Soziologie als Serienmord: Raphaël Quenard

Ein anderer Reigen

Raphaël Quenards Roman Clamser à Tataouine setzt sich in verstörender Weise mit einer monströsen Serientat und ihrer sozialen Dimension auseinander, die in eine komplexe metanarrative Reflexion über die Macht und Gefahr des Erzählens eingebettet ist. Der namenlose Erzähler, ein „jeune marginal“ und „joyeux sociopathe“, lehnt die Gesellschaft kategorisch ab, da er sie für sein persönliches Scheitern („ratage“) verantwortlich macht. Sein Plan, der unmittelbar auf einen gescheiterten Suizidversuch in Paris im Januar 2024 folgt, ist eine makabere Vergeltungsstrategie: Er beschließt, die Gesellschaft „die Rechnung für seine Niederlage teuer bezahlen“ zu lassen („salement payer l’addition de sa défaite“), indem er sie symbolisch durch die Tötung repräsentativer Figuren aus sechs sozialen Schichten auslöscht. Flammarion schreibt in seiner Ankündigung: „Mit seinem Roman über diesen teuflisch perversen, provokanten und schnippischen Psychopathen nimmt der Autor den Leser mit auf eine makabre Reise, die von schwarzem Humor durchzogen ist.“ Raphaël Quenards Clamser à Tataouine erscheint als ein düsterer, postmoderner Reigen, in dem das erotische Spiel der Klassen, das bei Arthur Schnitzler noch soziale Masken entlarvt, in einen Kreislauf von Hass, Gewalt, moralischer Leere und schwarzem Humor umschlägt.

Parvenu au bas du bâtiment, je n’avais plus qu’une idée en tête : l’addition de ma lâcheté devait être payée. Par moi ou par un tiers, il fallait que quelqu’un expie. Il soufflait dans ma tête comme un vent de revanche. Je sentais bien qu’en joyeux sociopathe, je me devais de mettre la société à contribution. Elle n’avait pas hésité à me chahuter et tout m’exhortait à lui rendre la pareille. J’avais flirté avec la mort et je me voyais tout à coup comme programmé pour la semer. […] Mon plan achève de prendre forme. La société doit s’acquitter de ce mal-être dont je la tiens responsable. Pour que l’anéantissement soit total et que mon action porte, je dois frapper symboliquement. Je vais tuer un représentant de chacune des classes sociales. Je choisirai des femmes, non par virilisme vengeur mais simplement parce que, si ces coups d’éclat doivent être mes derniers et se solder par un enfermement définitif, autant dépenser mes dernières heures auprès de ceux qui ont toujours eu ma préférence. À savoir les femmes. C’est l’histoire d’une misandrie qui faisait qu’une misanthropie prenait l’apparence d’une misogynie.

Als ich unten angekommen war, hatte ich nur noch einen Gedanken im Kopf: Für meine Feigheit musste bezahlt werden. Ob von mir oder von einem Dritten, jemand musste dafür büßen. In meinem Kopf wehte ein Wind der Rache. Ich spürte, dass ich als fröhlicher Soziopath die Gesellschaft zur Verantwortung ziehen musste. Sie hatte nicht gezögert, mich zu schikanieren, und alles drängte mich, ihr das Gleiche anzutun. Ich hatte mit dem Tod geliebäugelt und sah mich plötzlich dazu bestimmt, ihn zu besiegen. […] Mein Plan nimmt Gestalt an. Die Gesellschaft muss für das Unwohlsein büßen, für das ich sie verantwortlich mache. Damit die Vernichtung vollständig ist und meine Tat Wirkung zeigt, muss ich symbolisch zuschlagen. Ich werde einen Vertreter jeder sozialen Schicht töten. Ich werde Frauen wählen, nicht aus rachsüchtigem Machismo, sondern einfach weil, wenn diese spektakulären Taten meine letzten sein und zu einer endgültigen Inhaftierung führen sollen, ich meine letzten Stunden lieber mit denen verbringen möchte, die ich schon immer bevorzugt habe. Nämlich Frauen. Es ist die Geschichte einer Männerfeindlichkeit, die dazu führte, dass eine Menschenfeindlichkeit den Anschein einer Frauenfeindlichkeit annahm.

Dieser Auszug beschreibt den Wendepunkt nach dem abgebrochenen Suizidversuch in Paris und formuliert die zentrale Motivation und Methode der Serientat. Der Erzähler, ein fröhlicher Soziopath, lehnt es ab, die „addition de ma lâcheté“ selbst zu bezahlen. Die Morde sind somit ein Akt der stellvertretenden Rache. Die soziologische Dimension ist hier explizit: Um eine vollständige Vernichtung („anéantissement total“) zu erreichen, muss er „symbolisch schlagen“ und „einen Vertreter jeder sozialen Klasse“ töten. Dies etabliert den „épopée macabre“ als eine geplante soziologische Kritik und Vernichtungsstrategie. Die Opfer werden nicht zufällig, sondern methodisch ausgewählt, um die gesamte gesellschaftliche Struktur abzubilden. Die Auswahl von Frauen wird philosophisch begründet: nicht durch „virilisme vengeur“ (männliche Rache), was seine tief sitzende allgemeine Menschheitsverachtung (Misanthropie) unterstreicht. Die Serientat wird somit als methodische, symbolische und intellektuell begründete Abrechnung mit der „société détestée“ eingeführt, die ihn seiner Meinung nach zum „ratage“ verurteilt hat.

Die Struktur des Romans gliedert sich methodisch in sechs Akte, die jeweils eine soziale Klasse durch ein weibliches Opfer repräsentieren. Der Erzähler erklärt die Wahl der Frauen nicht mit direkter Frauenfeindlichkeit, sondern mit einer „Misandrie, die wie Misanthropie aussieht, aber in Wirklichkeit Misogynie ist“. Die Opfer sind sorgfältig ausgewählt, um die gesamte soziale Hierarchie abzubilden – von der Aristokratie bis zu den marginalisierten Obdachlosen.

Der erste Akt, „L’aristocrate“, richtet sich gegen Marthe, eine Baronesse und Witwe eines „capitaine d’industrie“. Obwohl Marthe mit dem Unterhalt ihres geerbten Schlosses kämpft und die finanziellen Probleme der Reichen beleuchtet werden, symbolisiert sie die Elite, deren Reichtum durch „consanguinité bien réfléchie“ und entre-soi erhalten wird. Der Mord, der in ihrer opulenten Pariser Wohnung vollzogen wird, ist ein unüberlegter, impulsiver Akt: Marthe wird mit einem großen Küchenmesser in den Nacken gestochen und an einer Kommode fixiert. Die Tat dient der Rache an der „Aristokratin, die sich stolz die durch wiederholte Schwangerschaften verursachten Rundungen abtrainiert hat“.

Akt II, „L’ingénieure“ (Hélène), zielt auf die urbane obere Mittelschicht ab. Hélène ist Ingenieurin und lebt mit ihrem Mann, einem Onkologen, in einem scheinbar „sauberen“ bürgerlichen Haushalt. Sie verkörpert die progressiven, teils zwanghaften Lebensstile der Bourgeoisie, unter anderem durch ihren Vegetarismus und ihre „Zéro Déchet“-Philosophie. Der Erzähler nutzt sein Wissen aus dem abgebrochenen Chemiestudium, um Hélène heimtückisch mit Cyanid in ihrem Mandelmilchgetränk zu vergiften. Dieser Mord ist ein intellektueller Triumph, da der Verdacht erfolgreich auf das Au-pair-Mädchen Katrin gelenkt wird. Die Tatsache, dass der Erzähler „aucun intérêt dans cette exécution“ hat, macht ihn nach seiner eigenen (und der des Arztes Franck zitierten) Logik „insaisissable“.

Im Akt III trifft er auf „La femme de footballeur“ (Cindy), die die „bourgeoise inespérée“ repräsentiert – die Neureichen, die durch sozialen Aufstieg (Verlobung mit dem Fußballspieler Nestor Gonzague) schnellen Reichtum erlangt haben. Cindy gesteht dem Erzähler, dass die materielle „Opulenz“ sie schwindelig mache und sie das „Vakuum, das sie umgibt“, nur schwer füllen könne. Der Erzähler, der sich als Host beim PSG eingeschlichen hat, nutzt eine eskalierende Auseinandersetzung zwischen Cindy und Nestor, um Cindy von einem Balkon im dritten Stock zu stoßen. Der Mord wird als Suizid abgetan und der Erzähler freut sich, dass sein „verhängnisvolles Epos“ („épopée funeste“) somit „zur Geburt desjenigen, der die Köpfe von Millionen von Franzosen verdrehen wird“ („à donner naissance à celui qui fera chavirer les têtes de millions de Français“) beiträgt (Nestor Gonzague, der in der Folge zum Star wird).

Akt IV zielt auf „La jeune active“ (Louise) aus der „classe moyenne“ ab. Louise, eine „Novizin in der Organisation von Abenden“, deren Mann im 13. Régiment de Dragons Parachutistes dient, repräsentiert ein Haushaltseinkommen von etwa 3.500 Euro. Der Erzähler trifft sie in einem Kochworkshop. Ihre Leidenschaft für Wanderungen in den französischen Alpen, motiviert durch ein „natural deficit disorder“, wird ihm zum Verhängnis. Er inszeniert in der Chartreuse einen Unfall auf einem Grat: Er lässt seinen Fuß auf einem Stein abrutschen, stößt Louise und zieht seinen Arm weg, als sie sich festhalten will, um den Eindruck der Unfreiwilligkeit zu erwecken. Die Tat ist ein Meisterstück der Inszenierung, das ihm eine „relaxe instantanée“ von der Gendarmerie einbringt, da die Zeugen seine „irréprochable prestation“ als Schockzustand interpretieren. Nach vier Opfern verspürt der Erzähler ein „berauschendes Gefühl, an Professionalität zu gewinnen“ („sentiment grisant de gagner en professionnalisme“).

Im fünften Akt trifft er „La caissière“ (Jessica), die die „classe populaire“ repräsentiert. Jessica arbeitet für den Mindestlohn und trägt die finanzielle Last sowie die Sorgen um ihren kriminellen Bruder Dewi. Für den Erzähler ist sie eine Figur der Resignation. Er beschließt, sie aus „Pitié“ zu befreien. Doch die Ausführung misslingt: Er tötet sie in ihrer Küche mit „vingt-trois coups de surin“ (Wurstmesser). Die Impulsivität und Brutalität dieses Aktes betrachtet er als „merdé“ und zwingt ihn zur Eile und zur Beschleunigung seines Plans.

Akt VI vervollständigt die Vernichtungsstrategie mit „La SDF“ (Shakira), einer marginalisierten, crackabhängigen Obdachlosen, die er durch eine List in einem verlassenen Wohnwagen in der „Rase Campagne“ fesselt. Shakira repräsentiert die unterste Schicht, die „Marginaux“, um die sich „personne ne s’intéresse“. Die Grausamkeit dieser Tat besteht darin, sie „mourir de faim“ zu lassen, um ihren „dernier souffle“ festzuhalten. Nach sechs vollendeten Morden fühlt sich der Erzähler befreit und beschließt, nach Tataouine zu verschwinden, um dort „Clamser“ zu werden.

Die serielle Mordtat im Roman Clamser à Tataouine ist nicht nur eine makabere Rachefantasie des Erzählers, sondern dient auch als soziologisch strukturierter Klassenreigen, der die These untermauert, dass die gesamte Gesellschaft – und jede ihrer Schichten – von tiefgreifender Entfremdung geprägt ist. Der Erzähler, der sich selbst als „jeune marginal“ und „joyeux sociopathe“ beschreibt, macht die Gesellschaft für sein Scheitern verantwortlich. Dieser methodische Vernichtungsakt beleuchtet die spezifischen Formen der Entfremdung in den verschiedenen sozialen Dimensionen. Die Aristokratin Marthe und die Oberschicht-Bürgerliche Hélène sind der Entfremdung durch Selbstinszenierung unterworfen. Hélène, eine Ingenieurin, lebt in einer urbanen bürgerlichen Welt. Ihre diätetischen und ökologischen Praktiken (Vegetarismus, Zero Waste, gluten- und laktosefrei) erscheinen zwar als Ausdruck von Bewusstsein, werden vom Erzähler jedoch als „Spleens“ (Spleen) und als „stratagème“ der Industrie entlarvt, um „toujours plus d’argent à des consommateurs craintifs“ (ängstliche Verbraucher) zu „soutirer“. Cindy, die „bourgeoise inespérée“ (Neureiche) und Partnerin eines Fußballspielers, erfährt eine Entfremdung durch materiellen Überfluss: Ihr schneller Aufstieg befreit sie zwar von materiellen Zwängen, stürzt sie aber in eine „opulence matérielle“, die ihr ihre „inutilité“ und die Leere – „le vide qui l’entoure“ – schmerzhaft bewusst macht. Selbst die Mittelschicht (Louise) versucht, dieser Entfremdung durch Selbstoptimierung und die Flucht in die Natur (Wandern) zu entkommen. Dabei stützt sie sich auf die „Étude Américaine“ über das Natural Deficit Disorder als ultimatives Autoritätsargument.

Im Gegensatz dazu erfahren die Volksschicht und die Marginalisierten eine tief verwurzelte Entfremdung durch existenzielle Not. Jessica, die als Kassiererin den Mindestlohn verdient, muss die „harte“ menschliche Existenz tragen und die finanzielle Last ihres kriminellen Bruders Dewi verwalten. Trotz ihrer „alarmante maigreur“ und ihres „soucieux“ Blicks interpretiert der Erzähler Jessica als Figur der „résignation“ und der „Asservissement“ (Knechtschaft), was ihre einzige Waffe gegen das Schicksal ist. Die unterste Schicht, repräsentiert durch die obdachlose Shakira (sans-abri), erlebt die extremste Form der Entfremdung: die gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Der Erzähler ist sich bewusst, dass sich niemand für die Marginalisierten interessiert, was die Wahrscheinlichkeit seiner Entdeckung minimiert. Er nutzt diesen Umstand für seinen grausamen Plan, Shakira langsam verhungern zu lassen. Die Beobachtungen von Shakiras Freundin Warda formulieren zudem eine direkte Kritik an der kapitalistischen Entfremdung, indem sie das gängige Mantra „le temps, c’est de l’argent“ umkehren. Die wahre Formel sei „l’argent, c’est du temps“. Nur wer „blindé“ (reich) oder „rincé“ (ausgespült/arm) ist, besitzt Zeit, während alle anderen zu Sklaven des Systems werden. Die Morde an diesen symbolischen Repräsentanten sind somit der „versuchte totale Auslöschung“ der Gesellschaft, um ihr stellvertretend die Konsequenzen für das eigene „Ratage“ und die selbst empfundene soziale Niederlage zu präsentieren.

Metaroman über die Serientat

Je place ainsi un nombre d’Avogadro sur lit de système international d’unités, je saupoudre d’interactions électrochimiques, j’arrose le tout d’une constante de Faraday et je termine en beauté avec la notion de charge élémentaire. Le tour est joué. Je n’en sais guère plus mais ça suffit. Le comble, c’est que la mère m’explique être ingénieure en je-ne-sais-quoi. […] tu te fais vite berner. Je m’enquiers néanmoins de la profession du mari et tremble d’émotion en apprenant que Franck est médecin. Oncologue à l’hôpital Necker. Dans le mille, la classe sociale recherchée. […] Pas du grand art mais suffisamment de jargon pour donner la preuve de mon aisance à traiter de ces matières. Le jargon rassure, tout le monde le sait. Le jargon impressionne. Entrer dans le détail d’un sujet, voilà la meilleure façon d’éviter d’en parler. Pas même besoin de creuser, il suffît de donner l’illusion qu’y entrer ne nous poserait aucun problème. Le triomphe de l’esbroufe.

Ich setze also eine Avogadro-Zahl auf das Bett eines internationalen Einheitensystems, streue elektrochemische Wechselwirkungen darüber, übergieße das Ganze mit einer Faraday-Konstante und schließe mit dem Begriff der Elementarladung ab. Das war’s. Ich weiß nicht viel mehr, aber es reicht. Der Gipfel ist, dass die Mutter mir erklärt, dass sie eine Ingenieurin für was auch immer ist. […] Du fällst schnell darauf rein. Trotzdem erkundige ich mich nach dem Beruf des Ehemannes und zittere vor Aufregung, als ich erfahre, dass Franck Arzt ist. Onkologe im Krankenhaus Necker. Volltreffer, die gesuchte soziale Klasse. […] Keine große Kunst, aber genug Jargon, um zu beweisen, dass ich mit diesen Themen umgehen kann. Jargon beruhigt, das weiß jeder. Jargon macht Eindruck. Der beste Weg, um nicht über ein Thema sprechen zu müssen, ist es, ins Detail zu gehen. Man muss nicht einmal nachbohren, sondern nur den Anschein erwecken, dass es kein Problem wäre, sich damit zu beschäftigen. Der Triumph der Angeberei.

Diese Passage thematisiert die rhetorischen Strategien des Erzählers im Akt II (L’ingénieure, Hélène) und veranschaulicht seine Fähigkeit zur Manipulation und Selbstinszenierung. Um sich in Hélènes bürgerlichem Milieu als Tutor zu etablieren, behauptet der Erzähler, ein Ingenieurdiplom zu besitzen, obwohl er sein Studium nach der Licence 3 de Chimie abgebrochen hat. Die Passage legt offen, wie der Erzähler Fachjargon einsetzt – Avogadro-Konstante, Faraday-Konstante, elektrochemische Interaktionen – um seine Leichtigkeit („aisance“) in der Materie zu beweisen. Die metanarrative Einsicht ist hier entscheidend: „Le jargon rassure, tout le monde le sait. Le jargon impressionne“. Jargon dient nicht der Kommunikation, sondern der Einschüchterung und als Triumph der Angeberei („Triomphe de l’esbroufe“). Die Komplexität des Fachwissens wird nur vorgetäuscht, um die Gesprächspartner zu täuschen und sie davon abzuhalten, das Thema zu vertiefen: „In die Details eines Themas zu gehen, ist der beste Weg, um nicht darüber sprechen zu müssen.“ („Entrer dans le détail d’un sujet, voilà la meilleure façon d’éviter d’en parler.“) Dieser Betrugsakt im Umgang mit Hélène ist exemplarisch für die Methode des Erzählers, eine fassadenhaften kulturellen Hintergrund („un bagage culturel de façade“) zu verwenden, um sich in die verschiedenen sozialen Schichten einzuschleichen und seine Opfer, die „classe sociale recherchée“, zu täuschen. Dies zeigt, dass die Tat nicht nur brutal, sondern auch ein Akt der intellektuellen Überlegenheit des „Psychopathen diaboliquement pervers“ ist.

Die gesamte Konstruktion des Romans ist durchdrungen von einer metanarrativen Ebene, die die Serientat als literarische Produktion und den Erzähler als zwanghaften Chronisten seiner eigenen Monstrosität darstellt. Die Handlung wird retrospektiv im November 2024 in Tataouine erzählt, wo der Erzähler als „Parasit“ auf Kosten der 82-jährigen Liliane lebt. Er schreibt seine Taten als „Mémoires“ nieder, die er in die „draps soyeux de la fiction“ hüllt, um sich vor Entdeckung zu schützen.

Das Schreiben ist für ihn nicht nur eine Rechtfertigung, sondern zur Sucht und ein „satané besoin d’exister“. Seine Morde sind „de simples bavures bénéfiques à ma production littéraire“ („einfache Schnitzer, die meiner literarischen Produktion förderlich sind“), die ihm den Weg zu einer „carrière d’auteur star“ ebnen sollen. Er entwirft die Vision, ein gefeierter Autor zu werden, dessen Werk als „letzte Bastion der Freiheit“ („dernier bastion de la liberté“) und „letztes Bollwerk gegen die Ausbreitung von Zensur jeglicher Art und Barbarei“ („dernier rempart contre la prolifération des censures de tous bords et de la barbarie“) gefeiert wird.

Seine metanarrativen Techniken umfassen die Manipulation durch Sprache und Zahlen. Er reflektiert offen über den Einsatz von „Jargon“, der beruhigt und beeindruckt, sowie über die rhetorische Macht von Statistiken („Les chiffres, eux, ne produisent qu’un seul effet. Ils ferment des bouches“). Er inszeniert sich als intellektuell überlegen, indem er die „Étude Américaine“ als „argument d’autorité ultime“ anführt, um seine Argumente zu untermauern – selbst wenn er diese Fakten erfindet. Sein größter Fehler liegt jedoch in seiner „discutable dextérité“ und seinem Übermut, der ihn veranlasst, die „détails bien trop précis“ seiner Taten in das Manuskript zu integrieren – die schiere Besessenheit, seine „chaotische Seele“ in Worte zu fassen, verrät ihn.

Im Interview äußert Raphaël Quenard detailliert seine Intentionen und die philosophische Grundlage seines Buchprojekts Clamser à Tataouine. Er erklärt, dass die primäre Absicht des Buches nicht in der Beleuchtung der Banalität des Bösen liegt, sondern in seiner Faszination für jene Wesen, die sich Gott gleichsetzen, indem sie die Todesstunde ihrer Nächsten bestimmen. Neben dieser thematischen Konzentration auf die „substitution au bon Dieu“ war die Struktur des Buches als eine „Reise durch die sozialen Schichten“ („voyage dans les classes sociales“) konzipiert. Der Autor sieht den Hauptgegenstand („sujet majeur de ce livre“) darin, „wie wir alle, jeden Tag im Banalen, unseren Platz finden und dafür kämpfen“. Dieser Kampf des Protagonisten manifestiert sich in einem unbändigen Streben nach Freiheit: Der Mörder sucht einen „espace de liberté“ (Raum der Freiheit), in dem er „frei und unkontrollierbar“ sein will, selbst wenn er dafür „gegen die Moral seiner Zeit“ handeln muss. Der Autor bezeichnet dies als die „Schelmerei des Poeten“ („l’espiéglerie du poète“).

In Bezug auf die künstlerische und moralische Einordnung legt Quenard Wert auf die Nuancierung der Charaktere, die „Zonen des Schattens“ („zones d’ondes“) besitzen und die „Komplexität einer menschlichen Seele“ widerspiegeln sollen. Literatur müsse seiner Meinung nach „diese Dunkelheiten“ („ces obscurités-là“) erforschen. Obwohl der Roman Themen wie Feminizide anspricht, betont Quenard, dass das Buch „nicht politisch“ sei. Es war nicht seine Absicht, „etwas zu konstruieren, das einem moralisierenden Diskurs ähnelt“, sondern die Wahrheit zu zeigen, dass auch in „abscheulichen Wesen“ („êtres abominables“) „Blitze des Lichts“ („éclairs de lumière“) existieren können. Er betont die strikte Trennung zwischen Autor und Charakter, da die problematischen Äußerungen und Reflexionen im Text seinen Figuren und nicht ihm selbst zugeschrieben werden. Quenard sieht die Schöpfung als „allesfressend“ („omnivore“) und bezeichnet Künstler als „Vampire“, die das Leben und die Erfahrungen der Menschen, denen sie begegnen, für ihr Werk aussaugen. Er strebt danach, dass sein Werk „indigest“ (unverdaulich) bleibt, im Kontrast zu denen, die die Welt zu verschlingen versuchen. Die Charaktere, einschließlich des ersten Opfers Marthe, sind dabei von „Menschen, denen das Leben und die magische Existenz dich zu begegnen gibt“, inspiriert.

Die Interpretation des Romanschlusses

Der Romanschluss liefert eine tragisch-ironische Vollendung der metanarrativen Falle. Trotz seiner tiefen Überzeugung, die „parade ultime“ gefunden und seine Taten durch Fiktion geschützt zu haben, wird der Erzähler durch die immanente Gerechtigkeit der literarischen Welt und die Rache seiner Opfer eingeholt.

Die 82-jährige Liliane, die er als senile, leicht zu manipulierende Wirtin betrachtet, ist nicht nur seine Leserin, sondern erkennt auch die „inhabituelle intensité“ des Manuskripts und entschlüsselt die Wahrheit hinter der Fiktion. Liliane ist die Tante von Hortense, der Tochter von Marthe, seinem ersten Opfer. Hortense, die in der Erzählung als Albane – eine renommierte Schauspielerin und Regisseurin – auftritt, inszeniert eine tödliche Romanze. Der Erzähler, der glaubt, sich zum ersten Mal im Leben zu verlieben, wird durch sein „satanisches Bedürfnis zu beweisen, dieses satanisches Bedürfnis zu existieren“ („satané besoin de prouver, ce satané besoin d’exister“) überlistet. Dies bringt ihn dazu, Albane/Hortense sein Manuskript lesen zu lassen.

Die Hinrichtung des Erzählers im Schlaf ist die perfekte Spiegelung und Vollendung seines ersten Mordes an Marthe: Anstelle des Küchenmessers und der Kommode wird ihm Lilianes angespitzter Gehstock in den Nacken gestoßen und er wird an das „Matelas“ genagelt. Hortense wird zum „bewaffneten Arm der immanenten Gerechtigkeit“ („bras armé de la justice immanente“), die sich im Namen ihrer Mutter Marthe und aller anderen Opfer rächt.

Die ultimative Ironie liegt in der direkten Bezugnahme auf das anfängliche Pascal-Zitat: „Das ganze Unglück der Menschen kommt von einer einzigen Sache, nämlich dass sie nicht wissen, wie man in Ruhe in einem Zimmer verweilt.“ („Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos, en une chambre.“) Liliane hatte ihm in Tataouine die sprichwörtliche „chambre sur un plateau“ und die Möglichkeit zur Ruhe und Sicherheit geboten. Doch der Erzähler konnte seinem „verdammten Bedürfnis, rauszugehen, mein Leben zu erzählen“ („satané besoin de sortir, de raconter ma vie“) und dem Zwang zur Mitteilung nicht widerstehen. Sein „banc fétiche“, der Ort seiner literarischen Inspiration, wurde zum Ort seiner Ergreifung durch Hortense/Albane. Der Erzähler, der glaubte, durch die Fiktionalisierung seiner monströsen Taten Unsterblichkeit zu erlangen, wird durch die unentrinnbare Wahrheit seiner eigenen Erzählung getötet. Sein Tod ist somit das logische Ende einer Existenz, die unfähig war, Ruhe anzunehmen, und die sich stattdessen in Selbstinszenierung und der Erzählung der eigenen Verbrechen verlor.

Im Vergleich mit Arthur Schnitzlers Reigen lässt sich Raphaël Quenards Clamser à Tataouine als eine radikal zeitgenössische und nihilistische Variante des gleichen Gesellschaftsexperiments lesen: Beide Werke zeichnen eine Reihung von Begegnungen, in denen Sexualität, Macht und soziale Hierarchie untrennbar verschränkt sind. Während Schnitzler im Wien der Jahrhundertwende die Mechanik der Begierde als soziale Grammatik entlarvt – ein Tanz der Klassen, der Körper und der Konventionen –, übersetzt Quenard dieses Reigenprinzip in eine gewaltsame Parodie: sein Serienmörder bewegt sich durch die Klassen der Gegenwart, nicht um sie erotisch, sondern um sie physisch zu „durchdringen“ und zu zerstören. Die Struktur der Wiederholung, die bei Schnitzler den Kreislauf der Lust und Heuchelei offenlegt, wird bei Quenard zum Kreislauf des Hasses und der sozialen Rache. Wo Schnitzlers Figuren an den Grenzen der Moral scheitern, scheitert Quenards Erzähler an der Unmöglichkeit von Empathie. Clamser à Tataouine erscheint so als ein „Reigen de la mort“, ein Spiegel der postmodernen Entleerung des Begehrens, in dem die Körper nicht mehr Träger von Sehnsucht, sondern Schauplätze von Vernichtung sind.


Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.