Schüler: verbannter Engel

Wenn man Bücher für den Französischunterricht sucht, ist schnell von prosaischen Ausdrücken die Rede, von ‚Ganzschriften‘ oder ‚Kompetenzen‘. Pädagogisch-didaktische Absichten tendieren leicht zu landeskundlichen oder moralischen guten Absichten, aber es gibt auch diese dunklere Faszination für die Abgründe der Pubertät, des Heranwachsens, bei denen selbst ein Lehrer seine überlegene Distanz verlieren kann und besessen wird. Hierzu gehört der Roman Bélhazar. Das Eingangsmotto von Thomas Wolfes Coming of Age Roman Look homeward, Angel, französisch L’Ange exilé, knüpft an Eugene Gant an, eine autobiographisch gefärbte jugendliche Figur in einer schwierigen Familie, und er ist „als Fremder sich selbst ein Gespenst (…), der in seiner Seele so einsam ist wie in der Welt“. 1

Jérôme Chantreau schreibt als Lehrer in der fiktionalen Form seine Untersuchung eines realen Todesfalls des Jahres 2013, der seines Schülers Antoine-Bélhazar Jaouen im Baskenland. Anders als Wolfe will Chantreau nicht über die jugendliche Figur einen Sittenroman der zeitgenössischen Gesellschaft schreiben will, sondern konzentriert sich auf den titelgebenden toten Schüler. Nach einer Polizeikontrolle stirbt Bélhazar mit 18 Jahren, es wird öffentlich als Selbstmord erklärt. Er führt eine Waffe illegal mit sich, als es eine Rangelei unter Betrunkenen gibt, feuert er in die Luft. Später folgt die Verhaftung durch ein paar Gendarme. Danach wird sich ein Schuss lösen, ein Tod, der unerklärt geschieht. Der Stoff ist nicht fiktiv, aber er ist wie ein Blockbuster dramatisch: Die Anwälte, die sich die Eltern nehmen werden, kommen tragisch ums Leben, 2013 der erste per Selbstmord, beim Anschlag im Bataclan später der zweite. Und auch einer der drei Polizisten stirbt. Welchen Zusammenhang kann hier ein Roman herstellen, welchen Sinn finden?

Je dis que tout est vrai. Chaque détail, chaque élément du puzzle que j’ai retrouvé, je l’ai vu, je l’ai tenu dans mes mains. La seule chose que l’on peut m’opposer, c’est d’avoir tendu un fil entre ces éléments. (…) On peut voir dans la vie de Bélhazar une succession de coïncidences. On peut dire qu’il n’y a aucun lien entre ces faits, que tout est hasard. Moi-même, je crois aux hasards et je me méfie du Destin. Je pense que les choses qui arrivent dépendent d’une mathématique infiniment puissante, qui fait surgir les événements comme les boules du Loto. Mais je trouve que Bélhazar gagnait bien souvent. Je dis qu’il y a des hasards qui méritent qu’on les regarde de plus près. La lecture que j’en fais, le roman que j’en tire, je veux bien qu’on me dise que c’est n’importe quoi, mais tout est vrai.

Jérôme Chantreau, Bélhazar

Ich sage, dass alles wahr ist. Jedes Detail, jedes Teil des Puzzles, das ich gefunden habe, habe ich gesehen, habe ich in Händen gehalten. Das Einzige, was man gegen mich vorbringen kann, ist, dass ich einen Faden zwischen diesen Elementen gespannt habe. (…) Im Leben von Belhazar können wir eine Reihe von Zufällen beobachten. Man kann sagen, dass es keinen Zusammenhang zwischen diesen Fakten gibt, dass alles Zufall ist. Ich selbst glaube an den Zufall und misstraue dem Schicksal. Ich glaube, dass die Dinge, die geschehen, von einer unendlich mächtigen Mathematik abhängen, die die Ereignisse wie Lottokugeln erscheinen lässt. Aber ich finde, dass Belhazar oft das Spiel gewann. Ich sage, dass es Zufälle gibt, die es verdienen, genauer betrachtet zu werden. Diese Lektüre, die ich vornehme, der Roman, den ich daraus schreibe, – wenn man mir sagt, dass das Unsinn ist, macht mir das nichts aus, aber es ist alles wahr.

Bélhazar ist ein Rechercheroman, es ist das sehr individuelle Porträt eines Heranwachsenden durch den Lehrer, der mit ansah, wie der Schüler in seiner eigenen Welt lebte: Olivia de Lamberterie charakterisiert in ihrer Besprechung den Protagonisten als mysteriös-faszinierende Erscheinung: „Il est de ces êtres qu’on n’oublie pas, mèche noire d’Albator, pardessus de mousquetaire, bottes militaires, mais surtout un esprit en roue libre, des préoccupations ni de son âge ni de son époque – la Première Guerre mondiale, la peinture, les jeux, le goût de l’ailleurs –, il y a du Rimbaud dans l’air de ce voyant.“ 2 An der Grenze zur düsteren Legende, zum Künstlerroman sammelt der Lehrer Indizien, etwa bei der verzweifelten Mutter Armelle, die überzeugt bleibt, dass es kein Selbstmord sein konnte, beim stilleren Ex-Partner Yann. Sie sind dem rätselhaften Charisma des jungen Mannes erlegen:

Tu étais l’un de ces enfants dont l’acuité intellectuelle peut mettre mal à l’aise les adultes. (…)

Tu es le Regardeur de soleils, celui qui boit la lumière sans se brûler les yeux, le Petit Diderot, encyclopédiste de douze ans, sachant tout et ne répondant rien, tu es l’Arpenteur, qui trace en marchant la carte d’un monde invisible, le garçon aux cheveux de jais qui donne à ses amis le courage d’être eux-mêmes. Tu es l’adolescent qui ne dit pas bonjour, mais offre des fleurs, les mange et recrache par le pinceau des terres inconnues, le gamin à l’intérieur duquel survit l’âme d’un Poilu de 1914. Tu es le maître du lapin blanc, devant qui les mensonges s’effondrent.

Jérôme Chantreau, Bélhazar

Du warst eines dieser Kinder, deren intellektuelle Schärfe Erwachsene in Verlegenheit bringen kann. (…)

Du bist der Sonnenbetracher, der das Licht trinkt, ohne sich die Augen zu verbrennen, der kleine Diderot, der zwölfjährige Enzyklopädist, der alles weiß und auf nichts eine Antwort hat, du bist der Landvermesser, der die Karte einer unsichtbaren Welt zu Fuß abschreitet, der Junge mit den glatten Haaren, der seinen Freunden den Mut gibt, sie selbst zu sein. Du bist der Teenager, der nicht grüßt, sondern Blumen anbietet, sie isst und unbekannte Länder mit seinem Pinsel ausspuckt, der Junge, in dem die Seele eines Frontsoldaten von 1914 weiterlebt. Du bist der Meister des weißen Kaninchens, vor dem die Lügen in sich zusammenfallen.

Ob es ein Buch für den Französischunterricht ist? Es ist zumindest auch ein Buch über dessen Sprengung, so wenn Mutter und Lehrer über die Ausnahmebegabung des Sohnes diskutieren. Der Hochbegabte, den man in Bélhazar sehen kann, führt das System Schule an seine Grenzen, und auch der Lehrer-Autor erlebt die Zeit seines Schreibens als Zerfall: das eigene Beziehungsende, die Entfremdung vom bisherigen Verleger, der Verlust des eigenen Hauses, eine existenzielle Krise. Die Recherchen nach dem toten Schüler, diesem „verbannten Engel“, bringen zahlreiche Überraschungen zutage, es ist zugleich ein Buch über die eigene Angst, geschrieben in der ersten Person.

Notre dernier rendez-vous a été mémorable.

(…)

Le dernier conseil de classe approchait. Elle a commencé à parler d’un ton ferme, comme si elle avait déjà acté sa victoire. Elle a déballé sur la table des bulletins et des devoirs de son fils. Chiffres à l’appui, elle voulait me montrer à quel point j’avais été incapable d’obtenir le moindre progrès chez Bélhazar. Les aides pédagogiques que j’avais mises en place n’avaient produit aucun effet. Je me défendais mollement, quoique persuadé de mon bon droit. Je savais que les hauts potentiels ne réussissent pas toujours. À l’époque, on les appelait encore les « surdoués ». C’était n’importe quoi. Que pouvais-je faire ? Un examen pour lui tout seul ? Je veux bien qu’il ait été intelligent, mais qui l’empêchait d’utiliser ses capacités ? Il était original ? Parfait ! Ils voudraient tous être des génies, des Rimbaud. Mais Rimbaud, à douze ans, écrivait en grec. Qu’est-ce que c’est que cette intelligence qui n’est que potentielle, qui n’est qu’un chiffre de QI à la suite d’un graphique, et que l’on ne voit s’exprimer nulle part ? Cela aurait été tellement plus simple que Bélhazar accepte, une fois au moins, de jouer le jeu. Cela aurait été tellement plus simple qu’il se décide à entrer dans mes cases.

Jérôme Chantreau, Bélhazar

Unser letztes Treffen war denkwürdig.

(…)

Der letzte Klassenrat rückte näher. Sie begann in einem festen Ton zu sprechen, als ob sie ihren Sieg bereits erklärt hätte. Sie packte die Zeugnisse und Hausaufgaben ihres Sohnes auf dem Tisch aus. Sie wollte mir zeigen, dass ich bei Belhazar keine Fortschritte machen konnte. Die Lehrmittel, die ich eingesetzt hatte, waren wirkungslos geblieben. Ich habe mich nur schwach verteidigt, obwohl ich überzeugt war, dass ich im Recht war. Ich wusste, dass High Potentials nicht immer erfolgreich sind. Damals wurden sie noch als „hochbegabt“ bezeichnet. Das war alles Blödsinn. Was könnte ich tun? Eine Prüfung für ihn allein? Ich habe kein Problem damit, dass er intelligent war, aber wer hat ihn daran gehindert, seine Fähigkeiten zu nutzen? War er originell? Perfekt! Sie alle wollen Genies sein, Rimbauds. Aber Rimbaud schrieb mit zwölf Jahren schon auf Griechisch. Was ist das für eine Intelligenz, die nur potenziell ist, die nur ein IQ-Wert ist, der einem Diagramm folgt, und den wir nirgendwo ausgedrückt sehen? Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn Belhazar wenigstens einmal zugestimmt hätte, das Spiel zu spielen. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn er sich entschieden hätte, in meine Schubladen zu passen.

Kai Nonnenmacher

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Anmerkungen
  1. « … en ses douloureuses et sombres entrailles un étranger avait été porté à la vie, nourri d’éternité par des messages perdus, un étranger qui serait à lui-même son propre fantôme, qui hanterait sa propre demeure ; seul dans son âme, seul au monde. Ô perdu ! »>>>
  2. „Er gehört zu den Menschen, die man nicht vergisst: die schwarze Haarsträhne des Albators, der Musketiermantel, die Militärstiefel, aber vor allem ein Freigeist, der weder seinem Alter noch seiner Zeit entspricht – der Erste Weltkrieg, die Malerei, die Spiele, die Vorliebe für das Abseitige –, es liegt etwas von Rimbaud in der Luft bei diesem Visionär.“>>>