Der Architekt und sein Führer, contre-fiction: Jean-Noël Orengo

In seinem Roman Vous êtes l’amour malheureux du Führer (Grasset, 2024) setzt sich Jean-Noël Orengo fiktional mit der Figur Albert Speers auseinander. Dabei beleuchtet er dessen komplexe Beziehung zu Adolf Hitler, seine strategische Selbstdarstellung nach dem Krieg und die Macht von Erzählungen im Umgang mit historischer Wahrheit kritisch. Der Roman dekonstruiert Speers eigenes Narrativ – als Versuch, die eigene Verantwortung zu negieren – und offenbart die Mechanismen seiner Apologie. So setzte beispielsweise Speers Ministerium Millionen von Sklavenarbeitern ein, darunter viele Juden, und war für den Ausbau von Auschwitz zur größten Todesfabrik mitverantwortlich. Orengos Roman ist jedoch mehr als eine bloße historische Nacherzählung: Er ist eine Untersuchung der Konstruktion von Wahrheit und Fiktion in der Geschichtsschreibung – insbesondere im Kontext von Verbrechen und Erinnerung. Orengo entlarvt Speers Erinnerungen als meisterhaft konstruierte Erzählung, die die Wahrheit manipuliert und Speer als „Star der deutschen Schuld“ etabliert, indem er sich als „verantwortlich, aber nicht schuldig“ darstellt. Diese „Autofiktion“ ist so wirkmächtig, dass sie selbst historische Fakten überstrahlen kann. Der Roman stellt die Geschichtsschreibung als einen Kampf von Erzählungen dar, in dem Speer durch seine narrative Geschicklichkeit oft die Oberhand behält, selbst gegenüber widerlegenden Dokumenten. Orengo zeigt, wie schwierig es ist, die „Wahrheit“ über eine so dunkle Periode zu finden, wenn die Hauptakteure ihre eigene Geschichte meisterhaft fiktionalisieren.

Der Architekt und sein Führer, deutsche Übersetzung: Nicola Denis. Rowohlt, September 2025

Hitler als Künstler

Un jour, un de ses collaborateurs, un dénommé Karl Maria Hettlage, lui révélera tout haut ce que tout le monde a remarqué dans un mélange de stupeur, d’amusement ou de jalousie. C’est un officier SS, un juriste chargé notamment de l’expulsion des Juifs de Berlin pour la construction des monuments futurs. Ils viennent d’inspecter les maquettes pour la énième fois. Il a observé la façon dont le Führer regardait l’architecte et l’écoutait.

Alors, en sortant, il le lui a dit : « Savez-vous ce que vous êtes, Speer ? Vous êtes l’amour malheureux de Hitler. »

Ou peut-être a-t-il dit : « Vous êtes l’amour malheureux du Führer. »

[…]

En 1939 ou 1940, pouvait-il sans crainte, sans gêne, de façon aussi familière, évoquer une quelconque inclination homosexuelle de Hitler pour Speer, devant l’intéressé lui-même ? Les historiens ne semblent pas l’avoir interrogé là-dessus. Il n’a jamais confirmé ou démenti cette remarque. Vraie ou fausse, c’est une remarque géniale, vulgaire, fardée, digne d’un spectacle de cabaret berlinois, ou d’une œuvre tardive de Luchino Visconti.

Ou peut-être n’a-t-il jamais lancé cette remarque.

[…]

L’architecte s’en est étonné, sa froideur habituelle soudain fissurée par le trouble. Que voulait-il signifier par là ? Mais Hettlage ne se serait pas démonté, ne manifestant jamais la crainte d’en avoir trop dit – cette crainte, cette peur de parler si commune en Allemagne, du sommet jusqu’aux bases du régime nazi. Après tout, c’est un SS, et Speer, son chef, ne l’est pas. Et il a poursuivi, sur le ton de l’avertissement mystérieux : « C’est pour le meilleur comme pour le pire, songez-y ! » Le serment du mariage.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Eines Tages wird einer seiner Mitarbeiter, ein gewisser Karl Maria Hettlage, laut aussprechen, was alle in einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Belustigung und Neid bemerkt haben. Er ist SS-Offizier und Jurist, insbesondere zuständig für die Vertreibung der Juden aus Berlin für den Bau der zukünftigen Denkmäler. Sie hatten gerade zum x-ten Mal die Modelle begutachtet. Er hatte beobachtet, wie der Führer den Architekten ansah und ihm zuhörte.

Als sie hinausgingen, sagte er zu ihm: „Wissen Sie, was Sie sind, Speer? Sie sind Hitlers unglückliche Liebe.“

Oder vielleicht sagte er: „Sie sind die unglückliche Liebe des Führers.“

[…]

Konnte er 1939 oder 1940 ohne Angst, ohne Scheu und in so vertraulicher Weise vor dem Betroffenen selbst eine homosexuelle Neigung Hitlers zu Speer erwähnen? Historiker scheinen ihn dazu nicht befragt zu haben. Er hat diese Bemerkung nie bestätigt oder dementiert. Ob wahr oder nicht, es ist eine geniale, vulgäre, übertriebene Bemerkung, die einer Berliner Kabarettvorstellung oder einem Spätwerk von Luchino Visconti würdig wäre.

Oder vielleicht hat er diese Bemerkung gar nicht gemacht.

[…]

Der Architekt war überrascht, seine gewohnte Kühle war plötzlich von Verwirrung durchbrochen. Was wollte er damit sagen? Aber Hettlage ließ sich nicht aus der Fassung bringen und zeigte nie Angst, zu viel gesagt zu haben – diese Angst, diese Furcht vor dem Sprechen, die im deutschen Nazi-Regime von der Spitze bis zur Basis so verbreitet war. Schließlich war er SS-Mann, und Speer, sein Chef, war es nicht. Und er fuhr fort, in einem geheimnisvollen, warnenden Ton: „Es ist zum Besten wie zum Schlechtesten, denken Sie daran!“ Das Eheversprechen.

Der Roman argumentiert, dass die Verbindung zwischen Speer und Hitler über das rein Professionelle hinausging und eine tiefe, fast homoerotische oder psychologisch symbiotische Dimension annahm, die Speers Leben maßgeblich prägte und seine Karriere im Regime sowie seine spätere Selbstinszenierung beeinflusste. Die monumentalen Architekturpläne des NS-Regimes, maßgeblich von Speer entworfen, werden als Ausdruck von Hitlers totalitärem Anspruch auf Raum und Zeit sowie als Mittel zur Herrschaft und Propaganda dargestellt. Gleichzeitig dekonstruiert der Roman diese Visionen, indem er ihre Kitschigkeit, Inhumanität sowie ihre direkte Verknüpfung mit Zwangsarbeit und Deportationen aufzeigt. Als Albert Speer im April 1945 über das westliche Berlin fliegt, beobachtet er die Stadt: Er beobachtet die Rauchsäulen, die eingestürzten Dächer, die hässlichen Fassaden. Er betrachtet die faszinierenden und hässlichen Auswirkungen der massiven Bombardierungen auf die Gebäude, die gequälten Formen, die sie für das kundige Auge in Architektur und Bewaffnung hervorrufen. Mit Kriegsbeginn verlor die Architektur an Bedeutung, und Speer wurde Rüstungsminister. Die Architektur wurde zu einer „sekundären Macht“ („pouvoir secondaire“), da Mittel für den Krieg abgezogen wurden und utopische Bauprojekte unmöglich wurden.

Der Auszug beleuchtet die tiefe, ambivalente und oft als „Homo-Erotik“ beschriebene Beziehung zwischen Hitler und Speer, nach der der Roman benannt ist. Die Bemerkung des SS-Offiziers und Juristen Hettlage, der ironischerweise mit der „Ausweisung der Juden aus Berlin für den Bau zukünftiger Monumente“ beauftragt war, verknüpft die monumentalen Visionen direkt mit der Mitverantwortung für die Judenvernichtung. Die Beziehung zwischen Hitler und Speer wird als „eminent männliche Beziehung“ beschrieben, die „keine Frau verkörpern konnte“. Es handelte sich um eine unwiderstehliche Anziehungskraft zwischen „Künstler und Mann der Macht“. Die Frage nach Hettlages Motivation oder der Wahrheit der Aussage bleibt offen. Dies unterstreicht die Rolle der Historiografie bei der Rekonstruktion emotionaler und persönlicher Dynamiken. Die Bemerkung war „genial, vulgär, geschminkt“ und eine „geheimnisvolle Warnung“, die Speer offenbar zutiefst berührte. Die Szene zeigt, wie zentral Speer diese Beziehung für seine Lebensbahn empfand. Dies prägte wiederum seine Selbstverteidigungsstrategie: Er stellte sich als vom „Mephisto“ Hitler „verführter Held“ dar, dessen „Sünden geliehen“ waren, um seine eigene Verantwortung zu relativieren. Die „Liebe“ zu Hitler diente ihm als Erklärung für seine Verstrickung, während seine Verstrickung in die Verbrechen verschleiert wurde.

Die erste Begegnung zwischen Speer und Hitler, bei der Speer seine Entwürfe für den Parteitag in Nürnberg vorlegt, wird als Urszene inszeniert, in der „Macht (Hitler mit Waffe) auf Kunst (Speer mit Zeichnungen) trifft“. Hitler suchte einen jungen Architekten, dem er seine „weitreichenden Projekte anvertrauen“ kann und der sein Werk nach seinem Tod mit Autorität fortführen würde. Speer, ebenso ehrgeizig, sah darin die „höchste Verwirklichung seiner romantischen Bestrebungen“. Er wurde das Instrument für Hitlers ästhetische Manie und konnte dadurch seine eigene „Macht“ ausbauen.

Durant tout le repas, ils s’isolent du reste des convives. Sans cesse, le guide questionne l’architecte sur sa famille, son père et son grand-père architectes, leurs réalisations. Il écoute. Il s’étonne. Il découvre que c’est lui, le si jeune architecte, qui est à l’origine du décorum stupéfiant de la manifestation du 1er mai 1933 sur l’esplanade de Tempelhof. Il a vraiment l’air de le découvrir. C’était donc vous ! C’était une véritable scénographie politique. Elle est inédite à ce jour. Peut-être jadis, à Rome. Oui, certainement, les triomphes après une victoire sur les barbares. Hollywood les reproduit assez bien, il faut l’admettre. L’architecte – l’artiste – aime-t-il le cinéma ? Aime-t-il les westerns ? Aime-t-il les péplums ? Aime-t-il les comédies avec de belles actrices ? Le guide adore le cinéma. L’architecte veut-il venir voir un film un soir, quand la résidence sera prête ? Dans tous les cas, c’était une scénographie nouvelle, le 1er mai, à Tempelhof. Même les bolcheviques, avec leurs parades à Moscou, n’en font pas de semblables. Ils sont incapables de tels effets. Les communistes n’ont aucun sens de l’art. Les communistes n’ont aucun sens de la politique considérée comme l’un des Beaux-Arts. Le guide considère la politique comme l’un des Beaux-Arts. Le guide peut lui montrer ses propres dessins, ses projets d’architecture. Ils pourraient se revoir de façon plus sérieuse pour échanger sur ces sujets.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Während des gesamten Essens isolieren sie sich vom Rest der Gäste. Der Führer befragt den Architekten ununterbrochen über seine Familie, seinen Vater und seinen Großvater, die ebenfalls Architekten waren, und über ihre Werke. Er hört zu. Er ist erstaunt. Er entdeckt, dass er, der so junge Architekt, der Urheber des atemberaubenden Dekors der Veranstaltung vom 1. Mai 1933 auf der Tempelhofer Esplanade ist. Er scheint das wirklich zu entdecken. Sie waren es also! Das war eine echte politische Inszenierung. So etwas hat es bis heute nicht gegeben. Vielleicht früher, in Rom. Ja, sicherlich, die Triumphzüge nach einem Sieg über die Barbaren. Hollywood gibt das recht gut wieder, das muss man zugeben. Mag der Architekt – der Künstler – Kino? Mag er Western? Mag er Sandalenfilme? Mag er Komödien mit schönen Schauspielerinnen? Der Führer liebt Kino. Wenn die Residenz fertig ist, möchte der Architekt eines Abends einen Film sehen. Auf jeden Fall war es am 1. Mai eine neue Inszenierung in Tempelhof. Selbst die Bolschewiken mit ihren Paraden in Moskau sind dazu nicht fähig. Sie sind zu solchen Effekten nicht fähig. Die Kommunisten haben keinen Sinn für Kunst. Sie haben auch keinen Sinn für Politik als eine der schönen Künste. Der Reiseführer betrachtet Politik hingegen als eine der schönen Künste. Er kann ihm seine eigenen Zeichnungen und Architekturprojekte zeigen. Sie könnten sich noch einmal treffen, um sich ernsthafter über diese Themen auszutauschen.

Dieser Auszug schildert die erste tiefere Interaktion und die beginnende einzigartige Beziehung zwischen Hitler und Speer, die von einer gemeinsamen Passion für Kunst und Architektur geprägt ist. Hitler, hier als „Führer“ bezeichnet, sucht nach „stabilen und zufriedenstellenden Formen“ für die visuelle und akustische Manifestation der nationalsozialistischen Ideologie. Er sieht Politik explizit als „eine der Schönen Künste“ an. Speer wird als junger Architekt dargestellt, der mit seiner Arbeit beeindruckt, insbesondere mit der „politischen Szenographie“ der Maikundgebung 1933. Der Text beleuchtet hier Speers monumentale Visionen im Kontext von Hitlers Streben nach ästhetischer Macht. Hitler ist nicht nur an Bauprojekten interessiert, sondern an einer „neuen Szenographie“, die alles Bisherige übertrifft und Parallelen zu römischen Triumphen oder Hollywood-Filmen aufweist. Diese Szene zeigt, wie Hitler Speer durch seine ästhetischen Ambitionen und die Aussicht auf die Realisierung gigantischer Bauvorhaben an sich bindet. Für Speer bietet dies die „höchste Verwirklichung seiner romantischen Bestrebungen“. Die Betonung von Hitlers Überraschung über Speers frühere Arbeiten kann als eine subtile Selbstverteidigungsstrategie Speers interpretiert werden: In seinen Memoiren inszeniert Speer eine schrittweise Entdeckung seiner Talente, um die Tiefe seiner anfänglichen Verstrickung zu verschleiern. Allerdings hatte der SS-Geheimdienst zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits detaillierte Dossiers, sodass die „Überraschung“ Hitlers als Inszenierung entlarvt wird.

Orengos Roman wählt für die Beziehung zwischen Albert Speer und Adolf Hitler einen expliziten Titel. Dessen Formulierung geht auf eine Bemerkung von Karl Maria Hettlage, einem SS-Offizier und Speers Mitarbeiter, zurück, der Speer nach einer Inspektion von Modellen der zukünftigen Monumente eröffnete: „Savez-vous ce que vous êtes, Speer? Vous êtes l’amour malheureux de Hitler.“. Diese Aussage wird im Roman als „genial, vulgär, geschminkt, würdig eines Berliner Kabaretts“ beschrieben und irritiert Speer zutiefst. Der Roman interpretiert diese „unglückliche Liebe“ nicht als sexuelle Beziehung, sondern als eine „eminent männliche“ Anziehung, die keine Frau verkörpern konnte. Sie beruhte auf der gegenseitigen „Statur als Künstler und Mann der Macht“, dem „ehemaligen Kämpfer und dem schlanken jungen Mann“. Speer selbst erkannte laut Roman an, dass ein Psychoanalytiker, der ihre Beziehung untersuchte, „sehr nah an der Wahrheit“ war. Die Bindung war so tief, dass Hitler und Speer „zusammen waren, und viel mehr als sie es je mit ihren Frauen gewesen waren“. Diese Komplizenschaft wurde von Dritten mit Erstaunen und Eifersucht beobachtet.

Die Beziehung wird auch als „Faustischer Pakt“ gedeutet. Speer sah sich selbst als jemand, der vom „Führer“ besessen war und dessen Sünden „geliehen“ waren. Später diente ihm dies als narrative Rahmung, um seine eigene Schuld zu relativieren, indem er sich als romantisches Opfer inszenierte. Hitler selbst wird als „Mäzen“ und „Kommanditär“ beschrieben, der Speer die „begehrenswerteste Hand“ bot. Hitler verstand Politik als „eine der Schönen Künste“. Hitler fragte Speer nach seiner Familie und seinen architektonischen Arbeiten, schätzte seine „politische Szenografie“ und suchte in ihm einen jungen Architekten, der „sein Werk nach seinem Tod mit seiner Autorität fortführen würde“. Diese emotionale und intellektuelle Verstrickung machte Speer zu Hitlers „Favoriten“.

Speer selbst glaubte, dass Hitler mehr als „Patron der Künste“ in die Geschichte eingehen wollte, denn als Militärführer, da die Künste seine „solide Berufung“ waren, während der Krieg eine „verdammte Pflicht“ war. Er argumentierte, dass er sein Ministerium „als Künstler“ geführt habe, so wie Hitler das Reich „als Künstler“ geführt habe. Hitler sah Künstler als „reine Unschuldige“, die aufgrund ihrer Vorstellungskraft „unfähig zu realistischem Denken“ seien. Dies könnte implizieren, dass Hitler Speer als jemanden sah, der sich von moralischen und politischen Bedenken lösen konnte, um sich ganz der künstlerischen Realisierung seiner Visionen zu widmen – eine Art ideales Alter Ego, das die praktische Ausführung seiner kühnsten Träume übernahm, ohne die Kompromisse des „Politikers“.

Laut Orengo ist Speer eine direkte Manifestation und Fortführung von Hitlers eigener, unvollendeter künstlerischer Laufbahn. Speer wurde für Hitler zum unersetzlichen Partner bei der Erschaffung einer ästhetisierten und monumentalisierten Realität, die das „Tausendjährige Reich“ in Stein meißeln sollte. Diese tiefe, fast symbiotische Beziehung, die als „unglückliche Liebe“ bezeichnet wird, unterstreicht, wie Speer die Rolle eines Wunsch-Ichs für Hitler einnahm, indem er dessen künstlerische Träume in die Tat umsetzte. Speer teilte Hitlers Ehrgeiz und sah darin die „Verwirklichung seiner romantischen Bestrebungen“ sowie die „Politisierung der Ästhetik und Ästhetisierung der Politik“. Die Bauten sollten die Menschen durch ihre schiere Größe an ihren Platz im System erinnern und die Kathedralen anderer Nationen lächerlich machen. Es handelte sich um einen „Krieg der Monumente und einen Krieg der Zeichen“ (guerre des monuments et une guerre des signes).

Der Roman thematisiert ausführlich die monumentalen Großvisionen des NS-Regimes, die eng mit Speers Tätigkeit als Architekt verbunden waren. Speers große Anfangsprojekte, wie die Gestaltung des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes, werden als „erste monumentale Realisierung“ beschrieben. Die Schaffung des „Lichtdoms“ aus einhundertdreißig Flugabwehrscheinwerfern wird als „höchste Verwirklichung seiner romantischen Bestrebungen“ und „Liebeserklärung an den Führer“ gedeutet. Die Planung der Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ mit einer gigantischen „Prachtstraße der Wunder“ und kolossalen Bauwerken wird als Ausdruck von Hitlers grenzenloser architektonischer Ambition dargestellt. Die Neue Reichskanzlei wird als „genial“ bezeichnet.

Hitler hatte selbst Künstler werden wollen, Albert Speer kann insofern als Verwirklichung von Hitlers künstlerischen Ambitionen gelesen werden. Der Roman beleuchtet Hitlers tief verwurzelte ästhetische Neigungen und seine Überzeugung, dass Politik untrennbar mit Kunst verbunden sei. Er betrachtete die Politik explizit als „eine der Schönen Künste“ („l’un des Beaux-Arts“). Er legte höchsten Wert auf die „visuellen und akustischen Manifestationen der nationalsozialistischen Ideologie“ und sah Kunst als zentral für die Zivilisation an. Er wollte seine „Stimme“ in Stein übersetzen und „riesige Monumente“ schaffen, um nicht nur den Raum, sondern auch die „Zeit“ zu erobern und durch Gedenkbauten unvergesslich zu werden. Seine Baupläne für Berlin, insbesondere die „Prachtstraße der Wunder“ („avenue des merveilles“) mit ihren kolossalen Dimensionen, zeugen von diesem grenzenlosen Ehrgeiz. Hitler hatte klare ästhetische Vorlieben und Abneigungen. Er hasste das „alte Deutschland“ und den modernen Architekten Heinrich Tessenow, dessen Stil (Beton, Glas) er als „verjudet“ („enjuivés“) betrachtete. Er respektierte jedoch Künstler, die ihm dienten, unabhängig von ihren politischen Ideen, da er glaubte, ihre Vorstellungskraft mache sie „untauglich für realistisches Denken“. Er bezeichnete Künstler als „reine Unschuldige“ und stellte sich selbst als jemand dar, der Künstler besser versteht als seine alten Parteigenossen, weil er selbst „Künstler“ gewesen sei. Er verspottete Heinrich Himmlers archäologische Bemühungen, da dabei nur deutsche Blockhütten zutage gefördert wurden, anstatt sich auf die „höchste Kultur“ Griechenlands und Roms zu beziehen, die er ästhetisch bevorzugte. Den Mythos der SS bezeichnete er als „Absurdität“. Dies zeigt, dass seine ästhetischen Vorlieben (die klassische Antike) sogar über bestimmte ideologische Konstrukte innerhalb des NS-Regimes gestellt wurden. Hitlers „Liebe zur Architektur“ („l’architecture est l’amour du guide“) motivierte andere Parteimitglieder, ihm Bauprojekte vorzulegen, um ihn zu „verführen“. Hitler sah sich selbst als jemanden, der Künstler besser versteht als seine alten Parteigenossen, da er selbst „Künstler“ gewesen sei. Er zeichnete unermüdlich Skizzen mit großer perspektivischer Präzision und bewunderte Speers Fähigkeit, diese umzusetzen.

Speer wollte Berlin in eine „Welthauptstadt Germania“ verwandeln, die Paris oder Wien übertreffen sollte. Geplant war eine gigantische „Prachtstraße der Wunder“ („avenue des merveilles“) mit monumentalen Gebäuden und öffentlichen Skulpturen. Die Planung erfolgte auf Modelltischen, wobei Hitler die Modelle mit den „leuchtenden Augen eines Kindes“ betrachtete. Obwohl als Übergangsgebäude konzipiert, war auch die Neue Reichskanzlei monumental angelegt, um Diplomaten zu beeindrucken. Hitler bezeichnete Speers Entwurf öffentlich als „genial“. Eine zentrale Manifestation von Hitlers Wunsch, die Zeit zu erobern, war Speers „Ruinenwerttheorie“ („Théorie de la valeur des ruines“). Demnach sollten Bauten so konstruiert werden, dass sie auch in tausend Jahren als Ruinen noch eindrucksvoll und erhaben wirken, vergleichbar mit antiken Monumenten. Die Theorie implizierte eine unendliche Nutzungsdauer und einen ästhetisierten, geplanten Verfall über Jahrtausende. Anstatt in unansehnliche Schutthaufen zu zerfallen, sollten die Bauten wie antike Monumente (etwa in Griechenland oder Rom) eine majestätische, von der Natur sublimierte Pracht entfalten. Materialien und Formen (Kuppeln, Kolonnaden) sollten für die Ewigkeit konzipiert sein. Speer sah sich selbst als denjenigen, der die Meister der Vergangenheit übertreffen würde – parallel zu Hitlers Wunsch, historische Persönlichkeiten wie Alexander oder Friedrich II. zu übertreffen. Selbst nach Hitlers Tod „campierte Hitler immer noch im Geist seines Favoriten“.

Albert Speer äußerte sich explizit in seinen 1969 erschienenen Memoiren. Dort beschreibt er die sogenannte „Ruinenwerttheorie“, die übrigens französische Bezüge hat: Speer beschrieb, wie er 1934 nach der Zerstörung eines modernen Stahlbeton-Straßenbahndepots feststellte, dass nur unförmige Überreste blieben. Angesichts Hitlers Forderung, „Traditionsbrücken“ zur Vergangenheit zu schlagen, sei es darum gegangen, in haltbarem Naturstein zu bauen, damit die Gebäude auch im „Verfallszustand“ noch „jene heroischen Inspirationen vermitteln, die Hitler an den Monumenten der Vergangenheit bewunderte“. Speer bedient sich hier vordergründig einer Kritik an modernen Materialien, reichert sie aber mit der paradoxen Idee an, dass selbst die Zerstörung einer perfekt konstruierten Einheit diese optisch nicht gänzlich korrumpieren dürfe. Die Theorie impliziert eine überlange Phase der Erosion nach einer potentiell unendlichen Nutzungsdauer, die „Tausende von Jahren“ dauern sollte.

In konkreter und prominenter Ausformulierung war die Ruinenwerttheorie insbesondere der französischen Architekturtheorie zu entnehmen. Auguste Perret etwa war ein Verfechter einer klassizistisch inspirierten Betonarchitektur. Ferner führt Christian Freigang in einem Artikel Germain Boffrand, Quatremère de Quincy, Jean-Baptiste Rondelet und Charles Blanc an. Angesichts schneller gesellschaftlicher Veränderungen erlaubte die Forderung nach unveränderlicher Schönheit im konzeptuellen Kern (vermittelbar im Ruinenzustand) die Verbindung von geschichtlicher Veränderlichkeit mit kultureller Kontinuität. Dieser Topos wurde in Frankreich auch als antidemokratisches Argument zur Verteidigung totalitärer Strukturen genutzt, vergleichbar mit seiner späteren Verortung im Nationalsozialismus. Beispiele hierfür sind Adrien Mithouard (um 1900), der die zeitüberdauernde, solide Perfektion des Okzidents in klassischen Monumenten betonte, und Charles Maurras (nach 1900), der die ewig unvergängliche Schönheit des „griechischen Geistes“ in den Ruinen der Akropolis pries. Die Ruinenwerttheorie war, auch in Anbetracht ihrer Vorformulierungen, ambivalent genug, um sowohl als architekturimmanente Maximalforderung perfekter Konstruktion als auch als politische Programmatik totalitärer Diktaturen zu dienen. 1

Neuere Forschungen sehen Speers Aussage eher als Verbrämung der Verpflichtung auf Naturstein (die durch Kriegsbewirtschaftung und Stahlkontingentierung bedingt war) und nicht als authentische theoretische Begründung nationalsozialistischen Bauens, da zeitgenössische Belege fehlen. Es wird angenommen, dass Speer seine Theorie erst nachträglich nutzte, um seiner Bautätigkeit eine originelle Note zu verleihen.)): „Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren, etwa den römischen Vorbildern gleichen würden.“ 2 Speer schildert, dass ihn der Anblick moderner Eisenbetonruinen – etwa nach der Sprengung eines Straßenbahndepots auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände – zu dem Gedanken geführt habe, dass die nationalsozialistischen Monumentalbauten aus haltbarem Naturstein errichtet werden müssten. Nur so könnten sie, selbst als Ruinen, noch „jene heroischen Inspirationen vermitteln, die Hitler an den Monumenten der Vergangenheit bewunderte“. Der Wert der Ruine, so Speer, lag also darin, dass sie auch nach dem Verfall noch als „steinerne Geschichtszeugen“ fungieren und die Größe der Epoche bezeugen sollten, ähnlich wie die Ruinen der Antike.

Hitler war von dieser Idee fasziniert und ordnete an, dass jedes wichtige Gebäude dieser Theorie genügen müsse. Dies zeigt Hitlers Faszination für Zerstörung als Mittel, eine bleibende Spur zu hinterlassen, und Speers Fähigkeit, diese Faszination in ein pseudointellektuelles Konzept zu fassen. Es war der ultimative Ausdruck des Wunsches, die Zeit zu beherrschen – nicht nur durch Existenz, sondern auch durch den geplanten, ästhetisierten Verfall über Jahrtausende hinweg. Speer selbst glaubte, sein Name sei durch den „Dom aus Licht“ in Nürnberg und durch diese Theorie untrennbar mit der Geschichte der Architektur verbunden.

Orengo dekonstruiert diese Visionen, indem er ihre innere Leere und die brutale Realität, auf der sie basieren, aufzeigt. Die von Speer entwickelte „Theorie vom Ruinenwert“, mit der er Bauwerke für eine ästhetische Verwandlung in Ruinen entwarf, entlarvt er als „absurd“ und „Utopie“. Die tatsächlichen Ruinen Berlins im April 1945 entsprachen in keiner Weise Speers romantischen Vorstellungen: „Rien ne correspond à la théorie qu’il en a donnée.“ Die Zerstörungen des zerbombten Berlins im Jahr 1945 werden als „hässlich“, „brutal“, „chaotisch“ und „formlos“ beschrieben, nicht als erhaben oder romantisch. Ihre Umsetzung wäre ein „Desaster, eine Gewalt, eine Vergewaltigung des Raumes“ gewesen. Paradoxerweise war Speer als Rüstungsminister selbst an der Schaffung dieser brutalen Realität beteiligt. Der Roman betont, dass Speers Architektur nicht nur Stein und Mörtel, sondern auch „chair humaine“ (menschliches Fleisch) verwendete. Die „Inhumanität“ der Neuen Reichskanzlei wird rückblickend mit der „Vernichtung der Juden Europas“ verknüpft, obwohl Speer dies in seinen Memoiren ausblendete. Die Schaffung von Platz für Speers Bauprojekte in Berlin war im Übrigen direkt mit der Vertreibung von Tausenden Berliner Juden verbunden. Orengo kontrastiert Speers „ästhetische“ Empörung über die Unordnung einer brennenden Synagoge während der Reichskristallnacht mit dem menschlichen Leid.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer (Grasset, 2024), librairie Mollat.

Krieg der Narrative

Avec Albert Speer, c’est différent. Sa version de lui-même s’est imposée malgré les versions divergentes produites par les historiens et les enquêteurs, de sorte que les biographies le concernant apparaissent trop souvent comme les réécritures paradoxales de ses propres Mémoires. Ce ne sont pas des plagiats. Les lignes de prose se métamorphosent en lignes de front, l’historien lutte contre le texte-source par des documents révélant mensonges et omissions, mais la vérité se révèle insuffisante, et à la fin, c’est Speer le vainqueur.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Bei Albert Speer ist es anders. Seine Version von sich selbst hat sich trotz der abweichenden Darstellungen von Historikern und Ermittlern durchgesetzt, sodass Biografien über ihn allzu oft wie paradoxe Neufassungen seiner eigenen Memoiren wirken. Es handelt sich dabei nicht um Plagiate. Die Zeilen der Prosa verwandeln sich in Frontlinien, der Historiker kämpft mit Dokumenten, die Lügen und Auslassungen aufdecken, gegen den Quelltext, aber die Wahrheit erweist sich als unzureichend, und am Ende ist Speer der Sieger.

Die „Linien der Prosa verwandeln sich in Frontlinien“, was die aggressive Natur von Speers narrativer Apologie betont, die nicht nur verteidigt, sondern auch angreift und die Deutungshoheit beansprucht. Die „Wahrheit“ erscheint als „unzureichend“, was auf die Fähigkeit von Speers „Autofiktion“ hinweist, überzeugender als die Realität zu wirken. Es wird angedeutet, dass Speer durch seine Fähigkeit, „Theater-Effekte“ und bewusst dosierte Unklarheiten einzusetzen, eine solche Wirkmacht erzielt hat, dass selbst Geständnisse oder Auslassungen plausibler wirkten als die von Historikern gefundenen Fakten.

Jean-Noël Orengos Roman Vous êtes l’amour malheureux du Führer spricht an mehreren Stellen von einem „Krieg der Narrative“ oder einer „Schlacht der Erzählungen“ („guerre des récits“ oder „bataille des récits“), um die Auseinandersetzung um die Wahrheit über die NS-Zeit und Albert Speer zu beschreiben. Der Roman integriert die Reflexion des Autors über seine eigene Schwierigkeit, einen Roman über Speer zu schreiben, da Speer seinen „eigenen Roman“, seine „Autofiktion“, bereits so meisterhaft verfasst hatte. Diese metaleptische Ebene macht den Akt des Erzählens selbst zum Thema und beleuchtet die Macht der Fiktion gegenüber der historischen Wahrheit. Der Roman positioniert sich als „Gegen-Erzählung“, die Speers strategische Manipulationen offenlegt und zur kritischen Auseinandersetzung mit seiner Darstellung anregt.

L’historienne reçoit une lettre étrange de la star. Il lui reproche avec véhémence la tournure et le contenu de son article paru deux ans auparavant dans le Sunday Times. Elle ne comprend pas. Il n’a pas bronché à l’époque, il l’a même relu avant sa parution. Ils se parlent couramment au téléphone depuis les journées d’Heidelberg, projettent d’écrire un livre ensemble, une série de portraits d’Hitler et de ses intimes en deux volets, tels qu’il les voyait sous le IIIe Reich, quand il était l’un d’eux, et tels qu’il les voit maintenant.

Ce désaveu rétrospectif ne lui ressemble pas. Il a toujours su contrôler ses sentiments, tout en les communiquant de manière rationnelle, trop rationnelle, notamment sa culpabilité, une preuve significative de cette double nature qu’elle lui prête. Dans ce courrier, c’est l’inverse : la déception personnelle, la sensation d’injustice et de trahison, l’expression directe et violente de ses sentiments l’emportent sur les argumentations. Il se justifie comme il ne l’a jamais fait. Il invoque le procès de Nuremberg et son verdict pour solder les comptes. Il a purgé sa peine, assumé ses responsabilités, il n’a plus à se justifier vis-à-vis de qui que ce soit, spécialement d’elle, l’historienne. Il n’a rien su de l’extermination des Juifs d’Europe avant le procès, il l’a dit, redit, et redit encore, ça s’arrête là. Il considère qu’elle est du côté de ses détracteurs, non du sien.

Elle lui téléphone et lui demande ce qu’il se passe dans sa tête, et à sa grande surprise, il lui répond joyeusement. Surtout, qu’elle ne s’inquiète pas de cette crise d’humeur, il y a une raison à cela qui n’a rien à voir avec elle, mais il ne peut pas en parler.

Il est très mystérieux et ludique sur cette raison, et il ne correspond plus du tout au personnage qu’elle a toujours connu. Il a franchement l’air heureux.

Elle n’en démord pas et c’est à son tour de se montrer sentimentale. Elle le menace d’arrêter leur collaboration éditoriale s’il la juge ainsi. Alors, il la calme à nouveau et lui promet de la revoir bientôt et de tout lui expliquer.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Die Historikerin erhält einen seltsamen Brief vom Star. Er wirft ihr vehement vor, dass sie ihren Artikel, der vor zwei Jahren in der Sunday Times erschienen ist, so formuliert und inhaltlich so gestaltet habe. Sie versteht das nicht. Damals hat er sich nicht gemeldet, er hat den Artikel sogar vor der Veröffentlichung noch einmal gelesen. Seit den Tagen in Heidelberg telefonieren sie regelmäßig miteinander und planen, gemeinsam ein Buch zu schreiben, eine zweiteilige Porträtserie über Hitler und seine Vertrauten, so wie er sie während des Dritten Reiches sah, als er einer von ihnen war, und so wie er sie jetzt sieht.

Diese nachträgliche Ablehnung passt nicht zu ihm. Er hat seine Gefühle immer unter Kontrolle gehabt und sie rational, zu rational kommuniziert, insbesondere seine Schuld, ein deutlicher Beweis für die von ihr unterstellte Doppelzüngigkeit. In diesem Brief ist es umgekehrt: Persönliche Enttäuschung, das Gefühl von Ungerechtigkeit und Verrat, der direkte und heftige Ausdruck seiner Gefühle überwiegen gegenüber Argumenten. Er rechtfertigt sich wie nie zuvor. Er beruft sich auf den Nürnberger Prozess und dessen Urteil, um abzurechnen. Er hat seine Strafe verbüßt, seine Verantwortung übernommen und muss sich vor niemandem mehr rechtfertigen, schon gar nicht vor ihr, der Historikerin. Er habe vor dem Prozess nichts von der Vernichtung der europäischen Juden gewusst, das habe er gesagt, wiederholt und noch einmal wiederholt, damit sei die Sache erledigt. Er ist der Meinung, dass sie auf der Seite seiner Kritiker steht, nicht auf seiner.

Sie ruft ihn an und fragt ihn, was in ihm vorgeht, und zu ihrer großen Überraschung antwortet er ihr fröhlich. Vor allem solle sie sich keine Sorgen um seine Laune machen, es gebe einen Grund dafür, der nichts mit ihr zu tun habe, aber er könne nicht darüber sprechen.

Er ist sehr geheimnisvoll und verspielt, was diesen Grund angeht, und entspricht überhaupt nicht mehr dem Menschen, den sie immer gekannt hat. Er wirkt ehrlich glücklich.

Sie gibt nicht nach und wird nun selbst sentimental. Sie droht ihm, ihre redaktionelle Zusammenarbeit zu beenden, wenn er sie so beurteilt. Da beruhigt er sie wieder und verspricht ihr, sie bald wiederzusehen und ihr alles zu erklären.

Dieser Auszug konzentriert sich auf Speers Selbstverteidigungsstrategien und die Rolle der Historiografie aus der Perspektive der Historikerin Gitta Sereny. Dies bestätigt die Aussage im Buch Autobiographie als Apologie 3 dass Speers Rhetorik die „Leserschaft dazu brachte, Speers Geschichte auf eine Weise zu ‚lesen‘, die seine Entlastung unterstützte“. Der Text beleuchtet Speers rhetorische Meisterschaft, etwa seine scheinbaren Selbstanklagen wie die der „stillschweigenden Akzeptanz der Ausrottung“, die so wirkungsvoll waren, dass sie ihm in Nürnberg das Leben gekostet hätten, wären sie dort schon bekannt gewesen. Der Auszug fasst Speers Fähigkeit zusammen, seine Vergangenheit ästhetisch und politisch neu zu gestalten, um seine Reputation nach dem Krieg zu sichern.

Im direkten Gegensatz zu Speers Behauptung, von der „Endlösung“ nichts gewusst zu haben, stellt der Roman die Historikerin Gitta Sereny in den Mittelpunkt, die sich zu seinen Lügen und Auslassungen positionieren musste. Durch die Nennung von Himmlers Posener Rede im Oktober 1943, in der Himmler die Judenvernichtung explizit erwähnte und Speer namentlich im Zusammenhang mit der Räumung von Ghettos erwähnte, widerlegt der Roman Speers Behauptung, nichts vom Holocaust gewusst zu haben. Speers panische Reaktion auf die Enthüllung dieses Dokuments durch Erich Goldhagen sowie sein Versuch, seine Anwesenheit zu leugnen, werden im Roman detailliert dargestellt. Dies stellt Speers „Schein-Selbstanklage“ als bewusste Manipulation der Wahrheit dar, die von der historischen Evidenz widerlegt wird. Auch Speers Besuch einer unterirdischen Raketenfabrik, bei dem er Sklavenarbeiter und Leichen sah, wird als direkter Kontakt mit den Gräueln des Regimes beschrieben. Diesen versuchte Speer später sprachlich zu vernebeln.

En fin d’après-midi, pour clôturer la journée, le Reichsführer SS Himmler intervient. Il est connu pour être un mauvais orateur, un tribun de l’ennui provoquant l’assoupissement de ses auditoires, et les gauleiters s’apprêtent à s’ennuyer dans un demi-sommeil bienvenu avant d’aller ripailler entre eux.

Mais cette fois, il a quelque chose à dire qu’il n’a jamais dit encore. Il le dit à tout le monde ici présent à Poznan, les gauleiters, les officiels du régime et leurs cabinets ministériels venus en nombre, une foule importante. Il explique qu’il s’agit des Juifs et qu’il ne faudra jamais en parler. Il leur explique que c’est une chose d’affirmer « Les Juifs doivent être exterminés » comme ils le font tous lors des dîners, mais que c’en est une autre d’exterminer vraiment des masses immenses d’individus, même juifs, et qu’il en sait quelque chose, car c’est fait, d’ici à la fin de l’année, la question de la présence juive dans les territoires conquis par le Reich sera réglée ou presque. Il explique qu’en plus des hommes juifs, il a choisi de régler la question des femmes et des enfants juifs de la même façon pour éviter qu’ils ne se vengent dans l’avenir. Il précise que cela s’est déroulé sans endommager l’esprit des hommes et des chefs en charge de ce travail, même si le danger est encore grand, car « la différence entre devenir cruel et sans cœur ni respect de la vie humaine ou devenir moins dur et succomber à la faiblesse et à la dépression nerveuse est une voie dramatiquement étroite, entre Charybde et Scylla ». Il précise qu’il faut toujours lutter contre ce penchant de beaucoup d’Allemands, et même des camarades du parti, à vouloir sauver le bon Juif qu’ils connaissent tous. Il précise qu’il a reçu un nombre considérable de pétitions pour sauver tel ou tel bon Juif. Il explique que c’est le cas pour les travailleurs juifs censés participer à l’effort de guerre dans les usines. Il donne l’exemple du ghetto de Varsovie qu’on a maintenu trop longtemps sous prétexte que des travailleurs nécessaires à l’industrie de guerre s’y trouvaient et qui s’est récemment révolté. Il précise que ce reproche ne vaut pas pour le camarade Speer, et que lui et Speer vont dans les prochaines semaines nettoyer les ghettos de ces prétendus travailleurs. Il n’évoque que Speer sur cette question de l’élimination physique des Juifs et il ne cite aucun autre membre du cercle des intimes. Il termine en disant qu’ils sont maintenant informés, qu’ils devront garder cela pour eux, et prendre, au nom du peuple allemand, la responsabilité de la réalisation, et pas seulement de l’idée, de la disparition des Juifs de la Terre, et qu’il leur faudra emporter ce secret dans leur tombe.

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Am späten Nachmittag, zum Abschluss des Tages, ergreift Reichsführer SS Himmler das Wort. Er ist bekannt als schlechter Redner, als langweiliger Redner, der sein Publikum einschläfert, und die Gauleiter bereiten sich darauf vor, sich in einem willkommenen Halbschlaf zu langweilen, bevor sie sich wieder untereinander zum Schlemmen versammeln.

Doch dieses Mal hat er etwas zu sagen, was er noch nie gesagt hat. Er sagt es allen Anwesenden in Posen, den Gauleitern, den Regimefunktionären und ihren zahlreichen Ministerialbeamten, einer großen Menschenmenge. Er erklärt, dass es um die Juden geht und dass man niemals darüber sprechen darf. Er erklärt ihnen, dass es eine Sache sei, zu behaupten, „die Juden müssen vernichtet werden“, wie sie es alle bei ihren Abendessen tun, aber dass es eine ganz andere Sache sei, wirklich riesige Massen von Menschen zu vernichten, selbst wenn es Juden sind, und dass er davon etwas verstehe, denn bis zum Ende des Jahres die Frage der jüdischen Präsenz in den vom Reich eroberten Gebieten fast vollständig geklärt sein wird. Er erklärt, dass er beschlossen hat, neben den jüdischen Männern auch die Frage der jüdischen Frauen und Kinder auf die gleiche Weise zu regeln, um zu verhindern, dass sie sich in Zukunft rächen. Er betont, dass dies ohne Schaden für die Moral der Männer und der für diese Aufgabe verantwortlichen Führer geschehen sei, auch wenn die Gefahr noch groß sei, denn „der Unterschied zwischen Grausamkeit und Herzlosigkeit, zwischen Respekt vor dem menschlichen Leben und Nachgiebigkeit, Schwäche und Nervenzusammenbruch ist dramatisch gering, es ist ein Weg zwischen Skylla und Charybdis“. Er betont, dass man immer gegen diese Neigung vieler Deutscher und sogar von Parteigenossen kämpfen müsse, den guten Juden, den sie alle kennen, retten zu wollen. Er gibt an, dass er eine beträchtliche Anzahl von Petitionen erhalten habe, um diesen oder jenen guten Juden zu retten. Er erklärt, dass dies bei jüdischen Arbeitern der Fall sei, die in den Fabriken zur Kriegsarbeit herangezogen werden sollen. Er nennt als Beispiel das Warschauer Ghetto, das unter dem Vorwand, dass dort für die Kriegsindustrie notwendige Arbeiter lebten, zu lange aufrechterhalten worden sei und kürzlich revoltiert habe. Er betont, dass dieser Vorwurf nicht für Genosse Speer gelte und dass er und Speer in den nächsten Wochen die Ghettos von diesen sogenannten Arbeitern säubern würden. Er erwähnt nur Speer in dieser Frage der physischen Eliminierung der Juden und nennt kein anderes Mitglied des inneren Kreises. Er schließt mit den Worten, dass sie nun informiert seien, dass sie dies für sich behalten müssten und im Namen des deutschen Volkes die Verantwortung für die Verwirklichung und nicht nur für die Idee der Auslöschung der Juden von der Erde übernehmen müssten und dass sie dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen müssten.

Himmlers Rede ist der stärkste Beleg für Speers Mitverantwortung für die Judenvernichtung und widerlegt dessen jahrelange Behauptung der Unwissenheit. Himmler spricht hier in aller Deutlichkeit über die „Ausrottung der Juden“, einschließlich Frauen und Kindern, und erwähnt dabei Speer namentlich im Zusammenhang mit der „Säuberung der Ghettos von diesen sogenannten Arbeitern“. Die Rede betont die Absolutheit der Entscheidung zur Vernichtung und die Notwendigkeit, dies geheim zu halten („emporter ce secret dans leur tombe“). Himmlers Bemerkung, dass der Vorwurf, „gute Juden“ retten zu wollen, „nicht für Kamerad Speer gilt“, ist besonders aufschlussreich. Sie legt nahe, dass sich Speer zuvor nicht für die Rettung von Juden eingesetzt hatte und als vertrauenswürdiger Partner Himmlers bei der Vernichtung galt. Spätere historische Forschungen, insbesondere die von Goldhagen und von Gitta Sereny, bestätigten, dass Speer bei dieser Rede anwesend war. Für Speer selbst stellte dies den „schlimmsten Schlag seit Nürnberg“ dar. Später leugnete Speer seine Anwesenheit bei diesem entscheidenden Teil der Rede, obwohl seine Mitarbeiter dies mit eidesstattlichen Erklärungen widerlegten. Dieser Auszug ist ein zentrales Element der „Contre-Fiction“, da er Speers narratives Manöver der Unwissenheit durch historische Evidenz dekonstruiert.

Albert Speer verstand Geschichtswissenschaft als „Kunst der Kriegsführung“. Seine Memoiren werden als „politische und ästhetische Autofiktion“ oder „radikale Autofiktion“ bezeichnet, die die Wahrheit „malmène“ (misshandelte und manipulierte), um eine überzeugende Version seiner selbst zu schaffen. Diese erzählerische Meisterschaft ermöglichte es ihm, seine Version erfolgreich gegen Historiker und Dokumente durchzusetzen. Orengos Roman beleuchtet Albert Speers außergewöhnliche Fähigkeit, seine Nachkriegs-Erzählung zu formen und sich erfolgreich als „verantwortlich, aber nicht schuldig“ darzustellen. Diese Strategie machte ihn zum „Star der deutschen Schuld“. Speers Erinnerungen (im Roman Au cœur du Troisième Reich) werden als „entscheidende Fiktion seiner selbst“ bezeichnet: Orengo betont, dass Speer „immer gelogen hatte“ und seine Memoiren und Erklärungen ein „geschicktes Lügengebäude“ sind. Trotzdem setzte sich Speers Version durch, selbst als Historiker „Lügen und Auslassungen offenbaren“ konnten.

Der Roman zeigt, wie Speers scheinbare Selbstkritik oft lediglich eine Verantwortungsverschiebung für schwerwiegendere Verbrechen darstellt. Die Szene, in der Speer sich über die Zerstörung der Berliner Synagoge empört, aber hauptsächlich „tiefe Verlegenheit angesichts der Unordnung“ empfindet und dies Goebbels zuschreibt, anstatt Mitgefühl für die Opfer zu zeigen, entlarvt die Oberflächlichkeit seiner „moralischen“ Empfindungen. Speer nutzte die rhetorische Technik der „Schein-Selbstanklage“, indem er sich der „Mitwisserschaft durch Wegsehen“ bezichtigte, gleichzeitig aber behauptete, von der „Endlösung“ nichts gewusst zu haben. Er inszenierte eine moralische Distanz, indem er seine Schuld als „geliehen“ oder als Folge einer „Besessenheit“ von Hitler darstellte. Sein spätes Eingeständnis der „stillschweigenden Zustimmung“ zur Judenvernichtung wäre in Nürnberg „die Potence wert gewesen“, wurde aber in seinen Memoiren so formuliert, dass es plausibler wirkte als die volle Wahrheit.

Speer nutzte eine ausgeprägte Distanz zwischen der Figur in der Vergangenheit („erlebendes Ich“) und dem reflektierenden Autor in der Gegenwart („erzählendes Ich“). Dies ermöglichte es dem „erzählenden Ich“, kritisch auf die Handlungen des „erlebenden Ichs“ zurückzublicken und moralische Urteile zu fällen, wodurch die Glaubwürdigkeit der Apologie gestärkt wurde. Diese Distanz wurde durch das Motiv einer unvollendeten oder scheiternden Konversion legitimiert: Speer spielte mit der Idee einer Bekehrung zum Guten, vollzog sie aber nie ganz, um die ständige Selbstanklage aufrechtzuerhalten. Er verlagerte den Fokus von konkreten, belastenden Handlungen auf vermeintlich lautere Absichten oder bewusste Ignoranz. Er inszenierte sich als jemand, der Dinge „nicht wissen wollte“ (z. B. über den Holocaust), was empirisch schwer überprüfbar ist, aber nachweislich nicht der Wahrheit entsprach. Durch die Betonung von Absichten über Taten wurde eine direkte Überprüfung erschwert und moralische Distanz suggeriert. So erklärte er seine „größte Schuld“ als seine „stillschweigende Akzeptanz dieser Ausrottung“, wodurch er die schwerwiegende Straftat der Durchführung als „Wegsehen“ umdeutete. Speer versuchte, seine Rolle von einem politischen Akteur zu einem „reinen Künstler“ oder einem „effizienten Leistungsträger“ umzudeuten. Er hob seine architektonischen Fähigkeiten hervor und stellte seine Tätigkeit als Rüstungsminister als rein technische oder organisatorische Leistung dar, die er von politischer oder ideologischer Verantwortung trennte. Die Kritik an seinen Bauten wurde dabei auf ästhetische oder finanzielle Aspekte gelenkt, wodurch seine politische und moralische Schuld verschleiert wurde.

Laut Orengo war Speers narrative Konstruktion so mächtig, dass Biografien über ihn oft zu „Paraphrasen“ seines eigenen Textes wurden. Dies entspricht einer „défaite des biographes devant l’autobiographe“ (Niederlage der Biografen vor dem Autobiografen). Speers „wohl dosierte theatralische Effekte“ erschienen „glaubwürdiger als die Wahrheit selbst“. Er verstand Geschichtswissenschaft als „Kriegsführung im Bereich der Erinnerung“. Orengo verwendet Ironie, um die Zynik von Speers Rechtfertigungen zu unterstreichen. Ein Beispiel ist Speers fantasierter Plan, Hitler mit Gas zu töten, der im inneren Zirkel als „Ironie der Geschichte“ und „Blague“ bezeichnet wird.

Gazer Hitler. On dirait une blague typique du cercle des intimes, une de ces « ironies de l’Histoire » qu’ils affectionnaient tant.

À notre tour de fabuler sur cette fable. On est dans la tête de Speer vers 1967, quand il écrit ces lignes sur ce projet d’attentat fantaisiste. Il rit. Il s’amuse. Il va gazer son guide, son maître, son amant intellectuel. « Tiens mon Führer, voilà une pastille de gaz pour tes poumons ! Tu m’as tellement déçu, tous ces mauvais choix qui ont provoqué notre défaite, tous ces rêves de mille ans que tu as initiés pour les briser, vieux fou ! Tu ne me laisses pas le choix. Je dois remonter la pente, socialement, moralement. La survie appartient au surhomme. Je vais donc te gazer, toi qui as gazé les Juifs. Du moins vais-je affirmer y avoir pensé. Même toi, tu aurais ri de mon stratagème, à l’époque des nuits interminables, inoubliables de Berchtesgaden ! Penses-tu, mon Führer, que les lecteurs comprendront l’ampleur du second degré de ton gazage ? À quel point je me fous de leur gueule, comme nous nous sommes foutus de la gueule de Chamberlain à Munich ? »

Jean-Noël Orengo, Vous êtes l’amour malheureux du Führer, Grasset, 2024.

Hitler vergasen. Das klingt wie ein typischer Witz aus dem Kreis der Vertrauten, eine dieser „Ironien der Geschichte“, die sie so sehr liebten.

Jetzt sind wir an der Reihe, über diese Fabel zu fantasieren. Wir versetzen uns in Speers Gedankenwelt um 1967, als er diese Zeilen über das fantasievolle Attentatsvorhaben schreibt. Er lacht. Er amüsiert sich. Er wird seinen Führer, seinen Meister, seinen intellektuellen Geliebten vergasen. „Hier, mein Führer, hier ist eine Giftkapsel für deine Lunge! Du hast mich so enttäuscht, all diese falschen Entscheidungen, die zu unserer Niederlage geführt haben, all diese Träume von tausend Jahren, die du geweckt hast, um sie dann zu zerstören, du alter Narr! Du lässt mir keine Wahl. Ich muss mich wieder hocharbeiten, sozial und moralisch. Das Überleben gehört dem Übermenschen. Also werde ich dich vergasen, dich, der du die Juden vergast hast. Zumindest werde ich behaupten, dass ich daran gedacht habe. Selbst du hättest über meinen Plan gelacht, damals in den endlosen, unvergesslichen Nächten von Berchtesgaden! Glaubst du, mein Führer, dass die Leser das doppelte Spiel deiner Vergasung verstehen werden? Wie sehr ich mich über sie lustig mache, so wie wir uns über Chamberlain in München lustig gemacht haben?

Dieser Auszug ist ein paradigmatisches Beispiel für Speers Selbstverteidigungsstrategien und die „Schein-Selbstanklage“, die im Roman als „Autofabulation“ oder „fantastischer Plan“ bezeichnet wird. Speer, der sich 1967 in seinen Memoiren wiederfindet, spielt mit der Idee, Hitler mit Gas zu töten, eine „Ironie der Geschichte“, da Hitler die Juden vergaste. Diese Episode, die in Speers Memoiren vorkommt, dient dazu, sein erlebendes Ich (als Attentäter) vom erzählenden Ich (als distanziertem Moralisten) zu trennen, und seine Verantwortung zu relativieren. Indem er von der Idee spricht, Hitler zu vergasen, suggeriert er eine innere Abkehr vom Führer, während er gleichzeitig seine (unvollendete) Loyalität und seine emotionale Abhängigkeit („guide, son maître, son amant intellectuel“) zum Ausdruck bringt, was die Komplexität der Hitler-Speer-Beziehung unterstreicht. Die Passage enthüllt die zynische Berechnung hinter Speers narrativen Entscheidungen. Er fragt sich, ob die Leser den „zweiten Grad“ seines „Vergasungs-Stratagems“ verstehen werden und wie sehr er sie manipuliert, ähnlich wie er Chamberlain in München manipulierte. Dies verdeutlicht seine bewusste Strategie, „Zweideutigkeit“ zu erzeugen und seine Leser aktiv in die Konstruktion seiner Apologie einzubinden. Die Mitverantwortung für die Judenvernichtung wird hier durch die direkte Anspielung auf das „Vergasen der Juden“ ironisch in Speers Rechtfertigungsversuch integriert, indem er sich als jemand darstellt, der Hitler aufgrund seiner „schlechten Entscheidungen“ und der „zerbrochenen Träume des tausendjährigen Reiches“ töten wollte, und nicht primär wegen der Massenmorde. Die Rolle der Historiographie wird durch Speers eigene Reflexion über die Rezeption seiner „Fabel“ und die Frage, wie die „Wahrheit“ von seinen „Spektakulären autobiographischen Erfindungen“ beeinflusst wird, explizit thematisiert. Es ist ein Akt der Schein-Selbstanklage, der seine Schuld durch die Fiktionalisierung eines heldenhaften (wenn auch nicht realisierten) Widerstands minimieren soll.

Orengos Roman ist eine Reflexion über das Schreiben von Geschichte und die Natur von Fiktion. Er ist in Teile wie „Coup de foudre“, „Lune de miel“ und „Séparation“ gegliedert, die chronologische Phasen in Speers Beziehung zu Hitler widerspiegeln: „Coup de foudre (1930-1933), Lune de miel (1933-1934), Accord parfait (1934-1939), Progénitures (Mille ans), Éloignement (1940-1945), Séparation (1945-1947), Le Veuf joyeux (1947-1980), Vivre avec Lui (1981-).“ Der Text bricht allerdings bewusst mit einer linearen Erzählweise und nutzt Flashbacks und Vorausdeutungen sowie simultane Szenen, um die Komplexität der historischen Ereignisse und die vielschichtige Wahrnehmung der Figuren darzustellen.

Der Roman ist reich an literarischen und kulturellen Referenzen, die Speers Geschichte in einen breiteren Diskurs einbetten. Speer selbst rahmt seine Schuld und Besessenheit von Hitler durch Motive wie Faust und Dorian Gray. Der Autor reflektiert explizit über die „Fabel“ von Speers Attentatsplänen auf Hitler und lädt den Leser ein, über diese „Fabel“ zu fabulieren. Ein zentrales poetologisches Element ist die ständige Reflexion über die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Der Autor stellt fest, dass Speers Memoiren eine „Autofiktion“ sind, die die Wahrheit „misshandelt“. Der Roman selbst wird zu einer „contre-fiction“, einem Versuch, Speers dominantem Narrativ entgegenzutreten. Es geht um die Frage, „wer das Recht hat, Geschichte zu schreiben und wie Narrative entstehen“.

Ruinen der Manipulation

Jean-Noël Orengos Roman Vous êtes l’amour malheureux du Führer offenbart, wie Speer seine persönliche und berufliche Beziehung zu Hitler, seine Rolle als Architekt und Rüstungsminister, und schließlich seine eigene Schuld in einer meisterhaften „Autofiktion“ für die Nachwelt inszenierte. Orengo beleuchtet die psychologische Tiefe der Beziehung zwischen Speer und Hitler, die über das rein Politische hinausging und von einer „unglücklichen Liebe“ geprägt war, die Speer bis zu seinem Tod nicht losließ.

Orengo kontrastiert Speers „monumentale Großvisionen“ und seine „Theorie vom Ruinenwert“ scharf mit der „brutalen Realität“ des Krieges und der Zerstörung. Das Berlin von 1945, beschrieben als „hässliche“ („hideuses“) Trümmerlandschaft, die keine Romantik zulässt, entlarvt Speers ästhetische Fantasien als „absurd“ und als „Utopie“. Der Roman betont, dass Speers Architektur nicht nur aus „Stein und Mörtel“ bestand, sondern auch aus „chair humaine“ (menschlichem Fleisch), womit die Zwangsarbeiter gemeint sind, deren Leid Speer in seinen Memoiren ausblendete.

Der Roman zeigt, wie Speer seine architektonischen Visionen nutzte, um Hitlers Macht zu zementieren und eine „Ästhetik der Politik“ zu schaffen, die jedoch untrennbar mit den Verbrechen des Regimes verbunden war. Die zentrale Stärke des Romans liegt in seiner Analyse von Speers Verteidigungsstrategie nach 1945 – einer „Schein-Selbstanklage“, die seine tatsächliche Mittäterschaft kaschierte und ihm eine einzigartige Position als „Star der deutschen Schuld“ verschaffte. Orengo konfrontiert Speers narrative Manipulation mit historischen Fakten, insbesondere Himmlers Posener Rede, und betont die frustrierende Wahrheit, dass Speers „Autofiktion“ oft wirkmächtiger war als die empirische Realität, was zu einer „Niederlage der Biographen vor dem Autobiographen“ führte.

Formal überzeugt der Roman durch seine nicht-lineare Struktur, seine reiche Intertextualität und seinen präzisen, oft ironischen Stil. Dieser spiegelt die Komplexität des Themas wider und lädt den Leser zur kritischen Reflexion ein. Der Roman ist eine Meditation über die Macht der Erzählung, die Konstruktion von Identität und die andauernde Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Anstatt nur eine Geschichte über Speer zu erzählen, agiert Orengos Roman selbst als eine Art „historische Archäologie der Narrative“. Er gräbt Schichten von Speers Selbstdarstellung frei, legt die „Konstruktion“ offen und zeigt, wie Speer seine Lebensgeschichte als Gebäude aus Wahrheit, Halbwahrheit und gezielter Auslassung errichtete. Der Roman ist somit nicht nur eine Dekonstruktion von Speers architektonischen Werken oder seiner politischen Rolle, sondern auch eine literarische Dekonstruktion seines narrativen Meisterwerks, seiner Autobiografie. Orengo nutzt dabei die literarischen Mittel, die Speer selbst so meisterhaft einsetzte – Ästhetisierung, Inszenierung und Mehrdeutigkeit –, kehrt sie jedoch gegen ihn. Er „legt die Drähte frei“, durch die Speers Erzählung ihre Wirkung entfaltete.

Indem Orengo die „Niederlage der Biographen“ thematisiert und selbst versucht, eine „contre-fiction“ zu schaffen, etabliert er eine neue Form des historischen Romans. Dieser wird zu einem lebendigen Archiv, das nicht nur die Vergangenheit rekonstruiert, sondern auch den Prozess ihrer Konstruktion. Er ist ein „Metamonument“ der Geschichtsschreibung, das die Ruinen von Speers Narrativ offenbart und uns daran erinnert, dass selbst die überzeugendste Lüge, wenn sie nur meisterhaft genug erzählt wird, Teil der Geschichte werden kann – und dass die Auseinandersetzung damit eine fortwährende, archäologische Aufgabe für Literatur und Geschichtswissenschaft bleibt. Der Roman ist somit eine Anleitung, wie man die Ruinen der Vergangenheit nicht nur als Zeugnisse des Verfalls, sondern auch als Spuren der Manipulation lesen kann, die unsere heutige Erinnerung prägen.

Ausblick: Orengos Romane im Vergleich

Jean-Noël Orengo hat bisher fünf Romane vorgelegt: Femmes sur fond blanc, L’Opium du ciel, Jungles rouges, La Fleur du Capital und als Vergleichspunkt der jüngste Roman Vous êtes l’amour malheureux du Führer. In allen fünf Romanen setzt sich der Autor mit historischen Perioden und Ereignissen auseinander, doch die Art und Weise dieser Auseinandersetzung variiert und wird durch Vous êtes l’amour malheureux du Führer auf eine spezifische Spitze getrieben.

In Jungles rouges ist der historische Fokus auf die Kolonialgeschichte Südostasiens, insbesondere Kambodschas und Vietnams, gerichtet. Dabei werden Revolution, Völkermord (Khmer Rouge) und persönliche Schicksale über Generationen hinweg thematisiert. La Fleur du Capital taucht in die jüngere Geschichte Pattayas ein, einer Stadt, die als Mikrokosmos des „kapitalistischen“ Nachtlebens, der Prostitution und der Interaktion zwischen Expats und Einheimischen dargestellt wird. Dabei wird die Geschichte der Prostitution selbst als uralt und „königlich“ verstanden. In Femmes sur fond blanc wird die Figur des fiktiven Paul Gauguin genutzt, um die zeitgenössische Geschichte Bangkoks (Anfang der 1990er Jahre), die postkoloniale Ikonografie des Sextourismus und die damit verbundenen Kontroversen zu thematisieren. Dabei werden auch Parallelen zum historischen Gauguin und seiner Rezeption gezogen. L’Opium du ciel verbindet technologische Geschichte (Drohnen) mit religiöser und mythologischer Geschichte, indem der Drohnen-Erzähler eine „indosemitische“ Identität und Erinnerungen an alte Konflikte und Gottheiten erhält.

Eine zentrale Achse in Orengos Poetik ist die Erkundung moralisch ambivalenter Zonen und Figuren. In La Fleur du Capital werden die komplexen Beziehungen zwischen Freiern und Sexarbeiterinnen beleuchtet, wobei traditionelle moralische Urteile in Frage gestellt werden und die Perspektive der Frauen, die Geld als „Beweis der Liebe“ oder als Notwendigkeit zum Überleben sehen, betont wird. Der Erzähler „Marly“/“Scribe“ ist selbst eine ambivalente Figur, ein „Gigolo mineur du Capital“, der sich in moralisch fragwürdige Situationen begibt. In Jungles rouges zeigen die Figuren von Pol Pot, Xa Prasith und anderen Revolutionären die gewalttätige, oft unmoralische Seite des politischen Kampfes, wobei die Grenzen zwischen Idealismus und Grausamkeit verschwimmen. In Femmes sur fond blanc wird die Darstellung junger Frauen durch den Künstler Gauguin mit Fragen der Ausbeutung und postkolonialen Perspektiven konfrontiert. L’Opium du ciel thematisiert die Dualität von Liebe und Zerstörung im Wesen des Drohnen-Erzählers, seine Beteiligung an Gräueltaten und die moralische Ambiguität, die sich aus seiner Rolle als Beobachter ergibt.

Vous êtes l’amour malheureux du Führer setzt diese Erforschung moralischer Ambiguität auf einer anderen Ebene fort. Speer wird als Figur dargestellt, die eine monströse Politik mit einer Aura von Intelligenz, Kultur und sogar „Romantik“ verbindet. Sein Anspruch, von den Gräueltaten nichts gewusst zu haben, während er gleichzeitig die „Verantwortung, aber nicht die Schuld“ auf sich nimmt, stellt eine extreme Form der moralischen Aushandlung dar. Der Roman hinterfragt, wie solche Figuren ihren Weg durch die Geschichte und das kollektive Gedächtnis finden können, und verstärkt damit die in den anderen Büchern angelegte Frage nach der Natur von Gut und Böse, Schuld und Unschuld, und der Relativität moralischer Urteile. Die „positive“ Nahtoderfahrung eines Täters im Vergleich zur „negativen“ eines Unschuldigen ist eine provokante Veranschaulichung dieser moralischen Desorientierung.

Die Beziehung zwischen Kunst, Schöpfung und Macht ist ein durchgehendes Motiv in Orengos Werk. In Femmes sur fond blanc ist Paul Gauguin ein Maler, der Kunst als eine Notwendigkeit („L’argent est ce qui rend l’art possible“) und als Spiegel der „Belles de bar“ versteht. Seine Kunst ist Gegenstand von Kontroversen über die Darstellung von Frauen und Sexualität. In La Fleur du Capital wird Pattaya selbst als ein „Kunstwerk unter freiem Himmel“ beschrieben, in dem die „Epiphanie“, die Konvergenz von künstlerischem Ausdruck und täglichem Leben, stattfindet. Die Prostituierten werden als „Performeuses honnêtes et radicales“ oder als „Künstlerinnen des Erlebten“ dargestellt, die „ihren Lebensunterhalt mit der Fiktion verdienen“. Schreiben wird mit Prostitution verglichen. Jungles rouges zeigt André Malraux, den Schriftsteller und Abenteurer, der seine Erfahrungen in Indochina für seine Romane nutzt und die Geschichte durch seine Werke prägt. Der „Haut-Parleur“ der Revolution wird als der wahre Künstler und Geschichtenerzähler dargestellt, der Massen durch Rhetorik und Terror formt. L’Opium du ciel verbindet die technische Schaffung des Drohnen-Erzählers mit künstlerischen Prinzipien („les travellings tu ne couperas pas…“) und sieht Kunst in der Beobachtung der Natur.

In Vous êtes l’amour malheureux du Führer wird die Verbindung zwischen Kunst (insbesondere Architektur) und Macht explizit und in ihrer monumentalsten Form dargestellt. Speer, der Architekt, wird zum engen Vertrauten Hitlers, weil dieser die Kunst über die Politik stellt und monumentale Bauprojekte als Ausdruck der Staatsmacht und der Geschichte versteht. Die „Theorie der Ruinen“, Speers Idee, dass Monumente so gebaut werden sollten, dass ihre Ruinen noch nach Jahrtausenden beeindruckend wirken, ist ein prägnantes Symbol für das Bestreben, durch Kunst der Vergänglichkeit entgegenzuwirken und Geschichte zu schreiben. Dies korreliert mit der Idee in anderen Romanen, dass Kunst oder Erzählung der Zeit und dem Vergessen trotzen können. Der Roman zeigt, wie Kunst als Werkzeug der Propaganda und der Selbstdarstellung eingesetzt wird, eine Reflexion, die sich auch in den Erzählungen über die „Kunst“ der Prostituierten, Kunden oder Revolutionäre in den anderen Büchern findet. Speers Selbstinszenierung in seinen Memoiren ist selbst ein „chef-d’œuvre“ der narrativen Kunst.

Das Verwischen der Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion und die Frage nach der Kontrolle über die eigene Geschichte sind weitere zentrale Aspekte in Orengos Werk. In La Fleur du Capital nutzen die Figuren, insbesondere die Sexarbeiterinnen und der Erzähler „Marly“, Erzählungen und Fiktionen, um ihre Realität zu gestalten, Kunden zu gewinnen oder zu manipulieren. Die „Lügen“ der Prostituierten sind „Feinten, die aus der Tiefe instrumentalisierter Armut kommen“, und „das Falsche ist lebendiger als das Wahre“. Der Erzähler selbst spielt eine Rolle („Toujours en scène“). Jungles rouges zeigt, wie historische Figuren wie die von Malraux, Pol Pot (der seinen Namen ändert) und Xa Prasith ihre eigene Geschichte gestalten und wie diese Geschichten durch Erzählung und Erinnerung („vos histoires, pas les nôtres“) transformiert werden. Der „Haut-Parleur“ der Revolution kontrolliert die offizielle Erzählung und manipuliert die Wahrnehmung durch „Lügen und Komplotte“. In L’Opium du ciel konstruiert der Drohnen-Erzähler seine eigene „anamnese“ und seine „Vorgeschichte“ aus Archiven und Aufzeichnungen.

Vous êtes l’amour malheureux du Führer hebt diese Thematik auf eine neue Ebene, indem es Speer, eine historische Figur, die für ihre Fähigkeit bekannt ist, ihr Image zu manipulieren, ins Zentrum stellt. Seine Memoiren werden als „Autofiktion“ bezeichnet, die die Wahrheit so geschickt „misshandelt“, dass sie „wahrscheinlicher erscheint als die Wahrheit selbst“. Der Kampf der Historiker gegen Speers selbstgeschaffene Legende wird zu einer Metapher für die „Schlacht der Erzählungen“, in der die Sieger die Geschichte schreiben. Der Roman verdeutlicht, wie historische Wahrheit nicht objektiv ist, sondern durch Perspektive, Erinnerung und die Macht der Erzählung geformt wird. Speers „Erlebnis“, die Begegnung mit der Historikerin, wird selbst zu einer „Erfahrung wie in einem Roman“, die die Simultaneität von Erlebtem und dessen historischer Aufarbeitung zeigt.

Wiederholung ist ein bewusst eingesetztes formales und thematisches Element in Orengos Werk. In La Fleur du Capital wird die „Répétition n°…“ -Struktur explizit genutzt, um Variationen über ein Thema zu präsentieren. Die immer wiederkehrenden Geschichten und Erfahrungen in Pattaya oder die mechanischen Abläufe („allers et retours effectués sans arrêt“) spiegeln dieses Prinzip wider. Das Leben der Sexarbeiterinnen ist oft von Wiederholung geprägt. In Jungles rouges wiederholen sich bestimmte historische Muster, und Figuren wie Clara Malraux oder Sâr kehren gedanklich oder erzählerisch zu bestimmten Szenen zurück.

In Vous êtes l’amour malheureux du Führer findet sich die Wiederholung thematisch in verschiedenen Formen: den sich wiederholenden Gesprächen in Hitlers Kreis, Speers eigener Darstellung seiner Karriere als „Amplifikation, Wiederholung“ und der Rückkehr zu bestimmten Ideen wie der Ruinentheorie. Die Gräueltaten selbst werden als erschreckende Wiederholung historischer Barbarismen dargestellt. Speers Memoiren sind in gewisser Weise eine wiederholte Erzählung seiner Erfahrungen. Der formale Einsatz von Wiederholung in La Fleur du Capital findet in Vous êtes l’amour malheureux du Führer eine thematische Entsprechung in der unentrinnbaren Natur bestimmter historischer Muster und persönlicher Obsessionen.

Komplexe, oft unkonventionelle Beziehungen sind ein weiteres Merkmal von Orengos Romanen. In Femmes sur fond blanc steht die Beziehung des Erzählers Paul zu Tip, einer Prostituierten, im Vordergrund, die von Liebe, Begehren und dem Wunsch, sie künstlerisch festzuhalten, geprägt ist. Auch die Beziehungen zu anderen Frauen wie Song, Dussani, Sida, Nong sind Teil dieser Erkundung. La Fleur du Capital taucht tief in die Welt der „Liebe zum Preis“ in Pattaya ein, wo Beziehungen oft transaktional und komplex sind. Die Beziehungen zwischen Freiern („punters“) und Sexarbeiterinnen („ladybars“, „ladyboys“) sind geprägt von Machtspielen, Illusionen und der Suche nach Verbindung. Jungles rouges zeigt eine Reihe von Beziehungen in kolonialen und revolutionären Kontexten, die von Macht, kulturellen Unterschieden und persönlicher Bindung geprägt sind (z.B. Clara und André Malraux, Sâr und Prasith, Jean Douchy und Phalla). L’Opium du ciel beschreibt die distanzierte, aber programmierte „Zuneigung“ des Drohnen-Erzählers zu seiner ehemaligen Besitzerin S sowie die „hohen amourösen Ambitionen“ in der platonischen Beziehung zwischen Ashérah und David.

Die Beziehung zwischen Speer und Hitler in Vous êtes l’amour malheureux du Führer ist der titelgebende „unglückliche Liebe“, eine einzigartige und zentrale Bindung, die Speers Leben prägte und auch nach Hitlers Tod in seinen Memoiren fortlebte. Diese Beziehung, die über konventionelle Kategorien hinausgeht, spiegelt und verstärkt die unkonventionellen, komplexen und oft schmerzhaften Verbindungen, die in den anderen Romanen dargestellt werden. Sie wirft die Frage auf, welche Art von Begehren oder Anziehung selbst unter extremsten Umständen existieren kann und wie solche Beziehungen die Identität formen.

Während der Pessimismus in den früheren Romanen eher als Unterströmung oder in zynischen Bemerkungen von Charakteren präsent ist, wird er in Vous êtes l’amour malheureux du Führer explizit formuliert: „Le pessimisme est la seule sagesse.“ Diese Aussage wird im Kontext der Reflexion über die anhaltende Berühmtheit von Verbrechern und die scheinbare moralische Gleichgültigkeit der Geschichte getroffen und verstärkt eine düstere Weltsicht. Eine solche Weltsicht kommt auch in den anderen Büchern durch die Darstellung von Ausbeutung, Gewalt, menschlicher Niedertracht und dem Kampf ums Überleben zum Ausdruck. Das Gefühl, dass die Bemühungen um Wahrheit oder Moral letztlich vergeblich sein mögen, ist hier besonders stark ausgeprägt.

Formal zeichnet sich Orengos Poetik durch einen intensiven, oft überbordenden Stil aus. Es gibt eine Vorliebe für detailreiche Beschreibungen, oft von Körpern, Orten oder Objekten. Es gibt eine Mischung aus hohem und niedrigem Register, die Einbeziehung von Umgangssprache, Fremdwörtern (oft aus dem Englischen oder Südostasiatischen) und Fachterminologie (Kunst, Architektur, Technik, Geschichte). Die Struktur ist oft fragmentiert, springt zwischen Zeiten, Orten und Figuren. Zitate und Verweise auf Literatur, Kunst, Philosophie und Geschichte sind allgegenwärtig und verbinden die erzählte Welt mit einem breiten kulturellen Archiv.

In Vous êtes l’amour malheureux du Führer werden diese stilistischen Mittel genutzt, um die Komplexität und moralische Brisanz des Themas darzustellen. Die fragmentierte Struktur spiegelt möglicherweise die Schwierigkeit wider, eine kohärente „Wahrheit“ über Speers Leben zu erfassen, während die Reflexionen über den Akt des Schreibens und die Bezüge zu anderen literarischen Werken (Dante, Faust, Dorian Gray) den Roman in einen breiteren Diskurs über Schuld, Erinnerung und Darstellung stellen. Die Sprache selbst wird als ambivalent und potenziell „obszön“ in der Beschreibung von Gräueltaten empfunden, was die Herausforderung, über solch extreme historische Ereignisse zu schreiben, betont.

Jean-Noël Orengos Poetik des historischen Romans ist in seinen fünf Werken konsistent in ihrer Erforschung von Moral, Geschichte, Kunst und der Natur der Erzählung. Alle Romane tauchen in spezifische, oft marginale oder kontroverse historische Räume ein und hinterfragen traditionelle Dichotomien. Die Vermischung von Fiktion und historischen Elementen, oft durch unkonventionelle Erzähler und fragmentierte Strukturen, ist ein wiederkehrendes Merkmal.

Vous êtes l’amour malheureux du Führer dient als Brennpunkt für viele dieser Themen. Indem der Roman eine Figur wie Speer behandelt, die so tief in einer Geschichte extremer Transgression verankert ist und gleichzeitig eine erfolgreiche (Selbst-)Erzählung etabliert hat, intensiviert er die grundlegenden Fragen nach Wahrheit, Schuld, der Macht der Narrative und der Rolle der Kunst in der Geschichte, die bereits in Orengos früheren Werken angelegt waren. Die Auseinandersetzung mit einem „offiziellen“ und universell verurteilten historischen Stoff wie dem Nationalsozialismus, aber aus der Perspektive eines Täters, zwingt den Leser, sich auf einer anderen Ebene mit den moralischen Grauzonen und der „Schlacht der Erzählungen“ auseinanderzusetzen, die Orengo in den weniger kanonisierten Geschichten Pattayas, Indochinas oder der Welt der Drohnen erkundet. Der Pessimismus, der im Speer-Roman explizit wird, scheint eine konsequente, wenn auch extremere Ausprägung der in den anderen Büchern bereits vorhandenen Weltsicht zu sein, die das menschliche Handeln, die Geschichte und die Möglichkeiten von Gerechtigkeit und Wahrheit bereits in den anderen Büchern kritisch betrachtet.

Anmerkungen
  1. Vgl. Christian Freigang, „Vorprägungen von Albert Speers ‚Ruinenwerttheorie‘ in französischen Diskursen“, in: Imitatio – Aemulatio – Superatio: Bildpolitiken in transkultureller Perspektive. Thomas Kirchner zum 65. Geburtstag, hrsg. von Marlen Schneider und Ulrike Kern, Heidelberg 2019, S. 211–21, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.486.c6895.>>>
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Ruinenwerttheorie.>>>
  3. Roman B. Kremer, Autobiographie als Apologie: Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder, Formen der Erinnerung 65, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, vgl. dazu bspw. die Rezension von John Zimmermann.>>>

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