Inhalt
Marc Weitzmann, La part sauvage: le monde de Philip Roth et le chaos américain. Retour sur vingt ans d’amitié. Grasset, 2025.
Philip Roth und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie
Marc Weitzmanns La part sauvage ist eine Hommage an den verstorbenen Schriftsteller Philip Roth; es ist aber auch eine literarische Untersuchung, die das Werk, das Leben und die Freundschaft zu Roth nutzt, um die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie und den Wandel der literarischen Kultur im Angesicht des Chaos zu analysieren.
Das zentrale Anliegen des Buches ist es, die Vereinigten Staaten so darzustellen, wie sie sind, im Kontrast zu dem, was sie hätten sein können. Roths Tod im Jahr 2018 markiert für Weitzmann das Ende einer Ära – das Ende einer Welt, die der Gewalt, dem Populismus und dem wieder aufkommenden Antisemitismus gewichen ist. Roths Werk diente ihm in diesen turbulenten zwanzig Jahren (beginnend 1999) als „geistige Zuflucht und Kompass“. Weitzmann möchte insbesondere die anhaltende Aktualität („news that stays news“, wie er Ezra Pound zitiert) von Roths Romanen belegen, obwohl die heutige Welt – geprägt von „Woke“-Ideologie, Funktionsanalphabetismus der Studenten, technologischer Beschleunigung und Synchronizität – die historische und soziologische Grundlage vieler von Roths Themen (wie etwa die Assimilation der jüdischen Mittelschicht) nicht mehr verstehen kann.
Der Autor beleuchtet die „paradoxe und posthume“ Bedeutung von Roths Werk, welches die USA deutlicher gesehen hat als viele andere. Er zeigt, dass Roths Genialität in der Fähigkeit lag, hinter kollektiven Träumen und Diskursen die Grenzen und Ambiguitäten der Menschen aufzudecken. Das Buch dient auch dazu, die Geschichte einer Falle zu erzählen, in die Roth am Ende seines Lebens tappte: dem vergeblichen Versuch, die Kontrolle über seine eigene literarische „Wahrheit“ durch eine autorisierte Biografie zu behalten, nur um von der „Unvorhersehbarkeit“ (Imprévu) besiegt zu werden.
Der Titel La part sauvage (Der wilde Teil) liefert eine zentrale Metapher, die Philip Roths literarische Persona und sein Schaffen sowie den Zustand der amerikanischen Gesellschaft beleuchtet. Er verweist auf Roths Identität als der „ultimative einsame und wilde Autor“ („ultime écrivain solitaire et sauvage“) und verkörpert die ungezähmten, chaotischen und exzessiven Tendenzen seiner Romanfiguren – wie schäbige Provokation („provocation canaille“) und unstillbaren Appetit („appétit incessant“) –, wobei sein wildester Teil („sa part la plus sauvage“), der in „l’Amérique réelle et non moins sauvage“ verborgen lag, als geheimer Motor seines Schreibens diente. Gleichzeitig symbolisiert der Titel die Nemesis – jene unkontrollierbare Kraft des Zufalls und der Dummheit („du hasard et la stupidité“), die selbst die stärksten Individuen (wie Coleman Silk) durch die unerklärliche Vernichtung („inexplicable destruction“) der Existenz heimsucht. Im weiteren Sinne, wie der Untertitel „Le monde de Philip Roth et le chaos américain“ verdeutlicht, steht die „part sauvage“ für die „sauvagerie américaine“ und das globale Chaos, das Roths Welt prägte, gekennzeichnet durch den Aufstieg von Hass und Populismus.
Zwischen Essay, Biographie und Werkinterpretation
Weitzmanns Buch zeichnet sich durch seine hybride Form aus, die nahtlos zwischen verschiedenen Genres wechselt.
Memoiren und Freundschaftsbericht
Das Werk ist stark persönlich gefärbt und schildert Weitzmanns eigene Lebenskrise und seinen Kampf um die „Flucht“ aus den französischen Zuständen. Roths Rolle als Mentor und Freund („une relation d’amitié affectueuse“) ist zentral. Weitzmann rekonstruiert ihre Begegnungen, beginnend mit einem Interview 1999 bis hin zu bi-wöchentlichen Abendessen im Russian Samovar in New York. Er beschreibt, wie Roth ihn unterstützte, etwa indem er ihm eine Residency bei der McDowell Colony empfahl und ihm später half, einen amerikanischen Agenten für sein Buch über den Antisemitismus in Frankreich zu finden. Diese intimen Anekdoten, wie das Lesen von Roths Manuskripten oder die Diskussionen über Roths späte Romanprojekte, verleihen der Analyse unmittelbare Authentizität.
Werkinterpretation und literarische Kritik
Die Interpretation von Roths Romanen bildet das Rückgrat der Erzählung. Weitzmann nutzt Roths Werk als „Brücke“ zu den großen existentiellen und politischen Fragen. Er diskutiert The Plot Against America (Le Complot contre l’Amérique) als Uchronie und Metapher, die von Lesern unterschiedlich interpretiert wurde (z.B. als Kritik an der Bush-Regierung in den USA vs. Verleugnung in Frankreich). Er analysiert The Human Stain (La Tache) als eine Auseinandersetzung mit „Nemesis“ und der „Tyrannei der Kontingenz“, wobei er Roths Ablehnung jeglicher schicksalhafter Schuldzuweisung (wie der Hybris der griechischen Tragödie) hervorhebt. Er beleuchtet den Zuckerman-Zyklus (insbesondere The Ghostwriter und The Counterlife) als Roths fortlaufende Auseinandersetzung mit der Frage der Assimilation, Identität und der „multiplicité du moi“ (Vielfalt des Selbst). Er interpretiert schließlich Roths gesamtes Schaffen als einen „Priesterdienst“ (sacerdoce) und eine „Ästhetik der Spannung“.
Essay und soziopolitische Analyse
Weitzmann verknüpft die literarischen Themen Roths mit zeitgenössischen Entwicklungen. Er beschreibt die Entstehung des „amerikanischen Chaos“ nach 9/11 und dem Irakkrieg, die Krise der Printmedien und den Wandel von der „Herstellung der Zustimmung“ (Fabrication du consentement) zur „Herstellung der Wut“ (Fabrication de la rage) im digitalen Zeitalter. Er untersucht die „meshuga“ (verrückte, burleske Besessenheit) und die „wilde Seite“ der Existenz, die Roths Kunst antrieb.
Philip Roths assimilierte Jüdischkeit
Weitzmann beleuchtet Roths amerikanisch-jüdische Identität als eine komplexe Mischung aus Assimilationsbestreben, historischem Bewusstsein und literarischer Freiheit, die sich stark von der europäischen und der israelischen Erfahrung unterscheidet. Weitzmann beschreibt Roths Jüdischkeit als historisiert, nicht mehr religiös und weitgehend assimiliert, aber mit einer „Energie der Nicht-Domestizierung“ ausgestattet. Sie wird als weniger feierlich und weniger morbid-ausweichend („moins solennelle, moins morbidement élusive“) empfunden, als die Jüdischkeit, die Weitzmann in Frankreich erlebt hat. Sie ist weniger fremd und intensiv verrückt („moins étrange et intensément folle“), als die, die er in Israel erfahren hat. Sie war nicht gefangen zwischen der Verpflichtung zum Vergessen und der moralischen Verpflichtung zur übermäßigen Erinnerung (wie in Frankreich) oder der Geopolitik (wie in Israel), sondern hatte die Energie der Nicht-Domestizierung bewahrt.
Weitzmann glaubt, dass Roths Jüdischkeit der Idee des europäischen Judentums am nächsten kam, so wie sie sich hätte weiterentwickeln können, wenn sie nicht durch Europa vernichtet worden wäre, als Europa „seiner selbst müde wurde“ zwischen 1933 und 1945. Der Ort der „Normalisierung“ der Juden war Amerika, vielleicht sogar mehr als Israel.
Une judéité historicisée, et non plus religieuse, assimilée, oui, mais d’une assimilation qui aurait préservé l’énergie de la non-domestication, pour ainsi dire. Agressive, vivante, aussi proche que possible de l’idée que je pouvais me faire du monde juif d’Europe, si ce monde avait pu poursuivre sa métamorphose plutôt que d’être anéanti par l’Europe, quand l’Europe s’est fatiguée d’elle-même, entre 1933 et 1945. Le décor du Russian Samovar tombait bien sûr à point nommé pour renforcer cette perception – j’allais écrire cette résurrection.
Eine historisierte Jüdischkeit, nicht mehr religiös, assimiliert zwar, aber durch eine Assimilation, die sozusagen die Energie der Nicht-Domestizierung bewahrt hätte. Aggressiv, lebendig, so nah wie möglich an der Vorstellung, die ich mir von der jüdischen Welt Europas machen konnte, wenn diese Welt ihre Verwandlung hätte fortsetzen können, anstatt von Europa vernichtet zu werden, als Europa zwischen 1933 und 1945 seiner selbst überdrüssig wurde. Das Dekor des Russian Samovar kam natürlich gerade recht, um diese Wahrnehmung zu verstärken – ich wollte schon „diese Wiederauferstehung” schreiben.
Diese Passage fasst Weitzmanns Idealbild von Roths amerikanisch-jüdischer Identität zusammen. Sie ist das Ergebnis einer Assimilierung, die ihre ursprüngliche, ungezähmte Energie bewahrt hat. Roth repräsentiert die Möglichkeit einer jüdischen Welt, die in Europa durch den Holocaust zerstört wurde, aber in Amerika ihre Metamorphose fortsetzen konnte. Die amerikanische Kultur, so die Implikation, bot den Juden ein Umfeld der Wiederauferstehung („Resurrection“) im Gegensatz zur Vernichtung in Europa.
Der assimilierte Erfolg der Mittelschicht
Roths Werk ist tief in der Soziologie und Geschichte der jüdisch-amerikanischen Mittelschicht verwurzelt. Diese Klasse war hin- und hergerissen zwischen ihrem neuen Wohlstand, der sie existenziell unbedeutend machte, und dem Bewusstsein, das tragische Erbe der durch Hitler zerstörten europäischen Diaspora-Juden zu tragen, ohne etwas damit anfangen zu können. Die Eltern von Roths Generation drängten ihre Kinder entschieden zur Integration und zum Erfolg. Sie waren „einstimmig entschlossen“, dass die Kinder Armut, Unwissenheit, soziale Benachteiligung und vor allem Bedeutungslosigkeit vermeiden sollten. Die jungen Juden dieser Generation sollten das Gegenteil eines Opfers sein – ein „Mensch“: verlässlich, verantwortlich, energisch und unternehmungslustig.
Kontrast zur europäischen Geschichte und Identität
Roths Werk bezieht seine Spannung aus der Kollision von historischer Bedeutungslosigkeit und geschichtlicher Tragödie. Weitzmann betont Roths scharfe Wahrnehmung, dass die Quelle des jüdisch-europäischen Erbes nicht mehr zugänglich war, was wiederum seine „Amerikanität“ nährte. In Roths Augen bedeutete das amerikanische Privileg, Jude zu sein, die Chance auf eine „enthusiastische Sicherheit“ und die Möglichkeit der „ironischen und raffinierten Desassimilation“ („désassimilation ironique et sophistiquée“). Die amerikanische Gesellschaft bot den Juden eine beispiellose Akzeptanz. Die Rolle, die jüdische Einwanderersöhne bei der Gestaltung der amerikanischen Populärkultur (Musik, Film, Theater) spielten, war zentral und die Akzeptanz in der Gesellschaft war beispiellos in der Geschichte. Roths Werke spiegeln dieses Privileg und dessen Fragilität wider. Er war sich des Privilegs, im 20. Jahrhundert Amerikaner und insbesondere Jude zu sein, sehr bewusst. Er schreibt über dieses Glück, indem er zeigt, wie schnell die Dinge anders laufen könnten.
Die Yeshiva-Kontroverse als prägendes Ereignis
Prétendre qu’il y a des sujets sur lesquels il ne fallait ni écrire ni attirer l’attention du public parce qu’ils risqueraient d’être mal compris par des esprits faibles ou mal intentionnés revenait à mettre les malveillants et les esprits faibles en position de déterminer ce qu’il est licite ou non d’exprimer, avait-il écrit. Dans ces conditions, on ne combat pas l’antisémitisme, on s’y soumet ; on se soumet à un rétrécissement de la conscience, parce que être conscient et parler franc, c’est trop risqué.
Zu behaupten, dass es Themen gebe, über die man weder schreiben noch die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen dürfe, weil sie von schwachen oder böswilligen Geistern missverstanden werden könnten, käme einer Machtübergabe an die Böswilligen und Schwachen gleich, die dann bestimmen würden, was man sagen dürfe und was nicht, schrieb er. Unter diesen Umständen bekämpft man Antisemitismus nicht, sondern unterwirft sich ihm; man unterwirft sich einer Verengung des Bewusstseins, weil es zu riskant ist, bewusst zu sein und offen zu sprechen.
Dieser Auszug stammt aus Roths vorbereiteten Bemerkungen zum berüchtigten Loyalitätskonflikt in der Debatte an der Yeshiva University 1962. Er verurteilt die Forderung jüdischer Kreise, bestimmte Themen (insbesondere die Fehler und Konflikte der Gemeinschaft) aus Angst vor antisemitischer Fehlinterpretation auszuklammern. Für Roth war diese Selbstzensur eine Unterwerfung unter den Antisemitismus („on s’y soumet“) und führte zu einer Verengung des Bewusstseins („un rétrécissement de la conscience“). Die Yeshiva-Kontroverse wurde so zum Gründungsmythos für Roths lebenslange künstlerische Dienstbarkeit und seinen Kampf für radikale individuelle Freiheit.
Ein zentrales Ereignis, das Roths Verhältnis zu seiner Jüdischkeit prägte, war die Diskussion an der Yeshiva University im Jahr 1962 zum Thema „Loyalitätskonflikt bei Schriftstellern aus Minderheiten“. Nach der Veröffentlichung seiner Kurzgeschichtensammlung Goodbye, Columbus, die sich kritisch mit der jüdischen Mittelschicht auseinandersetzte, wurde Roth von einigen jüdischen Kreisen scharf attackiert. Ein Professor fragte öffentlich, wann man diesen Mann zum Schweigen bringen würde. Roth sah dies als einen Versuch, seine Redefreiheit zu untergraben. Er argumentierte, dass die Behauptung, bestimmte Themen (wie jüdische Konflikte oder Fehler) nicht ansprechen zu dürfen, weil sie von „schwachen oder schlechtmeinenden Geistern“ missverstanden werden könnten, eine Unterwerfung unter den Antisemitismus und eine „Einschränkung des Bewusstseins“ darstelle. Die traumatische Erfahrung dieser öffentlichen Anfeindung führte dazu, dass Roth die Hysterie der Belagerten („hystérie des assiégés“), die von Angst durchdrungenen Ängste seiner jüdischen Gemeinschaft, genauer untersuchte.
Die literarische Auseinandersetzung und die „Meshuga“
Roths Werk, insbesondere der Zuckerman-Zyklus, wurde zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Er nutzt seine Fiktion, um die Unvereinbarkeit von Freiheit und Treue zur Gemeinschaft, die Tyrannei des Ideals und die Paradoxien der Assimilation zu erforschen. Seine frühen Romane wie Portnoy nutzten vulgäre Komödie, um die moralischen Gewissen (wie die von Rabbi Rackman oder Theodore Lewis) anzugreifen, die seiner Meinung nach die jüdische Erfahrung auf unschädliche Stereotypen reduzierten. Das Konzept der „Meshuga“ (im Jiddischen: verrückt, unschuldig verrückt, der deutsche Jiddismus lautet „meschugge“) bezeichnet in der jüdisch-amerikanischen Literatur eine Art burlesker, dunkler Raserei, eine drängende Notwendigkeit, die Dinge brutal auszusprechen. Roths Kunst, insbesondere in Sabbath’s Theater, wird als extremer Höhepunkt dieser „Meshuga“ gesehen.
Weitzmann stellt Roths amerikanische Jüdischkeit als eine einzigartige historische Chance dar, die es dem Schriftsteller ermöglichte, sich von den europäischen Zwängen zu befreien und eine individuelle, kämpferische Haltung einzunehmen, die jedoch stets das tragische Bewusstsein der Fragilität dieser Freiheit in sich trug.
Dans le livre, Roth-le-narrateur est écrivain parce qu’il a foi dans les capacités du langage à rendre compte de la réalité, Appelfeld est écrivain parce qu’il en doute. Le premier est convaincu que les histoires doivent être vraisemblables pour être crues, mais sitôt confronté à l’incroyable et l’irrationnel de la vraie vie… il perd toute confiance dans les mots… Le second, c’est le contraire : Appelfeld a très tôt et très durement appris qu’une fois les normes et les conventions humaines explosées, la vraisemblance n’est plus de mise ; dès lors, la facilité avec laquelle les mots deviennent des faussaires pour habiller la vraie vie est stupéfiante…
In dem Buch ist Roth, der Erzähler, Schriftsteller, weil er an die Fähigkeit der Sprache glaubt, die Realität wiederzugeben, während Appelfeld Schriftsteller ist, weil er daran zweifelt. Der erste ist überzeugt, dass Geschichten glaubwürdig sein müssen, um geglaubt zu werden, aber sobald er mit dem Unglaublichen und Irrationalen des wirklichen Lebens konfrontiert wird, verliert er jegliches Vertrauen in Worte… Der zweite ist das Gegenteil: Appelfeld hat sehr früh und auf sehr harte Weise gelernt, dass, sobald menschliche Normen und Konventionen gesprengt sind, Glaubwürdigkeit keine Rolle mehr spielt; von da an ist es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Worte zu Fälschern werden, um das wahre Leben zu verschleiern…
Obwohl der Vergleich hier zwischen Roth (Amerikaner) und Appelfeld (Israeli/Holocaust-Überlebender) gezogen wird, ist er für das Verständnis der französisch-jüdischen Literatur relevant, da Weitzmanns französische Erfahrung durch die krankhaft ausweichende („morbidement élusive“) Jüdischkeit und das dominante Erbe der Shoah geprägt war. Appelfelds Haltung – der Zweifel an der Fähigkeit der Sprache, die „unglaubliche“ Realität zu erfassen – reflektiert das Dilemma europäisch geprägter jüdischer Schriftsteller nach 1945. Roths amerikanischer Optimismus steht im Gegensatz zu dieser europäischen Einsicht, dass Wörter leicht zu Fälschern werden, wenn die menschlichen Normen und Konventionen zusammenbrechen. Dieses Bewusstsein der Unzuverlässigkeit der Sprache und des Irrationalen („forces mythiques archaïques“) prägt die literarische Auseinandersetzung mit dem jüdischen Schicksal in Europa (und somit auch in Frankreich) stark.
Französisch-jüdische Literatur und Identität
Weitzmanns eigene Karriere als Literaturredakteur bei Les Inrockuptibles und seine tiefe Abneigung gegen den französischen „romantisme conservateur“ und „akademische[n] Dünkel“ ermöglichen eine kritische Analyse der französischen Literaturszene der 1990er Jahre. Er stellt Michel Houellebecq als die emblematischste Figur des „post-faschistischen“ Sentimentalismus und der „männlichen Metaphysik der Selbstverachtung“ dar, deren Erfolg die französische „Fabrication du consentement“ in eine „nationale Fiktion der Niederlage“ übersetzte. Weitzmann kontrastiert diese französische „Literatur für Verlierer“ scharf mit der „pyromanen Energie“ des amerikanischen Romans (Roth, Bellow, DeLillo).
Weitzmanns Buch behandelt implizit und explizit die komplexe Lage der Juden in Frankreich. Weitzmanns eigene Flucht nach New York war teilweise motiviert durch das zunehmend anti-jüdische Klima in Frankreich und den damit verbundenen moralischen Rechtfertigungsdruck. Er zitiert die antisemitischen Vorfälle (z.B. „quenelles“, „Jour de Colère“, Angriffe auf Synagogen) und die gesellschaftliche Verleugnung des Antisemitismus in Frankreich. Die Begegnung mit dem israelischen Autor Aharon Appelfeld und die Konfrontation mit einem palästinensischen Fixer namens Sahid in Jerusalem dienen dazu, die „fatalen Ehen“ zwischen Ereignissen und der eigenen Reaktion darauf zu beleuchten.
Tout avait commencé (avais-je dit à David) le 26 janvier, lors d’une manifestation baptisée Jour de Colère, organisée à Paris par une constellation d’organisations d’extrême droite allant des royalistes aux islamistes, et au cours de laquelle le slogan Juif, la France n’est pas à toi ! avait pu être distinctement entendu. Presque aussitôt, une épidémie de « quenelles », le geste « antisystème » évoquant un salut hitlérien inversé, […] s’était répandue dans le pays. […] [D]ans un sens, c’était ce qu’il y avait de plus inquiétant, le nombre d’actes antisémites violents, aussi impulsifs qu’inexplicables, grimpait en flèche. Du moins, c’était mon impression. Mais, au-delà de cette impression, justement, il n’y avait rien.
Alles hatte (wie ich David erzählt hatte) am 26. Januar begonnen, bei einer Demonstration namens „Jour de Colère” (Tag des Zorns), die in Paris von einer Reihe rechtsextremer Organisationen, von Royalisten bis Islamisten, organisiert worden war und bei der der Slogan Juif, la France n’est pas à toi ! („Jude, Frankreich gehört dir nicht!“) deutlich zu hören war. Fast sofort verbreitete sich im ganzen Land eine Epidemie von „Quenelles“, der „antisystemischen“ Geste, die an einen umgekehrten Hitlergruß erinnert […]. […] In gewisser Weise war das am beunruhigendsten: Die Zahl der gewalttätigen antisemitischen Handlungen, die ebenso impulsiv wie unerklärlich waren, stieg sprunghaft an. Zumindest war das mein Eindruck. Aber über diesen Eindruck hinaus gab es nichts.
Dieser Auszug berichtet von der zunehmenden, aber schwer fassbaren antisemitischen Welle in Frankreich um 2014. Weitzmann bemerkt die Koalition rechter und islamistischer Gruppen, die offen antisemitische Slogans riefen, und die Verbreitung des „Quenelle“-Grußes (auch als umgekehrter Hitlergruß oder französische Nazi-Geste bezeichnet). Das Beunruhigendste ist die Unfassbarkeit und Unbegründetheit der Gewalt. Obwohl die Bedrohung real war (steigende Anzahl gewalttätiger, unerklärlicher Taten), gab es damals keine objektive Analyse oder eindeutige Zahlen, sondern nur Weitzmanns persönliche, von Wut und Vorurteilen gefärbte Impression.
Clichy, à vingt minutes seulement du camp d’internement de Drancy où, en 1943, mon grand-père avait été envoyé après son arrestation tandis que ses enfants rejoignaient le maquis, Drancy où, quelques jours avant le premier AVC de mon père, en février 2005, à un quart d’heure en voiture de Bobigny, le wagon témoin commémoratif du camp avait été incendié au cocktail molotov, des croix gammées tracées sur les portes et des tracts à la gloire de Ben Laden répandus tout autour. Soit la géographie était la science des spectres, soit je redessinais la France selon mes obsessions.
Clichy, nur zwanzig Minuten vom Internierungslager Drancy entfernt, wohin mein Großvater 1943 nach seiner Verhaftung gebracht worden war, während seine Kinder sich dem Maquis anschlossen, Drancy, wo wenige Tage vor dem ersten Schlaganfall meines Vaters im Februar 2005, eine Viertelstunde Autofahrt von Bobigny entfernt, der Gedenkwaggon des Lagers mit einem Molotowcocktail in Brand gesteckt, Hakenkreuze auf die Türen gemalt und Flugblätter zu Ehren Bin Ladens verstreut worden waren. Entweder war Geografie die Wissenschaft der Gespenster, oder ich zeichnete Frankreich nach meinen Obsessionen neu.
Hier verbindet Weitzmann die Geografie des Holocaust-Gedenkens (Drancy) mit dem neuen islamistischen Antisemitismus (Molotow-Angriff, Ben-Laden-Flugblätter). Er beschreibt, wie das zeitgenössische Chaos die historische Erinnerung infiziert, insbesondere weil sein eigener Großvater in Drancy inhaftiert war. Der Autor stellt die tief beunruhigende Frage, ob die Geografie zur Wissenschaft der Gespenster („science des spectres“) geworden ist, oder ob er die Realität Frankreichs aufgrund seiner Obsessionen neu interpretiert. Die Nähe des Terroranschlags in Vincennes zum ehemaligen Internierungslager (Clichy/Drancy) verdeutlicht die Unentrinnbarkeit des jüdischen Schicksals in diesem zeitlichen und räumlichen Kontinuum.
Weitzmann kontrastiert die amerikanisch-jüdische Erfahrung Roths – geprägt von „Assurance enthousiaste“ und der Möglichkeit der „désassimilation ironique et sophistiquée“ – mit der französischen Erfahrung, die er als „weniger feierlich, weniger morbid-ausweichend“ empfand. Die amerikanische Kultur bot den Juden eine einzigartige Akzeptanz und die Chance, die „Stimme der Minderheiten“ zu werden.
Weitzmanns eigenes Werk und die Krise des Jüdischseins in Frankreich
Das Buch ist in weiten Teilen eine Autobiografie seiner schriftstellerischen Entwicklung. Weitzmann reflektiert offen seine Ambivalenzen, seine „Arroganz eines Fanatikers“, seine „Wut“ und „Vorurteile“, und seinen „komplizierten“ Umgang mit der eigenen Familie und Herkunft. Er enthüllt, dass sein Projekt über den Antisemitismus (Un temps pour haïr/Hate) direkt von Roth initiiert wurde.
Je crois que c’est lors de ce séjour – mi-avril 2002, une saison de solitude et de paranoïa, gravats empilés au détour des rues, photos et récits d’attentats aux devantures des kiosques et sur les écrans de télévision – que j’ai abandonné tout espoir de jamais dissocier ma guerre intérieure de ce qu’il se passait tout autour. (…) J’étais dans un état de grande agitation au sortir de l’American Colony. À Paris comme ici, me quereller sur qui j’étais ou n’étais pas semblait devenu ma principale occupation.
Ich glaube, dass ich während dieses Aufenthalts – Mitte April 2002, einer Zeit der Einsamkeit und Paranoia, mit Schuttbergen an den Straßenecken, Fotos und Berichten über Anschläge an den Kiosken und auf den Fernsehbildschirmen – jede Hoffnung aufgegeben habe, meinen inneren Krieg jemals von dem trennen zu können, was um mich herum geschah. (…) Als ich die American Colony verließ, war ich sehr aufgewühlt. In Paris wie auch hier schien es meine Hauptbeschäftigung geworden zu sein, darüber zu streiten, wer ich war oder nicht war.
Diese Passage erklärt Weitzmanns Zustand während seiner Reisen nach Israel 2002, der die existenzielle Krise des Jüdischseins in Frankreich widerspiegelt. Die äußere Gewalt und Paranoia („gravats empilés“, „paranoïa“) verschmolzen mit seinem inneren Konflikt („ma guerre intérieure“). Weitzmanns Hauptbeschäftigung in Paris und Israel war die Auseinandersetzung darüber, wer er ist oder nicht ist („me quereller sur qui j’étais ou n’étais pas“), was die totale Politisierung der Identität in diesem Umfeld aufzeigt.
Die Parallelen zwischen Roths Figuren und Weitzmanns Leben sind entscheidend: Er identifiziert sich mit Coleman Silk und Henry in ihrem Versuch, der Herkunft zu entkommen und „seine eigene Person“ zu erschaffen. Am Ende versteht er Roth nicht als den unantastbaren Intellektuellen Zuckerman, sondern als Henry, den verwundbaren Mann, der von seinen eigenen Wünschen in den Tod getrieben wird. Das Schreiben wird für Weitzmann zur einzigen Möglichkeit, seine innere Zerrissenheit und das umgebende Chaos zu verarbeiten. Das Buch legt somit die moralischen und existentiellen Grundlagen für seine früheren und späteren Werke dar und erklärt, wie die „wilde Seite der Existenz“ zum Kern seiner literarischen Obsession wurde.
À l’automne suivant – quelques semaines avant ce premier voyage en Israël au cours duquel j’allais rencontrer Appelfeld – , la publication d’un roman de moi intitulé Mariage mixte et inspiré par un fait divers sanglant à connotation antisémite avait certes déclenché des réactions outrées – livre nauséabond, dégoûtant, écrit par un pervers ou un fou et dont on parle trop, avaient été quelques-uns des qualificatifs les plus aimables à son sujet – , mais ce livre avait tout de même aussi figuré sur toutes les listes de prix…
Im folgenden Herbst – einige Wochen vor dieser ersten Reise nach Israel, auf der ich Appelfeld treffen sollte – löste die Veröffentlichung meines Romans Mariage mixte (Mischehe), der von einem blutigen Vorfall mit antisemitischem Hintergrund inspiriert war, zwar empörte Reaktionen aus – widerwärtiges, ekelhaftes Buch, geschrieben von einem Perversen oder Verrückten, über das zu viel gesprochen wird, waren einige der freundlichsten Beschreibungen –, aber dennoch stand dieses Buch auch auf allen Preislisten…
Hier wird die die reaktive Natur der literarischen Debatte in Frankreich illustriert, sobald ein Autor jüdische Konflikte oder Antisemitismus direkt anspricht. Weitzmanns Roman Mariage mixte, der sich mit einem antisemitischen Vorfall befasste, wurde mit emotionaler und moralischer Verurteilung statt mit sachlicher Kritik aufgenommen. Die Heftigkeit der Ablehnung – die bis zur Forderung nach einem Verbot reichte – zeigt, dass Werke, die sich der französischen „Krise der Zeit“ und der Obsession mit „Erinnerungen“ und „Identitäten“ widmen, sofort als Skandal und nicht als legitime literarische Auseinandersetzung wahrgenommen wurden.