Poetiken der Kindheit: Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme (2021)

Initiation

Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist in Le Fils de l’homme von Beginn an ambivalent. Der Vater, gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, sucht seine Familie auf, aber er will nicht einen Neuanfang im klassischen Sinne wagen, er will Besitz ergreifen: Besitz über den Körper, über die Erinnerung und die Zukunft seiner Frau und seines Sohnes. Seine erste Geste ist die Umarmung des Kindes, mit fast übergriffiger Gewalt. Das Kind wird buchstäblich „vereinnahmt“. Der Sohn hingegen reagiert verunsichert. Er erkennt den Vater wieder, aber als Fremdkörper. Seine Zurückhaltung, das Schweigen und der beobachtende Blick sind Zeichen eines Schutzmechanismus. Zwischen beiden gibt es keine gemeinsame Geschichte, nur eine genealogische Verbindung, die der Vater mit Bedeutung auflädt – der Sohn als „Wiedergutmachung“, als Spiegel und als zweites Ich. Im Verlauf der Reise – einer räumlichen wie existenziellen Wanderung in die Einsamkeit der Berge – wird diese Beziehung immer physischer: Der Vater instruiert, befiehlt und fordert; der Sohn leidet und folgt. Es ist ein Verhältnis ohne gegenseitige Anerkennung. Der Vater sieht im Sohn eine Verlängerung seiner selbst, während der Sohn versucht zu bestehen, ohne zu zerbrechen.

Jean-Baptiste Del Amos Roman Le Fils de l’homme (Gallimard, 2021, deutsch von Karin Uttendörfer: Der Menschensohn, Matthes und Seitz, 2025) entwirft eine Kindheitserfahrung im Grenzbereich zwischen Trauma, Naturgewalt und archaischer Initiation. In einer Sprache von minimalistischer poetischer Verdichtung und biblischer Wucht wird geformt, deformiert und gebrochen: Die Kindheit erscheint hier nicht als Ort der Unschuld, sondern als Durchgangsstadium des Werdens, geprägt von Schweigen, Körperlichkeit und einer unauflöslichen Ambivalenz von Nähe und Entfremdung. Im Zentrum des Romans steht das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem Sohn – ein Verhältnis, das nicht von Dialog oder gegenseitigem Verständnis geprägt ist, aber von körperlicher Präsenz, Sprachlosigkeit und archaischen Ritualen. In einer Prosa von dichter Schönheit und unerbittlicher Genauigkeit erforscht Del Amo die Dynamik zwischen einem Mann, der aus der Geschichte gefallen zu sein scheint, und einem Kind, das in dieser Geschichte aufwächst, ohne sie verstehen oder benennen zu können.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

La promiscuité offerte par les peaux qui les couvrent les presse de s’accoupler. Ignorant parfois l’enfant qu’elle chauffe encore contre son ventre, le mâle saisit la croupe que la femelle lui tend ou indifféremment lui refuse, fouaille le sexe qu’il a au préalable enduit d’un épais crachat, et convulse jusqu’à décharger en elle. Avant de s’écouler sur sa cuisse tandis qu’elle se rendort, la semence fécondera éventuellement la femelle qui, les dents plantées dans un morceau de bois, enfantera trois saisons plus tard à l’ombre d’un arbuste, à quelques pas du camp établi par le groupe le temps de la mise bas.

Accroupie, saisie aux bras par d’autres femmes qui épongent tour à tour son front, ses mollets, son sexe, elle expulsera le fruit de sa saillie à même le sol ou entre les mains d’une accoucheuse. Le cordon ombilical sera tranché par la lame d’un silex. La chose tirée dans la lumière et déposée sur l’outre vide du ventre rampera pour boire le colostrum à la mamelle, engageant ainsi le cycle nécessaire à sa survie qui la verra incessamment engloutir le monde et l’excréter.

Si l’enfant survit aux premiers étés et aux premiers hivers, si sa dépouille ne rejoint pas celles déjà abandonnées derrière eux – de l’une, transportée par une martre près d’un petit étang, ne subsiste un temps qu’une cage thoracique à demi enfoncée dans la vase et, sous l’arc des côtes, avant qu’elles ne tombent en poussière, s’élève la tige blanc d’os d’une prêle des champs –, il marchera bientôt près des siens, admis parmi eux, lira la voie des étoiles, percutera les pierres pour en tirer le feu et les lames, apprendra le secret des plantes, pansera les plaies et apprêtera le corps des morts pour leur dernier voyage.

Peut-être l’enfant bénéficiera-t-il d’un sursis et atteindra-t-il cette heure où sa chair déjà lasse lui intimera l’ordre de se reproduire. Il n’aura alors de cesse de chercher à fusionner avec l’un des siens, étreindra au hasard et à tâtons un autre de ces êtres misérables dans la froideur d’une nuit incendiée, la Voie lactée vrillant le ciel au-dessus d’eux. Après avoir foulé de ses pas un morceau de terre, connu une poignée d’aurores blêmes et de crépuscules, la fulgurance de l’enfance et l’inéluctable décrépitude du corps, il crèvera d’une manière ou d’une autre avant d’avoir atteint l’âge de trente ans.

Mais, pour l’heure, l’enfant appartient encore au néant ; il n’est qu’une infime, une insoutenable probabilité tandis que la horde des hommes avance tête baissée dans la bourrasque, troupeau vertical, opiniâtre et loqueteux. Ils portent sur les épaules ou tirent sur des travois des cuirs tannés, des poteries façonnées de leurs mains renfermant des réserves de graisse. Ils y conservent les racines, les noix, les fruits et les baies glanés en chemin dont ils se sustentent, mâchant les pulpes desséchées, les fibres rendues comestibles par le graillon, déglutissant les sucs amers ou doucereux.

Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme, Gallimard, 2021.

Die sie bedeckenden Felle ermöglichen eine Promiskuität, die sie zur Paarung drängt. Manchmal, ohne Rücksicht auf das Kind, das sie noch an ihrem Bauch wärmt, packt das Männchen den Hintern, den das Weibchen ihm kaum unterscheidbar hinhält oder aber verweigert, traktiert das Geschlecht, das er zuvor mit seiner dickflüssigen Spucke benetzt hat, und windet sich zuckend, bis er sich in ihr entlädt. Ehe es ihren Oberschenkel hinunterläuft, während sie wieder einschläft, wird das Sperma vielleicht das Weibchen befruchten, das dann, die Zähne in einem Stück Holz verbissen, drei Jahreszeiten später im Schatten eines Strauches gebären wird, in der Nähe eines von der Gruppe für die Zeit der Niederkunft aufgeschlagenen Lagers.

In der Hocke, gehalten von den Armen anderer Frauen, die abwechselnd ihre Stirn, ihre Waden, ihr Geschlecht abtupfen, wird sie die Frucht ihrer Begattung direkt auf den Boden ausstoßen oder aber in die Hände einer Hebamme. Mit der Klinge eines Feuersteins wird die Nabelschnur durchschnitten werden. Das ins Licht gezogene und auf den leeren Beutel des Bauches gelegte kriechende Ding wird das Kolostrum aus der Zitze trinken und so den für sein Überleben notwendigen Kreislauf einleiten, in dem es unaufhörlich die Welt verschlingen und wieder ausscheiden wird.

Falls das Kind die ersten Sommer und die ersten Winter überlebt, falls sein sterblicher Überrest sich nicht zu den bereits zurückgelassenen gesellt – ein solcher, vom Marder zu einem kleinen Teich getragen, erhält sich eine Zeitlang noch als halb im Schlamm steckender Brustkorb, und aus dem Rippenbogen, ehe dieser zu Staub zerfällt, sprießt der knochenweiße Stängel eines Ackerschachtelhalms hervor –, wird es bald mit den Seinen laufen, in ihre Mitte aufgenommen, wird den Weg der Sterne entziffern, Steine zerschlagen, um Feuer und Klingen aus ihnen zu gewinnen, das Geheimnis der Pflanzen kennenlernen, Wunden verbinden und die Körper der Toten für ihre letzte Reise vorbereiten.

Vielleicht wird dem Kind ein Aufschub gewährt und es erreicht jenes Stadium, in dem sein bereits ermüdetes Fleisch ihm befiehlt, sich fortzupflanzen. Dann wird es ohne Unterlass danach streben, mit einem der Seinen zu verschmelzen, wird wahllos und tastend ein anderes dieser elendigen Wesen umarmen, in der Kälte einer flammenden Nacht, während die Milchstraße über ihnen den Himmel verwirbelt. Nachdem es wandernd ein Stück Erde erkundet, eine Handvoll fahler Morgengrauen und Dämmerungen erlebt, die Leuchtkraft der Kindheit ebenso erfahren hat wie den unaufhaltsamen Verfall des Körpers, verendet es auf die eine oder andere Weise, noch ehe es das Alter von dreißig Jahren erreicht.

Doch zur Stunde gehört das Kind noch dem Nichts; es ist nur eine winzige, eine kaum haltbare Wahrscheinlichkeit, während die Horde der Menschen mit gesenktem Kopf im Sturmwind voranschreitet, eine vertikale, unermüdliche und zerlumpte Herde. Sie tragen auf ihren Schultern oder ziehen auf Stangenschleifen gegerbte Lederhäute und von ihren Händen geformte Tonwaren, die Fettreserven bergen. Sie bewahren darin die unterwegs gesammelten Wurzeln, Nüsse, Früchte und Beeren auf, von denen sie sich ernähren, indem sie auf dem getrockneten Fruchtfleisch herumkauen, den Fasern, die sie durch ihren Speichel genießbar machen, und schlucken den mal bitteren, mal süßlichen Saft.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

Der Roman beginnt mit einem archaischen Prolog: Eine Gruppe von Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Alte, zieht durch eine karge Landschaft, lebt vom Sammeln, Jagen, von Übergangsriten, Feuer und Dunkelheit. Die Anfangsszenen beschreiben mit ethnologischer Detailgenauigkeit und literarischer Überhöhung eine vorzivilisatorische Welt – sie wirken als mythischer Resonanzraum. Parallel dazu beginnt die Handlung in der Gegenwart: Der Vater, eben erst aus dem Gefängnis entlassen, entführt seine Familie – Frau und Sohn – in die Berge. In einem klapprigen Fahrzeug fahren sie durch nächtliche Landschaften, durchqueren Tunnel, überwinden Hindernisse, bis sie das Auto stehen lassen müssen und zu Fuß weitergehen müssen. Die Familie wandert durch ein immer unwirtlicher werdendes Gelände. Der Vater bestimmt Tempo und Richtung, die Mutter folgt erschöpft, der Junge schleppt schwer am Rucksack. Die Landschaft wird zur Metapher für innere Zustände: feucht und neblig, verwachsen, instabil. Immer wieder durchziehen Erinnerungsfragmente den Text – etwa an die erste Rückkehr des Vaters oder an das Leben in der kleinen Mietwohnung.

Le père surgit dans l’espace dégagé de la clairière, rejoint le fils de son pas lourd, le manche de sa sagaie serré dans le poing. Parvenu aux côtés du jeune chasseur, il baisse son regard sur la chevrette, lève sa main en porte-voix, lance un son bref et répété qui s’élève dans l’air vibrant. L’animal expire un souffle rauque lorsque l’homme s’accroupit près de lui. Le soleil vient de surgir par-delà les arbres et les baigne désormais tous trois – l’homme, l’enfant, la chevrette – d’une lumière chaude qui fait fumer leurs peaux détrempées par la rosée. Les deux autres chasseurs émergent du bois et marchent vers eux.

Le père dépose son arme dans les bruyères, porte la main gauche à l’épaule de la chevrette et, de l’autre, saisit la hampe de la sagaie lancée par le jeune chasseur. Sa main glisse le long du manche de bois poli afin d’assurer une prise plus haute. D’un geste puissant qui fait brusquement saillir les tendons de son cou, il l’enfonce dans le poitrail de l’animal. La lame du silex se fraie un chemin dans le maillage complexe de muscles, de nerfs, de vaisseaux, perfore le cœur de la chevrette qu’un unique soubresaut traverse, contenu par l’appui de la main du chasseur sur son épaule. Par un mouvement contraire, l’homme retire la sagaie. Le manche et la pointe jaillissent, un sang écarlate s’écoule sur le flanc et goutte au sol.

Le père plonge ses doigts dans la plaie ouverte au flanc de la chevrette, se relève et barre le front du jeune chasseur d’un trait rouge, vertical. Sa main vient ensuite se poser sur sa joue, le pouce souillé sur l’os de la pommette, l’extrémité des autres doigts sous l’oreille. Il s’attarde en une caresse qui laisse sur la peau du garçon la sensation de sa paume rugueuse et glaciale longtemps après qu’il l’a retirée. Les deux autres chasseurs les rejoignent, contemplent le gibier et la marque qui s’assombrit déjà au front du fils.

Le père saisit la dépouille aux jarrets, la soulève de terre et la hisse sur ses épaules. Le cou de l’animal repose sur son bras ; l’œil éteint, voilé, ne reflète plus rien et la plaie continue de s’épancher mollement. Lorsqu’il se met en marche et regagne le bois en direction du camp, la tête de la chevrette ballant contre son bras, les chasseurs lui emboîtent le pas. L’enfant reste immobile au milieu de la clairière. Il lève les yeux vers le vol suspendu d’un faucon, le visage inondé de lumière. Quand il reporte son attention sur les siens, il voit la chasseuse s’arrêter pour regarder dans sa direction avant de passer l’orée du bois. Il est seul maintenant dans le cœur tranquille de la forêt. Les oiseaux se sont tus. Il paraît hésiter à rester là, dans les bruyères, le murmure des arbres, et renoncer à suivre le groupe. Il s’allongerait dans l’empreinte encore tiède laissée par la dépouille de la chevrette et, les yeux rivés dans le ciel, se laisserait ensevelir par les feuilles brunes, les terreaux fertiles.

Le faucon lance un cri strident, fond en piqué sur une petite proie quelque part sur la plaine. Alors le jeune chasseur se penche et ramasse au sol sa sagaie

Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme, Gallimard, 2021.

Der Vater erscheint auf der Lichtung, kommt mit seinen schweren Schritten auf den Sohn zu, den Schaft seines Speers fest in der Faust umklammert. An der Seite des jungen Jägers angekommen, senkt er den Blick auf die Ricke, hebt seine Hand trichterförmig an die Lippen und erzeugt einen kurzen, repetitiven Pfiff, der in der vibrierenden Luft aufsteigt. Als der Mann neben ihr in die Hocke geht, stößt das Tier einen heiseren Seufzer aus. Die Sonne ist gerade hinter den Bäumen hervorgekommen und taucht sie nun alle drei – den Mann, das Kind, die Ricke – in ein warmes Licht, das ihre vom Tau benetzte Haut dampfen lässt. Die beiden anderen Jäger tauchen aus dem Wald auf und kommen ihnen entgegen.

Der Vater legt seine Waffe im Gebüsch ab, führt die linke Hand an die Schulter der Ricke und greift mit der anderen nach dem Schaft des Speers, den der junge Jäger geworfen hatte. Seine Hand gleitet den polierten Holzgriff entlang, um einen größeren Halt zu gewährleisten. Mit einer kraftvollen Bewegung, die die Sehnen seines Halses plötzlich hervortreten lässt, stößt er ihn hinein in die Brust des Tieres. Die Klinge aus Feuerstein bahnt sich ihren Weg durch das komplexe Geflecht aus Muskeln, Nerven, Gefäßen, durchbohrt das Herz der Ricke, die ein einziger heftiger Ruck durchzuckt, abgemildert durch die stützende Hand des Jägers auf ihrer Schulter. Mit einer gegenläufigen Bewegung zieht der Mann den Speer wieder heraus. Der Schaft und die Klinge schnellen hervor, scharlachrotes Blut ergießt sich über die Flanke und tropft auf den Boden.

Der Vater taucht seine Finger in die tief in der Flanke der Ricke geöffnete Wunde, erhebt sich und versieht die Stirn des jungen Jägers mit einem roten, senkrechten Strich. Dann legt er seine Hand auf dessen Wange, den beschmierten Daumen auf den Wangenknochen, die Kuppen der anderen Finger unters Ohr. Er verweilt in einer kurzen Liebkosung, die noch lange nachdem er sie zurückgezogen hat, auf der Haut des Jungen die Empfindung seiner rauen und eiskalten Handfläche hinterlässt. Die beiden anderen Jäger kommen zu ihnen, betrachten das Wild und das Mal, das auf der Stirn des Jungen bereits nachdunkelt.

Der Vater packt das erlegte Wild an den Sprunggelenken, hebt es vom Boden hoch und hievt es sich auf die Schultern. Der Hals des Tieres liegt auf seinem Arm; im erloschenen, verschleierten Auge spiegelt sich gar nichts mehr, die Wunde fließt weiter träge aus. Als er sich auf den Rückweg in Richtung Lager macht und den Wald erreicht, der Kopf der Ricke baumelt dabei an seinem Arm hin und her, folgen ihm die Jäger. Der Knabe bleibt reglos mitten auf der Lichtung stehen. Er hebt den Blick empor zum Schwebeflug eines Falken, das Gesicht von Licht überflutet. Und als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Seinen richtet, sieht er, dass die Jägerin sich nach ihm umdreht, ehe sie im Gehölz verschwindet. Nun ist er allein im ruhigen Herzen des Waldes. Die Vögel sind verstummt. Er scheint zu zögern, ob er nicht hier bleiben soll, im Heidekraut, im Flüstern und Säuseln der Bäume, und darauf verzichten, der Gruppe zu folgen. Er würde sich in den noch feuchten, von der Ricke hinterlassenen Abdruck legen und sich, die Augen in den Himmel gerichtet, von den braunen Blättern und dem fruchtbaren Nährboden begraben lassen.

Der Falke stößt einen schrillen Schrei aus und fegt im Sturzflug herab auf eine kleine Beute irgendwo auf der weiten Ebene. Da bückt sich der junge Jäger und greift sich seinen Speer vom Boden.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

Die Jagdszene bildet einen dramatischen und symbolischen Kern des Romans. Der Vater führt den Sohn in eine archaische Welt ein – eine Welt des Tötens, der Rituale, des Blutes. Der Junge trifft mit seinem Speer ein Tier, der Vater tötet es. Mit dem Blut des Tieres zeichnet der Vater ihm eine Linie auf die Stirn. In diesem Akt der „Salbung“ überträgt sich mit der Männlichkeit auch Schuld, Geschichte und Gewalt. Die Szene ist ein Initiationsritus. Sie markiert einen Übergang: Das Kind wird in eine Ordnung eingeführt, die älter ist als Moral. Es ist eine Ordnung der Kraft, der Jagd bzw. der Überlebenstechniken. Der Vater wird zum Priester dieser Welt, zum Hüter eines Wissens, das auf Instinkt, Erfahrung und Körperlichkeit beruht. Aber die Szene ist auch ein Bruch: Der Sohn empfindet keine Freude, es ist Erschütterung. Er erkennt, dass mit dem Töten nicht nur ein Tier stirbt, auch ein Teil von ihm. Die Initiation ist keine Befreiung, sondern eine Markierung: Er wird von nun an gezeichnet sein, nicht sichtbar, aber innerlich. Diese Ambivalenz durchzieht den ganzen Roman: Der Vater gibt etwas weiter – aber was? Leere und ein Trauma, sein ererbtes Schweigen. Der Sohn empfängt etwas – aber was? Eine Wunde, eine Verpflichtung und: sein eigenes Schweigen.

Aus dieser Tiefe kehrt der Text in die Gegenwart zurück. Die Familie erreicht schließlich eine verlassene Hütte. Der Vater wird immer unberechenbarer, die Mutter ängstlicher, das Kind schweigsamer. Die Enge, das Schweigen, das Misstrauen nehmen zu. Die Gewalt, die bei der Jagd als Riutal inszeniert wurde, beginnt sich nun gegen die Familie zu richten. Der Roman endet offen und zwingend zugleich: Der Vater bricht psychisch zusammen oder wird gewalttätig – es bleibt vage. Mutter und Sohn fliehen. Der Junge verharrt einen Moment in der Natur, allein, blickt in den Himmel – dann folgt er seiner Mutter.

Jean Baptiste Del Amo, Le fils de l’homme, Gallimard, 2021, librairie Mollat.

Der Vater ist die dominante und zugleich tragische Figur. Geprägt von Gewalterfahrung und Vergangenheit, trägt er ein Kontrollbedürfnis in sich, das sich in Naturbeherrschung, Gewalt und Schweigen ausdrückt. Er verkörpert eine archaische Männlichkeit: Jäger ist er, und Täter. In seiner Beziehung zum Sohn ist er Initiator, aber auch Zerstörer. Seine Sprache ist reduziert, befehlend, seine Emotionen sind unterdrückt oder eruptiv. Er will eine Welt rekonstruieren, die ihm entglitten ist – in Wahrheit zerstört er sie. – Die Mutter ist erschöpft, schweigsam, von einer melancholischen Aura umgeben. Ihre Gesten – der Blick im Rückspiegel, das Streichen durch das Haar des Kindes – sind zärtlich, aber resigniert. Sie schützt das Kind, so gut sie kann, doch ihre Ohnmacht ist offensichtlich. Sie ist Zeugin der Gewalt und zugleich Opfer eines Systems, das sie nicht mehr ändern kann. Ihre zärtliche Präsenz kontrastiert mit der aufgezwungenen Härte des Vaters.

Un faisceau de lumière oblique s’étend sur le faux parquet depuis la chambre de la mère. Le garçon perçoit d’abord le pied du lit par la porte entrebâillée, la couverture froissée tombée au sol et les chaussures abandonnées par le père, deux godillots de cuir élimé, pareils à des chaussures de chantier ou à de rudimentaires chaussures de montagne, couvertes de traces de boue sèche qui se sont effritées sur la moquette beige car le père s’est aidé de la semelle de l’une pour se débarrasser de l’autre.

Il voit aussi les pieds du père dépasser du matelas, revêtus de chaussettes de sport originellement blanches mais désormais noires de crasse et dont le haut disparaît sous la toile du jean maculé de cambouis.

Le reflet du miroir de la penderie entrouverte face à la porte dévoile au regard du garçon le corps du père allongé sur le dessus-de-lit, la chemise à carreaux retirée, jetée en boule sur le matelas, les mains aux doigts entrecroisés sur son ventre, le bas du T-shirt relevé sur un triangle de peau blanche, la saillie perceptible de l’os du bassin et le flanc maigre qui s’abaisse et se soulève au rythme de sa respiration.

Mais le miroir de la penderie limite la vision dérobée du père par une ligne courant de son coude droit à sa clavicule gauche, tranche le matelas et une partie de la table de nuit où repose ce roman de gare sur la couverture duquel un couple s’enlace devant une mer démontée.

L’homme tient la femme aux épaules et la femme déjette la tête en arrière comme si elle se pâmait ou défaillait ou les deux à la fois, lui bien plus grand qu’elle, la peau mate, le visage couronné de cheveux noirs, ondulés, elle blonde aux yeux bleus, la paume de sa main posée sur le haut de sa poitrine et les lèvres entrouvertes sur une rangée de dents très blanches.

Cette image et ce couple sont inlassablement répétés, moyennant quelques infimes variations – tantôt un coucher de soleil ou un hôtel luxueux remplace la mer en arrière-plan, tantôt la femme est brune et l’homme blond –, sur les couvertures des dizaines de livres similaires que la mère conserve dans les cartons de déménagement qu’elle n’a jamais pris la peine de déballer ou qu’elle essaime dans la maison, passant indifféremment de l’un à l’autre selon la pièce dans laquelle elle se trouve.

Elle serait d’ailleurs incapable de dissocier les personnages et les intrigues de ces romans ; tous racontent avec les mêmes infimes variations que celles de leur couverture des histoires de femmes esseulées croisant la route d’un homme d’affaires célibataire et romantique avec lequel elles vivent une sempiternelle passion, si bien qu’elle a sans doute l’impression de lire une seule et même histoire sans cesse renouvelée, une longue et réconfortante lecture dans laquelle il lui suffit de se laisser glisser comme dans ces bains chauds et mousseux qu’elle prend le soir, une fois le fils endormi, pour apaiser les migraines qui la foudroient souvent, et où elle finit par s’assoupir à son tour, une canette de bière et une plaquette d’antalgiques posées sur le rebord de la baignoire, près de l’un de ses romans et du cendrier où achève de se consumer comme un bâton d’encens une dernière cigarette.

Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme, Gallimard, 2021.

Aus dem Schlafzimmer der Mutter fällt ein schräger Lichtstrahl auf den unechten Parkettboden. Durch die angelehnte Tür nimmt der Junge zuerst das Fußende des Bettes wahr, die zerknautschte, auf den Boden gefallene Bettdecke und die vom Vater achtlos hingeworfenen Schuhe, zwei Treter aus abgenutztem Leder, so etwas wie Bauarbeiterschuhe oder grobe Bergschuhe, mit Resten verkrusteten Schlamms überzogen, die nun auf dem beigen Teppichboden zerbröckelten, da der Vater die Sohle des einen Schuhs benutzt hatte, um sich des anderen zu entledigen.

Er sieht auch die Füße des Vaters über die Matratze hinausragen, mit ehemals weißen Sportsocken, die nun schwarz vor Dreck sind und deren oberes Beinstück unter dem Stoff der schmutzbefleckten Jeans verschwindet.

Das Spiegelbild aus dem halb geöffneten Kleiderschrank gegenüber der Tür enthüllt dem Blick des Jungen den Körper des Vaters, der auf dem Bett liegt, das karierte Hemd ausgezogen und zusammengerollt auf die Matratze geworfen, die Hände mit verschränkten Fingern auf dem Bauch, den unteren Teil des T-Shirts hochgezogen, sodass ein Dreieck weißer Haut zu sehen ist, deutlich ragt der Beckenknochen hervor und die magere Flanke senkt und hebt sich im Rhythmus seines Atems.

Aber der Schrankspiegel begrenzt die heimliche Betrachtung des Vaters durch eine Linie, die von seinem rechten Ellbogen bis zu seinem linken Schlüsselbein verläuft, die Matratze und einen Teil des Nachttisches durchschneidet, wo dieser Groschenroman liegt, auf dessen Buchdeckel sich vor der Kulisse einer stürmischen Meeresbrandung ein Paar umarmt.

Der Mann hält die Frau an den Schultern und die Frau wirft den Kopf zurück, als würde sie verschmachten oder zusammenbrechen oder beides, er ist viel größer als sie, dunkelhäutig, das Gesicht von schwarzem, welligem Haar umrahmt, sie blond mit blauen Augen, die Handfläche liegt auf ihrer Brust und ihre halb geöffneten Lippen entblößen eine Reihe sehr weißer Zähne.

Dieses Bild und dieses Paar finden sich mit winzigen Abweichungen – mal ist das Meer im Hintergrund ein Sonnenuntergang oder ein Luxushotel, mal ist die Frau brünett und der Mann blond – auf den Einbänden Dutzender ähnlicher Bücher wieder, die die Mutter in Umzugskartons aufbewahrt, die sie sich nie die Mühe gemacht hat auszupacken und die sie im ganzen Haus verteilt, wobei sie je nach Zimmer, in dem sie sich gerade befindet, von einem zum anderen wechselt.

Sie wäre im Übrigen unfähig, die Figuren und Handlungsstränge dieser Romane auseinanderzuhalten; alle erzählen, mit den gleichen winzigen Variationen wie jenen auf ihrem Cover, Geschichten von einsamen Frauen, die den Weg eines ledigen und romantischen Geschäftsmannes kreuzen, mit dem sie eine unendliche Leidenschaft erleben, sodass sie wahrscheinlich das Gefühl hat, eine einzige, immer wieder erneuerte Geschichte zu lesen, eine lange, tröstliche Lektüre, in die sie sich einfach hineingleiten lassen kann wie in die warmen, schaumigen Bäder, die sie abends, wenn der Sohn eingeschlafen ist, nimmt, um die Migränen zu lindern, die sie oft überfallen, und in denen sie schließlich ihrerseits wegdöst, eine Dose Bier und ein Blister Schmerztabletten liegen auf dem Badewannenrand, neben einem ihrer Romane und dem Aschenbecher, in dem eine letzte Zigarette wie ein Räucherstäbchen abbrennt.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

Das Kind steht im Zentrum der Poetik. Der Text evoziert seine Wahrnehmung: seine Sensibilität und seine körperlichen Reaktionen. Es lernt durch Schweigen und Beobachtung. Es ist Projektionsfläche beider Eltern: als Hoffnung, aber auch als deren Angst, und auch als Besitz. Aber der Roman gibt dem Kind eine eigene Stimme – nicht diskursiv, sondern poetisch. Es ist nicht bloß Objekt der Handlung, es ist Subjekt des Werdens.

Erzählen kindlicher Wahrnehmung

Auffällig ist das extreme Schweigen. Der Vater spricht kaum, und wenn, dann befehlend. Seine Äußerungen sind knapp, funktional, ohne emotionale Öffnung. Diese sprachliche Reduktion verweist auf eine beschädigte Männlichkeit – unfähig zum Dialog, nur fähig, sich durchzusetzen. Die Mutter redet leise, ausweichend. Das Kind sagt wenig, stellt selten Fragen. Sein Schweigen ist Schutz, Reflexion und Verbleiben in der Wahrnehmung. Es „hört“ die Welt intensiver, als dass es in ihr spricht. So entsteht zwischen ihnen eine paradoxe Kommunikation: eine Kommunikation durch Auslassung, durch Gesten, durch Schweigen. Der Dialog ist bruchstückhaft, unterbrochen, indirekt. Die zentrale Kommunikationsform ist die Geste: das Handauflegen, der Blick, das Schweigen. Kommunikation geschieht über Nähe und Distanz, durch Körperlichkeit und Auslassung. Sprache ist nicht Mittel der Verständigung. Die Gewalt ist allgegenwärtig. Sie ist in der Sprache (oder ihrer Abwesenheit), in den Körpern, selbst in den Blicken. Der Vater ist kein sadistischer Tyrann, er ist ein Mann, dessen Vorstellung von Vaterschaft mit Gewalt verbunden ist – als Disziplin, als Prüfung, schließlich als Erbe. Das Kind erlebt diese Gewalt als Zumutung, aber auch als unausweichlichen Teil des Lebens. Zugleich liegt in diesem Schweigen eine Poesie: eine verdichtete Wahrnehmung, in der die Welt gefühlt wird, anstatt sie zu erklären. Del Amo gelingt es, die Sprachlosigkeit in eine literarische Sprache zu verwandeln, die nicht spricht, die in Resonanz geht.

Der Körper ist in Le Fils de l’homme kein abstrakter Träger von Emotionen oder Identität, er ist selbst poetisches Objekt. Vor allem der kindliche Körper wird in all seiner Verletzlichkeit und sinnlichen Offenheit beschrieben: zitternd und schwitzend und fröstelnd, atmend. Der Text verfolgt kein ideologisches Interesse am Körper: Der Körper ist der Ort, an dem die Welt erfahren wird. Del Amos Bildhaftigkeit ist dabei von geradezu obsessiver Genauigkeit: Der Schweiß auf der Stirn, die Rötung der Haut, das Pulsieren einer Ader – alles wird in mikroskopischer Dichte beschrieben. Zugleich wird der Körper auch zur Projektionsfläche für seelische Vorgänge: Die körperlichen Symptome stehen für Angst und Überforderung. Insofern ist die Körperbildlichkeit Ausdruck einer Anthropologie des Leidens, aber auch der Widerständigkeit.

Le père délimite un espace d’une centaine de mètres carrés, orienté au sud, à proximité de la maison, qu’il entend transformer en potager. Accroupi, il étend sur le sol de l’appentis, sous les yeux du fils, des sachets de graines de tomates, courges, concombres, poivrons, mais aussi d’estragon, de livèche, d’origan ; tout ce qui, explique-t-il à l’enfant, est susceptible de pousser à cette altitude dans une terre acide et pauvre, et de leur fournir en abondance, une fois l’été venu, une nourriture fraîche dont ils pourront faire provision.

Au premier coup, le tranchant de sa bêche heurte un bloc de granit solidement enfoui. Il repousse du bout du pied le morceau de terre soulevé, met à nu un pan de pierre grise qu’il regarde durant de longues secondes avant de s’en retourner vers l’appentis.

Lorsqu’il revient, le manche d’une pioche repose sur son épaule. Il se place à l’endroit exact où il se trouvait quelques instants plus tôt, lève l’outil au-dessus de sa tête et l’abat de toutes ses forces, disloquant le bloc de granit. Il se penche, saisit un éclat qu’il soupèse dans la paume d’une main et jette sur le côté.

Dès lors, il pioche sans répit, retourne à grand-peine le sol avare, récalcitrant. À chaque coup ou presque, il lui faut se baisser, arracher un morceau de roche. Il le balance rageusement et un empilement commence de se former, duquel les pierres dégringolent, gluantes de cette glaise qui ne tarde pas à maculer ses mains, ses avant-bras et les jambes de son pantalon.

Il retire son T-shirt détrempé, le noue autour de son crâne, dévoilant au regard du fils son torse pâle. Ses tendons, ses muscles et ses os saillants se meuvent sous sa peau. Le dos et les flancs striés de sueur, il ressemble à une bête de somme accablée de soleil. Une toison sombre jaillit du pantalon ceignant sa taille et remonte en ligne étroite sur son ventre, vers le creux du nombril, le renflement de l’ombilic sous un repli de peau.

Il apparaît à l’enfant que le père a un jour été lié au corps d’une femme dont le garçon ignore tout, qu’il a probablement reposé entre ses bras – alors vulnérable, inoffensif –, qu’il s’est nourri à son sein, et que rien ne laissait présager l’avènement de ce corps laborieux, abattu avec une fureur soudaine sur ce pan caillouteux de montagne.

Le fils remarque aussi sur le flanc gauche du père une cicatrice qui parcourt la peau sur une vingtaine de centimètres, remonte en biais vers l’omoplate, comme si l’homme avait été touché par une lame et que celle-ci, ricochant sur l’os, avait dévié de sa course. L’épiderme à cet endroit est lisse d’aspect, semblable à la peau d’un nouveau-né ou à celle d’un grand brûlé.

Fasciné, le garçon ne peut longtemps s’en détourner, et lorsque le père s’interrompt pour passer le revers d’une main sur son front et allumer une cigarette, il surprend le regard de l’enfant sur la balafre mais ne dit rien.

Il paraît s’être mis en tête d’en découdre avec ce lopin de terre dont la résistance lui serait un affront, d’en extraire coûte que coûte tout ce qui ferait obstacle à son projet, ou de défouler à chaque coup de pioche une colère aveugle, aux raisons mystérieuses à l’enfant.

Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme, Gallimard, 2021.

Der Vater grenzt eine Fläche von etwa hundert Quadratmetern ab, nach Süden ausgerichtet, in der Nähe des Hauses, die er gedenkt, in einen Gemüsegarten zu verwandeln. Kauernd breitet er, vor den Augen des Sohnes, auf dem Boden des Schuppens Tütchen mit Samen von Tomaten, Zucchini, Gurken, Paprika, aber auch von Estragon, Liebstöckel, Oregano aus; alles, so erklärt er dem Kind, was sich eignet, hier in solch einer Höhe und in einer sauren, nährstoffarmen Erde zu wachsen und sie, sobald der Sommer gekommen sei, mit frischen Nahrungsmitteln in Hülle und Fülle zu versorgen, sodass sie Vorräte würden anlegen können.

Beim ersten Stich prallt die Schneide seines Spatens auf einen tief eingebetteten Granitblock. Mit der Fußspitze stößt er den abgelösten Erdklumpen beiseite, legt ein Stück grauen Steins frei, den er für ein paar lange Sekunden anstarrt, ehe er sich wieder abwendet und zum Schuppen läuft.

Als er zurückkommt, liegt der Stiel einer Spitzhacke auf seiner Schulter. Er stellt sich genau an die Stelle, an der er ein paar Augenblicke zuvor gestanden hatte, hebt das Werkzeug über seinen Kopf und schlägt es mit voller Wucht nieder, wodurch der Granitblock auseinanderbricht. Er bückt sich, hebt einen Splitter auf, den er im Handteller wiegt, dann an den Rand wirft.

Seitdem hackt er ohne Pause, pflügt mit großer Mühe den geizigen, widerspenstigen Boden. Bei jedem Schlag, oder fast bei jedem, muss er sich bücken, um einen Gesteinsbrocken auszureißen. Wutbebend schmeißt er ihn zur Seite und es beginnt, sich ein Stapel aufzuhäufen, von dem Steine herunterpurzeln, verschmiert mit klebrigem Lehm, der bald seine Hände, seine Unterarme und seine Hosenbeine verdreckt.

Er zieht sein durchnässtes T-Shirt aus, windet es sich um den Kopf und enthüllt dem Blick des Sohnes seinen bleichen Oberkörper. Seine hervortretenden Sehnen, Muskeln und Knochen bewegen sich unter seiner Haut. Mit schweißtriefendem Rücken, schweißtriefenden Flanken ähnelt er einem von der Sonne gequälten Lasttier. Ein dunkles Vlies blitzt aus der Hose, die seine Taille umgürtet, und zieht sich in einer schmalen Linie über seinen Bauch, hinauf zur Mulde des Bauchnabels, seiner Verdickung unter einer Hautfalte.

Dem Kind wird bewusst, dass der Vater einst mit dem Körper einer Frau verbunden war, von der der Junge gar nichts weiß, dass er wahrscheinlich in ihren Armen lag – damals verletzlich, unfertig –, dass er an ihrer Brust getrunken hat und dass nichts auf das Kommen dieses schwerstarbeitenden Körpers hindeutete, der, von plötzlicher Wut gepackt, auf dieses felsige Stück Berg einschlägt.

Auf der linken Körperseite des Vaters fällt dem Sohn eine Narbe auf, die sich etwa zwanzig Zentimeter über die Haut zieht, in einem schrägen Winkel bis zum Schulterblatt ansteigt, als wäre der Mann von einer Klinge getroffen worden und diese, auf dem Knochen abprallend, von ihrem Kurs abgekommen. Die Oberhaut an dieser Stelle wirkt ganz glatt, wie die eines Neugeborenen oder eines Brandopfers.

Fasziniert kann der Junge sich lange nicht abwenden, und als der Vater kurz innehält, um sich den Schweiß von der Stirn zu streichen und eine Zigarette anzuzünden, ertappt er den Blick des Kindes auf der Narbe, sagt aber nichts.

Er scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, sich mit diesem Stück Erde zu messen, dessen Widerstand eine Beleidigung für ihn wäre, und, koste es, was es wolle, alles aus ihm herauszureißen, was sein Projekt behinderte, oder aber mit jedem Hackenhieb an ihm eine blinde Wut auszulassen, deren Gründe dem Kind rätselhaft sind.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

Der Blick des Sohnes auf den Körper des Vaters in dieser Szene ist geprägt von einer Mischung aus Faszination, Irritation und staunender Erkenntnis – eine existenzielle Erfahrung, die sowohl körperlich als auch symbolisch gelesen werden kann. Der Vater erscheint als eine „bête de somme“, als Lasttier, von der Arbeit geschunden. Seine Körperlichkeit ist nicht heroisch, sein Körper entblößt, schweißnass, mit Lehm verschmiert, gezeichnet von einer fast übermenschlichen Anstrengung. Der Sohn beobachtet diesen Körper, wie sich Sehnen, Muskeln und Knochen unter der Haut bewegen – ein Moment roher, fast animalischer Körperlichkeit.

Beim Anblick des entblößten Körpers des Vaters wird dem Kind plötzlich bewusst, dass dieser Körper einmal zärtlich war, mit einer Frau verbunden, genährt und verletzlich. Diese Erkenntnis ist zwiespältig: Einerseits eine Art von Initiation, ein Einblick in die Sexualität, Fortpflanzung und Vergänglichkeit; andererseits eine Desillusionierung, denn es ist ein Bruch zwischen dem einst liebevoll in weiblicher Nähe geborgenen Körper und dem wütenden, fast feindseligen Körper von heute. Besonders eindringlich ist die Beschreibung der Narbe – glatt wie die Haut eines Neugeborenen oder eines Verbrennungsopfers –, die der Sohn nicht mehr aus den Augen lassen kann. Die Narbe wirkt wie ein uneingelöstes Zeichen: Sie weist auf eine Vergangenheit hin, auf ein Geschehen, das dem Sohn verborgen bleibt. Die Narbe ist stumm, sie wird nicht erklärt, aber sie zieht den Blick des Kindes auf sich wie ein Mahnmal des Unbekannten. Die Gewalt, mit der der Vater auf die Erde schlägt, überträgt sich auf seinen Körper. Der Vater erscheint als jemand, der den Widerstand des Bodens als persönliche Kränkung empfindet und dessen „colère aveugle“ für das Kind unerklärlich bleibt. In dieser Gewalt manifestiert sich eine innere Zerrissenheit, die das Kind zwar nicht begreift, aber intuitiv registriert. Der Blick des Sohnes auf den Körper des Vaters ist der Blick eines Kindes, das an der Schwelle zur Erkenntnis der Welt steht – zur Erkenntnis von Körperlichkeit, Geschlecht, Gewalt und existenzieller Einsamkeit. Es ist der Beginn eines Verstehens, aber auch die Erfahrung einer unüberwindbaren Fremdheit.

Der Eindruck des Archaischen entsteht durch mehrere Verfahren: durch eine Bildsprache, die an Höhlenzeichnungen, Jägergeschichten, mythische Weltbilder erinnert; durch die Verwendung von Begriffen wie „Travois“, „Sagaie“, „Fourrure“, die eine vorhistorische Realität evozieren; durch die zyklische Struktur (Nacht, Tag, Jagd, Rückkehr); durch die parallele Erzählung der „Urzeitfamilie“, die in die Sprache der Gegenwart eingebettet ist, aber keine historische Verankerung hat. Die Überlagerung von Gegenwartshandlung und archaischen Szenerien bedient sich einer mythischen Grammatik: Der Vater erscheint als Jäger, der Sohn als Initiand, die Landschaft als Urzeit. Diese Archaisierung ist kein Rückgriff auf historische Genauigkeit, sie ist poetische Strategie. Del Amo evoziert ein Zeitgefühl, das außerhalb der modernen Chronologie liegt. Das Bildarsenal, das hier aktiviert wird, umfasst Höhlen, Tieropfer, Jagdspeerspitzen, Feuerrituale. Sie alle scheinen als kulturelle Archetypen durch, die tief ins kollektive Unbewusste reichen. Der Leser erkennt in den Szenen statt einer realistischen eine symbolisch verdichtete Welt, in der sich überzeitliche Erzählmuster entfalten: Schuld, Übergang, Opfer, Trennung. Die Bildlichkeit schafft hier Atmosphäre und einen zweiten Bedeutungsraum.

Del Amos Naturdarstellungen sind nie bloße Kulisse. Sie sind Ausdruck innerer Zustände – vor allem von Angst, Desorientierung und Entfremdung. Die Natur ist zwiespältig: bedrohlich und tröstlich zugleich, ermarmungslos und schön, feucht und kalt, duftend und lebendig, raubtierhaft. Tiere, Pflanzen, Wasserläufe sind physisch präsent. Für das Kind ist sie Mutter, Gefährtin und Lehrerin. Die Wälder, Nebel, Berge und Tiere, die den Text durchziehen, sind mehr als Landschaften. Sie sind Spiegel seelischer Befindlichkeiten. Als der Vater mit der Familie in die Berge zieht, wird die Umgebung zunehmend unwirtlich, feindlich, gespenstisch. Diese Natur wird nicht erfahren, sie wird „ertragen“. Del Amo setzt dabei auf synästhetische Beschreibungen: Geräusche, Gerüche, Licht und Temperatur gehen ineinander über. Die Bildlichkeit der Natur ist stets konkret – Moos, Laub, Blut, Tierfell – und zugleich überdeterminiert: Sie evoziert mythologische, religiöse und historische Assoziationen. So wird etwa ein erlegtes Tier zum Symbol für Opfer und Initiation, der Wald zur Arena des Überlebens, das Wasser zur Schwelle zwischen Leben und Tod.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die extreme Bildhaftigkeit des Textes mit einer Fragmentierung der inneren Erfahrung einhergeht. Die Wahrnehmung des Kindes – meist aus seiner Perspektive erzählt – ist oft hyperreal, überfokussiert oder entgrenzt. Die Naturbilder nehmen traumatische Züge an. Die poetische Verdichtung ist in diesem Sinne nicht ästhetisches Verfahren und zugleich Ausdruck einer psychischen Überforderung. So wirkt etwa die Jagdszene wie eine Fiebervision: Der aufgerissene Körper des Tieres, das aufschäumende Blut, das Licht im Fell, die Geste des Vaters, der dem Kind das Blut auf die Stirn zeichnet – all das ist visionär. Die Bildhaftigkeit ist ekstatisch und übersteigert. In diesem Modus wird die Welt nicht mehr als kohärent erfahren, sondern als beunruhigendes Kontinuum von Zeichen und Körpern. Die poetische Konsequenz ist frappierend: Die Bildlichkeit wird zum Ort der Entfremdung: Was sie zeigt, ist keine stabile Wirklichkeit, es ist ein fragiles Gewebe aus Eindrücken, Erinnerungen und Symbolen. So spiegelt die Sprache die psychische Realität eines Kindes, das sich zwischen Aneignung und Verlust, zwischen Berührung und Flucht bewegt.

Der Junge in Le Fils de l’homme verfügt über ein begrenztes Weltwissen. Weder versteht er die sozialen, rechtlichen oder psychologischen Dimensionen der familiären Situation noch verfügt er über ein metasprachliches Reflexionsvermögen. Der Roman nutzt diese kognitive Beschränkung, um die Komplexität des Geschehens auf der Handlungsebene zu verdichten: Konflikte, Spannungen oder Gewalt bleiben oft implizit – sie erscheinen statt durch Analyse durch atmosphärische Dichte, körperliche Reaktion und selektive Wahrnehmung. Die narrative Perspektive folgt dieser Logik. Der Erzähler übernimmt die Wahrnehmung des Kindes, ohne eine vollständig personale Erzählhaltung zu imitieren. Vielmehr entsteht eine hybride Erzählsituation: einerseits nah am Körper und an den Empfindungen des Jungen, andererseits in einer Sprache, die sein Inneres poetisch überhöht. So entsteht eine doppelte Bewegung: Die Welt wird durch das Kind gesehen, aber nicht unbedingt von ihm artikuliert. Das macht den Text zugleich distanziert und durchlässig.

Während die Perspektive des Kindes kognitiv begrenzt ist, öffnet sie gleichzeitig einen Raum für andere, nicht-rationale Formen der Welterfahrung. Die Wahrnehmung ist synästhetisch: Geräusche werden zu Farben, Gerüche zu Bildern, Licht zu Empfindungen. Der Junge „erfasst“ die Welt nicht als kohärentes System, es bleibt ein Ensemble intensiver, oft isolierter Sinneseindrücke. Diese Sensibilität mündet oft in eine quasi-magische Wahrnehmung: Tiere erscheinen als Wesen mit innerer Bedeutung, Bäume sprechen durch ihre Präsenz, Wasser und Nebel transformieren den Raum in eine andere Dimension. Die Natur wird nicht als bloß physische Umwelt erfahren, sie bildet eine lebendige, bedeutungstragende Instanz. In dieser Wahrnehmung verschwimmen die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Eigenem und Fremdem. Dieser magisch-synästhetische Wahrnehmungsmodus steht in einem stillen, aber deutlichen Kontrast zur instrumentellen Weltsicht des Vaters, der alles kontrollieren, benennen, beherrschen will. Die kindliche Perspektive dagegen lässt sich von der Welt berühren, anstatt sie sich zu unterwerfen.

Die Kinderperspektive erzeugt ein hohes Maß an Identifikationspotenzial für die Lesenden. Dies liegt nicht an der Ähnlichkeit ihrer Lebenssituation mit der des Jungen, es liegt an der mimetischen Kraft der Darstellung. Der Text ermöglicht es, die Welt nicht analytisch, sondern sinnlich, affektiv und existenziell zu durchdringen – eine Erfahrung, die an frühkindliche oder traumatische Wahrnehmungsmuster erinnert. Del Amo bedient sich dabei einer Prosa, die auf Wiederholung, Beschleunigung und verlangsamte Beobachtung setzt. Die mimetische Nähe ergibt sich aus der sprachlichen Taktung, dem Rhythmus, der Dichte der Eindrücke. Das Kind ist hier nicht Repräsentant einer psychologischen Figur, es ist Medium einer existentiellen Durchquerung der Wirklichkeit. Es „zeigt“ die Welt – aber in ihrer prekären, offenen, fragilen Gestalt. So begegnet dem Leser kein psychologisch ausformuliertes Ich, wir begegnen einer Wahrnehmungsstruktur, in der das Unaussprechliche, das Vorsprachliche zur Sprache kommt – über Bilder, Klang oder Geste.

Aufhebung des Kreislaufs

Der Schluss des Romans kulminiert in einem Bild der Entscheidung. Vater, Mutter und Kind sind am Ende ihrer Kräfte, die Situation eskaliert. Die Mutter flieht. Das Kind, für einen Moment allein, blickt zum Himmel auf, hört den Schrei des Falken, hebt seinen Speer auf – ein Echo der Jagd –, und folgt ihr schließlich. Dieser Moment ist mehrdeutig. Es ist kein triumphaler Ausbruch, eher ein Übergang. Das Kind entscheidet sich gegen das Verharren in der Natur, gegen die Selbstauflösung – und folgt der Mutter. Das Zögern in diesem Moment, in dem alles möglich scheint – Rückzug, Auflösung oder Neubeginn. Die Kindheit als Schwebezustand zwischen Sein und Werden. Das Kind ist nun gezeichnet – von Gewalt, von Initiation und von Verlust. Es hat den Vater als Idol verloren, aber vielleicht auch als Bürde abgestreift. Die Bewegung – das Aufheben der Waffe, das Innehalten, das Gehen – verweist auf eine neue Phase. Der Roman endet in der Schwebe, wie der Falke über der Lichtung: nichts ist entschieden, alles ist offen, aber nichts ist mehr wie zuvor.

Der Vater in Le Fils de l’homme folgt keinem expliziten pädagogischen Prinzip. Seine „Erziehung“ ist ein Überlebenstraining in archaischer Art: Der Sohn soll durch körperliche Erschöpfung, Entbehrung und die Konfrontation mit der Jagd zum „Mann“ werden. Dies ist keine Vermittlung von Werten, der Vater versucht die Weitergabe eines Überlebenskodex. Der Vater glaubt, das Kind müsse „lernen, nicht zu reden, sondern zu handeln“, „nicht zu denken, sondern zu überleben“. Diese Form der Erziehung basiert auf Gewalt – nicht nur physisch, auch strukturell: Der Vater nimmt dem Kind die Stimme, die Sicherheit, die Möglichkeit zu fliehen. Die Natur wird nicht als Ort der Erkenntnis oder des Lernens verstanden, sie bildet einen Prüfstein: Nur wer sich durchsetzt, überlebt. Das Kind wird zum Teil eines stummen Initiationsritus, der weder Freiheit noch Emanzipation kennt. Doch gerade in dieser Grausamkeit liegt ein zentrales Moment: Der Roman legt die Mechanismen offen, mit denen sich autoritäre Männlichkeitskonzepte in Erziehungspraktiken einschreiben. Der Vater versteht Erziehung als Vereinnahmung – nicht als Begleitung.

In der Vater-Sohn-Beziehung spiegelt sich eine tiefer gehende Frage nach Herkunft, Identität und Geschichte. Der Vater steht für eine untergegangene Welt: patriarchalisch und gewalttätig. Der Sohn lebt in einer Welt, die diese Vergangenheit nicht mehr kennt, aber auch noch nicht überwunden hat. Dazwischen klafft ein Abgrund. Die Bewegung des Romans – von der Stadt in die Berge, vom Alltag in den Mythos, von der Familie in die Vereinzelung – ist auch eine Bewegung der Verzweiflung. Der Vater kann nicht integrieren, nur entführen. Er will nicht erziehen, er will überwältigen. Der Sohn ist nicht für den Vater ein Spiegel. Und doch: Am Ende des Romans flieht der Sohn. Nach einem Moment der Isolation, des Nachdenkens, hebt er seinen Speer auf – als Zeichen eher denn als Wffe – und folgt seiner Mutter. Dieser Augenblick ist entscheidend. Er signalisiert nicht nur die Ablehnung des Vaters, auch eine Geste der Unabhängigkeit. Der Speer ist ambivalent: Er kann töten, aber auch schützen. Er ist Symbol der Männlichkeit, aber auch des Übergangs. Der Sohn übernimmt ihn, aber in einem neuen Kontext. Er wird nicht zum Vater, er wird zu etwas Drittem. Auch die neugeborene Schwester stellt den Sohn in ein neues Familiensystem:

Le vent se lève et la brume se défait, ouvre sur le ciel gris où passe à basse altitude un groupe d’oies cendrées, précédées par leurs cris. Le fils lève vers elles son visage ruisselant de sueur et de pluie. Il s’agenouille pour déposer sa sœur au sol et prend soin de dégager sa tête de la couverture de survie. Les paupières de la nouveau-née sont closes, son front brûlant ; elle respire d’un souffle rapide et court. Un sanglot traverse la poitrine du garçon, il le ravale aussitôt. Quand il se relève, elle rouvre les yeux. Les deux enfants se regardent, le garçon lui fait une promesse silencieuse avant de s’éloigner et de disparaître de sa vue. Puisant dans ses dernières forces, la nouveau-née se met alors à pleurer, et sa voix s’élève en un cri éperdu, farouche et désespéré qui vrille la tranquillité sépulcrale de la boulaie.

Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme, Gallimard, 2021.

Der Wind erhebt sich und der Nebel löst sich auf, gibt den Blick frei auf den grauen Himmel, wo eine Gruppe von Graugänsen in niedriger Höhe dahinzieht, angeführt von ihren Rufen. Der Sohn hebt sein von Schweiß und Regen triefendes Gesicht ihnen entgegen. Er geht in die Hocke, um seine Schwester auf den Boden zu legen, dabei achtet er darauf, ihren Kopf aus der Überlebensdecke herausschauen zu lassen. Die Augenlider der Neugeborenen sind geschlossen, ihre Stirn glüht; ihr Atem geht kurz und schnell. Ein Schluchzen durchdringt die Brust des Jungen, er schluckt es sofort hinunter. Als er wieder aufsteht, öffnet sie die Augen. Die beiden Kinder sehen einander an, der Junge gibt ihr ein stummes Versprechen, ehe er sich entfernt und aus ihrem Blickfeld verschwindet. Daraufhin beginnt die Neugeborene unter Aufbietung letzter Kräfte zu weinen, und ihre Stimme erhebt sich zu einem bestürzten, wilden und verzweifelten Schrei, der die Grabesruhe des Birkenhains durchbohrt.

Jean-Baptiste Del Amo, Der Menschensohn: Roman, aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Berlin: Matthes und Seitz, 2025.

Schwangerschaft und Geburt werden sowohl symbolisch-archaisch, als auch körperlich-realistisch thematisiert – beginnend mit dem prologartigen Anfangskapitel aus prähistorischer Zeit, in dem ein Kind zur Welt kommt und damit die Themen Körper und Herkunft, Fortpflanzung und Menschwerdung gesetzt werden. Die Geburt wird nicht romantisiert, sie wird als körperliche, gewaltsame Grenzerfahrung dargestellt, als eine Szene physischer Extreme. Das Kind wird hier auf den Boden geboren, nicht in ein Heim oder eine Kultur. Geburt ist insofern nicht das Wunder des Lebens, sie die Zumutung des Daseins – das Hineingeworfenwerden in eine Welt der Kälte, Gewalt und Bedürftigkeit. Die archaische Geburtssequenz steht nicht isoliert, sie bildet einen Zyklus mit der Jagd, der Initiation in Männlichkeit und der väterlichen Gewalt. Das Neugeborene wird in eine Welt hineingeboren, in der es selbst zum Jäger und Träger eines Erbes werden soll. Damit wird das Gebären zugleich zum Beginn eines Kreislaufs von Gewalt und Herrschaftsreproduktion. Dass die eigene Mutter des Sohnes im Verlauf von Le Fils de l’homme schwanger ist und schließlich ein weiteres Kind zur Welt bringt, konfrontiert ihn mit der Tatsache seiner eigenen Geburt. Der Sohn erkennt, dass der Kreislauf – Zeugung, Macht, Herrschaft, Verletzung – sich wiederholen könnte. Er kommt zum Entschluss, sich vom väterlichen Erbe zu lösen. Im offenen, fast suggestiven Schluss des Romans wird das Neugeborene nicht eindeutig als Symbol der Wiederholung oder der Erneuerung gedeutet. Der Sohn könnte sich als zukünftiger Beschützer des Kindes sehen, so sein stummes Versprechen.

Jean-Baptiste Del Amo hat seine Homosexualität wiederholt öffentlich in Interviews, unter anderem in Gesprächen über seinen Debütroman Une éducation libertine und sein Engagement für queere Sichtbarkeit. Seine Homosexualität ist jedoch nicht im Sinne eines biografischen Erklärungsmodells direkt auf seine Romane übertragbar, sie lenkt den Blick – auf poetologischer, ästhetischer und thematischer Ebene – auf bestimmte Spannungen, Perspektiven und Brüche in seinem Werk. Insofern sind Fragen nach einer möglichen Naturalisierung oder Biologisierung der Geschlechterrollen differenziert zu beantworten. Obwohl Le Fils de l’homme archaische, „naturhafte“ Szenarien entwirft (Geburt, Jagd, Männlichkeit, Fortpflanzung), ist der Text keine affirmativ biologistische Darstellung traditioneller Geschlechterrollen: Die Mutter ist keine idealisierte Matriarchin. Der Vater verkörpert nicht die hegemoniale Männlichkeit, er ist deren Zerrbild: gebrochen, gewalttätig, irrational, von innerem Schrecken getrieben. Die Familie wird nicht als biologische Selbstverständlichkeit gezeigt, Familie ist räumliches und emotionales Zwangsgebilde. Del Amo verwendet Natur nicht als Metapher für Ordnung, Natur spiegelt Gewalt, Trieb und Regression – eine Perspektive, die sich durchaus mit queerer Ästhetik verbinden lässt. Del Amos Romane sind durchzogen von einer poetischen Obsession für den dem männlichen Körper, häufig aus der Perspektive eines Mannes, der beobachtet, staunt, zweifelt – in einer Weise, die mit homoerotischen Codierungen arbeitet: Angst und Scham, Identitätsverwirrung. Diese Beobachtung des Männlichen durch das Männliche, ohne hegemonialen Standpunkt, dekonstruiert eine „naturgegebene“ Geschlechtsidentität. Del Amos Homosexualität ist für die Lektüre seiner Bücher nicht so sehr in Form von „homosexuellen Themen“, sondern als Infragestellung der Geschlechterordnung, als queer codierte Körperlichkeit, als Dekonstruktion von Familie, Fortpflanzung und Macht. Er naturalisiert nicht, im Gegenteil: Er zeigt, wie tief Gewalt, Sexualität und Geschlecht kulturell, sprachlich und historisch codiert sind, auch wenn sie im Gewand des Archaischen erscheinen.

Die Erzählinstanz in Le Fils de l’homme ist schwer zu verorten. Sie ist kein personaler Erzähler, aber auch kein auktorialer Kommentator. Vielmehr handelt es sich um eine poetisch verdichtete, perspektivisch gebundene, aber nicht völlig psychologisierende Instanz. Sie gibt dem Kind Raum, ohne es zu vereindeutigen. Sie zeigt den Vater, ohne ihn zu verurteilen. Sie beobachtet die Mutter, ohne sie zu idealisieren. Diese Form der Erzählinstanz ermöglicht eine ästhetische Komplexität: Erziehung wird nicht erklärt, sie wird in Bildern, in Szenen und Stimmungen gezeigt. Damit übernimmt die Erzählinstanz eine ethische Funktion: Sie urteilt nicht, aber sie legt offen. Sie zeigt die Konsequenzen einer Erziehung zur Härte, ohne moralisch zu deuten. In ihrer Zurückhaltung liegt ihre Stärke.

Del Amos Roman ist ein Text der offenen Fragen. Was bedeutet es, ein Kind zu formen? Welche Gewalt liegt in der Erziehung? Welche Freiheit im Verzicht auf Einfluss? All diese Fragen werden nicht gestellt und bleiben unbeantwortet – durch die narrative Struktur, durch die Inszenierung von Vater, Mutter, Kind, durch die Bildlichkeit der Natur, durch Initiation und Flucht. Die Poetik des Romans macht Erziehung sichtbar als Beziehungsgeschehen – nicht als Modell. Sie stellt das Kind nicht als Figur dar, die inmitten von Zumutungen ihre eigene Form des Werdens sucht. So wird Le Fils de l’homme zu einem stillen, aber radikalen Beitrag zur literarischen Anthropologie der Kindheit.

Jean-Baptiste Del Amos Roman Le Fils de l’homme, 2021 im Verlag Gallimard erschienen, wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen intensiv von der Literaturkritik rezipiert. Die Resonanz fiel überwiegend positiv aus, wobei sich die Rezensionen nicht auf bloße Inhaltswiedergaben beschränkten, sie legte vielfach differenzierte, auch poetologisch und literatursoziologisch motivierte Lesarten vor. In zahlreichen Rezensionen wird die Vaterfigur als Träger einer gescheiterten oder dysfunktionalen Männlichkeit analysiert. Antoine Perraud 1 betont in seiner Besprechung den archetypischen Charakter des Vaters, der weniger als Individuum denn als „contamination mentale“ erscheint: eine Figur, die Gewalt über Generationen hinweg weitergibt, ohne sich ihrer selbst je zu vergewissern. Louis-Henri de Rochefoucauld 2 formuliert es noch schärfer: Der Vater ist eine „Gestalt des Schreckens“, die in einem hermetischen, archaischen Erziehungsschema agiert, das sich jeder humanistischen Pädagogik verweigert.

Alice Develey 3 hebt hervor, dass Le Fils de l’homme ein radikal anderes Verständnis von Kindheit anbietet: nicht als Ort der Entwicklung oder der psychologischen Entfaltung, Kindheit ist ein Wahrnehmungsmodus. Das Kind ist ein „réceptacle sensoriel“, ein Empfänger von Eindrücken, der sich der Welt nicht-begrifflich, sinnlich nähert. Diese Perspektive wird von Blandine Hutin-Mercier (L’Echo Républicain) ergänzt, die das Kind als Spiegel eines „huis clos psychique“ beschreibt – einer psychischen Enge, die zugleich eine große literarische Öffnung in die Tiefe ermöglicht.

Philippe Chevilley 4 beschreibt Del Amos Sprache als „Französisch aus Feuerstein“, eine Prosa voller lexikalischer Präzision, rhythmisch und intensiv. Für ihn ist der Roman ein „baptême du feu et du sang“, der die Literatur ins Ritual überführt und zugleich die Moderne herausfordert. Auch Le Journal du Centre hebt die sprachliche Dichte des Textes hervor und vergleicht die literarische Erzählweise mit der ikonischen Kraft religiöser Gesten: Der rote Strich auf der Stirn des Jungen nach der Tötung des Tieres werde zum Symbol einer ererbten Schuld und Initiation. Marc Lambron 5 spricht von einer „littérature chamanique“, in der die Natur als Schauplatz eines mythischen Dramas fungiert. Die Wälder, Tiere und Gebirgszüge sind keine realistische Kulisse, sie bilden eine symbolische Tiefenstruktur, die den Figuren ihre Motive und Handlungsspielräume entzieht – und sie stattdessen in Rituale zwingt. Le Fils de l’homme wurde von der Kritik und auch von den literarischen Institutionen positiv aufgenommen. Er wurde 2021 mit dem Prix du roman Fnac ausgezeichnet und war Finalist für den Prix Femina.

Cornelius Wüllenkemper sprach in seiner Rezension des Buches vom „Gift der Generationen“ 6. Del Amo selbst äußerte sich in einem Interview, 7 dass nicht die Figur des Vaters, sondern die Auswirkungen seiner Präsenz und seines Verhaltens auf Mutter und Kind im Zentrum stehe. Der Roman interessiere sich weniger für die Psychologie des Vaters als für die familiäre Dynamik der emprise (Übergriffigkeit). Ein Schlüsselmoment sei der innere Monolog des Vaters über seinen eigenen Vater, der einen Kreislauf von männlicher Gewalt und weitergegebener Unmenschlichkeit offenbare – vergleichbar mit der Funktion eines antiken Chores. Die Schlussszene markiere den Versuch des Kindes, diesem Erbe zu entkommen: Es akzeptiere die Gewalt als Realität, verweigere aber das Weitertragen der väterlichen Wut. Vater, Mutter und Sohn sind nicht einfach Täter und Opfer, sie bilden Figuren in einem ambivalenten, tragischen Gefüge. Del Amo sieht in Le Fils de l’homme eine Variation biblisch-mythischer Erzählmuster, mit bewusst reduzierter Sprache und archetypischen Figurenbezeichnungen (le père, le fils). An die Stelle der klassischen psychologischen Tiefe tritt die physische Präsenz der Figuren, insbesondere in ihren Gesten, Handlungen und körperlichen Reaktionen. Der Roman wolle das Universelle im Singulären zeigen – eine Form existenzieller Allgemeingültigkeit, die sich durch den Verzicht auf Namen, Orte und zeitliche Einordnung noch verstärkt wird. Del Amo entwirft eine düstere, existenzielle Vater-Sohn-Geschichte, in der die Kindheit als Schwellenzeit zu Gewalt und Bewusstsein erscheint. Der Roman erzählt vom Kampf gegen ein ererbtes Schicksal, ohne dabei einfache Erlösungsnarrative anzubieten. Der Blick des Kindes – seine Wahrnehmung von Körpern, Räumen und Macht – ist die zentrale poetologische Linse des Textes.

Die Bildlichkeit in Le Fils de l’homme ist nicht konstitutiver Bestandteil der literarischen Welt. Sie schafft Raum, Tiefe und Mehrdeutigkeit. Vor allem aber ist sie ein Mittel, um Erfahrungen und Erinnerungen jenseits der Sprache zu artikulieren – Angst und Schmerz, Liebe und Gewalt. Del Amos Roman zeigt: Eine radikal poetische Sprache vermag das Unsagbare der Kindheit, der Entfremdung und der väterlichen Gewalt zu berühren. Die Bilder dieses Textes sind keine Illustrationen – sie sind die eigentliche Sprache eines Körpers, der spricht, weil sonst niemand spricht. Le Fils de l’homme ist ein Roman über Kindheit, aber mehr noch: ein Roman über das Menschsein im Modus des Übergangs. In seinem Zentrum steht ein Kind, das nicht erklärt wird, sondern empfunden. Del Amos Poetik ist eine Poetik der Reduktion, des Atmosphärischen und des Körpers. Sie formt eine Welt, in der jedes Wort zählt – und jedes Schweigen. Die Kindheit ist hier weder Paradies noch Trauma, sie ein Raum der Wahrnehmung und der Transformation. In einer Zeit, in der Kindheit oft als Produkt sozialer Konstruktion betrachtet wird, erinnert Del Amos Roman an eine andere Dimension: an das Unverfügbare und Vorsprachliche, das Existenzielle, an eine nicht domestizierte Kindheit.

Anmerkungen
  1. Antoine Perraud, “« Le Fils de l’homme », de Jean-Baptiste Del Amo: survivre au père,” La Croix, 3. Oktober 2021, 12.>>>
  2. Louis-Henri de Rochefoucauld, “Le Fils de l’homme,” L’Express, 16. September 2021, 72.>>>
  3. Alice Develey, “Jean-Baptiste Del Amo, prix du roman Fnac 2021,” Le Figaro, 6. September 2021.>>>
  4. Philippe Chevilley, “Del Amo sur les cimes, couronné du prix FNAC,” Les Echos, 29. August 2021.>>>
  5. Marc Lambron, “Le tragique de répétition de Jean-Baptiste Del Amo,” Le Point, 30. August 2021.>>>
  6. Cornelius Wüllenkemper, „Vom Gift der Generationen“, Deutschlandfunk Büchermarkt, 27. Februar 2025>>>
  7. Yann Etienne, « Je suis fait de mon temps » : Jean-Baptiste Del Amo, Le fils de l’homme, Diacritik, 20. August 2021.>>>

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