Schreibtherapie
Maria Pourchets Roman Champion (Gallimard 2015, folio 2019) ist eine wütende Kindheitserzählung in Monologform, eine Geschichte über Gewalt, Einsamkeit – und über die heilende, wenn auch ambivalente Macht der Imagination. Erzählt wird aus der Perspektive des jungen Schülers Fabien Bréckard, der sich in einer Art psychiatrischem Schreibauftrag rückblickend an ein zentrales Jahr seiner Kindheit erinnert. Entstanden ist ein Text, der weniger einen psychologischen Fall als vielmehr eine literarische Poetik der Kindheit vorführt: Kindheit nicht als idyllischer Ursprung, sondern als sprachlich gebrochene Erfahrung von Ausgrenzung, Gewalt und Einsamkeit – und zugleich als Ort poetischer Schöpfung.
Der Roman ist in sechs „Cahiers“ gegliedert, also in Hefte, die den Eindruck eines Therapieprotokolls oder eines Schulaufsatzes verstärken. Fabien berichtet rückblickend als Ich-Erzähler von seinem vierzehnten Lebensjahr – dem Jahr 1992 –, das er größtenteils in einem katholischen Internat verbringt. Seine Mutter hat ihn dorthin abgeschoben, um ihn loszuwerden. Die Eltern sind entweder brutal (die Mutter) oder abwesend (der Vater). Fabien ist ein schwieriger, aber hochintelligenter Jugendlicher mit scharfem Witz, großer sprachlicher Gewandtheit und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Um sich vor dem Elend seiner Umgebung zu schützen – der Gewalt der Mutter, der Ignoranz der Schule, dem Mobbing seiner Mitschüler, der Gleichgültigkeit der Erwachsenen –, erschafft er sich ein imaginäres Wesen: Champion, einen sibirischen Wolf, der ihn begleitet, beschützt und zwischen ihm und der Welt steht. Champion ist nicht nur ein „unsichtbarer Freund“, sondern eine poetische Chiffre für Fabiens inneren Rückzugsraum – ein Überlebensmechanismus und ein Manifest der Imagination.
Der Text schildert mit bitterer Ironie und schonungsloser Offenheit Szenen aus dem Internatsleben, von Fabiens Familie, seiner Faszination für Literatur und seiner Rebellion gegen das System. Die Sprache des Romans ist geprägt von Sarkasmus, Aggression, Wortwitz und immer wieder von Momenten großer Verletzlichkeit.
Bien. Les trois quarts du calepin sont encore vierges, j’aurais un boulevard pour vous raconter le réel, mais je sèche. On est obligé de le finir, le cahier ? Parce qu’on n’est plus à une consigne aberrante près, dites-moi. Vous m’avez déjà fait écrire une lettre d’excuses aux victimes de Champion, un journal de mes rêves, une lettre d’adieu à Alfred, je m’attends à tout.
Une dernière chose. Vous m’avez dit Fabien, à la longue, on se construit sur des choses certaines. Sur le coup, ça sonnait comme une bonne nouvelle, j’ai pensé tant mieux. Mais j’ai réfléchi, je préfère pas. Je préférerais autre chose, je ne sais pas quoi. Je sais juste qu’à la longue, se construire, et les choses certaines, ça me fait penser à mes parents, et regardez. Je vais commencer par prendre la mer, après on verra.
Je peux sortir maintenant ? Oui, je sais, je ne suis pas enfermé.
Maria Pourchet, Champion, Gallimard, 2015.
Gut. Drei Viertel des Notizbuchs sind noch leer, ich hätte einen ganzen Boulevard, um Ihnen die Realität zu erzählen, aber ich schwänze. Müssen wir das Notizbuch zu Ende schreiben? Weil wir nicht mehr von einer abstrusen Vorgabe entfernt sind, sagen Sie es mir. Sie haben mich bereits dazu gebracht, einen Entschuldigungsbrief an die Opfer von Champion zu schreiben, ein Tagebuch meiner Träume, einen Abschiedsbrief an Alfred, ich erwarte alles.
Eine letzte Sache noch. Sie haben mir gesagt, Fabien, auf lange Sicht baut man auf sicheren Dingen auf. Im ersten Moment klang das wie eine gute Nachricht, ich dachte, umso besser. Aber dann habe ich nachgedacht, lieber nicht. Ich würde etwas anderes vorziehen, ich weiß nicht, was. Ich weiß nur, dass man sich irgendwann etwas aufbaut, und die Dinge sicher sind, das erinnert mich an meine Eltern, und schauen Sie. Ich werde jetzt erst einmal zur See fahren, dann sehen wir weiter.
Kann ich jetzt rausgehen? Ja, ich weiß, ich bin nicht eingesperrt.
Diese Passage ist zentral für das Verständnis von Fabiens Verhältnis zum therapeutischen Schreibauftrag – und damit auch für die poetologische Selbstreflexion des Romans. Sie macht die Ambivalenz zwischen äußerem Auftrag und innerem Bedürfnis, zwischen therapeutischer Intention und literarischer Subjektwerdung sichtbar. Der Auszug beginnt mit der ironischen Frage, ob der „calepin“ (das therapeutisch verordnete Journal) wirklich gefüllt werden müsse. Fabien benennt das Schreiben explizit als „consigne aberrante“ – eine absurde Anweisung. Er zählt die bisherigen Aufgaben auf („lettre d’excuses“, „journal de mes rêves“, „lettre d’adieu“), alles Schreibübungen, die ihm fremd bleiben, weil sie ein normiertes Ziel verfolgen: Reue, Verarbeitung, Abschluss. Die Sprache der Therapie erscheint ihm als normativ, fremdbestimmt, falsch. Der „boulevard“ des leeren Journals ist kein Raum der Freiheit, sondern ein richtungsloses Vakuum.
Der zweite Teil der Passage verweist auf ein therapeutisches Credo der Therapeutin: Identitätsbildung durch stabile, überprüfbare „Wahrheiten“ (z. B. familiäre Herkunft, Erfahrungen, Diagnosen). Fabien lehnt dies dezidiert ab: „je préfère pas. Je préférerais autre chose, je ne sais pas quoi.“ Er stellt die Idee eines festen Fundaments für das Selbst in Frage – für ihn ist das Gegenteil der Fall: Gerade das „Sich-Aufgebaut-Haben“ auf „sicheren“ familiären Fundamenten hat zu seinem inneren Zusammenbruch geführt. Sein poetisches Subjekt will nicht auf festem Grund stehen, sondern flüchtig, improvisierend, im Werden bleiben. Daher das emblematische Bild am Ende: „Je vais commencer par prendre la mer.“ – ein klassisches Motiv für das Aufbrechen ins Ungewisse, ins Offene, in das Nicht-Festgelegte. Es ist ein poetischer Akt der Selbstbehauptung gegen die therapeutische Endgültigkeit.
Der Satz „Je peux sortir maintenant ? Oui, je sais, je ne suis pas enfermé.“ bringt das Dilemma des ganzen Romans auf den Punkt: Die Therapie suggeriert Befreiung – aber Fabien erlebt sie als strukturellen Zwang. Der eigentliche Käfig ist kein physischer, sondern ein symbolischer: Sprache, Diagnose, Erwartung. Die letzte Frage richtet sich gleichermaßen an Lydia Frain wie an die Leser – Darf ich aufhören zu erklären? Darf ich unbestimmt bleiben? Darf ich gehen, ohne geheilt zu sein? Champion stellt das Schreiben nicht als therapeutischen Fortschritt dar, sondern als Praxis des Widerstands. Fabien schreibt – aber nicht, um sich zu „heilen“. Er schreibt, um nicht vereinnahmt zu werden, um sich einer Sprache zu widersetzen, die ihn definieren will. Der therapeutische Schreibauftrag wird unterlaufen, ironisiert und zugleich ernst genommen – das ist die Ambivalenz, die die Poetik des Romans prägt.
J’écris sur le carton de la couverture comme un taulard, et je poursuivrai sur des feuilles de P.Q., sur les murs, plutôt que de continuer votre jeu de sadique sponsorisé par Clairefontaine. Alors comme ça, vous m’avez roulé.
Cinq cahiers, je ne compte plus les Bic de merde qui coulent, j’ai trois doigts sur cinq tatoués à vie à l’encre bleue, j’ai sûrement perdu un dixième à chaque œil, à force de fixer des carreaux. Quatre cent quatre-vingts pages recto verso à mains nues, et, en gros, vous estimez que ce sont des salades.
Je pose la question : vous êtes folle ? J’ai de plus en plus l’impression que vous n’êtes pas du bon côté du bureau, Lydia. Oui, je sais, personne n’est fou ici, tout le monde se repose. Compte là-dessus.
Maria Pourchet, Champion, Gallimard, 2015.
Ich schreibe auf den Einbandkarton wie ein Knacki, und ich mache weiter auf Klopapier, auf Wände, alles lieber als Ihr sadistisches Spiel auf dem gesponserten Clairefontaine-Papier weiterzuspielen.
Fünf Hefte, ich zähle die auslaufenden Bic de merde nicht mehr, drei von fünf Fingern sind für immer mit blauer Tinte tätowiert, ich habe wahrscheinlich in jedem Auge ein Zehntel verloren, weil ich so oft auf Kacheln gestarrt habe. Vierhundertachtzig Seiten beidseitig mit bloßen Händen, und im Grunde genommen sind Sie der Meinung, dass das alles Müll ist.
Ich stelle die Frage: Sind Sie verrückt? Ich habe immer mehr das Gefühl, dass Sie nicht auf der richtigen Seite des Schreibtisches stehen, Lydia. Ja, ich weiß, hier ist niemand verrückt, alle ruhen sich aus. Verlassen Sie sich darauf.
Diese wütende Passage markiert einen Wendepunkt: Das Schreiben emanzipiert sich von der therapeutischen Anordnung, es wird zur widerständigen Geste, zur Verweigerung gegenüber einem autoritären System. Die ironische Anspielung auf eine französische Schulheftmarke entlarvt die administrative Logik der Institution. Poetologisch spricht sich hier eine anarchische Kraft aus: Schreiben ist keine disziplinierte Tätigkeit, sondern ein Mittel des Überlebens – auch gegen institutionalisierte Fürsorge.
Blaubarts Zimmer
Voici la clef de la petite chambre, au bout de la longue galerie, du dernier appartement bas. Ouvrez tout, fouillez, allez partout. Mais en cette petite chambre, je vous défends d’entrer jamais, sur votre vie.
Charles Perrault, Barbe-Bleue, 1697.
Hier ist der Schlüssel zu dem kleinen Zimmer am Ende der langen Galerie, in der letzten niedrigen Wohnung. Öffnen Sie alles, durchsuchen Sie alles, gehen Sie überall hin. Aber in diese kleine Kammer verbiete ich Ihnen bei Ihrem Leben, jemals hineinzugehen.
Das Motto aus Barbe-Bleue bildet in Champion ein poetisches Leitmotiv von zentraler Bedeutung. Es verweist auf ein zentrales Thema des Romans: das Spannungsverhältnis zwischen Verbot und Erkenntnis, zwischen dem Wunsch, etwas zu verbergen, und der Notwendigkeit, es zu erzählen. Im Kontext des Romans steht die „petite chambre“ für den inneren Raum der Kindheit, den Raum des Traumas, der Einsamkeit, der Gewalt – und der Imagination. Fabien hat sich in diesen Raum zurückgezogen: in seine Erinnerungen, in seine Sprache und in seine Erfindung des Wolfs Champion. Doch er selbst gesteht, dass es Dinge gibt, die er „nicht sagen kann“, Räume, die „nicht betreten werden dürfen“. Die Erzählung ist somit ein Versuch, das Verbotene zu umkreisen, ohne es vollständig zu öffnen. Wie in Perraults Märchen wird das Verbotene gerade durch das Verbot interessant – und notwendig: Der Roman kreist um die Frage, was passiert, wenn man doch in die kleine Kammer blickt. Die Rolle der Psychiaterin Lydia Frain, an die sich Fabien wendet, ähnelt jener der jungen Frau in Barbe-Bleue, die den Schlüssel bekommt, aber vor dem Verbot gewarnt wird. Lydia erhält „Zugang“ zu Fabiens Innenleben – aber er bestimmt, was sie sehen darf. Der Text inszeniert eine permanente Konfrontation mit dem Sagbaren und dem Tabu: „Ich sage dir alles – aber nicht das.“ In dieser Spannung entfaltet sich die ganze poetische Dynamik des Romans. Das Motto aus Barbe-Bleue verweist letztlich auf das Schreiben selbst: Jeder Akt des autobiografischen Erzählens ist ein Öffnen verbotener Räume. Doch der Preis dafür ist hoch – bei Perrault steht das Leben auf dem Spiel, bei Fabien die psychische Stabilität. Das Motto hebt die prekäre Balance des Erzählens hervor: Das Schreiben in Champion ist notwendig, aber gefährlich. Es ist ein Risiko, eine Grenzüberschreitung – und zugleich die einzige Möglichkeit, sich selbst zu retten.
Das Motto aus Barbe-Bleue strukturiert Champion als Erzählung über das (Nicht-)Sagen, über die inneren Räume des Schmerzes, der Scham und der Erinnerung. Es verweist auf die Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen Offenbarung und Verweigerung. Maria Pourchet nutzt das Märchenzitat, um die zentralen Fragen ihres Romans zu stellen: Was darf erinnert werden? Wer hat Zugang zum inneren Raum des Kindes? Und wie viel Wahrheit kann Sprache tragen, ohne zu zerstören? Champion enthält neben dem expliziten Motto aus Perraults Barbe-Bleue auch Anspielungen auf die Erzählstruktur und Symbolik des Märchens selbst. In einer retrospektiven Passage heißt es: „La chambre d’Alfred à ne jamais ouvrir, les affaires d’Alfred à laisser intactes, la médaille de baptême.“ Diese Formulierung ist eine direkte Spiegelung des Blaubart-Motivs: ein Raum, der nicht betreten werden darf, weil er ein schreckliches Geheimnis enthält. Die „chambre d’Alfred“ steht für den traumatischen Kern der Familiengeschichte – den Tod des kleinen Bruders –, den alle Beteiligten meiden oder verdrängen. Für Fabien bedeutet dieser Raum einen psychischen Ort, der mit Schuld, Schmerz und Auslöschung des Ich verknüpft ist. Wie bei Barbe-Bleue existiert ein symbolisches Verbot: Wer diesen Raum betritt – wer sich erinnert, wer benennt – riskiert seelische Katastrophe.
Am Ende des Romans schreibt Fabien an Lydia: „Sinon, l’infirmier m’a transmis Barbe-Bleue de votre part, qu’est-ce que voulez que j’en foute, c’est pour les enfants.“ Fabien lehnt die Gabe jedoch ab und weist damit jede vereinfachende Lesart von Trauma oder Schuld zurück. Das Märchen steht hier als Chiffre für die therapeutische Lesart, die in der Aufdeckung eines Geheimnisses die Lösung sieht. Doch Champion stellt diese Ordnung in Frage: Die Wahrheit ist nicht rettend, sondern gefährlich. Schreiben heißt für Fabien nicht, die Kammer zu öffnen, sondern sie bewusst nicht zu öffnen – oder sie poetisch zu verwandeln. Barbe-Bleue liefert eine Allegorie für das Verhältnis von Erinnerung, Trauma und Erzählen. Die verbotene Kammer steht für das Unaussprechliche in der Kindheit – den Tod des Bruders, die Schuld, die Gewalt. Der Schlüssel ist die Sprache, das Schreiben – und sie ist zweischneidig: Wer schreibt, öffnet; wer öffnet, riskiert. Der Text zeigt, dass das kindliche Subjekt nicht auf Wahrheit gegründet ist, sondern auf die Kontrolle über ihre Darstellbarkeit. Die Poetik der Kammer in Champion ist daher: Schreiben, ohne zu zerstören. Öffnen, ohne auszulöschen.
Imaginärer Schutzraum
Pourchet dekonstruiert in Champion jede Vorstellung einer heilvollen Kindheit. Fabien erlebt die Familie nicht als Geborgenheitsraum, sondern als Kriegsschauplatz. Seine Mutter ist latent gewalttätig, emotional unberechenbar und ambivalent gläubig; sein Vater erscheint als zynischer Vertreter patriarchaler Apathie. Die Schule wiederum reproduziert autoritäre Strukturen: Hier herrschen Kontrolle, Anpassungsdruck und soziale Hierarchien. Fabien erkennt diese Systeme nicht nur, er durchschaut sie – und wehrt sich mit dem einzigen Mittel, das ihm bleibt: Sprache. Die Kindheit, wie sie Champion zeigt, ist kein ursprüngliches Paradies, sondern ein Raum sozialer Gewalt. Diese Gewalt ist nicht nur physischer Natur, sondern strukturell, sprachlich und psychologisch: Die Verweigerung von Anerkennung, das systematische Überhören und Missverstehen, das Reduzieren kindlicher Erfahrung auf „Fehlverhalten“ oder „Auffälligkeit“ sind Formen dieser Gewalt. Der Text spricht sie nicht analytisch aus – er performt sie.
Die zentrale poetologische Figur des Romans ist Champion. Dieser Wolf ist eine Kindheitsfigur im besten Sinne: eine Projektion von Kraft, Schutz und Wildheit, eine imaginäre Gestalt, mit der sich Fabien vom Zugriff der Welt abschirmt. In einer Welt, in der das Kind keine Subjektstellung hat, schafft sich Fabien mit Champion einen Schutzraum – einen zweiten Körper, ein anderes Selbst, das unantastbar bleibt. Champion ist keine bloße Flucht ins Fantastische, sondern ein poetologischer Akt: Die Welt wird durch Sprache verändert, ergänzt, umgedeutet. Fabien konstruiert mit Champion nicht nur ein Alter Ego, sondern auch eine symbolische Instanz, die das Ich schützt, wo es sich nicht ausdrücken kann. Die poetische Kraft liegt dabei im performativen Moment: Indem Fabien Champion erfindet, schafft er sich eine Realität, in der er – zumindest innerlich – autonom bleibt.
Champion ist groß, stark und wild und hilft Fabien, mit seiner sozialen Isolation, familiären Vernachlässigung und psychischen Belastung besser umgehen zu können. Champion verkörpert Unabhängigkeit und Schutz in einer Welt, in der Fabien sich ohnmächtig, verletzlich und unverstanden fühlt – in der Schule wie zu Hause –, schafft er sich mit Champion einen mentalen Raum der Autonomie. Der Wolf tritt als seine „Rüstung“ auf, als psychischer Puffer zwischen ihm und der Welt: „Champion me précède, il m’éloigne de tout.“ Das Tier schützt seine „10 mètres de distance“ zur Außenwelt. Damit dient Champion als Mittel der Abgrenzung und Selbstbehauptung. Champion ist Ausdruck einer psychischen Notlage. Er hilft Fabien, innere Spannungen zu regulieren – Wut, Angst und Einsamkeit – und ist zugleich ein Indikator für eine tiefgreifende innere Zerrissenheit. Er repräsentiert die latente Gewalt, aber auch den Trost: ein wildes, aber treues Wesen, das nur ihm gehört und ihn niemals verrät. Die Tatsache, dass Fabien ihm ein Luxus-Halsband stiehlt, zeigt auch eine paradoxe Fürsorglichkeit gegenüber dieser inneren Instanz. Champion ist auch ein poetisches Element: eine konkrete Metapher für die kindlich-adoleszente Fantasie, die sich gegen eine entzauberte Realität stemmt. In dieser Lesart wird Champion selbst zur poetischen Entsprechung des Schlüssels, mit dem Blaubarts Kammer geöffnet werden kann. Champion, der imaginäre Wolf, ist nicht nur Schutzfigur, sondern ein Werkzeug der Erinnerung. Er erlaubt es Fabien, das Unsagbare anzudeuten, ohne es direkt zu benennen. Der Schlüssel öffnet nicht die Tür vollständig – aber er erlaubt ein vorsichtiges Hineinblicken. Das Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, mit Andeutung und Verschweigen, ist ein zentrales poetisches Verfahren des Romans.
Fabiens Großmutter Mamie wird zur wichtigsten Gegenfigur in Fabiens Kindheit. Ihre halbfiktiven, nostalgisch-anekdotischen Erzählungen bieten dem Enkel eine Alternative zur kalten Realität. Sie ist eine „Enchanteresse“, die Erinnern als Spiel und Überlebensstrategie versteht. Die Szene entfaltet eine Poetik des Alltags, in der Fantasie und Witz als kognitive Bewältigungsformen erscheinen. Der Text zelebriert hier das Erzählen selbst: die Fähigkeit, Vergangenheit zu fabulieren, um Gegenwart erträglich zu machen. Mamie steht für eine Erinnerungspraxis, die nicht archiviert, sondern transformiert.
Die Erfindung Champions ist eine kreative Tat, die Fabiens Fähigkeit zum „enchantement“, zur Selbstrettung durch Imagination, betont. In dieser Hinsicht knüpft die Figur auch an Fabiens Lektüre der Enchanteurs an – der magisch-fantastischen Romanwelt, die ihn innerlich rettet. Auch die fiktive Familie der Zaga – Enchanter, Illusionisten, Überlebenskünstler – dient Fabien als Modell. Ihre Geschichten entnimmt er dem (fiktiven) Roman Les Enchanteurs, den er obsessiv liest. Die Zaga verkörpern das, was seine eigene Realität verweigert: Sinn, Magie, Zugehörigkeit. Der Text reflektiert hier die heilende, wenn auch illusionäre Macht der Literatur – und entwirft die Lesart, dass Kindheit nicht nur durch Traumata, sondern auch durch poetische Praxis geprägt ist.
J’en viens au seul événement de la semaine qui vaut un peu le détour, jeudi soir autour de vingt-deux heures trente.
J’étais occupé à lire mon livre au-delà du couvre-feu, avec une torche électrique dont je pourrais d’ailleurs me passer. À force, je saurais lire Les enchanteurs les yeux fermés. C’est ce que j’ai vu de plus beau jusqu’ici, et ça fait déjà un bail que je vois des choses. C’est l’histoire d’une famille, les Zaga, moitié italienne, moitié inventée, enchanteurs de profession à la cour de Russie où ils fournissent des illusions contre rémunération. Farces, mystifications, vrais miracles, arnaques et guérisons en tout genre. Vous avez Fosco Zaga, le fils, qui apprend à faire illusion et à être un homme. Vous avez Giuseppe, l’enchanteur père, doué d’éternité, qui est le type qu’on aimerait rencontrer pour discuter mais pas forcément pour vivre avec. Vous avez Teresina, qui les rend fous tous les deux et qui ne se balade jamais sans ses écureuils, ce qui me fait penser qu’on aurait pu s’entendre. Il y a aussi un allumé qui est français et qui veut libérer le peuple paysan du jeu qui l’oppresse, mais qui échouera comme révolutionnaire et mourra bêtement d’un genre de rhume. Fosco Zaga est le seul type sur cette terre qui me prouve que je suis à peu près normal, ou du moins pas tout seul. Aussi je ne m’en sépare jamais. Je le lis tous les jours, au moins un coup le matin et un le soir, parfois cinq, et jusqu’à dix en cas de panique. Ce sont les Zaga, par exemple, qui m’ont donné l’idée de me faire accompagner par Champion, sans être taré pour autant. Je n’aurais pas osé sans permission, je suis plutôt raisonnable. Pour eux c’est complètement naturel, comme la magie, le carnaval, et autres ficelles pour améliorer sa qualité de vie, tenir debout. Je ne sais pas où j’en serais aujourd’hui, sans les enchanteurs.
Vous allez me dire que j’en suis à l’asile, précisément. C’est sans rapport.
Vers vingt-deux heures trente donc, Giuseppe et Fosco Zaga étaient à deux doigts de se faire sortir de la cour de Russie parce que la reine était constipée et qu’il fallait des coupables. Je n’avais pas trop d’émotion, je savais que ça terminerait bien, la reine finit toujours par chier. Et là, a retenti une sonnerie qui m’a rendu cardiaque au moins trois minutes. Pas dans le bouquin, dans la vie. Aussitôt après, hurlements bestiaux de Conrad, à l’incendie, au feu, à l’incendie qu’il s’égosille. Il en fait des caisses. Il ne veut pas qu’on devine trop vite que c’est un exercice d’évacuation, Conrad est un grand professionnel.
Portes qui claquent, re-sonnerie, tous les types giclant de leur pieu comme un seul homme, dans le couloir. Une occasion unique de découvrir les modèles de pyjamas. On est pas déçus. Des lapins, des fusées, des mickeys, à croire que les gens n’ont aucune fierté. Moi ça va, je dors en slip ou à poil, viril, rien à dire. Ordre de mettre nos manteaux, ordre de se rassembler dans la cour de l’établissement, ordre de rester calmes et d’attendre les instructions, mais comment voulez-vous y croire. Ils ne font jamais semblant de faire le 18. Personne ne songe à parler des pompiers, c’est cousu de fil blanc. Enchanteur, c’est un métier.
Maria Pourchet, Champion, Gallimard, 2015.
Ich komme zu dem einzigen Ereignis der Woche, das ein wenig sehenswert ist, Donnerstagabend gegen 22.30 Uhr.
Ich war damit beschäftigt, mein Buch über die Sperrstunde hinaus zu lesen, mit einer Taschenlampe, auf die ich übrigens verzichten könnte. Mit der Zeit würde ich Die Zauberer mit geschlossenen Augen lesen können. Es ist das Schönste, was ich bisher gesehen habe, und es ist schon eine Weile her, dass ich Dinge gesehen habe. Es ist die Geschichte einer Familie, der Zagas, halb italienisch, halb erfunden, die von Beruf Zauberer am russischen Hof sind, wo sie gegen Bezahlung Illusionen liefern. Streiche, Mystifikationen, echte Wunder, Betrügereien und Heilungen aller Art. Sie haben Fosco Zaga, den Sohn, der lernt, Illusionen zu erzeugen und ein Mann zu sein. Sie haben Giuseppe, den zaubernden Vater, der mit Ewigkeit begabt ist und der der Typ ist, den man gerne treffen würde, um sich zu unterhalten, aber nicht unbedingt, um mit ihm zu leben. Sie haben Teresina, die beide in den Wahnsinn treibt und nie ohne ihre Eichhörnchen herumläuft, was mich zu dem Schluss bringt, dass wir uns hätten verstehen können. Dann gibt es noch einen Spinner, der Franzose ist und das Bauernvolk von dem Spiel, das es unterdrückt, befreien will, aber als Revolutionär scheitert und dummerweise an einer Art Erkältung stirbt. Fosco Zaga ist der einzige Typ auf dieser Welt, der mir beweist, dass ich halbwegs normal bin, oder zumindest nicht ganz allein. Deshalb trenne ich mich nie von ihm. Ich lese ihn jeden Tag, mindestens einmal am Morgen und einmal am Abend, manchmal fünfmal und in Paniksituationen bis zu zehnmal. Es waren zum Beispiel die Zagas, die mich auf die Idee brachten, mich von Champion begleiten zu lassen, ohne dass ich deswegen verrückt geworden wäre. Ohne Erlaubnis hätte ich mich nicht getraut, ich bin eher vernünftig. Für sie ist es völlig natürlich, wie Magie, Karneval und andere Tricks, um seine Lebensqualität zu verbessern, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich weiß nicht, wo ich heute ohne die Zauberer wäre.
Sie werden mir sagen, dass ich gerade in der Anstalt bin. Das ist irrelevant.
Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig also waren Giuseppe und Fosco Zaga kurz davor, aus dem russischen Hof entfernt zu werden, weil die Königin an Verstopfung litt und man Schuldige brauchte. Ich war nicht allzu emotional, ich wusste, dass es gut ausgehen würde, weil die Königin am Ende immer kacken muss. Und dann ertönte ein Klingelton, bei dem ich mindestens drei Minuten lang Herzschmerzen hatte. Nicht im Buch, sondern im Leben. Gleich darauf folgt Conrads bestialisches Geschrei nach Feuer, Feuer, Feuer, Feuer, das er sich von der Seele brüllt. Er macht einen Aufstand. Er will nicht, dass man zu schnell errät, dass es sich um eine Evakuierungsübung handelt, denn Conrad ist ein großer Profi.
Türen knallen, es klingelt erneut, alle Typen spritzen wie ein Mann aus ihren Pfählen in den Korridor. Eine einmalige Gelegenheit, sich die Pyjama-Modelle anzusehen. Wir werden nicht enttäuscht. Hasen, Raketen, Mickeys – die Leute haben wohl keinen Stolz. Mir geht es gut, ich schlafe in Unterhosen oder nackt, männlich, nichts zu sagen. Befehl, unsere Mäntel anzuziehen, Befehl, sich im Hof der Einrichtung zu versammeln, Befehl, ruhig zu bleiben und auf Anweisungen zu warten, aber wie soll man das glauben. Sie tun nie so, als würden sie den 18. Niemand denkt daran, die Feuerwehr zu erwähnen, das ist alles auf Kante genäht. Zauberer ist ein Beruf.
Diese Szene aus Champion ist ein poetologisch hoch aufgeladener Abschnitt, in dem Maria Pourchet zentrale Themen und Verfahren ihres Romans verdichtet: die Rolle der Literatur als Flucht- und Strukturraum, die Verbindung von Fantasie und Realität, die performative Kraft des Imaginären – und zugleich der permanente Einbruch der Wirklichkeit in die imaginäre Ordnung. Die Szene bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Innerlichkeit und äußerem Alarm, zwischen Lesekammer und institutionalisiertem Lärm.
Im Buchtitel Les Enchanteurs wird die Verbindung zu Champion deutlich: Beide Werke operieren mit der Idee, dass Einbildung kein Wahnsystem ist, sondern ein poetischer Akt des Überlebens. Fabien nennt das Buch „ce que j’ai vu de plus beau jusqu’ici“ – es ist nicht bloße Unterhaltung, sondern ein identitätsstiftendes Objekt: „Fosco Zaga est le seul type sur cette terre qui me prouve que je suis à peu près normal.“ Fabien erkennt sich in der Fiktion wieder – und das bedeutet in diesem Kontext: Er erkennt sich überhaupt. Literatur fungiert hier als legale Form der Flucht, aber auch als Erlaubnis zur Imagination. Die Zaga liefern ihm das „Modell“, das es ihm ermöglicht, Champion zu erfinden, ohne sich für verrückt zu halten. Das ist poetologisch zentral: Die Imagination ist bei Pourchet kein kindlicher Rest, sondern ein Akt kultureller Mimesis. Fabien braucht die „permission“ der Zaga, um seine eigene Realität neu zu schreiben.
Die Gegenüberstellung von Lektüre und Feueralarm inszeniert eine Kollision zweier Welten: der privaten, inneren Fantasiewelt und der lärmenden, absurden Realität des Internats. Während Fosco und Giuseppe Zaga mit dem Rausschmiss aus der Zarenwelt rechnen müssen, bricht in Fabiens Welt der Feueralarm los. Er kommentiert das lakonisch: Pas dans le bouquin, dans la vie. Der Wechsel ist abrupt, fast komisch – und doch ernst: Die Fiktion bietet Schutz, aber keinen Schutz vor der Realität. Der „normale“ Schulalltag erscheint wie eine Farce, ein absurdes Theaterstück. Die Pyjamas der Mitschüler mit „lapins“, „mickeys“ oder „fusées“ offenbaren eine entlarvende Infantilisierung – und Fabien grenzt sich durch seine lakonische Nacktheit („à poil, viril“) davon ab. Doch die Realität bleibt eine Farce mit Macht: „Enchanteur, c’est un métier“ sagt er, über Conrad, der das falsche Feuer mit falscher Ernsthaftigkeit inszeniert. Zwischen Ironie und Ernst liegt hier die Frage: Was ist schlimmer – die Illusion oder die Realität?
Der Satz Enchanteur, c’est un métier ist doppeldeutig: Er kann sich auf Conrad beziehen – den Aufseher als schlechtem Illusionisten – oder auf Fabien selbst, der wie die Zaga gelernt hat, seine eigene Welt zu erschaffen. Die Szene ist ein poetologisches Selbstporträt: Der Jugendliche, der liest, imaginiert, flüchtet, kommentiert, und sich dabei nie auf eine Rolle festlegen lässt. Lesen wird hier nicht als Bildungsideal gefeiert, sondern als Überlebenskunst: je ne sais pas où j’en serais aujourd’hui, sans les enchanteurs.
Die Szene zeigt, wie weit sich Fabien von seiner Umwelt entfernt hat. Der Kontrast zwischen der poetischen Welt der Zaga und der grotesken Wirklichkeit des Internats (mit all seinen kontrollierenden, lächerlichen Ritualen) verweist auf die Abspaltung des Inneren. Die Lektüre „über das Couvre-feu hinaus“ ist ein Akt der Grenzüberschreitung – sie markiert eine Gegenwelt zur reglementierten Ordnung. Doch sie ist fragil. Der Alarm zeigt: Die äußere Welt dringt immer wieder ein – sie bleibt nicht draußen.
Diese Szene ist ein Schlüsselstück des Romans. Sie zeigt exemplarisch, wie Champion Kindheit poetologisch denkt: nicht als Phase, sondern als Spannungsraum zwischen Ohnmacht und Schöpfung, zwischen Gewalt und Imagination. Die Lektüre der Zaga ist kein Eskapismus, sondern eine poetische Praxis – eine Praxis, die das Imaginäre ernst nimmt, ohne die Realität zu leugnen. Sie ist das, was Pourchets Roman selbst auch ist: ein „métier d’enchanteur“, das vom Überleben erzählt – durch Sprache.
Das Verschwinden Champions
Die poetische Konstruktion von Kindheit vollzieht sich nicht nur auf Inhaltsebene, sondern auch durch den Stil. Fabiens Stimme ist scharf, schnell, voller Ironie, Schmerz und Unversöhnlichkeit. Pourchet findet einen Ton, der Kindheit weder verniedlicht noch psychologisch fixiert. Die Sprache ist das eigentliche Subjekt des Romans: ein Mittel der Abwehr, der Artikulation und der Macht. Fabien benutzt Sprache, um sich zu distanzieren – und sich zugleich mitzuteilen. Die direkte Ansprache an Lydia, seine Psychiaterin, erzeugt ein doppeltes Spiel: Er verweigert ihr therapeutische Einsicht, gibt ihr aber mehr Wahrheit, als jede Diagnose je leisten könnte. Die Subjektwerdung erfolgt durch das Erzählen, durch das literarische Format. Nicht die Therapie heilt, sondern das Schreiben. Hier liegt eine der zentralen poetischen Aussagen des Romans: Das Kind gewinnt seine Stimme zurück nicht durch Anpassung, sondern durch Artikulation, nicht durch Normierung, sondern durch Poetik.
Bref, je ne sais pas à quel feu courir. Je devrais être deux.
Un autre internat ? Éventuellement. Quoique la pension, j’en reviens. Je sais pas. Si j’étais encore un loup, j’irais dans les bois gueuler où ? où ? où ? comme ils font, et j’écouterais ce qu’on me répond. J’arrête, vous allez vouloir me retenir. De toute façon, j’arrête. Je commence à tourner vieux con. Si je continue, j’ai l’impression que je vais aligner des phrases qui commencent par « La vie, c’est ». Comme un type majeur, revenu de tout, qui aurait le reste du temps pour ricaner. Parfois je me sens comme ça, pas toi, Champion ?
Détendez-vous, je plaisantais. Vous vous disiez déjà, des mois de travail, et ce débile parle à son double comme si on venait de commencer. Je sais bien que Champion ne pourra plus se rendre utile. C’est le problème avec les illusions, les feux d’artifice, ça ne sert qu’une fois.
Maria Pourchet, Champion, Gallimard, 2015.
Wie auch immer, ich weiß nicht, in welches Feuer ich rennen soll. Ich sollte zu zweit sein.
Ein anderes Internat? Möglicherweise. Obwohl, das Internat, da komme ich gerade her. Ich weiß nicht. Wenn ich noch ein Wolf wäre, würde ich in den Wald gehen und schreien, wo? wo? wo? wie sie es tun, und ich würde mir anhören, was man mir antwortet. Ich höre auf, Sie werden mich zurückhalten wollen. Wie auch immer, ich höre auf. Ich fange an, mich wie ein alter Sack zu benehmen. Wenn ich weitermache, habe ich das Gefühl, dass ich Sätze aneinanderreihen werde, die mit „Das Leben ist“ beginnen. Wie ein volljähriger Typ, der aus dem Gröbsten raus ist und den Rest der Zeit zum Kichern hat. Manchmal fühle ich mich so, du nicht auch, Champion?
Entspannen Sie sich, ich habe nur gescherzt. Ihr habt euch schon gedacht, monatelange Arbeit, und dieser Idiot redet mit seinem Doppelgänger, als hätten wir gerade erst angefangen. Ich weiß genau, dass Champion sich nicht mehr nützlich machen kann. Das ist das Problem mit Illusionen, mit Feuerwerken, die man nur einmal benutzen kann.
Der Schluss des Romans ist mehrdeutig. Champion, der imaginäre Wolf, schrumpft, wird schwächer, „passt auf die Rückbank“, schließlich „kaum noch da“. Zugleich äußert Fabien in den letzten Passagen eine Mischung aus Müdigkeit, Aufbegehren und resignierter Klarheit. Seine Sprache wird leiser, jedoch nicht gebrochen. Der Schluss verweigert jedes einfache Happy End – und gerade darin liegt seine poetische Stärke. Psychologisch gelesen könnte das Verschwinden Champions als ein Fortschritt gelten: Fabien braucht die Projektion nicht mehr, weil er beginnt, sich selbst zu behaupten. Poetologisch jedoch bedeutet dies nicht Heilung, sondern Transformation. Die Imagination verliert nicht an Wert, sie verändert nur ihre Form. Die Erfahrung der Kindheit bleibt: nicht abgeschlossen, sondern sedimentiert in Sprache. Der letzte Abschnitt, in dem Fabien wieder seine Großmutter besucht, lässt ein Echo des Anfangs anklingen – ein Kreisschluss, aber kein Stillstand. Das Kind in ihm bleibt bestehen, nicht als Zustand, sondern als poetische Kraft.
Maria Pourchet äußert sich im hier dokumentierten Gespräch mehrfach indirekt zu einer Poetik der Kindheit, insbesondere über die Entstehung und Anlage des Romans. Die Idee zu Champion entstand aus einer „image primitive“, einem starken inneren Bild eines Kindes mit einem wilden Tier an der Leine im Hof eines katholischen Internats – ein Bild, das Pourchet mit eigenen Kindheitserfahrungen verbindet. Kindheit erscheint hier als Ursprung der Imagination, die nicht analytisch, sondern affektiv und visuell ins Schreiben drängt. Pourchet betont, dass ihr Erzähler Fabien einen scharfen, entlarvenden Blick auf die Welt wirft. Der kindliche Blick fungiert so als kritischer Spiegel gesellschaftlicher Rituale, Elternfiguren, Institutionen. Kindheit wird nicht als unschuldige Idylle, sondern als Ort der Erkenntnis und der Einsamkeit beschrieben. Pourchet reflektiert den dunklen, impulsiven Doppelgänger Champion auch im Zusammenhang mit ihrer generellen Poetik: Figuren sind für sie oft gespalten oder verdoppelt, was besonders im kindlichen Erzähler Ausdruck eines inneren Kampfes und der Suche nach Identität ist. Obwohl Pourchet klarstellt, dass Champion keine Autobiografie ist, erkennt sie an, dass viele Motive – das Internat, familiäre Konstellationen, auch der Rückgriff auf Brüderfiguren – aus ihrem eigenen Erleben stammen. Der kindliche Erzähler wird damit zur medialen Figur autobiografischer Selbstbefragung, aber unter dem Schutz der literarischen Verfremdung. Der Roman wird im Rahmen einer Therapie erzählt, Fabien schreibt an seine Psychiaterin. Die Form des Monologs, des Schreibens an eine abwesende Figur, betont die Vereinsamung des kindlichen Ichs. Kindheit erscheint als Zustand ohne stabile Bezugspersonen, in dem das Schreiben selbst ein Überlebensmittel wird. Zusammengefasst gestaltet Pourchet in Champion eine Poetik der Kindheit als eine Poetik des inneren Bildes, der Spaltung, der Einsamkeit und des kritischen Blicks – fern von nostalgischer Rückschau.
Champion ist ein Roman nicht über Kindheit als biografische Phase, sondern als strukturelles, poetologisches Prinzip. Die Kindheit, wie sie Pourchet gestaltet, ist nicht vergangen, sondern gegenwärtig, nicht natürlich, sondern sprachlich konstruiert. Sie ist ein Kampfplatz, eine Projektionsfläche und ein sprachlicher Erfahrungsraum. Der Roman zeigt, wie ein Subjekt sich selbst schreibt – gegen seine Umgebung, gegen seine Biografie, gegen die Welt. In der Figur Champion bündelt sich diese Poetik: Die Imagination ist kein Rückzug, sondern ein Akt der Selbstrettung. Maria Pourchets Roman verweigert sich jeder Pädagogisierung. Die Literatur ist kein Ornament, sondern das Medium, in dem das Kind Subjekt wird.