Beiläufig hat die Literatur epidemische Choreographien eingebaut in ihre Geschichten. Eine Literaturgeschichte von Corona ist wahrscheinlich spannender in Texten, die keine Corona-Romane sein wollen. Der Lockdown färbt die Texte ein, für jeden epochenbildend, der in zehn Jahren in einem Film oder Roman übers letzte Jahrzehnt ein Gespür für das Zeitgenössische geben möchte, wie für den Mauerfall oder für die Zeit nach dem Einsturz des World Trade Center.
Ils ne s’étaient même pas fait la bise, non, même pas offert cette chance des lèvres douces sur la joue et qui auraient pu déraper – et c’était l’épidémie, ça me revient, le premier été de l’épidémie, c’étaient les trop fameux gestes barrières, et de sorte qu’un baiser ne serait-ce que social, ou même amical, quitte justement à ce qu’il devienne tendre et trouble, n’avait pas semblé possible.
Christine Montalbetti, Ce que c’est qu’une existence
Sie hatten sich nicht einmal geküsst, nein, nicht einmal die Chance auf sanfte Lippen auf der Wange geboten, die hätte schiefgehen können – und das war die Epidemie, ich erinnere mich, der erste Sommer der Epidemie, es waren die so berühmten Distanzgesten, und so war ein Kuss, selbst ein gesellschaftlicher, oder sogar ein freundschaftlicher, selbst wenn er zärtlich und besorgt sein würde, nicht möglich gewesen.
Heideggers Existenzphilosophie betont, dass der Mensch kein Ding ist, er ist nicht etwas bloß Vorhandenes, sondern er existiert nur im Lebensvollzug: „Der Mensch allein existiert. Der Fels ist, aber er existiert nicht. Der Baum ist, aber er existiert nicht. Das Pferd ist, aber es existiert nicht. Der Engel ist, aber er existiert nicht. Gott ist, aber er existiert nicht.“ 1 Entscheidungen müssen getroffen, Möglichkeiten müssen realisiert werden – in der Existenz liegt das Wesen des menschlichen Daseins. Dies findet sich in Sartres Existenzialismus, wenn er sagt, „L’existence précède l’essence“, die Existenz geht der Essenz voraus: der Mensch taucht in der Welt auf und begegnet sich, es gibt keine allgemeine Natur, kein allgemeines Wesen des Menschen. Wenn Montalbettis Roman dies anschaulich machen möchte, dann freilich ohne gelehrten Balast, aber wenn bei ihr der Begriff ‚Existenz‘ fällt, dann um etwa die Gegenstände jenseits ihrer bloßen Vorhandenheit für unsere Existenz zu deuten:
Pour quelqu’un qui entrerait dans cette pièce pour la première fois (vous, donc), ces objets ont l’air d’être là pour la fonction qu’ils occupent (qu’y a-t-il dans cette boîte en teck, pourrait-on se demander) ou pour leur joliesse, décoratifs, et puis voilà ; mais secrètement ils racontent aussi quelque chose au père, car vous savez ça comme lui, combien les objets qui nous entourent contiennent des fragments de notre histoire. Comment ils sont la preuve d’un séjour qu’on a effectué, la trace d’un endroit où on a été, le prolongement d’une personne qui vous en a fait le cadeau : c’est fou, la somme de lieux et d’expériences qui peuvent se trouver enfermés dans leur volume compact et muet. Nos bibelots sont là pour ça. Chacun conserve comme un moment lyophilisé de notre existence, et il suffit que vous posiez les yeux sur l’un d’eux pour que ce moment, comme retrempé disons dans la vague douce de votre regard, se redéploie.
Christine Montalbetti, Ce que c’est qu’une existence
Für jemanden, der diesen Raum zum ersten Mal betritt (also für Sie), scheinen diese Gegenstände wegen ihrer Funktion da zu sein (was ist in dieser Teakholzkiste, werden Sie sich fragen) oder wegen ihrer Schönheit, ihrer Dekoration usw.; aber insgeheim erzählen sie dem Vater auch etwas, denn Sie wissen genauso gut wie er, dass die Gegenstände um uns herum Fragmente unserer Geschichte enthalten. Sie sind der Beweis für einen Aufenthalt, den wir erlebt haben, die Spur eines Ortes, an dem wir gewesen sind, die Verlängerung einer Person, die uns ein Geschenk gemacht hat: es ist verrückt, die Summe der Orte und Erfahrungen, die in ihrem kompakten und stillen Füllraum eingeschlossen werden können. Dafür ist unser Nippes gedacht. Jeder dieser Gegenstände bewahrt wie ein eingefrorener Moment unsere Existenz, und alles, was Sie tun müssen, ist, Ihre Augen auf eines von ihnen zu richten, damit sich dieser Moment, als ob er sich in die sanfte Vagheit Ihres Blicks zurückgezogen hätte, wieder entfaltet.
Einen einzigen Tag, so viele Leben gleichzeitig, sechs Figuren (Vater und Sohn, Dorris, Magda, Ahmad und Stan) in ihren konkreten Lebensmomenten und viele Nebenfiguren werden von Montalbetti zu einem Chor, zu einer Vielfalt synchroner Existenzen zusammengeführt: ein Rennen, ein Vermissen, ein Krankenhausaufenthalt, eine Migration, ein Umherwandern, und die Autorin komponiert aus der Gleichzeitigkeit dieser Szenen einen rhythmisierten Text und das, was Antoine Perraud in seiner Kritik ein „planetarisches Palimpsest“ nennt, das Individuen und Kollektiv verwebt, 2 in einem kinematographischen Zoom und einer Kamerafahrt der Literatur, wie es Alexandre Fillon formuliert: „Il y a là le père, septuagénaire les pieds dans des chaussons, dont la principale occupation est de regarder par la fenêtre en laissant venir ses pensées. Il y a le fils, Tom, qui scrute la mer sur le pont d’un bateau. Il y a Rita et Dorris, à bord du même avion Airbus. Stan qui rend visite à Magda à l’hôpital…“ 3 Man denkt in Momenten der präzisen Komposition an die école du regard des Nouveau Roman oder an die Flügel eines Triptychons bei Claude Simon:
Au même instant, quelque part sur une plage, un homme, relié à son cerf-volant par la longue laisse de ses brides, tente de le piloter, les mains crispées sur ses poignées, et quel lien bizarre l’attache à l’aérodyne capricieux qui voltige un peu dans le ciel venteux avant de retomber comme un oiseau mort.
[…]
Au même instant, des éoliennes tournent lentement leurs pales dans un décor très vert.
[…]
Au même instant une aigrette de pissenlit se détache de sa boule.
Christine Montalbetti, Ce que c’est qu’une existence
On croit qu’elle va tomber lentement, s’avachir jusqu’au sol, mais non, elle remonte, elle commence à circuler, elle surfe sur les courants de l’air, elle se met à incarner l’idée de légèreté, elle l’encense, c’est comme si elle la dansait.
Zur gleichen Zeit versucht irgendwo an einem Strand ein Mann, der durch die lange Leine seines Zaumzeugs mit seinem Drachen verbunden ist, diesen steigen zu lassen, seine Hände umklammern die Griffe, und welch seltsame Verbindung verbindet ihn mit der kapriziösen Drohne, der Drachen flattert ein wenig im windigen Himmel, bevor er wie ein toter Vogel zurückfällt.
[…]
Zur gleichen Zeit drehen sich die Flügel der Windturbinen langsam in einer sehr grünen Umgebung.
[…]
Zur gleichen Zeit löst sich ein Flugsamen der Pusteblume von seiner Kugel.
Man denkt, er fällt langsam, sackt zu Boden, aber nein, er erhebt sich wieder, er beginnt sich zu bewegen, er surft auf den Luftströmen, er beginnt die Idee der Leichtigkeit zu verkörpern, er beschwört sie, es ist, als würde er tanzen.
Der Mischung aus Leichtigkeit, Meditation und intensivem Gefühl für das Existieren, der fast buddhistischen Leichtigkeit ist aber auch ein Bewusstsein für Leben und Sterben eingeschrieben:
Au même instant, quelqu’un enveloppe dans sa vieille couverture doudou son chien qui gémit et le dépose précautionneusement sur le siège passager. Les bubons ont grossi et la douleur paraît insupportable. Il clenche la ceinture de sécurité, allume le contact. La route devant lui gondole un peu à travers le voile de larmes qui stagne dans ses yeux, et il parle doucement à son chien tout en roulant vers le cabinet du vétérinaire de garde pour le faire piquer.
[…]
Au même instant, dans un studio de doublage, un homme pose sa voix sur les lèvres d’un autre.
[…]
Au même instant, quelqu’un (un paquet de gens, chacun avec son histoire, chacun avec tout ce qu’il lui restait à faire – et chaque fois une tragédie, intacte, entière, extrême, pour soi et pour ceux qui restent) meurt.
[…]
Quelque part, au même instant aussi, quelqu’un, une tripotée de bébés, naît.
Christine Montalbetti, Ce que c’est qu’une existence
Je ne vois pas que ce soit une compensation.
Zur gleichen Zeit wickelt jemand seinen winselnden Hund in seine alte Decke und legt ihn vorsichtig auf den Beifahrersitz. Die Blasen sind größer geworden, und die Schmerzen scheinen unerträglich zu sein. Er schnallt sich an und schaltet die Zündung ein. Die Straße vor ihm wellt sich durch den Tränenschleier, der in seinen Augen steht, und er spricht leise mit seinem Hund, während er zum diensthabenden Tierarzt fährt, um ihn einschläfern zu lassen.
[…]
Zur gleichen Zeit legt ein Mann in einem Synchronstudio seine Stimme auf die Lippen eines anderen.
[…]
Zur gleichen Zeit stirbt jemand (eine Reihe von Menschen, jeder mit seiner eigenen Geschichte, jeder mit allem, was er noch zu tun hatte – und jedes Mal eine Tragödie, unberührt, ganz, extrem, für sich selbst und für die, die übrig bleiben).
[…]
Irgendwo, zur gleichen Zeit, wird jemand, eine ganze Reihe von Babys, geboren.
Ich sehe es nicht so, dass das eine Entschädigung ist.
Fabrice Gabriel ist zuzustimmen, wenn seine Kritik in Le Monde des livres die grundierende Existenzphilosophie von Montalbettis Roman auch als Reflexion auf das Schreiben in seinem eigenen Entstehen versteht, 4 zaubrisch wie in unserer Kindheit:
Écrire un roman, je me dis parfois, c’est, comme quand on était petits, vous emmener dans un recoin et vous chuchoter toi, tu serais ça ; vous faire entrer dans un monde qu’on construit ensemble, comme enfants quand on conjuguait nos énergies pour imaginer des univers où on devenait quelqu’un d’autre – est-ce que pour vous c’était Fantômette, ou Zorro, et fée, oui, quelquefois j’étais fée (j’avais la robe, blanche, soyeuse, brodée d’or, et la baguette, avec son étoile au bout), et Indien aussi, je portais une veste à franges couleur chamois, et de temps à autre j’allais faire un tour dans mon tipi pour voir si ma femme et mon fils allaient bien avant de repartir dans les paysages pêcher ou guerroyer. Et vous, là, tout de suite, à être un peu Dorris, quand on joue à Dorris (vous tous, je veux dire, les garçons aussi), à être un peu Tom, et le père, et tous les autres, à tour de rôle – et justement, de rôle, des rôles que vous vivez de l’intérieur, en y mettant secrètement chaque fois, sans que personne ne vous voie, ce que vous êtes au plus profond.
Christine Montalbetti, Ce que c’est qu’une existence
Einen Roman zu schreiben, sage ich mir manchmal, ist so, wie wenn man Sie als Kind in eine Ecke drängt und zuflüstert, du, du wirst das sein; Sie in eine Welt eintauchen zu lassen, die wir gemeinsam aufbauen, wie Kinder, wenn wir unsere Energien bündeln, um uns Universen vorzustellen, in denen wir jemand anderes werden – war es für Sie Fantômette, oder Zorro, und eine Fee, ja, manchmal war ich eine Fee (Ich hatte ein weißes, seidenes, goldbesticktes Kleid und einen Zauberstab mit einem Stern am Ende), und als Indianer trug ich eine chamoisfarbene Jacke mit Fransen, und von Zeit zu Zeit ging ich zu meinem Tipi, um zu sehen, ob es meiner Frau und meinem Sohn gut ging, bevor ich wieder aufs Land zum Fischen oder Kämpfen ging. Und Sie, gerade jetzt, sind ein bisschen Dorris, wenn wir Dorris-Sein spielen (Euch alle meine ich, auch die Jungs), ein bisschen Tom-Sein spielen, und Vater-Sein, und all die anderen, der Reihe nach – und zwar in Rollen, die Sie von innen heraus leben, indem Sie jedes Mal heimlich, ohne dass Sie jemand sieht, in sie hineingeben, was Sie im Innersten sind.
Kai Nonnenmacher
- Martin Heidegger, Was ist Metaphysik, Antrittsvorlesung vom 24. Juli 1929 (Frankfurt am Main: Klostermann, 1955), 35.>>>
- « Toutes ces traces et ces strates distraites du palimpseste planétaire entrelacent l’individuel et le collectif, les colères solitaires et l’indignation politique, l’errance et l’élaboration, l’amour et le désamour, la vie et le roman, le roman et la vie », Antoine Perraud, La Croix, 25. August 2021>>>
- „Da ist der Vater, ein Siebzigjähriger mit Pantoffeln an den Füßen, dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, aus dem Fenster zu schauen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Da ist der Sohn Tom, der vom Deck eines Bootes auf das Meer hinausschaut. Rita und Dorris befinden sich an Bord desselben Airbus. Stan besucht Magda im Krankenhaus…“, Alexandre Fillon, Les Echos, 25. August 2021>>>
- Fabrice Gabriel, Le Monde des livres, 26. August 2021: „Un roman qui raconte l’écriture d’un roman en train de se faire“.>>>