Inhalt
Ein anarchistischer Bankier
Wie das Geld bekämpfen und es dabei noch bezwingen? Wie sich seinem Einfluß und seiner Tyrannei entziehen, ohne ihm aus dem Weg zu gehen?
Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier. 1
Philippe Sollers ist Herausgeber der Reihe „L’Infini“, in der das besprochene Buch erscheint, er wies einmal darauf hin, dass Yannick Haenel sich auf den berühmten Satz von Blanchot beruft: „Ein Schriftsteller, der beim Schreiben nicht denkt: Ich bin die Revolution, der schreibt in Wirklichkeit nicht.“ 2 Mit Le Trésorier-payeur legt Yannick Haenel 2022, fünf Jahre nach Tiens ferme ta couronne, einen neuen Roman vor, dessen Idee nach eigener Aussage entstand, als er selbst in eine Filiale der Banque de France eingeladen wurde, die nun ein Kunstzentrum ist, für eine Ausstellung mit Bezügen zu Georges Bataille; er entscheidet hier, einen namensgleichen Bankier zum Protagonisten zu machen, der im Sinne Pessoas das Wirtschaftssystem von innen heraus verstehen will, um es zu kritisieren. Hier sei nur an das Motto in Haenels Renards pâles erinnert, worin ein Aufstand der sans-papiers erzählt wird:
Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung
Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion 3
Was hat sich seit Yannick Haenels Roman Cercle (2007) – worin der Banktresor noch als Schlachthalle dämonisiert wurde – in der Weltsicht und dem Kunstverständnis von Yannick Haenel geändert?
Il y a, au fond de la scène, d’étranges portes blindées, de grosses portes munies d’un gouvernail, comme celles des coffres-forts. C’est ça : ce sont les portes d’une banque – on est dans une banque. En même temps, ça pue sacrément le crime. Ces portes blindées, elles me font penser au cabinet de Barbe-Bleue. Je vois déjà les femmes pendues au mur, accrochées dans leur sang – et les gestes, tous coagulés. Les secrets d’argent circulent comme du sang pourri. Féerie noire, tuerie cachée, boyaux qui palpitent sous la surface métallisée des coffres.
Yannick Haenel, Cercle
Im Hintergrund der Bühne befinden sich seltsame Panzertüren, große Türen mit einem Steuerruder, wie bei einem Tresor. Genau: Es sind die Türen einer Bank – wir befinden uns in einer Bank. Gleichzeitig stinkt es nach Verbrechen. Diese Panzertüren – sie erinnern mich an Blaubarts Kabinett. Ich sehe schon die Frauen an der Wand hängen, die in ihrem Blut hängen – und die Gesten, die alle geronnen sind. Geldgeheimnisse zirkulieren wie faules Blut. Schwarzer Zauber, verborgenes Töten, pulsierende Gedärme unter der metallisierten Oberfläche der Tresore.
Der Tresor wurde für Haenels jüngsten Roman Le Trésorier-payeur (Gallimard, 2022) offensichtlich dampfgereinigt: Der Goldstandard glänzt makellos und beeindruckt den amerikanischen Präsidenten bei seinem Besuch der Banque de France in einer grotesk-protoreligiösen Szene. Ronald Reagan feiert im „Heiligtum“, wie in einem ägyptischen Grabmal, die „barbarische Reliquie“, so zitiert Haenel hier den Ökonomen Keynes.
On traversa la salle des colonnes comme dans un rêve, et après avoir longé les petites salles où il s’était assis tout à l’heure, ils tombèrent enfin sur les réserves d’or.
Ronald Reagan poussa un cri de joie à la vue de lingots conditionnés en palettes qui s’empilaient sur des chariots. De Larosière, dont le silence semblait dire qu’on n’avait encore rien vu, ouvrit une série d’armoires métalliques qui regorgeaient de ces barres d’or impeccablement rangées sur des étagères ; puis il conduisit ses invités dans une salle où les lingots, empilés en pyramide, formaient une montagne étincelante.
C’était donc ça le trésor, la vraie grotte, la cachette mythique où l’on stocke l’étalon or, c’est-à-dire la matière la plus convoitée au monde, celle qui rend fous les humains, celle qui donne la mesure à tout ce qui s’agite à la surface de la Terre.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Sie durchquerten die Säulenhalle wie in einem Traum, und nachdem sie an den kleinen Räumen vorbeigegangen waren, in denen er vorhin gesessen hatte, stießen sie schließlich auf die Goldreserven.
Ronald Reagan stieß beim Anblick der in Paletten verpackten Barren, die sich auf Wagen stapelten, einen Freudenschrei aus. De Larosière, dessen Schweigen zu sagen schien, dass man noch nichts gesehen hatte, öffnete eine Reihe von Metallschränken, die voll mit diesen tadellos in Regalen aufgereihten Goldbarren waren; dann führte er seine Gäste in einen Raum, in dem die Barren pyramidenförmig gestapelt einen glitzernden Berg bildeten.
Das war also der Schatz, die wahre Höhle, das mythische Versteck, in dem der Goldstandard gelagert wird, also das begehrteste Material der Welt, das die Menschen verrückt macht, das Maß aller Dinge, die sich auf der Erdoberfläche tummeln.
Man kann mit Sollers sagen, dass Haenel sich als Literat einer radikalen Gegenwartskritik versteht, so schrieb er unter Bezug auf den Philosophen Levinas in seiner Chronik der Attentatsprozesse um Charlie Hebdo, Notre solitude, es könne Jahre dauern, bis das radikale gegenwärtige Ereignis (hier die terroristische Gewalt) in unsere Seele dringen kann:
Car il est parfois impossible d’accorder de l’attention à ce qui nous métamorphose aussi radicalement : personne ne s’habitue à la violence, et il faut des mois, parfois des années, pour faire entrer le temps dans son âme, et plus encore pour que ce temps devienne réellement le nôtre, pour qu’il s’ouvre à une vérité qui ne relève pas seulement d’une perception singulière, mais s’élargisse à la communauté de toutes celles et ceux qui pensent avec Emmanuel Levinas, que « la vérité suppose la justice ».
Yannick Haenel, Notre solitude
Denn manchmal ist es unmöglich, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was uns so radikal umwandelt: Niemand gewöhnt sich an Gewalt, und es dauert Monate, manchmal Jahre, um die Zeit in seine Seele zu lassen, und noch mehr, damit diese Zeit wirklich die unsere wird, damit sie sich einer Wahrheit öffnet, die nicht nur einer singulären Wahrnehmung unterliegt, sondern sich auf die Gemeinschaft all derer ausdehnt, die mit Emmanuel Levinas der Meinung sind, dass „die Wahrheit die Gerechtigkeit voraussetzt“.
Zwischen Haenels Reflexion der Gerechtigkeit (bzw. des Verbrechens) und der Ökonomie gibt es die Differenzierung des symbolischen Kapitals von vulgärer und edler Kriminalität:
Entre le trafic de drogue et le terrorisme se dévoilaient de brusques débouchés, extrêmement risqués – car la peine de prison, comme le disaient eux-mêmes les accusés, est alors « à deux chiffres » –, mais rentables dans l’ordre du symbolique, car la vulgarité criminelle trouve alors dans la religion un alibi que l’argent ne lui fournit pas. Pour ceux qui veulent légitimer leurs crimes, le fanatisme religieux est une aubaine : la pulsion de mort devient immédiatement noble.
Yannick Haenel, Notre solitude
Zwischen Drogenhandel und Terrorismus offenbarten sich plötzliche Absatzmärkte, die zwar äußerst riskant sind – denn die Gefängnisstrafe liegt, wie die Angeklagten selbst sagten, in diesem Fall „im zweistelligen Bereich“ –, sich aber auf symbolischer Ebene auszahlen, denn die kriminelle Vulgarität findet dann in der Religion ein Alibi, das ihr das Geld nicht verschafft. Für diejenigen, die ihre Verbrechen legitimieren wollen, ist der religiöse Fanatismus ein Glücksfall: Der Todestrieb wird sofort edel.
In ähnlich legitimierender Weise lebt der ‚andere‘ Georges Bataille in Haenels neuestem Buch eine noble, eine heilignüchterne (um Hölderlins Adjektiv zu verwenden) Ökonomie, im Sinne der Theorie, die auch der Kunst hier eine Rolle zuschreibt:
Il ne s’agit nullement d’une volonté d’éliminer ce qui subsiste : qui parlerait de supprimer l’oeuvre d’art ou la poésie ? Mais un point doit être mis à nu tel que la sèche lucidité y coïncide avec le sentiment du sacré.
Georges Bataille, La part maudite 4
Es geht keineswegs darum, das Bestehende vernichten zu wollen, wer wollte das Kunstwerk oder die Poesie vernichten? Aber ein Punkt muß freigelegt werden, an dem die nüchterne Klarheit mit dem Gefühl des Heiligen zusammenfällt.
Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie 5
Vieles wurde in den letzten Jahrzehnten über Georges Batailles Ökonomie der Verschwendung geschrieben, in La part maudite entwirft er das Gegenmodell zu einer verengten Wirtschaft der Nutzenserwägungen und des Mangels zwischen Angebot und Nachfrage. In Zeiten des Poststrukturalismus wurde der exzessive, überschreitende Part dieses Gegenmodells betont. Peter Sloterdijk nennt Batailles Entwurf eine ‚Ökonomie des Stolzes‘ und weist damit auf anthropologische Dimensionen von gutem Leben und Anerkennung, wie wir sie eben im Zusammenhang mit Kriminalität in Notre solitude problematisiert haben: „Bataille entziffert in Nietzsches Schriften die Umrisse einer Ökonomie des Stolzes, durch die der Begriff Investition radikal modifiziert wird. Wenn gewöhnliche Investoren ihre Mittel dazu verwenden, mehr zurückzubekommen, als sie eingesetzt haben (ihre Zeit ist eo ipso Zeit des Wartens auf den return on investment), setzen die anderen ihre Ressourcen ein, um ihren Stolz zu befriedigen und ihr Glück zu bezeugen. Beide Regungen verbieten es den Gebern, Gewinne in gleicher Währung zu erwarten – indessen Gewinne an Reputation und Hochgefühl völlig legitim und wünschbar sind (daher ist ihre Zeit die Zeit der Weitergabe eines Reichtums, der Bedeutsamkeit erzeugt).“ 6
Nach eigenen Angaben nahm sich Yannick Haenel bei seinem Italienaufenthalt die Zeit, Georges Bataille nochmal zu studieren. Angesichts der Migrationskrise des Landes schreibt er in Je cherche l’Italie (2015):
Au fond, la traversée suicidaire de l’Afrique à l’Europe est un moyen pour les riches d’éliminer ce « reste » gênant de leur dispositif : ceux qui sont en trop, et dont aucun des deux continents ne veut. La croissance des sociétés occidentales dégénère en une excroissance proportionnelle à la disqualification dont leurs modèles politiques font l’objet ; ainsi leur excédent de richesses ne relève-t-il pas de la « part maudite » dont parlait Georges Bataille : celle-ci ne s’expose pas à la dépense (il lui faudrait un sens du sacré), mais au déchet.
Yannick Haenel, Je cherche l’Italie
Im Grunde ist die selbstmörderische Überfahrt von Afrika nach Europa eine Möglichkeit für die Reichen, den lästigen „Rest“ aus ihrem Dispositiv zu entfernen: diejenigen, die zu viel sind und von keinem der beiden Kontinente gewollt werden. Das Wachstum der westlichen Gesellschaften degeneriert zu einer Wucherung, die proportional zur Disqualifizierung ihrer politischen Modelle ist, und so ist ihr überschüssiger Reichtum nicht der „verfluchte Teil“, von dem Georges Bataille sprach: Diese setzt sich nicht der Verausgabung aus (dazu bräuchte sie einen Sinn für das Heilige), sondern dem Abfall.
Entsprechend der Idee der Verausgabung argumentieren Lipovetsky und Roux in Le Luxe éternel, bei einer Betrachtung der zeremoniellen Verteilung von Gütern und Geschenken verpflichte der Adel geradezu, die eigene soziale Wertschätzung durch Geschenke zu erlangen: „Die Häuptlinge müssen unermüdlich Geschenke machen, Feste sponsern und große Festessen veranstalten, um ihren Status zu erhalten oder ihr Ansehen zu steigern. In Stämmen mit Potlatch verdienen sich die Häuptlinge Titel und Ehre, indem sie mit ihrer Pracht wetteifern und manchmal andere Häuptlinge durch die verschwenderische Zerstörung beträchtlicher Werte herausfordern. Um sich als groß zu erweisen und die Rivalen zu übertrumpfen, gilt es, wahnsinnig verschwenderisch zu sein, das Wertvollste zu verbrennen oder ins Meer zu werfen. In diesem Punkt hatte sich Georges Bataille nicht geirrt, der im Potlatch „die spezifische Manifestation, die signifikante Form des Luxus“ erkannte. In der primitiven Gesellschaft ist nicht der Besitz von Wertgegenständen von Bedeutung, sondern das soziale und spirituelle Element des Tauschens und Schenkens, der Erwerb von Prestige durch das Zirkulieren oder Verbrennen von Reichtum.“ 7 In einer verengten Wirtschaft des Mangels ist dieses Engagement und der Luxus des Potlatch durch Eliten verschwunden.
Ein Satz unter all den Sätzen – Perle und Träne
Une phrase en particulier, parmi toutes celles de La Part maudite qui combattent l’avidité, attira mon attention : « Rien de plus logique que d’assigner des fins splendides à l’activité économique. » Je peux dire, sans dévoiler la substance de ce récit, que c’est le Trésorier-payeur qui me fit comprendre le sens d’une telle phrase, lui qui, personnellement, voulut assigner des fins splendides à l’économie – et qui, en un sens, y parvint.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Besonders ein Satz unter all den Sätzen in La Part maudite, die die Gier bekämpfen, erregte meine Aufmerksamkeit: „Nichts ist logischer, als der Wirtschaftstätigkeit prachtvolle Ziele zuzuweisen.“ Ich kann sagen, ohne den Inhalt dieser Erzählung zu verraten, dass es der Trésorier-payeur war, der mir den Sinn eines solchen Satzes verdeutlichte, der selbst der Wirtschaft prachtvolle Zwecke zuweisen wollte – und dies in gewissem Sinne auch erreichte.
Des fins splendides: prächtige und prunkvolle Ziele, wunderbarer Luxus, strahlende Schönheit, glänzende und hinreißende Verausgabung, statt einer auf Sparsamkeit, Berechnung und Ausbeutung gründenden Ökonomie. Georges Batailles La Part maudite formulierte diese Gegenkonzeption, eine splendide Wirtschaft der Verschwendung, und der Protagonist von Yannick Haenels jüngstem Roman Le Trésorier-payeur (2022) trägt Batailles Namen.
Bevor man der Gefahr von Literaturbesprechungen erliegt, Fiktion zu schnell auf ein Kernproblem (hier Ökonomie) zu verengen: Haenels Roman Le Trésorier-payeur ist auch ein Text über den Garten und den Himmel, über Licht und Märchenhaftes („féerie“), über die Freude und die Zeit, über das Begehren (als Bedürfnis, als Liebe und Erotik), über das Absolute und die Stille. Ein Roman, der so das Nutzendenken in Begehren und Verausgabung transzendieren möchte. Differenzierte Kritiken sind zum Roman bereits erschienen, 8 aber auf den Auswahllisten der Literaturpreise bleibt Haenels Buch, soweit ich sehe, unbeachtet. Der Verlag fasst das Buch zusammen: „Es ist die Geschichte eines Bankers, der alles ausgeben will. Anfang der 90er Jahre bricht der junge Bataille sein Philosophiestudium ab, um sich an einer Wirtschaftsschule einzuschreiben, und bekommt seine erste Stelle in Béthune, in der Filiale der Banque de France. In dieser Stadt, in der die Schließung der Bergwerke und die Verwüstungen des Neoliberalismus eine Krisenlandschaft installiert haben, wird das Leben des Schatzmeisters und Zahlmeisters zu einem leidenschaftlichen Abenteuer: Unter dem Schutz des Bankdirektors Charles Dereine verteidigt er überschuldete Menschen, entdeckt den sexuellen Schwindel mit Annabelle, einer Rimbaud’schen Buchhändlerin, engagiert sich in der Bruderschaft der Charitables, arbeitet mit Emmaus zusammen und lernt die Liebe seines Lebens kennen, die Zahnärztin Lilya Mizaki. Wie kann man Anarchist sein und gleichzeitig in einer Bank arbeiten? Kann man alles geben? Yannick Haenel erzählt, wie es möglich ist, durch Nächstenliebe und Erotik der Welt der Berechnung von innen heraus Widerstand zu leisten.“ 9 Etwas spitz kommentierte Claude Arnaud die Geschichte: „Es gibt da eine sehr französische Mischung aus katholischer Ablehnung des Geldes, Hassliebe zum Staat und dem Glauben an die Literatur und die Erotik. […] Die Beschwörung der Philosophischen Fakultät und der Business School in Rennes sowie der Besuch der labyrinthischen Lagerräume der Banque de France durch die Reagans sind anthologische Teile. Das Souterrain wird zum Herzen dieser herzlosen Welt, von der Marx sprach, mit ihren makellos aufgeräumten Barren, während Obdachlose auf den benachbarten Bürgersteigen dahinvegetieren. Eine Realität, die im Roman selten behandelt wird und sich als Schatz erweisen könnte.“ 10 Der Autor versucht eine weiter gehende Synthese seines Romans in fünf Minuten:
Yannick Haenels Werke sind allesamt reich an aufgefundenen, den Text fundierenden Sätzen wie dem oben zitierten aus Batailles La Part maudite. Auch die Gründung der Zeitschrift Ligne de risque, gemeinsam mit François Meyronnis und Frédéric Badré, führte Haenel auf einen Satz aus den Poésies von Ducasse zurück; der Roman Evoluer parmi les avalanches beruht auf dem Gegen-Satz von Ducasse und Pascal je über das Verhältnis zum Nichts, zahlreiche weitere Beispiele für die Rolle des Satzes in Haenels Büchern wären zu nennen.
Réciter cette phrase me faisait du bien. Tant que je la récitais, il ne pouvait rien m’arriver. Cette phrase, en quelque sorte, me protégeait. Je me disais : voilà, au moins tu as trouvé une phrase ce soir, c’est comme ça qu’il faut faire. Tu tiens ta chronique, me disais-je avec un peu de sarcasme.
Yannick Haenel, Notre solitude
Je marmonnais cette phrase, le visage penché vers ma poitrine, emmitouflé dans ma veste dont j’avais relevé le col.
Das Aufsagen dieses Satzes tat mir gut. Solange ich ihn aufsagte, konnte mir nichts passieren. Dieser Satz schützte mich gewissermaßen. Ich sagte mir: Na bitte, wenigstens hast du heute Abend einen Satz gefunden, so muss man das machen. Du führst deine Kolumne, sagte ich mir mit ein wenig Sarkasmus.
Ich murmelte diesen Satz, das Gesicht zur Brust geneigt, eingepackt in meine Jacke, deren Kragen ich hochgeschlagen hatte.
In Haenels Essay zu Caravaggios Malerei wählt er einen Satz, der für ihn eine bestimmte Ästhetik der Perle repräsentiert:
J’avais trouvé dans Claudel une phrase merveilleuse sur la perle : « cette babiole nacrée, ce pétale, ce pur grêlon, comme ceux dans le ciel que conçoit la foudre, mais d’où émane, comme d’une chair d’enfant, une espèce de chaleur rose ». Cette chaleur rose, je la connaissais. Tous ceux qui cherchent la perle en possèdent déjà le goût.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
Ich hatte bei Claudel einen wunderbaren Satz über die Perle gefunden: ‚dieses perlmuttfarbene Schmuckstück, dieses Blütenblatt, dieses reine Hagelkorn, wie jene am Himmel, die der Blitz hervorbringt, von denen aber wie aus dem Fleisch eines Kindes eine Art rosafarbene Wärme ausgeht‘. Diese rosafarbene Wärme kannte ich. Jeder hat sie bereits erfahren, der nach der Perle sucht.
Die Perle an Judiths Ohr im weiteren Text stammt aus dem drastischen Moment, in dem sie Holofernes eigenhändig köpft, und doch fokussiert Haenel auf das splendide Detail, das sich in dieser Betrachtung über die Welt erhebt:
À son oreille, une adorable perle était fixée par un nœud de velours noir dont la boucle formait un papillon. Il arrive qu’un détail rivalise avec le monde : cette perle, ce papillon noir me plaisaient à ce point qu’ils jouèrent un rôle crucial dans ma vie. Je peux dire qu’ils veillèrent ensemble sur mon désir ; ils en étaient l’image – ils en devinrent même la clef.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
An ihrem Ohr war eine entzückende Perle mit einer schwarzen Samtschleife befestigt, deren Schleife einen Schmetterling bildete. Es kommt vor, dass ein Detail mit der Welt wetteifert: Diese Perle und dieser schwarze Schmetterling gefielen mir so sehr, dass sie eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielten. Ich kann sagen, dass sie gemeinsam über mein Verlangen wachten, sie waren das Abbild davon – sie waren sogar der Schlüssel dazu.
Vergessen wir nicht, Judiths Grausamkeit führt zur Befreiung der Israeliten. Ihre Schönheit verschaffte ihr den Zugang zu den Gemächern des Holofernes, sein Begehren gab ihr die Möglichkeit, ihn betrunken zu machen und den Eingeschlafenen zu töten.
Perlmuttfarben wie dieses Detail ist eine Träne in einem anderen Gemälde, welche wie die vielfachen Spiegelungen, Farbnuancen und Lichtspiele in Yannick Haenels Romanen eine vieldeutige Erzählpoetik des Splendiden veranschaulicht:
Je regarde le tremblement nacré d’une femme, dont la larme si discrète, en écho à la perle jetée à terre, s’écoule sur sa joue. Je pense alors que la nacre réfléchit plus encore que l’amour, et que le reflet qui se loge en toute larme est le premier miroir en lequel, malgré notre aveuglement, nous avons trouvé réfléchie la figure du monde et celle de nos corps stupéfaits. Oui, dans une larme qui coule, comme à la joue de Madeleine, je découvre le monde devenu perle.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
Ich beobachte das perlmuttfarbene Zittern einer Frau, deren so diskrete Träne, als Echo der zu Boden geworfenen Perle, über ihre Wange läuft. Dann denke ich, dass Perlmutt noch mehr reflektiert als die Liebe, und dass die Spiegelung, die sich in jeder Träne einnistet, der erste Spiegel ist, in dem wir trotz unserer Blindheit die Gestalt der Welt und die Gestalt unserer verblüfften Körper gespiegelt gefunden haben. Ja, in einer Träne, die wie an Magdalenas Wange herunterläuft, entdecke ich die Welt, die zur Perle geworden ist.
Es wäre grundfalsch, die theoretischen und ästhetischen Überlegungen Haenels – hier Träne, Spiegelung und Perle – von seinen kritischen Zeitromanen zu trennen. Gerade im jüngsten Roman Le Trésorier-payeur ist der philosophische Bankier einer, der Batailles Ökonomie des Splendiden bis in seine Wahrnehmung und sein körperliches Begehren umsetzt, hier begegnet uns wieder die Kontemplation der perlenhaften Träne, wie überhaupt Haenels Bücher in ihren Bezugnahmen zueinander gelesen werden sollten:
Les yeux de Yarek étincelaient, ils étaient rouges de fatigue et d’émotion. Corinne, les mains jointes, avait fermé les yeux. Une larme coulait sur son visage très blanc, où passait un reflet rose pâle. Le Trésorier-payeur avait retenu son souffle.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Yareks Augen funkelten, sie waren rot vor Müdigkeit und Aufregung. Corinne hatte die Augen geschlossen und die Hände gefaltet. Eine Träne lief über ihr sehr weißes Gesicht, durch das ein zartrosa Schimmer hindurchschimmerte. Der Trésorier-payeur hatte den Atem angehalten.
Mater perlarum
Haenel ist ein Erzähler der Lust und des Lichts: Der innerliche Glanz der Molluskenschalen, mater perlarum, gibt eine der prächtigsten Farbeindrücke der Literatur, Prousts „Perlmuttscherben der Morgenröte“ („des débris de nacre de l’aurore“) 11 etwa, die in Sodome et Gomorrhe eine maritime Lichtszenerie poetisch-träumerisch einfärben. Der Ethnologe Lévi-Strauss schwang sich in seinen Reiseberichten zur Verherrlichung der Wüstenfarben auf, als „Wüste aus Fleisch: Pfirsichhaut, Perlmutt, roher Fisch“. 12
Auster, Perlmutt und Perle bilden eine komplexe Allegorie auch des künstlerischen Schaffensprozesses und des Ästhetischen. Petrarca wollte die perlenhafte Erscheinung seiner Laura nur in Vereinigung mit ihrer Keuschheit als ‚schön‘ bedichten:
Gentileza di sangue, et l’altre care
cose tra noi, perle et robini et oro,
quasi vil soma egualmente dispregi.L’alta belta ch’al mondo non a pare
Petrarca, Canzoniere 263.
noia t’e, se non quanto il bel thesoro
di castita par ch’ella adorni et fregi.
Edles Blut und die anderen Dinge, die bei uns wertvoll sind, Perlen und Rubine und Gold, verachtest du wie einen gemeinen Körper.
Die hohe Schönheit, die auf der Welt nicht ihresgleichen hat, ist dir lästig, sofern sie nicht den schönen Schatz der Keuschheit zu verschönern und zu zieren scheint.
Ü: Andreas Kablitz 13
Flauberts Orientalismus im historischen Karthagoroman Salammbô dagegen schwelgt in der erotisierten Farbenpracht geschmückter Frauenkörper, mit einer schimmernden Perlmutt-Taille:
Des chevilles aux hanches, elle était prise dans un réseau de mailles étroites imitant les écailles d’un poisson et qui luisaient comme de la nacre; une zone toute bleue serrant sa taille laissait voir ses deux seins, par deux échancrures en forme de croissant; des pendeloques d’escarboucles en cachaient les pointes. Elle avait une coiffure faite avec des plumes de paon étoilées de pierreries; un large manteau, blanc comme de la neige, retombait derrière elle, et les coudes au corps, les genoux serrés, avec des cercles de diamants au haut des bras, elle restait toute droite, dans une attitude hiératique.
Gustave Flaubert, Salammbô
Von den Knöcheln bis zu den Hüften war sie in einem Netz aus engen Maschen gefangen, das wie ein Fischschwanz aussah. Ein blauer Bereich, der sich um ihre Taille schmiegte, schimmerte wie Perlmutt. Die beiden Brüste waren durch zwei halbmondförmige Einbuchtungen sichtbar, und die Spitzen waren mit Karfunkelsteinen besetzt. Sie hatte einen Kopfschmuck aus Pfauenfedern, der mit Edelsteinen besetzt waren. Ein weiter Mantel, weiß wie Schnee, fiel hinter ihr herab, und mit den Ellenbogen am Körper, den angezogenen Knien, mit Diamantringen an den Oberarmen, stand sie ganz aufrecht in einer hieratischen Haltung.
Explizit poetologisch lässt sich Francis Ponges Gedicht über die Auster lesen, in drei Strophen schreitet der Blick von außen nach innen und dann wieder in die Außenwelt zurück: die Schutzschicht gegenüber der äußerlichen Welt ist hart, die Tierschale ist nur schwer zu durchdringen, in einer Lesart als Gedicht über die Dichtung wäre dies die faktische Welt, die biographische Schutzmaske des Künstlers und seiner Stoffe:
L’HUÎTRE
L’huître, de la grosseur d’un galet moyen, est d’une apparence plus rugueuse, d’une couleur moins unie, brillamment blanchâtre. C’est un monde opiniâtrement clos. Pourtant on peut l’ouvrir : il faut alors la tenir au creux d’un torchon, se servir d’un couteau ébréché et peu franc, s’y reprendre à plusieurs fois. Les doigts curieux s’y coupent, s’y cassent les ongles : c’est un travail grossier. Les coups qu’on lui porte marquent son enveloppe de ronds blancs, d’une sorte de halos.
[…]
Francis Ponge, Le parti pris des choses
DIE AUSTER
Die Auster, von der Größe eines mittleren Kieselsteins, sieht runzliger aus, nicht so gleichmäßig gefärbt und schimmert weißlich. Sie ist eine hartnäckig verschlossene Welt. Dennoch kann man sie öffnen: dann muß man sie mit einem Lappen in der hohlen Hand halten, ein kurzes, schartiges Messer nehmen, wiederholte Male ansetzen. Die vorwitzigen Finger schneiden sich dabei ins Fleisch, die Nägel brechen: es ist eine grobe Arbeit. Die Wunden, die man ihr beibringt, zeichnen ihren Mantel mit runden weißen Flecken, einer Art von Lichthöfen.
[…]
Ü: Gerd Henninger 14
In die innere Welt der Auster eingedrungen, bietet sich eine überstirnte Landschaft mit gleich zwei Perlmutthimmeln, eine Welt des Sinnlichen, wie in Platons Höhle. Und mit der Perle schließlich, die sich manchmal ebenhier als Objektivation des Geistes herausbildet, ist im vieldeutigen Wort formule auch das Kunstwerk mitgemeint, die Performanz, die Zauberformel, die alchimistische Goldmacherei, der Ornatus der Rhetorik:
L’HUÎTRE
[…]
À l’intérieur l’on trouve tout un monde, à boire et à manger : sous un firmament (à proprement parler) de nacre, les cieux d’en-dessus s’affaissent sur les cieux d’en-dessous, pour ne plus former qu’une mare, un sachet visqueux et verdâtre, qui flue et reflue à l’odeur et à la vue, frangé d’une dentelle noirâtre sur les bords.
Parfois très rare une formule perle à leur gosier de nacre, d’où l’on trouve aussitôt à s’orner.
Francis Ponge, Le parti pris des choses
DIE AUSTER
[…]
Drinnen findet man eine ganze Welt, zu essen und zu trinken: unter einem Firmament (im eigentlichen Wortsinn) aus Perlmutt senken sich die Oberhimmel auf die Unterhimmel und bilden mit ihnen eine einzige Lage, einen grünlichen, klebrig-zähen Beutel, der für Geruchssinn und Auge schwillt und sinkt, am Ufersaum mit schwärzlichen Spitzen besetzt.
Sehr selten manchmal perlt eine Formel aus ihrem Perlmuttschlund; mit ihr mag man sich alsbald schmücken.
Ü: Gerd Henninger 15
Yannick Haenel lebte von 2011 bis 2014 in Florenz, hier entstand das Buch Je cherche l’Italie (2015), hier las er nicht nur Georges Bataille wieder, hier entdeckt er auch eine Stadt der Kunst, zeigt sich gleichwohl schockiert über die Finanzkrise, die die Italiener schwer trifft und ihre Kultur verwüstet:
Le point le plus vivant n’habite plus dans le monde qu’on dit « réel », celui de la valeur chiffrée, celui de la circulation instantanée de l’argent. À une époque où la crise financière a débordé le monde, où elle a remplacé pour toujours l’idée de destin, où la spéculation financière prévaut sur l’ensemble des inscriptions, et les réduit l’une après l’autre à rien, le point s’éloigne ; et sans doute est-il devenu complètement étranger à nos préoccupations, oublié derrière l’épaississement de la sensibilité, comme une perle qui roule, inutile, sous un vieux meuble.
Yannick Haenel, Je cherche l’Italie
Der lebendigste Punkt wohnt nicht mehr in der sogenannten „realen“ Welt, der Welt des Zahlenwerts, der Welt des instantanen Geldumlaufs. In einer Zeit, in der die Finanzkrise die Welt überrollt hat, in der sie die Idee des Schicksals für immer ersetzt hat, in der die Finanzspekulation über alle Aufzeichnungen herrscht und eine nach der anderen zu nichts macht, entfernt sich der Punkt; und zweifellos ist er unseren Anliegen völlig fremd geworden, vergessen hinter der verdichteten Empfindsamkeit, wie eine Perle, die nutzlos unter einem alten Möbelstück hin und her rollt.
Die Perle als Sinnbild des interesselosen Wohlgefallens, einer ästhetischen Lebendigkeit, ist achtlos verborgen. Haenels Perlmutt ist keineswegs nur Aufhübschung der in seinen Romanen kritisierten Welten: Der überwältigende Glanz des Perlmutts wird in La solitude Caravage (2019) in ein Bild des Ideals, der Utopie gebracht, im Fall der Literatur als Bekenntnis, nicht im So-Seienden stehenzubleiben:
C’est là, dans les reflets de la nacre, que je contemplais un avenir intact ; c’est là que je m’étais mis à ciseler des phrases qui portaient mon espérance et devaient s’introduire ailleurs qu’en enfer.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
Dort, in den Spiegelungen des Perlmutts, betrachtete ich eine unberührte Zukunft; dort hatte ich begonnen, Sätze zu formen, die meine Hoffnung trugen und sich irgendwo anders als in der Hölle niederlassen sollten.
Das Wort umhüllt das Unversehrte („la parole enveloppe l’indemne“), schreibt Haenel im Caravaggio-Buch im Vergleich mit der Malerei, wie bei der Perlenbildung ist sie Initiation in das, was sich dem Sichtbaren entzieht. Prismatisch wie die Kunst der Malerei, wird im Kleinen eine dispersive Repräsentation der Fülle auch in der Literatur möglich:
[…] car à travers une goutte d’eau c’est le monde entier qui se donne, et c’est précisément ce monde entier qui scintille sur la toile d’un peintre, reflété en un prisme où la nacre rejoue à l’infini le mouvement des couleurs et la variété des formes.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
[…] denn durch einen Wassertropfen wird die ganze Welt dargestellt, und genau diese ganze Welt schimmert auf der Leinwand eines Malers, reflektiert in einem Prisma, in dem das Perlmutt die Bewegung der Farben und die Vielfalt der Formen unendlich oft nachspielt.
Am eindeutigsten auch in den Romankontext integriert, wird der Genuss des Austernessens in Tiens ferme ta couronne, mit der Ästhetik des Perlmutt und der Perle verbunden. Eine politische Dimension mag noch leise mit den Luxusgeschäften angedeutet sein, aber hier ist die schiere Lust am sinnlichen Leben doch vordergründig:
À l’entrée du restaurant, étalées sur un lit de glace, les huîtres me faisaient envie. Leurs coquilles étincelaient, comme de petites lumières accrochées sur une falaise. La nacre appelle les miroitements. On dit qu’une huître sécrète une perle de ce qui la blesse : alors la blessure est désirable, elle accueille le zeste de citron qui, tandis que j’écris ces phrases, me met l’eau à la bouche. Je vais boire à ces bords dentelés, me disais-je, je vais suçoter la perle. Oui : l’eau à la bouche, tout vient de là, le monde n’existe que pour donner du désir.
Je m’étais appuyé contre le mur, à côté d’une boutique de chaussures de luxe, où un tapis de lierre mêlé à de belles grappes violacées formait comme une toison fraîche ; c’était bon de sentir contre soi la douceur du feuillage et le parfum sucré de la glycine. Et tout en convoitant les huîtres qui là-bas, de l’autre côté de la rue, prodiguaient leurs éclats, je pensais à un passage de La Tempête de Shakespeare qui parle de la naissance des perles, je l’avais abondamment cité dans The Great Melville, car j’y voyais l’un des secrets que Melville avait découverts, et voici que je me le récitais pour le plaisir :
Par cinq brasses sous les eaux,
Yannick Haenel, Tiens ferme ta couronne
Ton père englouti sommeille :
De ses os naît le corail,
De ses yeux naissent les perles,
Rien chez lui de corruptible
Dont la mer ne vienne à faire
Quelque trésor insolite.
Am Eingang des Restaurants lagen die Austern auf einem Eisbett und machten mich neidisch. Ihre Schalen glitzerten wie kleine Lichter, die an einer Klippe hingen. Das Perlmutt schreit geradezu nach Schimmern. Man sagt, dass eine Auster eine Perle aus dem absondert, was sie verletzt: Dann ist die Wunde begehrenswert, sie nimmt die Zitronenschale auf, die, während ich diese Sätze schreibe, mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Ich werde von diesen gezackten Rändern trinken, sagte ich mir, ich werde an der Perle saugen. Ja: Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, alles kommt von dort, die Welt existiert nur, um Lust zu verleihen.
Ich lehnte mich an die Wand neben einem Luxusschuhgeschäft, wo ein Teppich aus Efeu mit schönen violetten Trauben wie ein frisches Vlies aussah; es war gut, die sanften Blätter und den süßen Duft der Glyzinien an sich zu spüren. Und während ich nach den Austern schnappte, die dort drüben auf der anderen Straßenseite ihre Blütenpracht verströmten, dachte ich an eine Passage aus Shakespeares Der Sturm, in der es um die Entstehung von Perlen geht; ich hatte sie in The Great Melville ausführlich zitiert, weil ich darin eines der Geheimnisse sah, die Melville entdeckt hatte, und hier rezitierte ich sie mir zum Vergnügen selbst:
Full fathom five thy father lies,
Of his bones are coral made:
Those are pearls that were his eyes.
Nothing of him that doth fade,
But doth suffer a sea-change
Into something rich and strange.
Und so überrascht es auch nicht, dass uns das Perlmutt in Le Trésorier-payeur ein Dutzend mal wiederbegegnet, Perlmutt auf den Schultern der geliebten Lilya, Perlmuttsplitter vom Himmel über Béthune, das Perlmuttschimmern, das er jeden Morgen in den Wohnräumen aufsucht, ein weites und klares Licht bis zur mythischen Götterszenerie:
Le Trésorier lui ouvrit les portes de sa maison. Le printemps était splendide. La glycine et le lilas avaient envahi le jardin ; tout était radieux et sauvage, gorgé de sève et de lumière. Il y avait de la nacre qui brillait dans les feuillages, et comme le Trésorier ne tondait que rarement sa pelouse, l’herbe était si haute et si fleurie de coquelicots et de violettes qu’on aurait dit une prairie, celle où les dieux, dans Homère, se baignent de rosée sous le regard d’Aphrodite.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Der Trésorier öffnete ihr die Türen zu seinem Haus. Der Frühling war herrlich. Glyzinien und Flieder hatten den Garten erobert; alles war strahlend und wild, vollgepumpt mit Saft und Licht. Perlmutt glänzte in den Blättern, und da der Trésorier seinen Rasen nur selten mähte, war das Gras so hoch und blühte mit Mohnblumen und Veilchen, dass es wie eine Wiese aussah, die Wiese, auf der sich die Götter bei Homer unter dem Blick von Aphrodite im Tau baden.
Wirtschaftskritik als Chagall-Fresko
Die nur punktuelle Rezeption von Yannick Haenel in Deutschland könnte mit dem neuesten Roman Le Trésorier-payeur (2022), sollte er ins Deutsche gebracht werden, seinem Gesamtwerk angemessener entsprechen. Denn gerade sein auch hierzulande meistdiskutiertes Werk Jan Karski hatte der Autor in der Zeitschrift Fixxion 16 als eher untypische Unterbrechung seines sonstigen Schreibens verstanden. Der Filmemacher Claude Lanzmann 17 hatte Haenel Geschichtsverfälschung vorgeworfen, die Polemik und wiss. Diskussion – z.B. von Marc Dambre und Maxime Decout, Catherine Coquio oder Aurélie Barjonet – machte auch die deutsche Romanistik aufmerksam, Fragen um Zeugnisliteratur und Shoah an Haenel zu problematisieren. 18 Cécile Guilbert hingegen hat genervt Skandale und Prozesse wie die Polemik um Haenels Buch zusammengefasst und aus ihrer Arbeit über Faktizität und Fiktionalität ausgeklammert: „Was die Literatur betrifft, so stellt sich die Frage anders. Um ehrlich zu sein, geht es bei den Fragen, die mich seit einigen Jahren beschäftigen, nicht um die Angst, die die Auflösung der Realität in der Fiktion oder umgekehrt hervorrufen würde. Auch nicht mit der Frage, ob es beunruhigend ist, wenn Autoren wegen Verletzung der Rechte von Privatpersonen verklagt werden. Oder ob Claude Lanzmann Recht hatte, gegen Yannick Haenels Jan Karski zu wüten, Edouard Louis, sich an einem Fact-Checking-Prozess zu stören, oder Camille Laurens, Marie Darrieussecq des ‚psychischen Plagiats‘ zu beschuldigen. Nein, was mich am meisten beschäftigt, sind die Gründe, warum ein jährlich wachsender Teil der zeitgenössischen französischen Literatur es vorzieht, auf diesem Treibsand zu spielen. Zumal nach den Maßstäben der blökenden und triumphierenden politischen Korrektheit fast alle klassischen Schriftsteller der Vergangenheit heute wegen rein imaginärer Romane angeklagt würden, aber lassen wir das…“ 19
Von Haenels Romanen sind außer Jan Karski (2009) noch Les Renards pâles (2013) und Tiens ferme ta couronne (2017) ins Deutsche übersetzt: Die bleichen Füchse (dt. 2014) wurden vor allem in ihrem sozialrealistischen Part anerkannt, aber die Wende ins Theoretische im zweiten Teil stieß in Deutschland auf Unverständnis, so kritisierte Frenkel in der Stuttgarter Zeitung das Phrasenhafte der Revolte: „Karl Marx, Max Stirner, Georges Bataille – es sind die Kritiker der Verdinglichung des Menschen, die in Yannick Haenels dann immer mehr zum papierenen Traktat werdenden Text wiederkehren. Leider erscheinen ihre Gedanken so unreflektiert, als hätte es zwischen 1968 und der Jetztzeit keine Veränderungen und Diskussionen gegeben. Als bräuchte man nur die Träume der Pariser Commune beschwören, auf den Gräbern ihrer Märtyrer Orgien feiern, und Massendemonstrationen mit maskierten Menschen organisieren, um die Randständigen zurück ins Zentrum zu holen und so an einem System zu rütteln, in dem der Begriff Freiheit nur noch eine Chiffre ist für die grenzenlose Möglichkeit zur Ausbeutung.“ 20 Holstein störte sich vor allem an der Geste engagierter Literatur: „Das Personal der aktuellen Debatten tritt auf, Hollande ebenso wie Houellebecq, und am Ende steht eine radikale Vision: Die Ausgegrenzten erobern die Stadt, Paris brennt. Ärgerlich für den Leser ist indes, dass Haenel dem furiosen Beginn ein schwaches Ende folgen lässt. Das letzte Drittel des ansonsten stilistisch großartigen Buchs ist wie ein Pamphlet getextet, Haenel ist hier nicht mehr Künstler, sondern Agitator. Das utopische Experiment endet im Schwulst des Agitprop.“ 21 Tiefer in die literaturgeschichtliche Verwurzelung von Haenels Vorhaben ging damals Tilman Krause, der meinte, wer sich auf Ideologiekritik an Haenels politische Naivität versteife, verstehe nicht den literarischen Geist der Utopie in Frankreich: „Wer sich darauf versteift, übersieht allerdings die suggestive Sprachkraft des Autors, der Register zieht, die aus dem modernen literarischen Diskurs seit Langem verbannt sind, obwohl sie von Rousseau über Victor Hugo bis hin zu den Surrealisten in einer für Frankreich ausgesprochen fruchtbaren Tradition stehen. Und auf Tradition liegt dabei der Akzent. Haenels hoch poetische Sprache, die eher elegisch eingedunkelt als aggressiv lodernd daherkommt, bemüht sich sehr um ein Heraufbeschwören des Vergangenen. Ganz bewusst und sehr subtil rekonstruiert er schon rein topografisch jenes „Paris rebelle“, das unter der Glitzerwelt verborgen liegt. Nicht umsonst ist die Handlung im Umkreis des Friedhofs Père Lachaise angesiedelt, in dem noch heute die „Mauer der Föderierten“ an die Massenerschießungen der Aufständischen von 1871 erinnert.“
Der Roman Halt deine Krone fest (dt. 2019) wurde dann in Deutschland nur noch wenig zur Kenntnis genommen. Hillgruber las die Hommage an das Kino und an Herman Melville als Evasion: „Yannick Haenel hat einen Abenteuer- und Künstlerroman eigener Art geschaffen, rund um einen solipsistischen Helden, der kompromisslos seinen Traum verwirklicht, dadurch an Selbstachtung gewinnt und eben seine Krone festhält. […] Die krisenhafte französische Wirklichkeit mit ihren Momenten des Aufruhrs dringt allerdings kaum in diesen Erzählkosmos durch. […] Der jetzige Jean lebt viel zu sehr in seiner cineastischen Traumwelt, als dass ihn die Realität noch ernsthaft interessieren würde.“ 22
Die Protagonisten beider Romane tragen den Namen Jan Deichel, ein durchgängiges Alter Ego des Autors, aber der innere Zusammenhang einer bildertrunkenen Ästhetik und einer politischen Radikalität wurde hier nicht gesehen. Anders in der französischen Kritik, so wenn Tiphaine Samoyault für Le Monde ihre Besprechung des jüngsten Buches so eröffnet: „Man kann Le Trésorier-payeur, den neuen Roman von Yannick Haenel, zunächst wie ein Fresko von Chagall betreten, in ein Universum voller Himmel, Farben und luftiger Frauen, ein etwas wahnhaftes, zartes und mystisches Universum. Religiös sogar, sagen wir es mal so.“ 23 Philippe Chevilley nennt den Roman gar eine „féerie bancaire“, ein Bankenmärchen oder eine Finanzverzauberung, auch wenn sein Fazit wieder zwiespältig bleibt: „Der gelehrte, ungezügelte, zeitweise abstruse Roman „Le Trésorier-payeur“ verführt ebenso wie er verwirrt. Er ist abwechselnd brillant und redundant, dekliniert sein finanzanarchistisches Anliegen durch, ohne es wirklich zu transzendieren, und es fehlt ihm eine echte Apotheose. Yannick Haenel „verausgabt“ sich dennoch ohne Berechnung. Aber wir hätten uns gewünscht, dass sein romanhaftes Fieber den Tresorraum weiter geöffnet und uns ganz verzehrt hätte.“ 24
Begehren und Überfluss
Je découvris, en écrivant des livres, un luxe, une luxuriance, une luxure à l’intérieur de l’écriture. Le plaisir déborde son propre excès : j’écrivais la jouissance (sa recherche, son accomplissement). Deux livres témoignent de ce bonheur charnel : Évoluer parmi les avalanches et Cercle, où à travers l’écriture et son élargissement de la sensualité cherchait à s’écrire une extension du domaine de l’érotisme. J’osai carrément titrer un autre livre À mon seul désir.
Yannick Haenel, Le désir comme aventure
Beim Schreiben von Büchern entdeckte ich einen Luxus, eine Üppigkeit, eine Wollust im Inneren des Schreibens. Die Lust übersteigt ihr eigenes Übermaß: Ich schrieb die Lust (ihre Suche, ihre Erfüllung). Zwei Bücher zeugen von diesem fleischlichen Glück: Évoluer parmi les avalanches und Cercle, wo durch das Schreiben und seine Erweiterung der Sinnlichkeit eine Erweiterung des Bereichs der Erotik zu schreiben versucht wurde. Ich wagte es sogar, ein anderes Buch À mon seul désir zu betiteln.
Die Hinwendung zum Überfluss wirkt natürlich zunächst wie eine hedonistische Wende, eine Umdeutung, ein Reclaiming des Luxus, verglichen mit kämpferischen, aufständischen Posen in Les Renards pâles:
Nous ne respectons rien de ce qui fait barrage à la poésie. Et nous rions de ceux qui pensent qu’elle est un luxe. La déflagration qu’avec patience nous attendons, et qui seule à nos yeux est digne de troubler l’ordre du monde, ne se déclenche qu’avec la poésie : un détail agissant soudain sur des milliers d’esprits vivants illumine par ses prolongements jusqu’au monde des morts, c’est lui qui allume la mèche.
Yannick Haenel, Les Renards pâles
Wir respektieren nichts, was der Poesie im Wege steht. Und wir lachen über diejenigen, die sie für einen Luxus halten. Die Explosion, auf die wir geduldig warten und die allein in unseren Augen würdig ist, die Ordnung der Welt zu stören, wird nur durch die Poesie ausgelöst: Ein Detail, das plötzlich auf Tausende von lebenden Geistern einwirkt, erhellt durch seine Ausläufer bis in die Welt der Toten, es ist das Detail, das die Lunte entzündet.
Bataille warf in La part maudite den Reformatoren vor, mit dem Kapitalismus die Welt entheiligt zu haben: „Indem die großen Reformatoren einer Forderung nach religiöser Reinheit ihre äußerste Konsequenz gaben, zerstörten sie die heilige Welt, die Welt der unproduktiven Verzehrung, und überantworteten die Erde den Menschen der Produktion, den Bürgern.“ 25 Und der Soziologe Georg Simmel bemerkte einmal „Ich halte es für einen Irrtum, wenn man sich jeden Geizigen mit der Ausmalung aller ihm zur Verfügung stehenden Genüsse, all der reizvollen Verwendungsmöglichkeiten des Geldes beschäftigt denkt.“ 26 Geiz ist nicht mit dem Splendiden des Lebens befasst, sondern mit der Abstraktion; Geld ist nicht mehr Mittel für die Fülle der Welt, sondern Selbstzweck. Anders vielleicht als bei der Kaviar-Linken Frankreichs ist für Haenels Bücher die Frage des Luxus keine unreflektierte elitäre Haltung, sondern ein Feiern der Lust. Demgegenüber steht die Quantifizierung der Körper, wie Haenel schon in Cercle schrieb:
Les corps implantés par le chiffre ne sont déjà plus qu’un chiffre dans un calcul qui les absorbe, me disais-je. Ils font nombre. Ils ne sont plus là que pour ça : de la matière première moulinée dans le chiffrage. Et les corps qui font du chiffre bientôt ne feront plus que ça. Ils ne parleront plus, la parole ne parlera plus en eux, il n’y aura plus de place que pour le chiffre. Le chiffre parlera seul. Il parlera aux autres chiffres. Tout dans les corps fera des affaires ; et sera liquidé. Car l’horizon des affaires, l’horizon de toutes les affaires, humaines, économiques, c’est la liquidation. On ne s’occupe d’une affaire, on n’y emploie ses forces qu’afin de la mener à bien, c’est-à-dire de la liquider. En ces matières, les corps ont déjà rencontré leur horizon. Depuis longtemps ils savent – ils savent et ils subissent.
Yannick Haenel, Cercle
Die von der Zahl implantierten Körper sind bereits nur noch eine Zahl in einer Berechnung, die sie absorbiert, sagte ich mir. Sie sind eine Zahl. Sie sind nur noch dazu da: Rohstoff, der in die Chiffre gemahlen wird. Und die Körper, die bald zu Zahlen werden, werden bald nur noch das tun. Sie werden nicht mehr sprechen, das Wort wird nicht mehr in ihnen sprechen, es wird nur noch Platz für die Zahl sein. Die Zahl wird allein sprechen. Sie wird mit anderen Zahlen sprechen. Alles in den Körpern wird Geschäfte machen; und wird liquidiert werden. Denn der Horizont der Geschäfte, der Horizont aller Geschäfte, der menschlichen, der wirtschaftlichen, ist die Liquidation. Man beschäftigt sich mit einem Geschäft, man setzt seine Kräfte nur ein, um es zu einem guten Ende zu bringen, das heißt, um es zu liquidieren. In diesen Angelegenheiten sind die Körper bereits auf ihren Horizont gestoßen. Sie wissen es schon lange – sie wissen es und sie erleiden es.
Auch die Investition in Kunst ist bei Haenel keineswegs eine Form der Bataille’schen Verschwendung, sondern eine ultimative Unterwerfung unter die Wirtschaft:
À partir de là, je ne sais plus qui parle : quelqu’un – peut-être est-ce moi – dit qu’il n’y avait rien de plus politique aujourd’hui que le fait de perdre de l’argent (de le dépenser plutôt que d’en gagner) ; et que la métamorphose de l’argent en œuvres d’art qui avait cours de nos jours, notamment dans le monde du luxe – lequel ne cessait d’investir dans l’art contemporain –, relevait avant tout d’un processus qui, croyant s’affranchir de l’économie, ne faisait que s’asservir à la finance.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Von da an weiß ich nicht mehr, wer spricht: Jemand – vielleicht bin ich es – sagte, dass es heute nichts Politischeres gäbe, als Geld zu verlieren (es eher auszugeben als zu verdienen); und dass die Metamorphose von Geld in Kunstwerke, die heutzutage vor allem in der Welt des Luxus üblich sei – die ständig in zeitgenössische Kunst investierte –, vor allem ein Prozess sei, der sich in dem Glauben, sich von der Wirtschaft zu befreien, nur der Finanzwelt unterwerfe.
Selbst die Welt der Digitalisierung birgt hier neue Gefahr, so wird im Essayband gemeinsam mit den Herausgebern von Ligne de risque die digitale Gegenwelt mit Bataille gedeutet. Literatur verliert hier ihre besondere Position, die als echte Gegenwelt eine enthüllende Kritik der falschen ermöglicht hatte:
À travers la domination du virtuel sur la réalité, qu’induit la cybernétique, on assiste à la précellence d’un contre-monde sur le monde. Et depuis ce « contre-monde », qui d’une certaine façon n’a rien de réel, la réalité est sans arrêt reconfigurée, au point d’être remplacée par son double infernal. Ainsi, dans ce nouveau mode d’apparition, la réalité elle-même tend à devenir un faux. Et d’ailleurs, rien n’échappe à cette falsification, ce qui est certainement la ruse la plus effroyable du ravage. Même ce qui est censé dévoiler le faux – l’art, la théorie, la littérature – est progressivement mis à son service, n’étant plus qu’un visage de la mascarade.
Yannick Haenel, François Meyronnis, Valentin Retz, „Le sacrifice d’Israël“, in dies., Tout est accompli (Paris: Grasset, 2019).
Durch die Herrschaft des Virtuellen über die Realität, die durch die Kybernetik herbeigeführt wird, kommt es zur Vorherrschaft einer Gegenwelt über die Welt. Und von dieser „Gegenwelt“ aus, die in gewisser Weise gar nicht real ist, wird die Realität immer wieder neu konfiguriert, bis sie schließlich durch ihren höllischen Doppelgänger ersetzt wird. So tendiert in dieser neuen Erscheinungsweise die Realität selbst dazu, zu einer Fälschung zu werden. Und im Übrigen entgeht nichts dieser Fälschung, was sicherlich die entsetzlichste List der Verwüstung ist. Selbst das, was die Fälschung enthüllen sollte – Kunst, Theorie, Literatur – wird nach und nach in ihren Dienst gestellt und ist nur noch ein Gesicht der Maskerade.
Und so ist Kritikern nicht zuzustimmen, die in der Bilderopulenz bspw. von Tiens ferme ta couronne eine Abwendung von politischer Zeitkritik sahen, vielmehr versteht Haenel diese Fülle als Kritik durch Sinnenlust, als Subversion der Entkörperlichung. In Les Renards pâles hatte Haenel den politischen Aufstand auch als Plünderung einer Luxusgesellschaft erzählt. Luxus ist hier ein Kennzeichen des Überflusskapitalismus und noch nicht wie in Le Trésorier-payeur als sinnliche Gegenökonomie verstanden:
Le long de la rue de Rivoli, rue de Castiglione et jusqu’à la place Vendôme, des vitrines ont été brisées ; la foule commençait à saccager les boutiques de luxe. Dans certains cas, le pillage est la réponse naturelle à cet excédent de marchandises qu’est le luxe. En mettant le feu publiquement à des foulards haute couture et à des robes de prix, en pulvérisant sous nos talons des bracelets-montres à cinquante mille euros, on ne fait que révéler l’extravagante dépense qui affole votre monde.
Yannick Haenel, Les Renards pâles
Entlang der Rue de Rivoli, der Rue de Castiglione und bis zur Place Vendôme splitterten die Schaufenster. Die Menge fing an, die Luxusboutiquen zu plündern. Manchmal ist Plünderung die natürliche Antwort auf den Überfluss an Waren, der den Luxus ausmacht. Wenn wir öffentlich Haute-Couture-Tücher und teure Kleider in Brand stecken oder Armbanduhren für fünfzigtausend Euro unter unseren Absätzen zermalmen, stellen wir nur die absurde Verschwendung bloß, die eure Welt durchdrehen lässt
Der Roman Cercle von 2007 hatte die Selbstbefreiung eines Mannes erzählt, der nicht mehr zur Arbeit geht, seine Bindungen allesamt löst und frei durch Paris wandert. Einsamkeit ist ein häufig bei Haenel reflektierter Seinszustand. Der Protagonist von Cercle entdeckt eine absolute Existenz kennen, Freiheit. Mit dieser Perspektive erscheinen ihm die Menschen, die sein bisheriges Leben weiterleben, nur als Opfer des Kapitalismus:
Ceux qui défilaient ce matin sur le trottoir, ils étaient plutôt du genre à se plaindre de la tournure des choses. Ils avaient plutôt l’air d’en être victimes. Mais ceux qui souffrent de la loi du chiffre sont aussi les premiers à y croire. Ils y adhèrent tous à ce vertige, leur douleur les y colle. Personne ne se satisfait de son prix, car personne ne le connaît exactement. Il n’existe pas – et pourtant il n’y a que lui. C’est une cotation qui dépend de vos efforts quotidiens pour toujours avoir l’air d’en faire plus, et toujours avancer dans la promotion. Ça vous rend l’existence intenable, une inquiétude de tous les instants : qu’est-ce que je vaux ? Est-ce que les autres, est-ce que ce type qui vous jette un regard reconnaît en vous de l’importance ? Ou est-ce qu’au fond, malgré votre argent, vos réseaux, vos responsabilités, vous êtes un déchet ? Les plus intoxiqués, ceux qui s’imaginent régner sur les petits mondes où le chiffre circule plus vite qu’ailleurs, où il allume des bénéfices qui se dissolvent aussi vite que des cendres, et qui, faisant circuler de plus en plus d’argent entre de moins en moins de corps, rêvent d’un monde où le chiffre n’inonderait plus qu’un seul corps, le leur : les plus intoxiqués eux-mêmes ne sont pas sûrs de valoir ce que leurs comptes en banque leur indiquent. Ils savent que remplir sa caisse n’est jamais qu’une manière de se prémunir contre ce vide que crée le chiffre dans les corps. Ils savent qu’à partir de l’instant où le chiffre a mordu un corps, il sera toujours en quête d’une reconnaissance qui jamais ne le comblera. Car le chiffre n’est qu’un leurre, et ce leurre empoigne l’ensemble des corps qui à leur insu, et sans exception, travaillent pour lui.
Yannick Haenel, Cercle
Diejenigen, die heute Morgen auf dem Bürgersteig marschierten, waren eher der Typ, der sich über den Lauf der Dinge beschwerte. Sie schienen eher die Opfer zu sein. Aber diejenigen, die unter dem Gesetz der Zahlen leiden, sind auch die ersten, die daran glauben. Sie alle hängen an diesem Schwindel, ihr Schmerz klebt an ihnen. Niemand ist mit seinem Preis zufrieden, weil niemand ihn genau kennt. Es gibt ihn nicht – und doch gibt es nur ihn. Es ist eine Notierung, die von Ihren täglichen Bemühungen abhängt, immer den Anschein zu erwecken, mehr zu tun, und immer mit der Beförderung voranzukommen. Das macht Ihr Dasein unhaltbar, eine ständige Sorge: Was bin ich wert? Erkennen die anderen, erkennt der Typ, der Ihnen einen Blick zuwirft, in Ihnen eine Bedeutung? Oder sind Sie im Grunde genommen trotz Ihres Geldes, Ihrer Netzwerke und Ihrer Verantwortung ein Abfallprodukt? Die Vergifteten, die sich einbilden, über kleine Welten zu herrschen, in denen die Zahl schneller als anderswo zirkuliert, in denen sie Gewinne anzündet, die sich so schnell wie Asche auflösen, und die, indem sie immer mehr Geld zwischen immer weniger Körpern zirkulieren lassen, von einer Welt träumen, in der die Zahl nur noch einen einzigen Körper überschwemmt, ihren eigenen: Die Vergifteten selbst sind sich nicht sicher, ob sie das wert sind, was ihre Bankkonten ihnen anzeigen. Sie wissen, dass das Füllen der Kasse immer nur eine Art ist, sich gegen die Leere zu schützen, die die Zahl in den Körpern erzeugt. Sie wissen, dass die Zahl, sobald sie sich in einen Körper verbissen hat, immer auf der Suche nach einer Anerkennung ist, die sie niemals erfüllen kann. Denn die Zahl ist nur eine Täuschung, und diese Täuschung ergreift alle Körper, die ohne ihr Wissen und ausnahmslos für sie arbeiten.
In Les Renards pâles (2013) dann wird der kollektive Aufstand geprobt. In Tout est accompli (2019) von Haenel mit den Gefährten von Ligne de risque wird Houellebecqs These von der ökonomischen Zurichtung des Menschen nochmal kritisch diskutiert, insofern kann man Haenels Le Trésorier-payeur (2022) als Anti-Houellebecq interpretieren, der in Les particules élémentaires gezeigt hatte, „dass das menschliche Begehren vollständig in den Bereich der politischen Ökonomie integriert wurde. Es ist zu einer Ware wie jede andere geworden, und aufgrund dessen werden die Menschen nun auf einem gigantischen Viehmarkt zur Schau gestellt.“ 27 Le Trésorier-payeur wäre damit als Anti-Dystopie zu verstehen, Haenels Romane haben einen grundlegenden Zusammenhang in Bezug auf die Möglichkeiten von Kunst und Kritik, letztlich überhaupt von Freiheit und Hoffnung in einer krisenhaften Welt von heute.
Didier Jacob war nicht ganz überzeugt von der Verlagerung der Verschwendung vom Ökonomischen hin zur Liebesverausgabung in Le Trésorier-payeur: „Es findet jedoch eine Umkehrung statt, durch die Haenels Schreibstil, der anfangs durch seine philosophische Geschicklichkeit bestach, nicht alle seine romanhaften Versprechungen einhält. Denn in der Liebespraxis verwirklicht Bataille (der Bankier) schließlich sein Verausgabungsideal und führt seine mélenchonistische Strategie zu Ende. Haenels Stil verfällt paradoxerweise in eine ermüdende Verschwendungssucht, vor allem in der zugleich kindlichen und altmodischen Beschreibung seiner Heldinnen und der flammenden Liebe, die der Bankier für sie empfindet. Indem er tief in die Adjektivkiste greift, möchte Haenel der verrückte trésorier-payeur der Literatur sein. Er ist, was gar nicht so schlecht ist, der freche Kassier.“ 28 Alice Ferney bespricht im Figaro vor allem den markierten Stil des Buches, der ähnlich verschwenderisch sein will wie die überschwänglich narrativierte Theorie einer Bataille’schen Ökonomie, mit einem Übermaß an Bildern und Vergleichen: das Wuchern und die Orgie sind für die Kritikerin aber nicht gelungen: „Sein Überkochen wiederholt sich sehr oft. Man amüsiert sich schließlich darüber, dass unter seiner Feder jede Frau unweigerlich umwerfend, blendend, verdammt sexy und brennend ist. Die gleichen Wörter tauchen immer wieder auf. Konzepte, Geliebte und Landschaften sind nur „Splitter“, „Schimmer“, „Glitzern“, „Perlmutt“, „Sterne“: ob Schreibtick oder Einfallsreichtum, die leuchtende Metapher kolonisiert den Roman, der Trésorier wird zum Porträt eines Erleuchteten durch einen Erleuchteten. Haenel und Bataille trampeln in ihrer Phantasmagorie. Der Romanautor, der mit der Intelligenz rechnet, greift ständig ein; seine Kommentare unterbrechen die Erzählung, aus der der Leser jedes Mal durch die vorgetragenen allgemeinen Wahrheiten herausgeworfen wird. Der Autor dekretiert Epiphanien, ohne sie fühlbar zu machen. Seine Sätze nerven, seine Übertreibungen ermüden. Seine poetischen Schwärmereien grenzen an Rührseligkeit oder Unsinn.“ 29
Am Künstler Caravaggio hatte Haenel die Unbedingtheit einer radikalen Selbstverausgabung interessiert:
La dimension intime dans laquelle le Caravage évolue échappe en effet aux notions consciencieuses ; là où la plupart des gens protègent leur intérêt, il l’expose. Là où ils économisent leurs forces, il les dépense. En cela il n’agit pas contre son intérêt, comme le répètent les biographes qui aiment le réduire au folklore du peintre maudit, un pauvre type au fond, incapable de se contrôler, et qui ferait n’importe quoi de sa vie. Au contraire, je pense qu’il sait parfaitement qui il est, et que ses désordres, il les mène – je dirais même : les organise – selon une logique de singularité. À lui, le danger ne lui ôte rien, mais lui prodigue ce dont il a besoin : c’est son agencement, sa forme de vie, c’est une stratégie intime qui vise à maintenir son existence à la hauteur des intensités que requiert la peinture.
Yannick Haenel, La solitude Caravage
Die intime Dimension, in der sich Caravaggio bewegt, entzieht sich in der Tat gewissenhaften Begriffen; wo die meisten Menschen ihre Interessen schützen, stellt er sie zur Schau. Wo sie ihre Kräfte sparen, gibt er sie aus. In dieser Hinsicht handelt er nicht gegen seine Interessen, wie Biografen wiederholen, die ihn gerne auf die Folklore des verfluchten Malers reduzieren, der im Grunde ein armer Kerl ist, der sich nicht beherrschen kann und alles mit seinem Leben anstellen würde. Im Gegenteil, ich glaube, dass er genau weiß, wer er ist, und dass er seine Unordnung nach einer Logik der Einzigartigkeit betreibt – ich würde sogar sagen: organisiert. Die Gefahr nimmt ihm nichts weg, sondern gibt ihm das, was er braucht: Es ist seine Anordnung, seine Lebensform, eine intime Strategie, die darauf abzielt, seine Existenz auf der Höhe der Intensität zu halten, die das Malen erfordert.
In Le désir comme aventure (2021) hat Yannick Haenel erzählt, wie er als 19-Jähriger Punk zufällig im Louvre vor Delacroix’ „Tod des Sardanapalos“ stehen geblieben war, wie diese gewaltvolle, nackte Orgie den jungen Wilden in ihm grundlegend erschütterte. Einiges von dieser Ekstase des Lebens ist in Haenels Bekenntnis zu einer Ökonomie der Verausgabung enthalten. Die absolute erotische Verausgabung, die sich in Le Trésorier-payeur mit Lilya verbindet, ebenso das Programm des radikalen Künstlers Caravaggio und die Bataille’sche Ökonomie sind existentielle Seiten eines Vitalismus, der bis an die eigene Erschöpfung gehen muss. Der Text lässt folgerichtig die Tresorräume hinter sich, und der Schatzmeister verausgabt sich in der Vereinigung mit der geliebten Lilya:
Leurs corps tremblent, et avec le plaisir qui monte, un peu de transpiration vient perler à leur front comme de la rosée. Si l’on se penche vers le miroir, on distingue très bien ces gouttes ; on pourrait les boire : en chacune d’elles, baignées de nacre, se dessine le détail de leurs ébats. Et voici qu’à l’intérieur de ce cadre qui s’éloigne, là-bas, sur la cheminée, et dont les reflets vous parviennent avec des lueurs qui ressemblent à des soupirs, les deux amants traversent une forêt : c’est le bois des Dames. Je le reconnais parce que dans la clairière trois chemins se croisent en un triangle d’herbes où surgit une fontaine. Le Trésorier approche ses mains qu’il tient l’une contre l’autre, une eau de source coule d’un rocher. Lilya vient boire au creux de ses mains ; et l’eau dépose à nouveau quelques gouttes sur le miroir où le visage des amants s’efface à travers la jouissance qui les délivre. Lilya rejoint ce point qu’elle espérait, le Trésorier sourit.
Yannick Haenel, Le Trésorier-payeur
Ihre Körper zittern, und mit der aufsteigenden Lust perlt ein wenig Schweiß wie Tau von ihrer Stirn. Wenn man sich zum Spiegel hinunterbeugt, kann man diese Tropfen sehr gut erkennen; man könnte sie trinken: In jedem von ihnen, die in Perlmutt gebadet sind, zeichnet sich das Detail ihrer Liebesspiele ab. Und siehe da: Innerhalb dieses Rahmens, der sich dort auf dem Kamin entfernt und dessen Reflexionen Sie mit einem Schimmer erreichen, der wie Seufzer aussieht, durchqueren die beiden Liebenden einen Wald: Es ist der Bois des Dames. Ich erkenne ihn daran, dass sich auf der Lichtung drei Wege in einem Dreieck aus Gras kreuzen, aus dem ein Brunnen entspringt. Der Trésorier hält seine Hände aneinander, und aus einem Felsen fließt Quellwasser. Lilya kommt und trinkt aus seinen Händen; und das Wasser tropft erneut auf den Spiegel, wo die Gesichter der Liebenden durch die Lust, die sie befreit, verblassen. Lilya erreicht den Punkt, auf den sie gehofft hatte, der Trésorier lächelt.
Kai Nonnenmacher
- Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier, Ü: Reinhold Werner (Berlin: Wagenbach, 1986).>>>
- „Yannick Haenel a raison de citer souvent la belle formule de Blanchot : « Un écrivain qui ne pense pas, en écrivant : Je suis la révolution, en réalité n’écrit pas. »“ Philippe Sollers, Fugues, „Destin du français“ (Paris: Gallimard, 2013).>>>
- Das Zitat im französischen Originaltext: „Vaincre le capitalisme par la marche à pied.“ Yannick Haenel, Les Renards pâles.>>>
- Georges Bataille, La part maudite, Kap. „La conscience de la fin ultime des richesses et la ’conscience de soi’“.>>>
- Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie (Matthes & Seitz, 2001).>>>
- Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit: politisch-psychologischer Versuch, Kap. „Vollendeter Kapitalismus: Eine Ökonomie der Generosität“ (Berlin: Suhrkamp, 2012).>>>
- „[…] les chefs doivent sans relâche faire des cadeaux, patronner des fêtes, donner de grands festins pour conserver leur statut ou rehausser leur prestige. Dans les tribus à potlatch, les chefs gagnent titres et honneurs en rivalisant de magnificence, parfois en défiant d’autres chefs par la destruction somptuaire de valeurs considérables. Afin de se montrer grand, de l’emporter sur les rivaux, il s’agit d’être follement dépensier, brûler ou jeter à la mer ce qu’il y a de plus précieux. Sur ce point, Georges Bataille ne s’était pas trompé qui reconnaissait dans le potlatch « la manifestation spécifique, la forme significative du luxe4 ». Dans la société primitive ce n’est pas la possession des choses de valeur qui a de l’importance, mais l’élément social et spirituel que comporte l’échange-don, l’acquisition du prestige conférée par la circulation ou la consumation des richesses.“ Gilles Lipovetsky und Elyette Roux, Le Luxe éternel, „Archéologie du luxe“.>>>
- Etwa: Arnaud Jamin, „Yannick Haenel : écrire, jouir et vider les coffres (Le Trésorier-payeur)„, Diacritik, 22. August 2022; Eric Loret, „Le «Trésorier-payeur» de Yannick Haenel, argent double“, Libération, 26. August 2022; Didier Jacob, „« Le Trésorier-payeur » de Yannick Haenel : portrait du banquier en kamikaze magnifique“, Nouvel Observateur, 14. September 2022; Alice Ferney, „Le Trésorier-Payeur, de Yannick Haenel: mort à crédit“, Figaro, 14. September 2022; Tiphaine Samoyault, „« Le Trésorier-payeur », de Yannick Haenel“, Le Monde, 15. September 2022.>>>
- „C’est l’histoire d’un banquier qui veut tout dépenser. Au début des années 90, le jeune Bataille arrête la philosophie pour s’inscrire dans une école de commerce et décroche son premier poste à Béthune, dans la succursale de la Banque de France. Dans cette ville où la fermeture des mines et les ravages du néolibéralisme ont installé un paysage de crise, la vie du Trésorier-payeur devient une aventure passionnée : protégé par le directeur de la banque, Charles Dereine, il défend les surendettés, découvre le vertige sexuel avec Annabelle, une libraire rimbaldienne, s’engage dans la confrérie des Charitables, collabore avec Emmaüs et rencontre l’amour de sa vie, la dentiste Lilya Mizaki. Comment être anarchiste et travailler dans une banque ? Peut-on tout donner ? Yannick Haenel raconte comment il est possible, par la charité et l’érotisme, de résister de l’intérieur au monde du calcul.“ Gallimard, 2022.>>>
- „Il y a là un mélange très français de rejet catholique de l’argent, d’amour-haine pour l’État et de foi dans la littérature et l’érotisme. […] L’évocation de la fac de philo et de la Business School de Rennes, comme la visite des réserves labyrinthiques de la Banque de France par les Reagan, sont des morceaux d’anthologie. La Souterraine devient le cœur de ce monde sans cœur dont parlait Marx, avec ses lingots impeccablement rangés, tandis que des SDF végètent sur les trottoirs voisins. Une réalité rarement traitée par le roman, qui pourrait s’avérer un trésor.“ Claude Arnaud, „Le banquier philosophe de Yannick Haenel“, Le Point, 22. September 2022.>>>
- „Im Durcheinander der nächtlichen Nebel, die noch in rosa und blauen Fetzen über den von Perlmuttscherben der Morgenröte übersäten Wassern schwebten, zogen Boote dahin und lächelten in das schrägfallende Licht, das ihr Segel und die Spitzen ihres Bugspriets ebenso gelb einfärbte wie bei ihrer Rückkehr am Abend: eine imaginäre, verlassene, fröstelnde Szenerie, ein bloßer Abglanz des Sonnenuntergangs, der nicht, wie der Abend, auf der Abfolge der Tagesstunden beruhte, die ich gewohnt war ihm vorausgehen zu sehen, unverbindlich, nur eingeschoben, noch ungreifbarer als das Schreckensbild von Montjouvain, das sie nicht zu vernichten, zu bedecken, zu verstecken vermochte – poetisches und eitles Bild der Erinnerung und des Traumes.“ – „Dans le désordre des brouillards de la nuit qui traînaient encore en loques roses et bleues sur les eaux encombrées des débris de nacre de l’aurore, des bateaux passaient en souriant à la lumière oblique qui jaunissait leur voile et la pointe de leur beaupré comme quand ils rentrent le soir: scène imaginaire, grelottante et déserte, pure évocation du couchant, qui ne reposait pas, comme le soir, sur la suite des heures du jour que j’avais l’habitude de voir le précéder, déliée, interpolée, plus inconsistante encore que l’image horrible de Montjouvain qu’elle ne parvenait pas à annuler, à couvrir, à cacher — poétique et vaine image du souvenir et du songe.“ Marcel Proust, Sodome et Gomorrhe, chap. IV.>>>
- „Que ces sables ont des couleurs tendres ! On dirait un désert de chair : peau de pêche, nacre, poisson cru. À Akaba, l’eau, pourtant bienfaisante, reflète un bleu impitoyablement dur, tandis que les invivables massifs rocheux se fondent en teintes gorge-de-pigeon.“ – „Wie zart sind die Farben dieses Sandes! Es ist wie eine Wüste aus Fleisch: Pfirsichhaut, Perlmutt, roher Fisch. In Akaba spiegelt das Wasser, obwohl es wohltuend ist, ein gnadenlos hartes Blau wider, während die unwirtlichen Felsmassive in Taubenkehlchen-Farbtönen verschmelzen.“ Claude Lévi-Strauss, Tristes tropiques.>>>
- „Im ersten Terzett heißt es, dass Laura auf die Dinge, die ‚bei uns‘ („tra noi“) wertvoll sind, nicht viel Wert lege, so nicht auf Perlen, Edelsteine und Gold („perle et robini et oro“). Im zweiten Quartett wird demgegenüber eine gewisse Einschränkung gemacht. Zwar heißt es auch von der überragenden Schönheit, die Laura vor allen anderen auszeichnet, zunächst, dass sie ihr nur lästig falle. Dies gelte allerdings nicht, so wird dieser Befund zum Beschluss dieses Gedichts sogleich relativiert, insofern diese singuläre „beltà“ den schönen Schatz ihrer Keuschheit ziere.“ Andreas Kablitz, „Die doppelte Ontologisierung der Allegorie in der westlichen Kultur“, in Schriftsinn und Epochalität: zur historischen Prägnanz allegorischer und symbolischer Sinnstiftung, hrsg. von Bernhard Huss und David Nelting (Heidelberg: Winter, 2017), 27.>>>
- Francis Ponge, Im Namen der Dinge, übtertragen von Gerd Henninger, Französische Bibliothek (Berlin: Suhrkamp, 2017), 19.>>>
- Francis Ponge, Im Namen der Dinge, übtertragen von Gerd Henninger, Französische Bibliothek (Berlin: Suhrkamp, 2017), 19.>>>
- „Alexandre Gefen et Émilie Brière rencontrent Yannick Haenel“, Fixxion 6 (2013), „Fiction et démocratie“.>>>
- Vgl. Claude Lanzmann, „«Jan Karski» de Haenel, un faux roman“, Les Temps modernes 657 (Jan.–März 2010): 1–10. Dazu in den deutschsprachigen Zeitungen etwa: Marc Zitzmann, „Fakten und Fiktion: Claude Lanzmann zu «Jan Karski»“, Neue Zürcher Zeitung, 2. Februar 2010, 15; Tilman Krause, „Die Henker interessieren mich nicht“, Die Welt, 26. April 2010, 25.>>>
- Jüngst etwa: Thomas Klinkert und Christian Rivoletti, „Wirklichkeitsdarstellung in der italienischen und französischen Gegenwartsnarrativik durch Hybridisierung von faktualem und fiktionalem Schreiben am Beispiel von Antonio Franchini und Yannick Haenel“, in Julia Brühne et al., Re-Konstruktion des Realen: die Wiederentdeckung des Realismus in der Romania (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021), 19–40.>>>
- „Quant à la littérature, la question se pose autrement. À vrai dire, les interrogations qui m’agitent depuis plusieurs années ne tiennent pas à l’angoisse que susciterait la résorption du réel dans la fiction ou l’inverse. Ni avec le fait de savoir s’il est inquiétant que des auteurs soient attaqués en justice pour atteinte aux droits de personnes privées. Ou encore si Claude Lanzmann a eu raison de se déchaîner contre le Jan Karski de Yannick Haenel, Edouard Louis de s’offusquer d’un procès en fact-checking ou Camille Laurens d’accuser Marie Darrieussecq de « plagiat psychique ». Non, ce qui me soucie le plus sont les raisons pour lesquelles une part chaque année plus importante de la littérature française contemporaine préfère jouer sur ces sables mouvants. D’autant qu’à l’aune du politiquement correct bêlant et triomphant, la quasi-totalité des écrivains classiques du passé seraient aujourd’hui inculpés pour des romans purement imaginaires, mais passons…“ Cécile Guilbert, „Faits et fictions“, in dies., Roue libre (Paris: Flammarion, 2020).>>>
- Ulrike Frenkel, „Die bleichen Phrasen der Revolution“, Stuttgarter Zeitung, 14. November 2014, 35.>>>
- Philipp Holstein, „Poetischer Roman über den Barrikadenkampf im heutigen Paris“, Rheinische Post, 16. Februar 2015.>>>
- Katrin Hillgruber, „Bootsfahrt mit Cimino. Hommage an die Liason von Film und Literatur: Yannick Haenels Roman Halt deine Krone fest“, Der Tagesspiegel, 29. Dezember 2019, 30.>>>
- „On peut entrer d’abord dans Le Trésorier-payeur, le nouveau roman de Yannick Haenel, comme dans une fresque de Chagall, dans un univers plein de ciels, de couleurs, de femmes aériennes, un univers un peu délirant, tendre et mystique. Religieux même, disons-le.“ Tiphaine Samoyault, „« Le Trésorier-payeur », de Yannick Haenel“, Le Monde, 15. September 2022.>>>
- „Erudit, débridé, volontiers abscons par moments, « Le Trésorier-payeur » séduit autant qu’il déconcerte. Tour à tour fulgurant et redondant, déclinant son propos anarcho financier sans vraiment le transcender, il lui manque une véritable apothéose. Yannick Haenel se « dépense » pourtant sans compter.“ Philippe Chevilley, „La féerie bancaire de Yannick Haenel“, Les Echos, 4. September 2022.>>>
- „Si l’on revient sur le sentiment des grands réformateurs, on peut même dire qu’en donnant ses conséquences extrémes à une exigence de pureté religieuse, il détruisit le monde sacré, le monde de la consumation improductive, et livra la terre aux hommes de la production, aux bourgeois.“ Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie/La part maudite, Kap. L’effet lointain de la Réforme.>>>
- Georg Simmel: „Über Geiz, Verschwendung und Armut“, Ethische Kultur: Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 42 (21.10.1899): 332–35; 43 (28.10.1899): 340–41.>>>
- „Par là, l’auteur ne veut dire qu’une seule chose, à savoir que le désir humain a été complètement intégré dans le domaine de l’économie politique. Il est devenu une marchandise comme une autre, et à cause de cela les êtres humains sont désormais exposés dans une gigantesque foire aux bestiaux.“ Valentin Retz, Yannick Haenel und François Meyronnis, „Le sacrifice d’Israël“, in Tout est accompli.>>>
- „Mais un renversement s’opère, par lequel l’écriture de Haenel, qui séduisait au début par son adresse philosophique, ne tient pas toutes ses promesses romanesques. Car c’est dans la pratique amoureuse que Bataille (le banquier) réalise finalement son idéal de dépense et mène à bien sa stratégie mélenchoniste. Le style de Haenel verse alors, paradoxalement, dans une prodigalité fatigante, notamment dans la description, à la fois candide et désuète, de ses héroïnes, et de l’amour flamboyant que le banquier leur porte. Tapant largement dans la caisse des adjectifs, Haenel se voudrait le trésorier-payeur fou de la littérature. Il en est, ce qui n’est pas si mal, le caissier impertinent.“ Didier Jacob, „« Le Trésorier-payeur » de Yannick Haenel : portrait du banquier en kamikaze magnifique“, Nouvel Observateur, 14. September 2022.>>>
- „Son ébullition se répète beaucoup. On finit par s’amuser que sous sa plume chaque femme soit immanquablement renversante, éblouissante, sexy à se damner et brûlante. Les mêmes mots reviennent sans cesse. Concepts, amantes et paysages ne sont qu’« éclats», « miroitements », « scintillements », « nacre », « étoiles» : tic d’écriture ou d’imagination, la métaphore lumineuse colonise le roman, Le Trésorier-Payeur devient le portrait d’un illuminé par un illuminé. Haenel et Bataille piétinent dans leur fantasmagorie. Comptant avec l’intelligence, le romancier intervient sans cesse ; ses commentaires brisent la narration dont le lecteur est à chaque fois éjecté par ces vérités générales assénées. L’auteur décrète des épiphanies sans les faire ressentir. Ses sentences agacent, ses exagérations lassent. À bride avalée, ses élans poétiques frôlent la mièvrerie ou le non-sens.“ Alice Ferney, „Mort à crédit: Yannick Haenel“, Le Figaro, 15. September 2022.>>>