Roger de Wecks Bericht zum Barbie-Prozess für die Zeit erwähnte damals auch den Autor des Vaterromans Enfant de salaud: „Sorj Chalandon, der glänzende Berichterstatter von Libération, verzweifelte über den „tausend Fragen“, die im Barbie-Prozeß hätten gestellt werden sollen, meist nicht gestellt wurden, in Ausnahmefällen nicht gestellt werden durften.“ 1 Der Roman verknüpft nun Chalandons Auseinandersetzung mit der großen Geschichte – dem Schlächter von Lyon Klaus Barbie – und mit intimer Familiengeschichte – dem eigenen, 2014 verstorbenen Vater, der bereits 2015 Gegenstand des Romans Profession du père war. Zum Prozess ging der Autor nach eigenen Angaben auf Vorschlag des Vaters und gemeinsam mit ihm:
Serge Klarsfeld n’avait pas plaidé. Il n’avait pas jeté ses manches vers les moulures du plafond, n’avait usé d’aucun effet de voix. Il avait parlé avec tristesse. Ce n’était plus un avocat. Lui, le gamin qui avait échappé à une rafle, masqué par le mince rempart d’une armoire à double fond. Lui l’historien, le militant, le chasseur de nazis hanté par les enfants juifs d’Izieu, n’avait fait que prononcer leurs noms. 44 noms sanctifiés, l’un après l’autre, récités dans un silence de mort. […]
« Sami Adelsheimer n’avait que 5 ans. Sa mère, Laura, avait été déportée le 20 novembre 1943, neuf convois avant le sien. Sami n’est pas revenu. »
— Tu as vu que les mains de Klarsfeld tremblaient lorsqu’il lisait ?
Mon père a hoché la tête. Oui, il avait remarqué.
Sorj Chalandon, Enfant de salaud
Serge Klarsfeld hatte nicht plädiert. Er hatte seine Ärmel nicht gegen die Deckenleisten geworfen, hatte keine stimmlichen Effekte eingesetzt. Er hatte traurig gesprochen. Er war kein Anwalt mehr. Er, der Junge, der einer Razzia entkommen war, getarnt durch den dünnen Schutzwall eines doppelbödigen Kleiderschranks. Er, der Historiker, der Kämpfer, der Nazi-Jäger, der von den jüdischen Kindern von Izieu heimgesucht wurde, hatte nur ihre Namen ausgesprochen. 44 geweihte Namen, einer nach dem anderen, rezitiert in einer Totenstille. […]
„Sami Adelsheimer war erst fünf Jahre alt. Seine Mutter Laura war am 20. November 1943 deportiert worden, neun Konvois vor ihm. Sami ist nicht zurückgekehrt.“„Hast du gesehen, dass Klarsfelds Hände zitterten, als er las?“Mein Vater nickte. Ja, er hatte es bemerkt.
Im Mai 1987 kam Klaus Barbie vor Gericht, der als Gestapo-Chef von Lyon zwischen 1942 und 1944 befohlen hatte, dass Tausende französischer Widerstandskämpfer und Juden ermordet wurden. Bis 1983 konnte Barbie dann unbehelligt in Bolivien leben. Doch das Ehepaar Klarsfeld jagte ihn, 2015 erschienen 80-jährig ihre Erinnerungen, worin sie ihre Nachforschungen zusammenfassen und bewerten:
Notre traque a été longue ; elle a duré de juin 1971 à juillet 1987 : seize ans pendant lesquels, même si beaucoup d’autres actions ont été menées, il nous a fallu rester concentrés sur les moyens d’atteindre notre objectif : obliger les justices allemande et française à poursuivre Barbie, le repérer nous-mêmes, le démasquer, l’exposer sur place aux Boliviens comme criminel nazi, tenter de l’enlever, le surveiller de près, aiguillonner l’opinion publique et les autorités françaises, pousser à l’expulsion, retrouver le télex d’Izieu, documenter l’instruction et plaider pour les enfants d’Izieu.
Barbie, c’était le criminel nazi type : celui qui a arrêté et torturé Jean Moulin, qui a envoyé à la mort les quarante-quatre enfants juifs d’Izieu, qui fuit au plus loin pour éviter le châtiment.
Beate et Serge Klarsfeld, Mémoires, Kap. „Le criminel nazi type : Klaus Barbie“
Unsere Jagd war lang; sie dauerte von Juni 1971 bis Juli 1987: sechzehn Jahre, in denen wir uns trotz vieler anderer Aktionen auf die Mittel konzentrieren mussten, um unser Ziel zu erreichen: die deutsche und französische Justiz zu zwingen, Barbie zu verfolgen, ihn selbst ausfindig zu machen, ihn zu entlarven, ihn an Ort und Stelle vor den Bolivianern als Nazi-Verbrecher zu entlarven, zu versuchen, ihn zu entführen, ihn genau zu beobachten, die öffentliche Meinung und die französischen Behörden anzustacheln, auf die Abschiebung zu drängen, das Telex von Izieu zu finden, die Ermittlungen zu dokumentieren und sich für die Kinder von Izieu einzusetzen.
Barbie war der typische Nazi-Verbrecher: derjenige, der Jean Moulin verhaftete und folterte, der die vierundvierzig jüdischen Kinder von Izieu in den Tod schickte, der so weit wie möglich floh, um der Strafe zu entkommen.
Annette Wieviorka hat zusammengefasst, wie die Nazitribunale ein Verhältnis von literarischer Behandlung und Aufarbeitung herstellten. 2 Und Walter Fekl hat für das Frankreich-Lexikon die Ermittlungen gegen Barbie mit denen von Bousquet, Touvier und Papon in Verbindung gesetzt. 3 Jüngst wurde den Klarsfelds eine Graphic Novel gewidmet, allegorisch auf dem Titelbild wird das Ehepaar mit Gesetzbuch, Megaphon, Aktenmassen, Schreibmaschine und vor allem im Hintergrund mit den Opfern der Schergen gezeigt, wie sie uns direkt anblicken.
30 Jahre nach dem Barbie-Prozess wurde im Mémorial de la Shoah eine Ausstellung eröffnet, die nach Rudolph Walther u.a. zeigte: „Die Ermittler wie später die den Prozess führenden Richter und Staatsanwälte wollten Barbie für die begangenen Verbrechen exemplarisch bestrafen, aber jede Anklage gegen französische Kollaborateure vermeiden. So sollten zum Beispiel die Umstände, die zur Verhaftung, Folterung und Ermordung des Résistance-Helden Jean Moulin führten, explizit aus dem Prozess herausgehalten werden.“ Die Kuratorin der Ausstellung, Dominique Missika, wies darauf hin, wie problematisch für die Stadt des Prozesses und für den Résistance-Mythos der Nachkriegszeit diese Ermittlungserkenntnisse waren. „Es war der erste Prozess in Frankreich gegen jemanden, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden. Und es war der erste Prozess, der – 43 Jahre danach – aus Lyon, das zuvor als Hauptstadt der Résistance, also des Widerstands, gegolten hatte, plötzlich die Stadt der ‚collaboration‘ machte, der Mittäterschaft von Franzosen. Frankreich wurde plötzlich mit seiner Vergangenheit konfrontiert – zum ersten Mal nach dem Krieg.“
Gegen diese These der Klarsfelds und der Annette Wieviorka hatte François Azouvi in Le Mythe du grand silence ins Feld geführt – Henry Rousso fasst zusammen: „Nach dem Krieg gab es seiner Meinung nach kein Schweigen über die Judenvernichtung durch die Nazis, weder von Seiten der Juden selbst (abgesehen vom Sonderfall der Überlebenden, von denen sich bekanntlich einige geäußert hatten), noch von Seiten der Franzosen im Allgemeinen, und auch nicht von Seiten bestimmter Kreise, die mehr als andere verdächtigt wurden, die Frage aus Verlegenheit, Unverständnis oder Schuldgefühlen zu vermeiden, insbesondere die katholischen Intellektuellen. Im Gegenteil, die Einzigartigkeit dieses Verbrechens wurde weithin wahrgenommen und sehr schnell als beispiellos in der Geschichte identifiziert, ohne dass ein wirklicher Vergleich mit den anderen von den Nazis begangenen Massenverbrechen möglich gewesen wäre.“ 4
In seinem ersten Vaterroman hatte Chalandon bereits Heldentum und Legenden der eigenen Vaterfigur erzählt, in kurzen dialogischen Szenen, die nicht pathetisch werden, fiktionalisiert in der Sohnfigur Émile. Sein Vater hatte unter anderem behauptet, er sei Sänger, Fußballer, Judolehrer, Fallschirmjäger, Spion, Pastor einer amerikanischen Pfingstgemeinde und bis 1958 persönlicher Berater von General de Gaulle gewesen. Auch hier waren bereits diese Geschichten beiläufig mit Widerstandsgesten verknüpft.
En avril 1942, mon père est passé professionnel. Il avait vingt-deux ans. Son équipe marchait bien. Elle avait même battu Avignon 4 à 2 en championnat de guerre. De son côté, après avoir été à Metz, au Racing Club, champion de France 1936, vainqueur de la Coupe de France avec 24 sélections et 14 buts marqués en équipe nationale, Veinante entraînait Paris. Et voulait Choulans dans son équipe.
— Je ne joue pas en zone occupée, avait répondu mon père.
Alors Veinante a levé une main. Il avait compris.
— Qu’est-ce qu’il avait compris ? j’ai demandé.
Mon père est revenu à moi. Même geste, main levée, sans répondre.
Sept mois plus tard, les troupes allemandes envahissaient la zone libre. Et mon père a rangé ses crampons.
Sorj Chalandon, Profession du père
Im April 1942 wurde mein Vater berufstätig. Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Sein Team hat sich gut geschlagen. In der Kriegsmeisterschaft hatte es sogar Avignon mit 4:2 besiegt. Nach seiner Zeit in Metz, beim Racing Club, dem französischen Meister von 1936, dem französischen Pokalsieger mit 24 Länderspielen und 14 Toren für die Nationalmannschaft, war Veinante Trainer in Paris. Und er wollte Choulans in seinem Team haben.
„Ich spiele nicht in der besetzten Zone“, antwortete mein Vater.Also hob Veinante eine Hand. Er hatte verstanden.
„Was hatte er verstanden?“ fragte ich.Mein Vater kam zu mir zurück. Dieselbe Geste, erhobene Hand, ohne zu antworten.
Sieben Monate später drangen deutsche Truppen in die freie Zone ein. Und mein Vater steckte seine Spikes weg.
Chalandon berichtet aber, dass ihm mit einem Fund eines Dossiers über den Vater klar wurde, dass dieser bereits früh „das falsche Lager“ gewählt hatte:
Den Schlüssel, um die Schuld des Vaters zu verstehen, der in vier Jahren fünf verschiedene Uniformen zu tragen akzeptiert hatte – darunter die deutsche Uniform in Lyon –, diesen Schlüssel findet Chalandon erst nach dem Tod des Vaters im Lockdown der Pandemie 2020. Aus dieser Wucht der Erkenntnis entstand der zweite Roman über den Vater, Enfant de salaud. Nach der gemeinsamen Teilnahme am Barbie-Prozess entfacht sich ein Streitgespräch zwischen Vater und Sohn, der Vater wirft den Anklägern im Prozess vor, es sei Rache-, Sieger-, gar Lynchjustiz.
C’était comme si la présence de Klaus Barbie lui avait redonné de la force, de la morgue, de la haine. Voir le SS, observer son sourire, écouter sa tranquille assurance l’avait galvanisé. Au premier jour du procès, j’avais espéré qu’il entendrait raison. Que le jeune collaborateur de 22 ans, condamné en 1945, se retrouve comme face à ses juges. Qu’il mesure le chemin parcouru. Et qu’il me parle. Qu’il m’entraîne après l’audience pour quelques bières de vérité. Non papa, tu n’étais pas à Berlin en 1945. Non tu n’as pas combattu avec le dernier carré du bataillon Charlemagne. Tu étais en taule, imbécile ! Moins Français que n’importe qui. Et c’est ça que tu aurais pu m’avouer entre deux audiences de ce procès. Ça, que tu aurais dû me raconter. J’ai besoin de savoir qui tu es pour savoir d’où je viens. Je veux que tu me parles, tu m’entends, je l’exige ! Je n’ai plus l’âge de croire mais j’ai l’âge d’entendre et d’accepter. Cette vérité, tu me la dois.
Sorj Chalandon, Enfant de salaud
Es war, als ob die Anwesenheit von Klaus Barbie ihm seine Kraft, seine Mürrischkeit, seinen Hass zurückgegeben hätte. Den SS-Mann zu sehen, sein Lächeln zu sehen, seine ruhige Zuversicht zu hören, hatte ihn aufgerüttelt. Am ersten Verhandlungstag hatte ich gehofft, dass er zur Vernunft kommen würde. Dass der junge 22-jährige Kollaborateur, der 1945 verurteilt wurde, sich den eigenen Richtern stellen würde. Dass er die seither zurückgelegte Strecke ins Maß setzen würde. Und dass er mit mir reden würde. Dass er mich nach der Anhörung auf ein paar Bierchen der Wahrheit mitnimmt. Nein, Papa, du warst 1945 nicht in Berlin. Nein, du hast nicht mit dem letzten Überbleibsel des Bataillon Charlemagne gekämpft. Du warst im Knast, du Idiot! Warst weniger Franzose als alle anderen. Und das hättest du mir zwischen zwei Anhörungen in diesem Prozess auch gestehen können. Das hättest du mir sagen sollen. Ich muss wissen, wer du bist, um zu wissen, woher ich komme. Ich will, dass du mit mir redest, hörst du, das fordere ich! Ich bin nicht mehr alt genug, um es zu glauben, aber ich bin alt genug, um es anzuhören und zu akzeptieren. Diese Wahrheit schuldest du mir.
Kai Nonnenmacher
- Roger de Weck, „Schweigen vor dem Leid der Opfer“, Die Zeit, 3. Juli 1987.>>>
- Annette Wieviorka, „Observations sur des procès nazis: de Nuremberg à Klaus Barbie“, in Tribunale: literarische Darstellung und juridische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im globalen Kontext /, hrsg. von Werner Gephart u.a. (Frankfurt, M. : Klostermann, 2014), 29–38.>>>
- Walther Fekl: „Affaires Barbie / Bousquet / Touvier / Papon“, in Bernhard Schmidt et al. (Hrsg.): Frankreich-Lexikon. 2. Auflage. (Berlin: Erich Schmidt, 2005), 39 ff.>>>
- „Après la guerre, il n’y a eu, selon lui, aucun silence sur l’extermination des juifs par les nazis, ni de la part des juifs eux-mêmes (au-delà du cas particulier des survivants dont certains, on le savait, s’étaient exprimés), ni de la part des Français en général, ni même de certaines franges suspectes plus que d’autres d’avoir cherché à éviter la question, par gêne, incompréhension ou sentiment de culpabilité, notamment les intellectuels catholiques. Bien au contraire, on a largement perçu la singularité de ce crime, identifié très vite comme sans précédent dans l’histoire, et sans réelle comparaison possible avec les autres crimes de masse commis par les nazis.“ Henry Rousso, „La France a-t-elle eu la mémoire qui flanche ?“, Marianne, 3. November 2012.>>>