Anne-Sophie Donnarieix‘ Monographie Puissances de l’ombre: le surnaturel du roman contemporain (Presses universitaires du Septentrion, 2022) bietet eine differenzierte Analyse der Präsenz des Übernatürlichen in der französischen Gegenwartsliteratur. Das Buch verfolgt das ambitionierte Ziel, die vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen des Übernatürlichen in einem literarischen Kontext zu verorten, der einerseits von einer Krise des Rationalismus gezeichnet ist und andererseits Phänomene der Destabilisierung und Dezentrierung logischer Prämissen begünstigt.
Das Vorhaben als Ganzes
In der Einleitung legt Donnarieix dar, dass das Übernatürliche im zeitgenössischen Roman eine „Singularität der Formen“ aufweist und als „starkes zeitgenössisches Syndrom“ zu verstehen ist, das bisher im Schatten geblieben sei. Die zentrale Hypothese der Arbeit ist die einer „kritischen Wiederverzauberung“ (réenchantement critique), bei der die Verlockung des Wunderbaren mit einer scharfen Darstellung unserer Epoche verschmilzt, die sich aus einem beunruhigenden Fantastischen speist. Donnarieix möchte untersuchen, wie das Übernatürliche eine historische Erinnerung hinterfragt, die noch immer von den Traumata der Weltkriege, Genozide, politischen Enttäuschungen und gescheiterten Utopien heimgesucht wird, und wie es eine unsichere Gegenwart beleuchtet, die ein Neudenken des Menschen, der Gemeinschaft und des Planeten erzwingt. Sie betont die Ambivalenz dieses Rückgriffs auf das Irrationale: Es verleiht dem kollektiven Unbewussten Gestalt, indem es die unterirdischen Pfade der Imagination wiederbelebt, um Unaussprechliches auszudrücken, erlaubt aber auch die Flucht in ein wundersames, amnesisches oder tröstliches Reich.
Methodisch etabliert Donnarieix zunächst eine konzeptuelle Klärung des Begriffs des „Übernatürlichen“. Sie versteht es als „intellektuelle Konstruktion“, die nicht a priori existiert, sondern „intrinsisch an Denkrahmen gebunden“ ist, deren Inhalt sich von Kultur zu Kultur und Jahrhundert zu Jahrhundert unterscheiden kann. Das Übernatürliche setzt, um als solches wahrgenommen zu werden, eine gewisse Distanz zu magischen Glaubensvorstellungen voraus und ist an einen Referenzrahmen gebunden, der Vernunft, Logik und Wissenschaft an die Spitze seiner analytischen Werte stellt. Die Autorin lehnt eine einfache synonyme Gleichsetzung von „übernatürlich“ und „fiktional“ ab, da das Übernatürliche sich durch „betontere Effekte der Verschiebung und Abweichung innerhalb des Fiktionsfeldes“ auszeichnet.
Sie wählt verschiedene Konzepte und Theorien als analytische Werkzeuge, darunter das Wunderbare, das Fantastische, das Unheimliche, den Magischen Realismus und eine von ihr selbst benannte Kategorie des „surnaturel scriptural“ (skripturales Übernatürliches). Dabei stützt sie sich auf Denker wie Tzvetan Todorov für das Fantastische und seine „hermeneutische Unbestimmtheit“, und Amaryll Chanady für die Unterscheidung zwischen „aufgelöster“ (Magischer Realismus) und „unaufgelöster“ (fantastischer) Antinomie. Sie argumentiert jedoch, dass das zeitgenössische Übernatürliche über diese Kategorien hinausgeht, indem es die Antinomie zwischen realen und irrationalen Elementen „toleriert“ oder „umlenkt“. Der „surnaturel scriptural“ wird als eine subtile Form definiert, die durch den Stil der Sprache selbst einen „textuellen Zauber“ erzeugt, inspiriert von der „literarischen Verzauberung“ der Romantik (Yves Vadé) und dem „magischen Kunst“ des Surrealismus (André Breton).
Das Werk gliedert sich in drei Hauptteile, die sich nacheinander mit den Auswirkungen des Übernatürlichen auf die Welt, die Geschichte und den Menschen befassen. Die Untersuchung erfolgt anhand von fünf zeitgenössischen Autoren: Antoine Volodine, Sylvie Germain, Alain Fleischer, Marie NDiaye und Christian Garcin.
In der allgemeinen Schlussfolgerung konstatiert Donnarieix, dass das Übernatürliche in der Literatur zurückkehrt, um die Schwierigkeit zu überwinden, die Gegenwart in rationalen, logisch kohärenten und realistischen Begriffen darzustellen. Es reagiere auf eine „Form der Verzweiflung“ – kognitiv wie ästhetisch – angesichts einer Welt im Wandel, geprägt von Säkularisierung, dem Niedergang politischer Utopien, der Auflösung von Gemeinschaften und der Redefinition individueller Identität, sowie von neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, die vom Unbestimmbaren und Kontingenten fasziniert sind. Das zeitgenössische Übernatürliche ist dabei kein eigenständiges „Genre“, sondern ein „hybrides Werkzeug“, das geerbte Formen aufgreift, aber auch transformiert und subvertiert. Es zeugt von einer „globalen Heimsuchung“ und einer „interstitiellen Epoche“, die ihre Grundlagen in Frage stellt und in der das Übernatürliche seine „beträchtliche Darstellungskraft“ gerade aus seinem Anachronismus bezieht. Es dient einem „maximalistischen“ Anspruch, der das Unsichtbare und Ungreifbare der Welt zur Geltung bringt und den Roman mit einer „demiurgischen, nostalgischen und prägnanten“ Kraft versieht, um die „Magie des Romans“ wiederzubeleben, während er gleichzeitig die Mythen betrauert.
Einzelergebnisse
Die Studie entfaltet ihre Erkenntnisse in drei Hauptteilen, die jeweils mehrere Kapitel umfassen und die fünf ausgewählten Autoren beleuchten:
Logiken des Irrationalen. Das Reale erweitern, den Diskurs derealisieren (Kap. 1-3)
Sylvie Germain und das synkretische Übernatürliche: Germains Romane nutzen das Übernatürliche, um biblische Texte, heidnische Legenden und osteuropäische Mythen zu einem synkretischen Imaginären zu verbinden. Ihr Werk bewegt sich in der Nähe des magischen Realismus, da übernatürliche Ereignisse harmonisch in einen realistischen Kontext eingebettet sind. Die Autorin thematisiert die Abwesenheit Gottes und die Verschiebung des Sakralen von der Theophanie zur Hierophanie, wobei das Wunderbare den Sinn in einer desillusionierten Welt bewahrt.
Marie NDiaye: Räume der Unbestimmtheit und irritierende Wahrnehmungen: NDiayes Romane zeichnen sich durch eine „Poetik der Unschärfe“ aus, in der das Übernatürliche oft unerklärt bleibt und das Vertraute (Alltägliches) ins Unheimliche kippt. Sie entmythologisiert traditionelle Figuren wie Hexen und Teufel, die in ihren Texten entmachtet und ermüdet erscheinen, was eine Distanzierung von überholten spirituellen Regimen signalisiert. Ihre Charaktere zeigen eine „fatalistische Unterwerfung“ gegenüber unerklärlichen Ereignissen und sogar ein Gefühl der Schuld für die Anomalien. Die Erzählweise ist oft unzuverlässig, mit doppelten Stimmen oder inneren Monologen, die die Kohärenz des Erzählens untergraben und die „Opazität“ der Charaktere und des Textes betonen.
Christian Garcin: Nomaden-Magie und Quantenlogiken: Garcin integriert Schamanismus und Quantenphysik, um die Porosität der Realität zu untersuchen. Bei ihm ist der Schamanismus nicht escapistisch, sondern eine Feier der Vielschichtigkeit der Realität, die über unsere Sinne hinausgeht. Das Übernatürliche manifestiert sich oft in subtilen, alltäglichen Details, die eine „geheime Poesie der Welt“ enthüllen, die eher verzaubernd als beunruhigend wirkt. Gleichzeitig wird der Schamanismus banalisiert und entzaubert, oft durch Humor, was seine Überhöhung verhindert.
Antoine Volodine und das bardische Reale: Volodines Romane spielen in einem „Bardo“-Zustand, einer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod, die oft als „Unter-Realität“ beschrieben wird und die Grenze zwischen Realität und Irrealität verwischt. Sein Werk ist von einem „Nihilismus“ und dem Scheitern revolutionärer Utopien durchdrungen. Die „Kryptierungsstrategien“ seiner Texte, die darauf abzielen, den Diskurs und die Referenzen zu verschleiern, sind eine Reaktion auf Zensur und totalitäre Regime. Die Derealisationseffekte seiner Romane sind oft albtraumhaft und parodistisch, wodurch die historische Realität umgangen oder verzerrt wird.
Die Geschichte und ihre Gespenster. Heimsuchung benennen, Sinn suchen (Kap. 4-5)
Sylvie Germain und die Zyklizität des Bösen: Germain nutzt das Übernatürliche, um die historische Gewalt und die „Zyklizität des Bösen“ (z.B. Erster Weltkrieg) zu metaphorisieren. Ihr Übernatürliches ist mystisch und dient einer evidenten Gedächtnisästhetik, indem es kollektive Traumata durch individuelle Inkarnation (z.B. stigmatisierte Körper) darstellt. Der Rückgriff auf Archetypen und die Motive der Nacht und des Schreis verankern die Geschichte in einer ursprünglichen, mythischen Zeit.
Alain Fleischer und das post-genozidale Übernatürliche: Fleischer verwendet das Übernatürliche, um die „unaussprechlichen Traumata“ der Shoah zu untersuchen. Seine Erzählungen sind von einer „gespenstischen Heimsuchung“ und einer zeitlichen „Verlängerung“ geprägt, die die Epoche als eine Zeit „nach dem Ende“ der Katastrophe erscheinen lässt. Das Übernatürliche dient hier als allegorisches Werkzeug, um die historischen Traumata darzustellen und die „Erinnerung an das nicht Repräsentierbare“ zu ermöglichen. Sein „skripturales Übernatürliches“ ist von einer „exaltation auctoriale“ getragen, die über die Sprache selbst Magie entfaltet und die „Fleischlichkeit“ der Worte betont.
Antoine Volodine und die phantasmierte Geschichte: Volodines Romane sind von der „geschichtlichen Heimsuchung“ gescheiterter revolutionärer Ideale durchdrungen und problematisiere die historische Erinnerung. Sein Werk ist ein „paradoxales Zeugnis“, ein „umgekehrter Gedächtnisort“ („monument invisible“), der die Notwendigkeit des Erinnerns und gleichzeitig deren Unmöglichkeit ausdrückt. Das Wunderbare wird hier als „Mittel zur Kompensation“ oder zur „Flucht“ aus der historischen Realität eingesetzt, oft in Form eines „Märchens rückwärts“, das die geschichtliche Befreiung auf symbolischer Ebene thematisiert, jedoch ohne kathartischen oder didaktischen Anspruch.
Der Mensch auf der Probe. Körper destabilisieren, Stimmen problematisieren (Kap. 6-7):
Die Destabilisierung des Körpers (Metamorphosen, Verschwinden, Verdoppelungen) hinterfragt die „ontologische Stellung des Menschen“ in einer posthumanistischen Ära.
Marie NDiaye und die Verdoppelung des Körpers: Bei NDiaye manifestiert sich die Identitätskrise oft durch Tier-Metamorphosen (z.B. Hund, Sau), die die Auflösung sozialer und familiärer Bindungen, die Fragmentierung des Subjekts und die „Schwierigkeit des Selbstseins“ in einer desillusionierten Welt widerspiegeln. Diese Verwandlungen sind eine „kritische Sicht auf den Humanismus“, die die Gewalt und die totalitären Tendenzen in der Gesellschaft beleuchten.
Sylvie Germain und das Verschwinden der Körper: Germains Hors champ thematisiert das übernatürliche Verschwinden eines Menschen, das die „Auflösung des menschlichen Wertes“ in einer technologisch hyperrealen Gesellschaft darstellt. Dieses Verschwinden wird zu einem „Gedächtnis-Narrativ“, das die Vergessenen aus dem Vergessen holt und eine lebendige Spur gegen die Auslöschung setzt.
Antoine Volodine und die unzuverlässigen Erzähler: Das Phänomen der „unzuverlässigen Erzähler“ ist bei Volodine doppelt begründet: einerseits durch die kognitive Beeinträchtigung der Charaktere, andererseits durch eine „manipulative Tendenz“ der Autoren, die die Referenzen absichtlich verwischen. Die „Streuung der Stimmen“ durch Polyphonie und die Undurchsichtigkeit der Erzählidentitäten ist eine „klandestine politische Strategie“ gegen Zensur, aber auch eine „Eintauchstrategie“, die den Leser in einen Traumraum einlädt. Die „post-exotische“ Literatur, die oft die Stimmen von Ausgeschlossenen und eine „phantasierte und verlorene Gemeinschaft“ wiedergibt, ist tief vom Schamanismus als narrativem Prinzip durchdrungen, wobei das „Wir“ das „Ich“ auflöst.
Christian Garcin und die Polyphonie der Texte: Garcin nutzt den Schamanismus, um die Textarchitektur zu beeinflussen, indem er „unzusammenhängende Stimmen“ und „Simultaneitätseffekte“ einführt, die die narrative Kohärenz auflösen und die „Hybridität“ zu einem narratologischen Prinzip erheben. Die rhizomatische Struktur seiner Werke und die explizite Entlehnung von Charakteren oder Textpassagen aus anderen Werken (eigener oder fremder Autoren) betonen die Porosität der Fiktion und die dynamische Vernetzung der „Textwelt“.
Alain Fleischer und die Stimmen des Schamanen: Bei Fleischer manifestiert sich der Schamanismus eher indirekt durch eine „magische Exazerbation der Stimme“, besonders der mündlichen Stimme. Seine Figuren sind oft von schizophrenen oder medialen Stimmen bewohnt, die den Diskurs demonologisieren und eine „Ästhetik der Auflösung“. Seine „Archipel-Strategie“ – die Zerstreuung literarischen Materials in verschiedenen Werken und Medien – bildet ein weitläufiges Spurenspiel, das die Einheit des Romans dekonstruiert und die Freude an der Heterogenität zelebriert.
Abschließende Einschätzung
Die Präsenz des Übernatürlichen im Gegenwartsroman, so Donnarieix, ist eine tiefgreifende Reaktion auf eine als „entzauberte Welt“ wahrgenommene Realität.
Was sagt dies über die Literatur? Die Literatur geht über einen rein rationalen und empirischen Ansatz hinaus, um der Komplexität und Inkonsistenz der modernen Welt gerecht zu werden. Sie bildet einen „Realismus der Kontorsion“, der seine größte Repräsentationskraft aus der Derealisierung schöpft und die Irrationalität der Welt sichtbar macht. Sie ist geprägt von einer „Ästhetik der Inkohärenz“ und einer „Hybridiät“, die traditionelle Gattungsgrenzen aufbricht und sich in den Zwischenräumen des Wunderbaren, Fantastischen, Ungewöhnlichen und Magischen Realismus bewegt. Die Literatur reflektiert eine „humanistische Zurückhaltung“, die sich von prometheischen oder nietzscheanischen Übermenschen-Fantasien abwendet. Sie sucht stattdessen im Archaischen (Tierfiguren, Gespenster, Schamanen) nach Wegen, die „beunruhigenden Mutationen“ des menschlichen Seins zu modellieren und eine „ethische Befragung“ der menschlichen Identität vorzunehmen. Das „skripturale Übernatürliche“ zeugt von einer anhaltenden Faszination für die kreative Kraft der Sprache, auch wenn diese ambivalent betrachtet wird – als Trost und als Ort des Scheiterns im Angesicht der Geschichte.
Was sagt dies über die Gegenwart? Die intensive Nutzung des Übernatürlichen zeugt von einer „kollektiven Angst“ und der „Notwendigkeit“, die ästhetischen Mittel zur Darstellung der Mutationen unserer Zeit zu überdenken. Es ist eine Antwort auf die „unauslöschliche Spur einer traumatischen Vergangenheit“ und die „unsicheren Horizonte einer beängstigenden Zukunft“. Die „globale Heimsuchung“ (Lionel Ruffel) ist symptomatisch für eine Zwischenzeit, in der die Grundlagen der Gesellschaft in Frage gestellt werden. Die Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen drückt ein „Unbehagen“ gegenüber der Gewalt des 20. Jahrhunderts und den Millionen von Toten aus, die das kollektive Bewusstsein heimsuchen. Es ist der Versuch, das Unaussprechliche der Geschichte darzustellen und eine „quälende Erinnerung“ am Leben zu erhalten. Der Rückgriff auf das Irrationale zeigt die „Krise des Rationalismus“ und die Unzulänglichkeit ausschließlich realistischer Darstellungsweisen zur Beschreibung einer komplexen Welt. Es ist kein systemisches Wiederverzaubern im Sinne einer neuen, ideologisch belasteten Spiritualität, sondern ein „kritischer“ Umgang, der das Scheitern großer Erklärungsmodelle (rational wie mythisch) anerkennt.
Insgesamt zeigt Anne-Sophie Donnarieix, dass das Übernatürliche im zeitgenössischen Roman kein Rückzugsort für überholte Mythen ist, sondern ein dynamisches und ambivalentes Werkzeug, das die tiefgreifenden Ängste und Fragen unserer Zeit an die Grenzen der Sprache, der Erinnerung und der menschlichen Identität heranträgt. Es ist ein Ausdruck der Fähigkeit der Literatur, das Unfassbare zu benennen und neue Wege des Verständnisses in einer zerrissenen Welt zu eröffnen.