „sale gosse“ – jenem „Drecksgör“, das immer wieder durch die Maschen der Hilfe fällt. Marc, selbst gezeichnet von einer schwierigen Herkunft, versucht in seinem Beruf, eine Generation zu retten, die kaum an Rettung glaubt. Wilfried, der früh mit Gewalt, Drogen und Instabilität konfrontiert wird, sucht im Fußball eine Perspektive, die ihm immer wieder entgleitet.
Wilfried marcha à dix mois. Il eut l’idée de taper dans un ballon la première fois qu’il en vit un. Partout où on l’emmenait, les réunions de famille, les goûters d’anniversaire, les soirées au restaurant, il avait le sien sous le bras, prêt à dribbler des chaises et des défenseurs invisibles. Les vrais footballeurs jouent n’importe où. Cinq minutes en forêt et vous le trouviez en train de jongler avec des pommes de pin, pied gauche, pied droit, en comptant dans sa tête pour établir un record. Les adultes écarquillaient les yeux.
— S’il devient pas pro, celui-là, j’y comprends plus rien.
Et Tomo, l’entraîneur, passait derrière pour calmer son joueur :
— Will, c’est du cirque ça, pas du football.
Sur sa carte de séjour, Tomo s’appelait Tomislav. Il était croate, mais à son arrivée, en 1984, on disait yougoslave. Il avait atterri à Ris-Orangis en provenance de Cesena, un club italien posé au bord de l’Adriatique, où il jouait en Série A. Tomo n’était pas rouillé. À trente-quatre ans, il aurait encore pu jouer en marchant dans n’importe quel club de Série B, mais il avait envie de voir la France, et un ami à la mairie de Ris pouvait lui signer un contrat d’entraîneur. La semaine, il s’occupait des petits, et le week-end, il enfilait le maillot jaune et bleu de l’équipe première. La tribune latérale n’avait jamais été aussi pleine. Les gens ne venaient pas encourager les seniors de Ris-Orangis, ils venaient au spectacle, applaudir le numéro 10 qui avait été champion d’Europe des moins de vingt ans avec la Yougoslavie. Tomo était grand, solide, élégant, avec quelque chose de Johan Cruyff dans le port de tête, entre la noblesse et la fausse nonchalance. Tomo voyait tout avant. Il recevait le ballon d’un défenseur, et sans contrôle envoyait une transversale qui tombait un mètre cinquante devant l’attaquant. Il est inutile d’expliquer la subtilité du football à ceux qui n’ont jamais aventuré leurs pieds au fond d’une paire de crampons, mais le talent tient là, dans cette capacité à visualiser la passe une demi-seconde avant de l’offrir.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Wilfried lief mit zehn Monaten. Er hatte die Idee, einen Ball zu kicken, als er zum ersten Mal einen Ball sah. Überall, wo man ihn hinbrachte – zu Familientreffen, Geburtstagsfeiern, Restaurantbesuchen -, hatte er seinen eigenen unter dem Arm, bereit, um Stühle und unsichtbare Verteidiger zu umdribbeln. Echte Fußballer spielen überall. Fünf Minuten im Wald und Sie fanden ihn, wie er mit Tannenzapfen jonglierte, mit dem linken Fuß, mit dem rechten Fuß, und zählte in seinem Kopf, um einen Rekord aufzustellen. Die Erwachsenen machten große Augen.
– Wenn der nicht Profi wird, verstehe ich gar nichts mehr.
Und Tomo, der Trainer, ging nach hinten, um seinen Spieler zu beruhigen:
– Will, das ist Zirkus, das ist kein Fußball.
Auf seiner Aufenthaltsgenehmigung hieß Tomo Tomislav. Er war Kroate, aber bei seiner Ankunft im Jahr 1984 sagte man Jugoslawe. Er war von Cesena, einem italienischen Verein an der Adria, nach Ris-Orangis gekommen, wo er in der Serie A spielte. Tomo war nicht eingerostet. Mit seinen 34 Jahren hätte er noch in jedem Verein der Serie B spielen können, aber er wollte Frankreich sehen und ein Freund im Rathaus von Ris konnte ihm einen Trainervertrag geben. Unter der Woche kümmerte er sich um die Kleinen und am Wochenende zog er sich das gelb-blaue Trikot der ersten Mannschaft über. Die Seitentribüne war noch nie so voll gewesen. Die Leute kamen nicht, um die Senioren von Ris-Orangis anzufeuern, sie kamen zur Show, um die Nummer 10 zu bejubeln, die mit Jugoslawien U20-Europameister geworden war. Tomo war groß, kräftig, elegant, mit etwas von Johan Cruyff in der Kopfhaltung, zwischen Noblesse und falscher Nonchalance. Tomo sah alles früher. Er bekam den Ball von einem Verteidiger und schlug unkontrolliert einen Querschläger, der eineinhalb Meter vor dem Stürmer landete. Es ist sinnlos, die Feinheiten des Fußballs denjenigen zu erklären, die ihre Füße noch nie in die Tiefe eines Stollenschuhs gewagt haben, aber das Talent liegt genau darin, in der Fähigkeit, den Pass eine halbe Sekunde vor dem Anbieten zu visualisieren.
Eine frühe Szene etabliert den Fußball als natürliche Ausdrucksform von Wilfrieds Vitalität und Kreativität. Sport wird als ursprüngliches Medium der Selbstaneignung der Welt inszeniert, das Wilfried unabhängig von sozialer Anerkennung nutzt. Gleichzeitig deutet die Szene an, dass Wilfrieds Identität von Anfang an performativ und körperlich geprägt ist: Fußball ersetzt Sprache, Zugehörigkeit und soziale Sicherheit. Wilfrieds frühe Fußballkarriere wird von Palain mit einem Bewusstsein für das Prekäre erzählt. Der Sport, oft mythisiert als Weg aus der sozialen Misere, erscheint hier als ebenso riskante wie verführerische Hoffnung. Wilfried zeigt außergewöhnliches Talent, doch sein Weg bleibt von inneren Brüchen und äußeren Widerständen geprägt. Die Darstellung des sportlichen Trainingsalltags, die Beschreibung der Rekrutierungsmechanismen und die brutale Selektionslogik im Jugendfußball dekonstruieren die Erfolgserzählung: Nicht Leistung allein, sondern Disziplin, Selbstunterwerfung und das Fehlen von Störfaktoren entscheiden über den Verbleib im System. Wilfried scheitert weniger an fehlendem Talent als an einem tief eingeprägten Misstrauen gegenüber Autorität und institutionellen Erwartungen.
Wilfried n’avait que cinq ans, il ignorait tout de ce grand type à l’accent étrange, mais il s’était senti important car, pour la première fois de sa vie, un adulte ne lui parlait pas comme à un enfant. Tomo n’avait pas besoin de crier, il avait ce truc qu’on appelle l’aura, ou le charisme. Quand Wilfried s’énervait contre l’arbitre, Tomo le sortait et lui faisait faire des pompes devant les remplaçants. Le message était clair : « Il n’y a pas de star ici, la preuve, tu es remplaçable. »
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Wilfried war erst fünf Jahre alt und wusste nichts über diesen großen Kerl mit dem seltsamen Akzent, aber er hatte sich wichtig gefühlt, weil zum ersten Mal in seinem Leben ein Erwachsener nicht mit ihm wie mit einem Kind gesprochen hatte. Tomo brauchte nicht zu schreien, er hatte etwas, das man Aura oder Charisma nennt. Wenn Wilfried sich über den Schiedsrichter aufregte, holte Tomo ihn heraus und ließ ihn vor den Auswechselspielern Liegestütze machen. Die Botschaft war klar: „Hier gibt es keine Stars, der Beweis ist, dass du ersetzbar bist“.
Die Erzählstruktur folgt einer doppelten Bewegung: der Alltagschronik und der biografischen Reflexion. Kapitelweise springt Palain zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Marc und Wilfried, zwischen Hoffnung und Desillusionierung. Dabei verwebt er dokumentarisch wirkende Beobachtungen (etwa der sozialen Rituale in den Heimen) mit intimen Momenten (Wilfrieds kindliches Bedürfnis nach Anerkennung, Marcs inneres Schwanken zwischen Zynismus und Empathie).
Die Figur des Wilfried sperrt sich im Erzählen gegen einfache psychologische oder soziologische Deutungsmuster, er wird weder als bloßes Opfer sozialer Verhältnisse noch als autonomer Akteur dargestellt. Vielmehr entwirft Palain eine narrative Dynamik, in der Wilfried zugleich Träger struktureller Gewalt und Subjekt prekärer Selbstbehauptung ist. Die Erzählweise verleiht dieser Ambivalenz eine besondere Intensität, indem sie Wilfrieds Entwicklung in einer kontinuierlichen Spannung zwischen Identitätssuche, sozialer Zuschreibung und innerer Zerrissenheit inszeniert.
Bereits die Einführung Wilfrieds erfolgt über Abwesenheit und Vulnerabilität. Als acht Monate altes Kleinkind erscheint er nicht als handelndes Subjekt, sondern als Gegenstand institutioneller Sorge und juristischer Interventionen. In diesen frühen Passagen des Romans wird Wilfried vor allem über die Perspektiven der Erwachsenen (Marc, Laurence, Louise) vermittelt: ein Körper, auf den Hoffnungen, Ängste und moralische Konflikte projiziert werden. Diese erste narrative Strategie der Objektivierung macht deutlich, dass Wilfried von Beginn an ein Leben führt, das weniger durch eigene Entscheidungen als durch das Zusammenspiel externer Kräfte bestimmt wird.
Subtil führt Palain scheinbare individuelle Entscheidungen auf strukturelle Determinanten zurück. Wilfrieds Aggressionsausbrüche, seine Disziplinlosigkeit und sein Scheitern an den Anforderungen des Profisports werden nicht als reine Charakterfehler inszeniert. Vielmehr deutet der Roman an, dass diese Verhaltensmuster tief in einer Geschichte sozialer Ausgrenzung und internalisierter Gewalt verwurzelt sind. Durch eine erzählerische Bewegung zwischen äußerer Beobachtung und innerer Beteiligung – etwa in der Szene der Prügelei, die Wilfried den Ausschluss aus dem Leistungszentrum einträgt – verweigert Palain eine eindeutige moralische Bewertung. Stattdessen erzeugt die narrative Struktur eine Spannung zwischen empathischem Verstehen und analytischer Distanz.
Hinzu tritt eine systematische Verhinderung von Helden- oder Opfernarrativen. Weder wird Wilfried als genuines Opfer glorifiziert, noch als Held seiner eigenen Geschichte inszeniert, vielmehr spiegelt die Erzählweise selbst die prekäre soziale Realität wider, die es den Figuren verwehrt, kohärente, sinnstiftende Identitäten zu entwickeln. Wilfried bleibt im narrativen Gefüge ein Suchender: ein junger Mensch, der versucht, in einer Welt, die ihn immer wieder auf seine Herkunft zurückverweist, einen Platz zu finden. In dieser Hinsicht entwirft Palain eine fragmentierte Biografie, die die Bedingungen moderner Subjektivität unter prekären sozialen Verhältnissen literarisch verdichtet.
Marcs eigene frühe Kindheit – geprägt von Heimerziehung und familiärer Desintegration – wird nicht psychologisch ausgeschlachtet, sondern strukturell analysiert: Als Sohn einer verstoßenen Minderjährigen erfährt Marc soziale Ausgrenzung als grundlegende Bedingung seiner Existenz. Sein späterer Bildungsweg – durchzogen von Misserfolgen, Auflehnung und pragmatischen Wendungen – veranschaulicht die Brüchigkeit des Ideals sozialer Mobilität. Der Wechsel von sportlichem Ehrgeiz zu beruflichem Pragmatismus markiert nicht eine Emanzipation, sondern vielmehr eine Form von Überlebensanpassung. Auch Marcs Eintritt in die Jugendhilfe geschieht weniger aus Berufung denn aus Notwendigkeit. Die Arbeit im Jugendgefängnis von Juvisy wird als Ort struktureller Gewalt inszeniert: eine Umgebung, die soziale Reproduktion von Gewalt eher bestätigt als unterbricht. Palain zeigt hier deutlich, dass die Akteure selbst – sowohl Jugendliche als auch Betreuer – in einem System operieren, das individuelle Handlungsfreiheit radikal einschränkt.
En foyer, les éducateurs remplissent un cahier de transmission, une sorte de carnet de bord dans lequel ils notent ce qui s’est passé dans la journée. Nina n’avait pas repris de cours de français. Pour cacher ses lacunes, elle s’enfermait dans le bureau, tard le soir, appelait une copine et se faisait dicter l’orthographe, mot à mot. Il n’était pas rare de la voir quitter le foyer vers 2 heures du matin.
Elle avait tenu des mois, jusqu’à ce qu’elle toque à la porte d’une association qui faisait de l’alphabétisation pour les sans-papiers et les SDF. Sa prof s’appelait Claudine, c’était une retraitée, ridée comme une vieille pomme, qui avait passé quarante ans à enseigner devant des CP. Plastifiés et classés, les cours de Claudine étaient toujours à portée de main, dans un tiroir de son bureau, avec le Bescherelle et le Petit Robert.
— Vous avez souvent changé de métier. Pourquoi rester à la PJJ ? demanda Marc.
— Parce que je fais l’affaire. Et puis on a un confort incroyable. Pendant huit ans j’ai bossé dans un entrepôt glacé. Je faisais des extras le dimanche avec le père de mes enfants, qui est boucher-charcutier-traiteur, et je m’en sortais à peine. Quand je suis arrivée à la PJJ, le premier mois j’ai touché 1 500 euros. J’avais d’un coup dix semaines de vacances alors que depuis des années j’en avais cinq, dont une que je posais pour faire les vendanges. Je me suis dit : « Qu’est-ce que je vais faire de tout ça ? »
Marc n’avait jamais entendu un éducateur se plaindre d’être trop payé.
— En quoi pensez-vous nous être utile ?
— Je vais pas vous détailler ma vie mais j’ai vraiment eu une enfance toute pourrie. Ces gosses, je peux leur faire entendre qu’ils ont deux options sachant les trucs pas marrants qu’ils ont vécus : soit ils se cachent derrière leurs parents alcooliques en se disant qu’ils finiront comme eux, soit ils se bougent parce qu’ils valent mieux que ça. Ce métier, il est super humain. Je dis souvent : « Y’a pas de technique avec les gamins, on range pas des livres dans des cartons. » Parce que justement, c’était ce que je faisais à l’entrepôt, du conditionnement.
— Vous pensez que ça aide, d’avoir votre parcours ?
— Disons que, malheureusement, ou heureusement, je connais la réalité de la vie. Voyez, au foyer y’a un truc qui m’énerve, c’est quand on organise des activités et que j’entends : « On pourrait quand même demander une petite participation aux familles. » Mais la maman, si elle a pas un euro dans son porte-monnaie, elle a beau l’aimer très fort son gamin, où est-ce que vous voulez qu’elle trouve les thunes ?
Marc ne sut pas s’il devait répondre.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Im Heim füllen die Erzieher ein Übergabeheft aus, eine Art Logbuch, in dem sie festhalten, was am Tag passiert ist. Nina hatte den Französischunterricht nicht wieder aufgenommen. Um ihre Defizite zu verbergen, schloss sie sich spät abends im Büro ein, rief eine Freundin an und ließ sich die Rechtschreibung Wort für Wort diktieren. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie das Heim gegen 2 Uhr morgens verließ.
Sie hatte es monatelang ausgehalten, bis sie an die Tür eines Vereins klopfte, der Alphabetisierungskurse für Menschen ohne Papiere und Obdachlose anbot. Ihre Lehrerin hieß Claudine und war eine Rentnerin, runzlig wie ein alter Apfel, die vierzig Jahre lang vor Erstklässlern unterrichtet hatte. Laminiert und geordnet lagen Claudines Vorlesungen immer griffbereit in einer Schublade ihres Schreibtischs, zusammen mit dem Bescherelle und dem Petit Robert.
– Sie haben oft den Beruf gewechselt. Warum bleiben Sie bei der PJJ?, fragte Marc.
– Weil ich den Job gut mache. Außerdem haben wir einen unglaublichen Komfort. Acht Jahre lang habe ich in einem eiskalten Lagerhaus gearbeitet. Ich machte sonntags Extras mit dem Vater meiner Kinder, der Metzger und Feinkosthändler ist, und kam kaum über die Runden. Als ich zur PJJ kam, bekam ich im ersten Monat 1 500 Euro. Ich hatte auf einen Schlag zehn Wochen Urlaub, obwohl ich seit Jahren fünf Wochen Urlaub hatte, von denen ich eine für die Weinlese nutzte. Ich fragte mich: „Was soll ich mit all dem anfangen?“
Marc hatte noch nie gehört, dass sich ein Erzieher darüber beschwert, dass er zu viel Geld bekommt.
– Wie denken Sie, dass Sie uns nützlich sein können?
– Ich will Ihnen nicht mein ganzes Leben aufzählen, aber ich hatte eine wirklich beschissene Kindheit. Diesen Kindern kann ich vermitteln, dass sie angesichts der schlimmen Dinge, die sie erlebt haben, zwei Möglichkeiten haben: Entweder sie verstecken sich hinter ihren alkoholkranken Eltern und denken, dass sie genauso enden werden wie sie, oder sie machen sich auf den Weg, weil sie besser sind als das. Dieser Beruf ist super menschlich. Ich sage oft: „Bei Kindern gibt es keine Technik, man räumt keine Bücher in Kartons.“ Denn genau das war es, was ich im Lager gemacht habe, das Verpacken.
– Glauben Sie, dass es hilft, wenn man Ihren Hintergrund hat?
– Sagen wir es so: Leider oder zum Glück kenne ich die Realität des Lebens. Sehen Sie, im Heim gibt es eine Sache, die mich ärgert, nämlich wenn wir Aktivitäten organisieren und ich höre: „Man könnte die Familien doch um einen kleinen Beitrag bitten.“ Aber die Mutter, wenn sie keinen Euro im Portemonnaie hat, kann ihr Kind noch so sehr lieben, woher soll sie das Geld nehmen?
Marc wusste nicht, ob er antworten sollte.
Die Kindheit in Sale gosse ist weit entfernt von der mythischen Unschuld oder der naiven Glückseligkeit, die in bürgerlichen Erzähltraditionen oft dominieren. Stattdessen schließt Palain an die realistische und sozialkritische Literatur an über die Verwahrlosung in den Städten, an die literarischen Milieustudien der jüngeren Literatur. Kindheit wird als prekärer, gefährdeter Zustand dargestellt, als eine Phase, in der Verletzungen eingeprägt und Wiederholungen sozialer Gewalt vorprogrammiert werden. Wie Eribon in Retour à Reims die soziale Herkunft nicht als individuelle Schuld, sondern als kollektive Konditionierung beschreibt, so zeigt Palain die Mechanismen, durch die Armut, Gewalt und Bildungsferne eine neue Generation prägen. Sale gosse ist nicht einfach die Geschichte eines scheiternden Kindes; es zeigt ein System, das Kindheit überhaupt nur als beschädigte Kindheit kennt.
Mit der Einführung der Mutter von Wilfried, Louise Desson, erweitert Palain die Erzählperspektive: Er zeigt nicht nur die Opfer der Verwahrlosung, sondern auch deren gesellschaftliche und familiäre Genese. Louise, selbst Tochter einer zerbrochenen, gewaltgeprägten Familie, wird als Produkt eines Versagens dargestellt, das sich über Generationen fortsetzt. Ihre Biografie – geprägt von frühem Schulabbruch, Vergewaltigung, psychischer Erkrankung und Drogensucht – wird nicht individualisiert, sondern als symptomatisch für eine bestimmte soziale Realität inszeniert. Palain wählt nicht den Weg, Louise moralisch zu verurteilen; vielmehr lässt er die Komplexität ihrer Überlebensstrategien sichtbar werden. Ihr verzweifelter Versuch, sich an ihrem Sohn Wilfried festzuhalten, erscheint als letzter Halt in einer Welt, die sie systematisch ausgeschlossen hat. In der Konfrontation zwischen Marc und Louise kulminiert die ethische Ambivalenz: Der Schutz des Kindes bedeutet zwangsläufig die Verletzung einer Mutter, die selbst Opfer ist.
Die Unterbringung Wilfrieds bei der Pflegefamilie Renault markiert scheinbar eine positive Wende. Mit dem Übergang und der beginnenden Eigenentwicklung in Kindheit und Jugend ändert sich auch die narrative Positionierung Wilfrieds. Palain vollzieht eine schrittweise Subjektivierung der Figur: Wilfrieds innere Beweggründe, seine Affekte und seine Wahrnehmungen treten in den Vordergrund. Thierry und Anna erscheinen zunächst als Bilder einer gelingenden familiären Integration. Doch Palain zeigt subtil, dass auch diese neue Struktur nicht konfliktfrei ist. Die emotionale Bindung bleibt asymmetrisch, die Herkunft Wilfrieds bleibt ein latentes Spannungsfeld. Der Übergang in eine neue soziale Klasse wird hier nicht als unproblematischer Aufstieg dargestellt, sondern als fragile Gratwanderung: Wilfried ist zugleich gerettet und entfremdet, zugleich angenommen und markiert. Das Versprechen der Adoption bleibt gebrochen; der Name, den er trägt, erinnert ihn unausweichlich an seine ursprüngliche Ausgrenzung.
— T’appelles comment ? lança-t-elle.
— Wilfried.
— Et t’es là pourquoi ?
— Pas de parents.
Elle hocha la tête en silence.
— Et toi ?
Viviane planta ses yeux marron dans les siens. Elle sourit :
— Pas de parents.
— T’étais en famille d’accueil ?
— Ouais, j’ai eu ça un moment, dit-elle d’un air détaché, comme si elle venait de s’en souvenir. Ça a pas duré.
— Avant d’arriver ici, t’étais où ?
— T’aimes ça, les questions, hein ? T’es keuf ?
Il se sentit d’un coup vulnérable, et l’imita en fixant les brebis.
— En vrai, pourquoi t’es là ? répéta Viviane.
Wilfried essaya d’avoir l’air serein. Il lui semblait impossible de dominer la conversation avec une fille pareille.
— J’étais en famille d’accueil, je commençais à péter les plombs quand un fils de pute de juge a décidé de m’interdire de les voir en décrétant que je devais vivre avec ma mère biologique, celle qui m’avait abandonné. J’ai fugué, on m’a retrouvé, et comme ils savaient pas quoi faire, ils m’ont mis en foyer.
— Tu l’aimes pas, ta mère ?
— Nan. Enfin, je sais pas qui c’est. On m’a montré une femme de trente-six ans qui en faisait cinquante, on m’a dit « C’est ta mère, maintenant faut l’aimer fort », je leur ai dit d’aller se faire enculer et je l’ai plus revue.
— Elle vient jamais te voir ?
— Si, mais on se parle pas. Enfin, je lui parle pas. Elle reste une heure sur sa chaise, à me demander si ça va. Y’a mon éducatrice qui est là, heureusement, alors elles discutent toutes les deux. À la fin elle se lève, elle se casse, et deux semaines plus tard ça recommence.
— Me dis pas que ta famille d’accueil te manque.
— Pourquoi ?
Viviane se ralluma une clope – signe qu’elle acceptait de vivre cinq minutes de plus en sa compagnie.
— Que des chiens, dans les familles d’accueil. T’es une marchandise pour eux. Y’a que le fric qui les intéresse.
Wilfried avait eu cette discussion avec Anna. Il s’était senti trahi en apprenant qu’elle recevait un chèque pour s’occuper de lui.
— Pas les miens, il dit. T’as peut-être pas eu de chance, mais j’avais que huit mois quand ils m’ont eu et pendant quinze ans ils ont tout fait pour moi. Je pense que même pour rien, ils l’auraient fait.
Viviane éclata de rire.
— Pourquoi ils ont pas demandé à le faire gratuitement, alors ?
— Peut-être qu’ils l’ont fait. J’en sais rien. Peut-être qu’ils touchaient plus d’argent sur la fin.
— Comment tu t’appelles déjà ? Wilfried ?
Il ne broncha pas.
— Eh bien, Wilfried, je peux t’assurer une chose : tes parents d’accueil étaient comme tous les autres, payés pour que ton petit cul dorme au chaud toute l’année. Y’a pas d’amour là-dedans. C’est du business.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
– Wie heißt du?, warf sie ein.
– Wilfried.
– Und warum bist du hier?
– Keine Eltern.
Sie nickte stumm.
– Was ist mit dir?
Viviane blickte mit ihren braunen Augen in seine. Sie lächelte:
– Keine Eltern.
– Warst du in einer Pflegefamilie?
– Ja, das hatte ich eine Weile, sagte sie so distanziert, als wäre ihr das gerade eingefallen. Es hat nicht lange gedauert.
– Bevor du hier angekommen bist, wo warst du?
– Du magst es, wenn man dir Fragen stellt, oder? Bist du ein Bulle?
Er fühlte sich plötzlich verletzlich und machte es ihr nach, indem er die Schafe anstarrte.
– Warum bist du wirklich hier?, wiederholte Viviane.
Wilfried versuchte, gelassen zu wirken. Es schien ihm unmöglich, das Gespräch mit einem solchen Mädchen zu dominieren.
– Ich war in einer Pflegefamilie und drehte gerade durch, als ein Hurensohn von einem Richter beschloss, mir den Umgang mit ihnen zu verbieten, indem er verfügte, dass ich bei meiner leiblichen Mutter leben sollte, die mich verlassen hatte. Ich bin weggelaufen, wurde gefunden und da sie nicht wussten, was sie tun sollten, haben sie mich in ein Heim gesteckt.
– Liebst du sie nicht, deine Mutter?
– Nö. Ich meine, ich weiß nicht, wer sie ist. Sie haben mir eine Frau gezeigt, die sechsunddreißig Jahre alt war und fünfzig aussah. Sie haben gesagt: „Das ist deine Mutter, jetzt musst du sie sehr lieben“, ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich in den Arsch ficken und ich habe sie nicht mehr gesehen.
– Kommt sie dich nie besuchen?
– Doch, aber wir reden nicht miteinander. Ich meine, ich rede nicht mit ihr. Sie sitzt eine Stunde lang auf ihrem Stuhl und fragt mich, ob es ihr gut geht. Zum Glück ist meine Erzieherin da, also unterhalten sich die beiden. Am Ende steht sie auf, geht weg und zwei Wochen später geht es wieder los.
– Sag mir nicht, dass du deine Pflegefamilie vermisst.
– Warum ist das so?
Viviane zündete sich erneut eine Zigarette an – ein Zeichen, dass sie damit einverstanden war, fünf Minuten länger in ihrer Gesellschaft zu leben.
– In den Pflegefamilien gibt es nur Hunde. Du bist eine Ware für sie. Sie sind nur am Geld interessiert.
Wilfried hatte diese Diskussion mit Anna geführt. Er hatte sich betrogen gefühlt, als er erfuhr, dass sie einen Scheck bekam, um sich um ihn zu kümmern.
– Nicht meine, sagte er. Du hast vielleicht Pech gehabt, aber ich war erst acht Monate alt, als sie mich bekamen, und fünfzehn Jahre lang haben sie alles für mich getan. Ich glaube, sie hätten es auch für nichts getan.
Viviane brach in Gelächter aus.
– Warum haben sie dann nicht gefragt, ob sie es umsonst machen dürfen?
– Vielleicht haben sie es getan. Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie am Ende mehr Geld bekommen.
– Wie heißt du noch mal? Wilfried?
Er verzog keine Miene.
– Nun, Wilfried, eines kann ich dir versichern: Deine Pflegeeltern waren wie alle anderen, sie wurden dafür bezahlt, dass dein kleiner Arsch das ganze Jahr über im Warmen schläft. Da ist keine Liebe dabei. Das ist ein Geschäft.
In David, dem schwer misshandelten Kind, verdichtet Palain die strukturelle Fragilität aller Resozialisierungsversuche. Die Darstellung Davids – reduziert auf seine Existenz als „Masse excrémentielle“ – entwirft eine fast allegorische Figur des Schadens, der nicht einfach durch pädagogische Maßnahmen geheilt werden kann. Marcs Bemühungen, David elementare soziale Kompetenzen zu vermitteln, erscheinen als aufopferungsvoll und zugleich vergeblich. Der Text verweigert die Erzählung eines heilenden Happy Ends: Trotz sichtbarer Fortschritte bleibt Davids Entwicklung prekär, bedroht durch die Tiefe der erlittenen Traumatisierung. Diese Episode verweist auf die zentrale Erkenntnis Palains: Dass Hilfe oft an den fundamentalen gesellschaftlichen Voraussetzungen scheitert, und dass sich soziale Arbeit in einem Spannungsfeld zwischen ethischem Anspruch und struktureller Ohnmacht bewegt.
Une odeur de pain chaud remplissait peu à peu le rez-de-chaussée de la PJJ.
— Teddy, t’as lancé les pizzas ? gueula Marc depuis son bureau.
— Ouais. Encore cinq minutes !
Marc le rejoignit dans la cuisine.
— Teddy, sérieux, des Top Budget ? dit-il en désignant le carton d’emballage. Respecte-toi un peu, on dirait les courses de ma fille.
— Oh papy, c’est un débat Macron-Le Pen. Tu crois quand même pas que je vais ouvrir un bloc de foie gras. D’ailleurs si ça m’énerve trop, je te préviens, je mets le foot.
— Y’a encore des matchs ? Je croyais que le PSG avait tout raflé…
— Tss, tss… Real-Bayern ce soir ! Champion’s League.
Laurence fit irruption dans la pièce.
— Eh oh, Nina n’a pas mis ses gosses chez sa mère pour que vous nous infligiez du foot. Vous aurez qu’à mater le replay.
Teddy préféra ne pas expliquer pourquoi une demi-finale de Ligue des champions ne se regardait pas en replay.
Nina, Romane et Fanny, la petite dernière du service, les rejoignirent. Marc ouvrit une bouteille de blanc, servit les verres et tira une chaise pour se retrouver à une distance respectable de l’écran.
— Vous faites ça à chaque fois ? demanda Fanny.
Elle avait fait du droit à Évry en pensant devenir avocate dans l’humanitaire, et avait tout plaqué après un stage dans une ONG. Les bons samaritains claquaient des sommes folles en alcool, prenaient quelques selfies avec des Noirs au ventre gonflé et rentraient le cœur léger, heureux d’avoir vécu une « aventure ». Ça l’avait vaccinée.
— La présidentielle, oui, ça évite de ruminer chacun chez soi, répondit Laurence.
— Moi, ça m’éclate, dit Teddy. À chaque fois ça dérive sur l’insécurité et y’a un candidat qui lance : « Je créerai une institution spécialisée dans la prise en charge des mineurs délinquants ! » Ah ouais ? Très fort bonhomme.
Laurence posa sa part de pizza sur une feuille de Sopalin. Elle s’essuya les mains et dit :
— C’est depuis Sarkozy tout ça ! Les chiffres prouvent le contraire, mais les gens sont persuadés que les jeunes délinquent plus qu’avant.
Marc termina son verre de blanc. Il hésita, de peur de passer pour le vieux con qui avait tout vécu. Puis dit :
— Faut vous y faire, on est pas du bon côté de la barrière. On sera toujours accusés de protéger des criminels.
Zoulous, voyous, sauvageons, racailles. Un ministre, une loi. Marc se souvenait de sa propre enfance. Lui n’était jamais passé devant un juge parce qu’il s’était battu à la récré.
— Une bagarre, sans déconner… T’as douze ans, t’es en colère, tu te bats. Faites le test : combien de gosses arrivent chez nous pour ces conneries ? Après, c’est fini. Ils ont le label délinquant, ils sont dans la machine.
— J’ai pas ton expérience, Marc, mais pour moi le vrai problème, c’est le temps, dit Romane. J’ai plus le temps de dénouer les relations compliquées.
Elle se tourna vers Nina.
— Notre rôle, c’est de rendre la main aux parents, mais quand ils sont trop destructeurs, on doit pouvoir dire au jeune : « Sauve ta peau. » Nina, moi je l’ai dit à ton Wilfried : « Ta mère te bouffe ! T’es une personne à part entière, tu es jeune, intelligent, tu peux encore t’en sortir. »
Nina croisa et décroisa les jambes sous sa chaise. Elle hésita un instant.
— Écoute, ce gosse, il me touche. Bien sûr qu’il est intelligent, il pourrait faire n’importe quel métier. Sauf que là il est à mille deux cents tours dans le tambour de la machine à laver. Il a dix-sept ans, il va passer devant la juge pour des faits graves, il flippe et je peux pas le rassurer parce que j’ai moi-même super peur qu’il prenne du ferme. Comment tu veux qu’il construise quoi que ce soit, s’il s’attend à être envoyé à Fleury ?
— Nina, ton boulot, c’est pas de lui éviter la taule, dit Teddy. J’ai fait cette connerie, et ceux qui avaient de grosses peines au-dessus de la tête m’ont dit : « J’aurais dû bouffer ma prison avant. Ça m’a servi à quoi, tout ce temps perdu ? »
— Il va faire quoi en cellule ? demanda Nina. Il va pas apprendre un métier, il va pas resserrer les liens avec sa mère, il va faire quoi ? Là au moins, au foyer, il a sa copine, il a Dounia, y’a quand même un cadre, enfin, je sais pas…
— Il a une copine ? s’étonna Romane.
— Oui, la petite Vivi.
— Une brune, toute menue ?
— Oui, voilà.
— Attends, c’est pas celle qui faisait le tapin ? demanda Teddy.
— Si, c’est elle, souffla Laurence.
Elle aurait aimé ne pas le préciser.
— Je sais qu’on n’encourage pas des jeunes fragiles à entretenir des relations, dit Nina, mais ce serait une erreur de leur mettre des bâtons dans les roues. Ils s’équilibrent l’un l’autre.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Der Geruch von warmem Brot erfüllte nach und nach das Erdgeschoss des PJJ.
– Teddy, hast du die Pizzen geworfen?, schrie Marc aus seinem Büro.
– Ja. Noch fünf Minuten!
Marc ging zu ihm in die Küche.
– Teddy, ernsthaft, Top Budget?, sagte er und deutete auf den Verpackungskarton. Hab ein bisschen Respekt, das sieht aus wie die Einkäufe meiner Tochter.
– Oh, Opa, das ist eine Macron-Le Pen-Debatte. Du glaubst doch nicht, dass ich einen Block Gänseleberpastete aufmache. Übrigens, wenn mich das zu sehr aufregt, warne ich dich, dann schalte ich den Fußball ein.
– Gibt es noch Spiele? Ich dachte, PSG hätte alles abgeräumt?
– Tss, tss … Real-Bayern heute Abend! Champions League.
Laurence stürmte in den Raum.
– Nina hat ihre Kinder nicht bei ihrer Mutter untergebracht, damit Sie uns mit Fußball belasten können. Schauen Sie sich doch einfach die Wiederholung an.
Teddy zog es vor, nicht zu erklären, warum man sich ein Champions-League-Halbfinale nicht in der Wiederholung anschauen kann.
Nina, Romane und Fanny, die Jüngste im Team, gesellten sich zu ihnen. Marc öffnete eine Flasche Weißwein, schenkte die Gläser ein und zog sich einen Stuhl heran, um in respektablem Abstand zum Bildschirm zu sitzen.
– Machen Sie das jedes Mal?, fragte Fanny.
Sie hatte in Evry Jura studiert, weil sie dachte, sie würde Anwältin im humanitären Bereich werden, und hatte nach einem Praktikum bei einer NGO alles hingeworfen. Die guten Samariter gaben Unsummen für Alkohol aus, machten ein paar Selfies mit aufgeblähten Schwarzen und kehrten leichten Herzens zurück, glücklich darüber, ein „Abenteuer“ erlebt zu haben. Das hatte sie geimpft.
– Die Präsidentschaftswahlen, ja, das verhindert, dass jeder zu Hause grübelt, antwortete Laurence.
– Mir macht es Spaß, sagte Teddy. Jedes Mal geht es um die Unsicherheit und ein Kandidat sagt: „Ich werde eine Einrichtung schaffen, die auf die Betreuung minderjähriger Straftäter spezialisiert ist!“ Ach ja? Sehr stark, Mann.
Laurence legte ihr Pizzastück auf ein Blatt Sopalin. Sie wischte sich die Hände ab und sagte:
– Das ist alles seit Sarkozy! Die Zahlen beweisen das Gegenteil, aber die Leute sind überzeugt, dass die Jugendlichen mehr straffällig werden als früher.
Marc trank sein Glas Weißwein aus. Er zögerte, weil er befürchtete, dass er als alter Sack dastehen würde, der schon alles erlebt hat. Dann sagte er:
– Gewöhnen Sie sich daran, dass wir nicht auf der richtigen Seite des Zauns stehen. Wir werden immer beschuldigt werden, Kriminelle zu schützen.
Zulus, Rowdys, Wildlinge, Abschaum. Ein Minister, ein Gesetz. Marc erinnerte sich an seine eigene Kindheit. Er selbst war noch nie vor einem Richter gestanden, weil er sich in der Pause geprügelt hatte.
– Eine Schlägerei, ohne Scheiß … Du bist zwölf Jahre alt, du bist wütend, du prügelst dich. Mach den Test: Wie viele Kinder kommen wegen so einer Scheiße zu uns? Danach ist es vorbei. Sie haben das Delinquentenlabel, sie sind in der Maschine.
– Ich habe nicht deine Erfahrung, Marc, aber für mich ist das wahre Problem die Zeit, sagte Romane. Ich habe keine Zeit mehr, komplizierte Beziehungen zu entwirren.
Sie wandte sich an Nina.
– Unsere Aufgabe ist es, den Eltern die Hand zurückzugeben, aber wenn sie zu destruktiv sind, müssen wir dem Jugendlichen sagen können: „Rette dich selbst.“ Nina, ich habe es deinem Wilfried gesagt: „Deine Mutter frisst dich auf! Du bist ein eigenständiger Mensch, du bist jung, du bist intelligent, du kannst es noch schaffen.“
Nina schlug die Beine unter ihrem Stuhl übereinander und löste sie wieder. Sie zögerte einen Moment.
– Hör zu, dieser Junge, er berührt mich. Natürlich ist er intelligent, er könnte jeden Beruf ergreifen. Nur dass er gerade tausendzweihundert Umdrehungen in der Waschmaschinentrommel macht. Er ist siebzehn Jahre alt, er steht wegen schwerer Straftaten vor dem Richter, er flippt aus und ich kann ihn nicht beruhigen, weil ich selbst super ängstlich bin, dass er sich eine Farm zulegt. Wie soll er etwas aufbauen, wenn er damit rechnet, nach Fleury geschickt zu werden?
– Nina, es ist nicht deine Aufgabe, ihn vor dem Knast zu bewahren, sagte Teddy. Ich habe diesen Mist gemacht, und die Leute, die große Strafen über ihren Köpfen hatten, haben gesagt: „Ich hätte meinen Knast vorher fressen sollen. Was hat mir die ganze verlorene Zeit gebracht?“
– Was wird er in der Zelle machen?, fragte Nina. Er wird keinen Beruf erlernen, er wird die Beziehung zu seiner Mutter nicht vertiefen, was wird er tun? Im Heim hat er wenigstens seine Freundin, er hat Dunja, da gibt es doch einen Rahmen, na ja, ich weiß nicht …
– Er hat eine Freundin?, wunderte sich Romane.
– Ja, die kleine Vivi.
– Eine Brünette, ganz zierlich?
– Ja, das ist sie.
– Warte, ist das nicht die, die anschaffen war?, fragte Teddy.
– Doch, das ist sie, flüsterte Laurence.
Sie wünschte, sie hätte es nicht gesagt.
– Ich weiß, dass man labile Jugendliche nicht dazu ermutigt, Beziehungen zu pflegen, sagte Nina, aber es wäre ein Fehler, ihnen Steine in den Weg zu legen. Sie balancieren sich gegenseitig aus.
Die Sprache bleibt schnörkellos, oft lakonisch, durchsetzt von Dialogen, die die soziale Realität ungeschönt abbilden. Gerade in dieser scheinbaren Nüchternheit entfaltet sich die poetische Kraft des Romans: in der Kargheit, im Andeuten, im Auslassen. Die Kindheit wird nicht sentimentalisiert, sondern ernst genommen – in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrem Trotz und ihrer stillen Verzweiflung.
Il avait quarante-trois ans. Si vous le croisiez en soirée et lui posiez la question « Sinon, dans la vie, vous faites quoi ? », il hésitait à mentir, inventer un métier qui n’appelle pas d’avis, informaticien ou contrôleur de gestion. Puis il avouait du bout des lèvres qu’il était dans le social. Si vous insistiez – « Et dans quel secteur, le social ? » –, Marc répondait qu’il était éducateur à la Protection judiciaire de la jeunesse. Vous le preniez alors pour un flic, il vous rétorquait : « Nan, j’aide des gosses en danger. » Il n’entrait pas dans les détails. Quand les dossiers étaient trop durs, trop crus, presque toujours des histoires de viol, il soufflait seulement : « C’est flippant la quantité de merdes que je dois brasser. »
Il avait eu l’impression d’entrer à la PJJ parce qu’il était au chômage et qu’il fallait payer le loyer, mais il était prédestiné. Sa mère avait dix-sept ans quand elle tomba enceinte. Ses parents à elle avaient disparu dans un accident de voiture, la laissant seule et sans soutien, à se faire traiter de pute parce que son ventre enflait et qu’il n’y avait pas de père. Le père, lui, avait des parents, mais trop nobles pour entacher leur nom de famille, alors la petite s’était débrouillée.
Marc avait passé les trois premières années de sa vie dans un dortoir, au milieu d’autres gosses laissés là le temps que leur mère s’en sorte. Quand la sienne était venue le chercher, Marc ne l’avait pas reconnue. Elle était accompagnée d’un grand homme au visage fin, les cheveux élégamment peignés sur le côté. Ensemble, ils avaient fait comme si cet homme était le père de Marc. Et en un sens, c’était vrai. Il était là pour lui apprendre à nager dans la Loire, tirer à la carabine sur des pains de savon et monter une canadienne sous l’orage. Les week-ends à l’aventure, ils partaient à vélo avec la tente, du pâté dans les sacoches, direction l’est de Montreuil et les bords de Marne. Soixante bornes aller-retour par les sentiers forestiers et le chemin de halage. On aurait pu dire à Marc qu’ils avaient changé de pays, il n’aurait pas été surpris.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Er war dreiundvierzig Jahre alt. Wenn Sie ihn auf einer Party trafen und ihm die Frage stellten „Was machen Sie denn sonst so?“, zögerte er, zu lügen, einen Beruf zu erfinden, zu dem es keine Meinung gab, Informatiker oder Betriebsprüfer. Dann gab er mit den Lippen zu, dass er im sozialen Bereich tätig sei. Wenn Sie darauf bestanden – „Und in welchem Bereich, im sozialen Bereich?“ -antwortete Marc, dass er Erzieher bei der Jugendgerichtshilfe sei. Wenn Sie ihn dann für einen Polizisten hielten, antwortete er: „Nee, ich helfe Kindern in Gefahr“. Er ging nicht ins Detail. Wenn die Fälle zu hart, zu roh waren – fast immer ging es um Vergewaltigungen -, hauchte er nur: „Es ist gruselig, wie viel Scheiße ich da zusammenschaufeln muss.“
Er hatte den Eindruck, dass er zur PJJ ging, weil er arbeitslos war und die Miete bezahlen musste, aber er war prädestiniert. Seine Mutter war siebzehn Jahre alt, als sie schwanger wurde. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatten sie allein und ohne Unterstützung zurückgelassen, sodass sie sich als Hure beschimpfen lassen musste, weil ihr Bauch anschwoll und es keinen Vater gab. Der Vater hingegen hatte Verwandte, die aber zu edel waren, um ihren Familiennamen zu beflecken, also hatte sich die Kleine durchgeschlagen.
Marc hatte die ersten drei Jahre seines Lebens in einem Schlafsaal verbracht, inmitten von anderen Kindern, die dort zurückgelassen worden waren, bis ihre Mütter wieder gesund waren. Als seine Mutter ihn abholte, hatte Marc sie nicht erkannt. Sie wurde von einem großen Mann mit einem schmalen Gesicht und elegant zur Seite gekämmten Haaren begleitet. Gemeinsam hatten sie so getan, als wäre dieser Mann Marcs Vater. Und in gewisser Weise stimmte das auch. Er war da, um ihm beizubringen, wie man in der Loire schwimmt, mit dem Gewehr auf Seifenstücke schießt und bei einem Gewitter eine Kanadierin aufbaut. An abenteuerlichen Wochenenden fuhren sie mit dem Fahrrad, dem Zelt und Pastete in den Satteltaschen in den Osten von Montreuil und an die Ufer der Marne. Sechzig Kilometer hin und zurück über Waldwege und den Treidelpfad. Man hätte Marc sagen können, dass sie das Land gewechselt hatten, er wäre nicht überrascht gewesen.
Die Figuren in Sale gosse bewegen sich in einem sozialen Netzwerk, das eher durch Abwesenheiten als durch Anwesenheiten strukturiert ist. Marc bewältigt im Versuch, andere Kinder zu retten, zugleich seine eigene Geschichte. Seine Biografie spiegelt die der Jugendlichen wider, um die er sich kümmert – eine Wiederholung in abgeschwächter Form. In seiner Erschöpfung, seiner Wut und seiner gelegentlichen Hoffnungslosigkeit wird er zur emblematischen Figur für das prekäre Helfen im neoliberalen Sozialstaat. Wilfried ist zugleich Täter und Opfer: ein Junge, der um Aufmerksamkeit kämpft und sich gleichzeitig immer wieder ins soziale Abseits manövriert. Seine Aggressivität, seine Wut auf die Welt und sein verzweifelter Stolz sind Schutzmechanismen gegen eine Umwelt, die ihn früh verraten hat.
Die Elternfiguren – die biologische Mutter Louise, die Ersatzeltern Thierry und Anna – sind von Ambivalenz geprägt. Louise erscheint als tragische Figur: süchtig, traumatisiert, unfähig zur Kontinuität mütterlicher Fürsorge, aber dennoch in unerschütterlicher Liebe an ihr Kind gebunden. Thierry und Anna verkörpern die gutwillige, aber ebenfalls überforderte Fürsorge des Staates: Ersatzeltern auf Zeit, die mehr Verantwortung tragen, als sie je wollten. Rund um diese Hauptfiguren entfaltet Palain ein Mosaik sozialer Positionen: Erzieher, Sozialarbeiter, Jugendrichter, Nachbarn – ein Ensemble, das eher durch Fliehkräfte als durch Solidarität zusammengehalten wird.
Zentral für die poetische Struktur von Sale gosse ist die Darstellung von gestörter Kommunikation. In Wilfrieds Welt ist Sprache nicht primär ein Mittel der Verständigung, sondern ein Feld der Macht. Beleidigungen, Provokationen, Schweigen und aggressive Sprüche („wesh“, „sale pute“) ersetzen echte Gespräche. Worte trennen mehr, als Brücken zu bauen. Marc dagegen kämpft darum, eine Sprache der Verbindung zu finden – und scheitert immer wieder an den Grenzen institutioneller Sprachspiele: Aktennotizen, psychologische Gutachten, Gerichtsprotokolle, Beratungsberichte. Die offizielle Sprache des Hilfesystems erscheint ebenso hilflos wie die rohe Sprache der Straße. Doch gerade in diesen Brüchen entfaltet Palain eine Poetik der beschädigten Rede: Die kurzen, oft abgebrochenen Dialoge, die inneren Monologe voller Selbstzweifel, die nonverbalen Gesten der Nähe – all das erzählt von einer tieferen, brüchigen, aber unzerstörbaren Suche nach Sinn.
Sale gosse ist nicht nur eine Geschichte über Kindheit; es ist auch eine Reflexion über das Erzählen selbst. Die wiederkehrende Struktur – Berichte, Erinnerungen, Beobachtungen – erinnert daran, dass jede Erzählung über Kindheit eine Konstruktion ist, eine Rettung im Nachhinein. Palain zeigt, wie Erinnerungen bruchstückhaft bleiben, wie Narrative scheitern und doch notwendig sind. Besonders eindrucksvoll ist die Rolle der Körper: Wilfrieds physische Präsenz – seine Muskeln, seine Narben, seine Müdigkeit – wird zur letzten, untrüglichen Spur einer Lebensgeschichte, die sprachlich kaum zu fassen ist. In dieser Hinsicht ist Sale gosse auch ein Gegenentwurf zu klassischen Entwicklungsromanen: kein linearer Aufstieg, kein „Bildungsweg“, sondern ein Kreislauf von Verletzung und Überleben, ein Schreiben, das sich seiner eigenen Vorläufigkeit bewusst bleibt.
Mathieu Palains Sale gosse ist ein Roman der leisen Katastrophen. Ohne große dramatische Gesten, ohne moralischen Zeigefinger erzählt er von Kindern, die von Anfang an auf verlorenem Posten stehen – und von Erwachsenen, die daran zerbrechen, sie retten zu wollen. Die Poetik der Kindheit, die hier entsteht, ist eine Poetik der Fragilität: keine romantische Verklärung, sondern eine radikale Anerkennung des Ungesicherten, Unfertigen, Verletzlichen. In der kargen Sprache, den ausgedünnten Dialogen und der präzisen Milieuschilderung entfaltet sich eine literarische Ethik: die Weigerung, einfache Antworten zu geben, und die Verpflichtung, auch das Scheitern zu erzählen.
Sale gosse steht damit nicht nur in der Tradition sozialkritischer Literatur, sondern begründet eine eigene, melancholische Moderne der Kindheit – eine Literatur, die weniger vom Glück der Kindheit spricht als von ihrer Unmöglichkeit. Und gerade dadurch ihre Würde bewahrt.
Der Wendepunkt – Wilfrieds Ausschluss aus dem Jugendzentrum von AJ Auxerre nach einem gewalttätigen Vorfall – wird nicht als singuläres Versagen inszeniert, sondern als symptomatische Wiederholung von erfahrenem und internalisiertem Gewaltverhalten. Die Eskalation während eines Fußballspiels, ausgelöst durch eine verbale Provokation, verweist auf eine Unfähigkeit, Konflikte anders als durch körperliche Gewalt zu lösen. Palain zeigt damit die Tragik der sozialen Prägung: Wilfrieds Reaktion ist Ausdruck einer tiefen Verwundung, die institutionelle Förderprogramme nicht zu heilen vermögen.
Die Rückkehr Wilfrieds ins Elternhaus führt die Leserinnen in die soziale Realität zurück, aus der er aufzusteigen versucht hatte. Die Banlieue erscheint hier nicht als romantisierter Ort der Solidarität, sondern als Raum prekärer Existenzen, gescheiterter Träume und ständiger Konfrontation mit der gesellschaftlichen Marginalisierung. Palain schildert diese Welt mit präzisem Realismus: die gesprungenen Sportplätze, die verfallenen Hochhaussiedlungen, die latente Gewalt der Straße. Wilfried findet sich in einer Umgebung wieder, die seine Misserfolge nicht als individuelle Niederlage, sondern als Bestätigung der Vorherbestimmung interpretiert.
In einer der starken Passagen des Romans wird Wilfrieds exzessives Lauftraining beschrieben: eine Flucht in die körperliche Erschöpfung, die ihn zumindest temporär von seiner sozialen Situation befreit. Die Darstellung dieser Läufe entlang der Seine, über die sozialen Grenzen hinweg, verweist auf ein zentrales Motiv des Romans: die Hoffnung auf Transformation durch Körperbeherrschung. Doch diese Hoffnung bleibt brüchig. Die körperliche Verausgabung ersetzt nicht die gesellschaftlichen Bedingungen, die Wilfried gefangen halten.
Wilfried laissa son sac dans l’entrée avec les questions de sa mère. Sa chambre sentait le frais, comme quand on vient d’aérer. Il avait oublié le poster de Xavi au-dessus de son lit, mais sinon, rien n’avait changé. Sous ses fenêtres, la Nationale 7 était là, près du terrain d’honneur cerclé de tartan. À côté, le dojo, et plus loin, le tennis. Quatre enfants se faisaient des passes avec une balle en mousse sur les vieux terrains envahis par la mauvaise herbe. Des racines gondolaient la surface, le club avait cessé de les louer après qu’un joueur s’était brisé une cheville en montant à la volée. Depuis, les petits de la cité les squattaient pour des dérapages à vélo et des soirées de galère passées à fumer de l’herbe en attendant que la nuit vienne. Ils n’avaient nulle part où aller, à part le parc, mais c’était toujours plein de poussettes et de mômes auxquels il fallait faire gaffe. Au loin, un RER se faisait avaler par la gare de Grigny-Centre. Wilfried enfila un short et partit courir. De sa tour jusqu’à Soisy, en passant par les bords de Seine, il y avait dix kilomètres. Il les avala à pleine vitesse en relançant dans les côtes pour maintenir son cœur en stress. Il traversa à l’écluse et repartit sur l’autre rive, longeant les baraques hors de prix qui s’alignaient du bon côté du fleuve. Dans ce coin de banlieue, la Seine traçait une frontière sociale. D’un côté, les villes bourgeoises, avec leurs maires de droite, leurs maisons de retraite et leurs golfs résidentiels : Draveil, Soisy, Etiolles, Saint-Germain-lès-Corbeil, Saint-Pierre-du-Perray… De l’autre, les villes métissées, avec leurs cités rivales, leurs centres commerciaux et leurs collèges en zone violence : Viry, Grigny, Évry, Corbeil-Essonnes, Ris-Orangis. Au bout de la ligne droite, Wilfried traversa le pont et rentra en sprint. Ça lui prenait souvent, ce besoin de pousser son corps pour le sentir vivre. Le souffle qui accélère en fréquence, le cœur qui tape en rythme, Wilfried pensait à ce dessin animé qui passait il y a longtemps à la télé, Il était une fois… la Vie. Plongé à l’intérieur d’un corps humain en plein effort, on voyait les globules rouges passer la vitesse supérieure pour alimenter les muscles en oxygène. Sur chaque accélération, Wilfried imaginait des millions de petits bonshommes rouges, tirés d’un coup de leur sommeil pour irriguer ses cuisses en carburant.
Il grimpa au douzième par les escaliers et fonça à la salle de bains. L’eau chaude le rassura. Il pensa aux vestiaires, à Auxerre, quand il restait la main collée au bouton de la douche pour que l’eau ne s’arrête plus de frapper ses épaules. L’hiver, quand il faisait vraiment froid, il lui fallait dix minutes pour retrouver des sensations dans les doigts et les avant-bras. Il restait là, assis sur le banc, dans le brouhaha de l’après-match, à attendre de pouvoir délacer ses crampons. Le lendemain, il en gardait des douleurs, comme des bleus dans les poignets.
Mathieu Palain, Sale gosse, Iconoclaste, 2019.
Wilfried ließ seine Tasche mit den Fragen seiner Mutter im Flur stehen. Sein Zimmer roch frisch, wie wenn man gerade gelüftet hat. Er hatte das Xavi-Poster über seinem Bett vergessen, aber ansonsten hatte sich nichts verändert. Unter seinen Fenstern war die Nationale 7, neben dem mit Tartan eingefassten Ehrenplatz. Daneben das Dojo und weiter hinten die Tennisanlage. Vier Kinder spielten sich mit einem Schaumstoffball den Ball auf den alten, von Unkraut überwucherten Plätzen zu. Wurzeln kräuselten die Oberfläche, und der Club hatte die Vermietung eingestellt, nachdem sich ein Spieler beim Volleyball einen Knöchel gebrochen hatte. Seitdem wurden sie von den Kindern aus der Siedlung besetzt, die mit ihren Fahrrädern ausrutschten und die Abende damit verbrachten, Gras zu rauchen und auf die Nacht zu warten. Sie konnten nirgendwo anders hin als in den Park, aber der war immer voll mit Kinderwagen und Kindern, auf die man aufpassen musste. In der Ferne wurde eine RER vom Bahnhof Grigny-Centre verschluckt. Wilfried zog sich eine kurze Hose an und lief los. Von seinem Hochhaus bis nach Soisy und am Ufer der Seine entlang waren es zehn Kilometer. Er lief sie in vollem Tempo und versuchte, sein Herz unter Stress zu halten. Er überquerte die Schleuse und fuhr am anderen Ufer weiter, vorbei an den teuren Baracken, die sich auf der richtigen Seite des Flusses aneinanderreihten. In dieser Ecke der Vorstadt zog die Seine eine soziale Grenze. Auf der einen Seite die bürgerlichen Städte mit ihren rechten Bürgermeistern, Altersheimen und Golfplätzen: Draveil, Soisy, Etiolles, Saint-Germain-lès-Corbeil, Saint-Pierre-du-Perray… Auf der anderen Seite die gemischten Städte mit ihren rivalisierenden Siedlungen, Einkaufszentren und Collèges in Gewaltgebieten: Viry, Grigny, Évry, Corbeil-Essonnes, Ris-Orangis. Am Ende der Geraden überquerte Wilfried die Brücke und sprintete nach Hause. Es überkam ihn oft, dieses Bedürfnis, seinen Körper zu pushen, um zu spüren, dass er lebt. Der Atem beschleunigte sich in der Frequenz, das Herz klopfte im Rhythmus, Wilfried dachte an den Zeichentrickfilm, der vor langer Zeit im Fernsehen lief, Es war einmal … das Leben. Im Inneren eines menschlichen Körpers, der sich anstrengt, sah man, wie die roten Blutkörperchen einen Gang höher schalteten, um die Muskeln mit Sauerstoff zu versorgen. Bei jeder Beschleunigung stellte sich Wilfried Millionen kleiner roter Männchen vor, die aus dem Schlaf gerissen wurden, um seine Oberschenkel mit Treibstoff zu versorgen.
Er stieg die Treppe in den zwölften Stock hinauf und ging ins Badezimmer. Das warme Wasser beruhigte ihn. Er dachte an die Umkleidekabinen in Auxerre, als seine Hand am Duschknopf klebte, damit das Wasser nicht aufhörte, auf seine Schultern zu schlagen. Im Winter, wenn es richtig kalt war, dauerte es zehn Minuten, bis er wieder ein Gefühl in den Fingern und Unterarmen hatte. Er saß auf der Bank, inmitten des Trubels nach dem Spiel, und wartete darauf, dass er seine Stollenschuhe ausziehen konnte. Am nächsten Tag hatte er noch Schmerzen, wie blaue Flecken in den Handgelenken.
Die Begegnung mit Tomo, dem ehemaligen Jugendtrainer, eröffnet eine letzte, fragile Möglichkeit des Neubeginns. Tomo verkörpert eine alternative Männlichkeit: statt Gewalt propagiert er Disziplin, statt Machtdemonstration Vertrauen. Doch auch Tomos Einfluss ist begrenzt: Die institutionellen Türen bleiben für Wilfried weitgehend verschlossen.
Palain zeigt hier die Diskrepanz zwischen individueller Unterstützung und struktureller Determination: Mentoren können begleiten, aber nicht ersetzen, was gesellschaftlich an Förderung und Anerkennung fehlt. Wilfried bleibt in einer Schwebe zwischen möglichen Wegen: Resignation, erneutes Scheitern oder ein mühsamer Neuanfang. Diese Offenheit verweist nicht nur auf die Unabgeschlossenheit seiner individuellen Entwicklung, sondern auch auf die prinzipielle Undurchschaubarkeit sozialer Schicksale. Der Roman endet nicht mit einer Lösung, sondern mit einer offenen Perspektive. Wilfrieds Zukunft bleibt ungewiss, seine Möglichkeiten begrenzt. Palain verzichtet auf eine kathartische Erzählstruktur. Stattdessen bleibt das Bild eines jungen Mannes, der zwischen den Trümmern gesellschaftlicher Versprechen einen eigenen Weg suchen muss. Sale Gosse endet, wie es begonnen hat: im Spannungsfeld zwischen individueller Verletzlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung, ohne Erlösung, aber auch ohne endgültigen Untergang. Die narrativen Verfahren, Wilfrieds Geschichte nicht zu einem geschlossenen Bogen zu runden, sondern im Modus der Möglichkeit zu belassen, sind Ausdruck einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber jeder Form von literarischer oder sozialer Teleologie. Insgesamt zeichnet Palain in Sale Gosse mit der Figur Wilfrieds ein literarisch reflektiertes Bild sozialer Verletzlichkeit.