Die Brüder Goncourt und die Poetik der Verdopplung: Alain Claude Sulzer

Die alten Junggesellen und die Haushälterin Rose

Die kritische Rezeption von Alain Claude Sulzers Roman Doppelleben (Galiani Verlag, 2022) etablierte das Werk umgehend als einen wichtigen Beitrag zur Gegenwartsliteratur, der sich sowohl durch stilistische Eleganz als auch durch eine tiefgehende metaliterarische Auseinandersetzung auszeichnet. Sulzer, ein Schriftsteller, der im deutschsprachigen Feuilleton als „sichere Bank“ für „feine Romane“ gilt, knüpft mit diesem Werk an seinen internationalen Erfolg, etwa mit Ein perfekter Kellner, an.

Alain Claude Sulzers Roman Doppelleben (2022) ist nun auf Französisch erschienen, mit dem Titel Les Vieux Garçons (übers. von Jacqueline Chambon, éditions Chambon, 2025), er zeichnet mit präziser, kunstvoll distanzierter Sprache das Leben der Brüder Edmond und Jules de Goncourt nach – zwei Schriftstellern, die im Paris des 19. Jahrhunderts untrennbar miteinander leben, denken und schreiben. Sulzer verwebt historische Fakten mit poetischer Imagination: Von den alltäglichen Ritualen und Gesprächen über Kunst und Stil bis zu den leisen Katastrophen ihres Privatlebens entfaltet sich ein Kammerspiel über Abhängigkeit, Krankheit und schöpferische Obsession. Der Roman begleitet die Brüder von ihrem literarischen Aufstieg bis zu Jules’ körperlichem und geistigem Verfall, den Edmond mit verzweifelter Fürsorge, aber auch mit ästhetischer Kälte beobachtet. Die Rezeption würdigt in diesem Kontext die erzählerische Entscheidung, die historische Narrative der Goncourts durch die Perspektive der Marginalisierten – die Haushälterin Rose – zu dezentralisieren. Diese narrative Strategie wird als eine bewusste ethische Neudeutung des Naturalismus des 19. Jahrhunderts interpretiert, wobei Sulzer die „Obsession“ der Kunst mit der „radikalen Ignoranz“ kontrastiert. Die Kritiken sehen hierdurch eine Formulierung einer zeitgemäßen, ethischen Kritik an der Ästhetisierung des Lebens, die die moderne Leserschaft stark anspricht.

Rose wird als Antithese zur hyperästhetischen und intellektuellen Welt der Brüder inszeniert, existierend im Haus „wie ein Möbelstück“. Ihr Leben ist durchzogen von „existenzielle[n] Dramen“, darunter eine hoffnungslose Verliebtheit, Ausbeutung, Schwangerschaft, der Verlust eines Kindes sowie die Entwicklung zum Alkoholismus und Diebstahl – alles ohne Wissen ihrer Dienstherren. Ihr „physischer und psychischer Zerfall“ findet direkt vor den Augen der angeblich scharfsinnigen Beobachter statt, was die kritische Spannung des Romans erzeugt. Diese zentrale thematische Achse wurde prägnant von Sigrid Löffler in ihrer Besprechung „Im toten Winkel der Gebrüder Goncourt“ 1 herausgestellt. Löfflers Metapher des „toten Winkels“ erfasste den Kern des Konflikts: Das Versagen des literarischen Blicks, der zwar das Öffentliche und Soziale erfasst, aber das Domestische, das Klassengebundene und die materielle Realität seiner unmittelbaren Umgebung ignoriert. Die Rezeption interpretiert das im Titel implizierte „Doppelleben“ daher nicht nur als Roses private Existenz parallel zum Dienst, sondern vielmehr als den metakritischen Kommentar Sulzers zur Natur des Naturalismus selbst: Die Obsession für detailreiche Dokumentation führte paradoxerweise zur radikalsten Verdrängung des unmittelbaren, sozialen Leidens, womit die ethische Fundierung der Goncourt’schen Kunstpraxis in Frage gestellt wird.

Im Zentrum steht die Verwandlung des gelebten Lebens in Literatur: Die gemeinsame Arbeit am Journal und an Germinie Lacerteux verschmilzt mit der Realität ihres Daseins, bis die Grenze zwischen Schreiben und Sein, Beobachtung und Gefühl, Wahrheit und Erfindung zerfließt. Sulzer inszeniert die Goncourt als Spiegelbild des Künstlers, der das Leben opfert, um Kunst zu schaffen. Ihre Beziehung – symbiotisch, zärtlich, beklemmend – wird zum Sinnbild eines Doppellebens, in dem Liebe, Krankheit, Eros und Sprache sich gegenseitig verzehren. Les Vieux Garçons ist damit weniger eine historische Rekonstruktion als eine Meditation über das unauflösliche Band zwischen Brüderlichkeit, Kreativität und Einsamkeit.

Intertextualität: Germinie und Rose

Alain Claude Sulzer nimmt in seinem Goncourt-Roman die Themen und Motive aus deren Roman Germinie Lacerteux intertextuell auf, indem er die wahre Geschichte der Haushälterin Rose Malingre rekonstruiert und in eine fiktionalisierte naturalistische Erzählung einbettet. Der Kern der Übernahme liegt in der Darstellung von Roses verborgener, skandalöser Existenz, die den Goncourt-Brüdern, ihren Herren, zeitlebens unbekannt blieb. Sulzers Roman thematisiert somit die literarische Metamorphose Roses zu Germinie Lacerteux – eine Figur, die es laut Sulzers Goncourts verdient hatte, im Zentrum eines Romans zu stehen. Die Brüder sahen Germinies Schöpfung als eine Auferstehung Roses, um ihr Schicksal zu würdigen.

Das zentrale Motiv, das Sulzer aufgreift, ist das Doppelleben und die damit verbundene tiefe Verheimlichung, welche die Gutgläubigkeit der Brüder Goncourt schmerzhaft entlarvt. Erst nach Roses Tod erfahren Edmond und Jules durch Maria von ihrer „abstoßenden Existenz“ („existence répugnante“), die von Schulden und moralischer Verkommenheit geprägt war. Wie Germinie Lacerteux in der Vorlage, führt Rose ein heimliches Liebesleben, welches sie in finanzielle Not stürzt: Ihr erster Liebhaber ist Alexandre, der Sohn der Crémière (wie Jupillon in Germinie Lacerteux), der sie ausnutzt. Rose mietet ihm mit ihren Ersparnissen ein Geschäft und verliert ihr Geld, weshalb sie beginnt, die Goncourt-Brüder zu bestehlen, da deren Desinteresse an Geld ihr dies erleichtert. Sie nutzt die „gute Treue“ ihrer Meister als eine Bank, auf die sie zählen konnte.

Sulzer rekapituliert auch die Motive des körperlichen und moralischen Niedergangs. Die Affäre mit Alexandre führt Rose – wie Germinie – zu einer unehelichen Schwangerschaft, die sie vor ihren Meistern verbirgt, indem sie eine Krankheit vortäuscht. Sie bringt ein Kind zur Welt (Louisette), das sie wegschickt und dessen Tod (wie der Tod von Germinies Kind) sie in tiefe Verzweiflung stürzt. Um Selbstmordgedanken und Kummer zu betäuben, flüchtet Rose in den Alkohol, konsumiert Likör und Absinth, ein Laster, das auch bei Germinie auftritt. Obwohl Edmond und Jules bemerken, dass Rose oft betrunken ist, wenn sie das Frühstück serviert, ignorieren sie es. Nach der Enttäuschung durch Alexandre wendet sich Rose einem neuen, brutalen Liebhaber zu, dem Maler Gautruche, der Germinies zweiten Liebhaber in der Vorlage widerspiegelt. In dieser Phase des Exzesses wird Rose „eine leichte Beute für die Hysterie“ („proie facile pour l’hystérie“), wie die Goncourts später feststellen.

Die intertextuelle Aufnahme dient schließlich dem naturalistischen Programm der Goncourt-Brüder, das Sulzer im Roman reflektiert. Nach der Enthüllung der Wahrheit wollen Edmond und Jules Germinies (d.i. Roses) Niedergang, der durch Tuberkulose und Hysterie gekennzeichnet war, mit wissenschaftlicher Kälte analysieren und beschreiben. Sie argumentieren, dass die physiologische Beobachtung keinen Unterschied zwischen einer einfachen Magd und einer Pariser Aristokratin mache. Die Darstellung von Germinies „unaufhaltsamem Verfall“ („déchéance inexorable“), ihrer „unwürdigen“ („indigne“) Lebensführung und ihrem tragischen Ende dient den Brüdern dazu, zu demonstrieren, wozu ein Mensch fähig ist, der nur seinen Trieben folgt.

Die Symbiose der Sprache

Chaudement enveloppés dans leur épais pardessus d’hiver, les deux frères avançaient lentement contre le vent glacial. Avec quels mots exprimer les coups de fouet des courtes rafales ? Comment dire le vent ? Comment dire le froid ? Tant de mots et d’expressions à envisager, à échanger entre eux, à examiner, à écarter, à peser, tant de mots qui seront ensuite tournés et retournés, allongés, raccourcis, scrutés, la plupart se révélant inappropriés. Edmond et Jules avançaient prudemment sur le sol mouillé en évitant les plaques de gel. Le matin, au soleil, la glace fondait pour regeler dès que le ciel se couvrait.

Quelqu’un qui aurait observé ces deux hommes qui discutaient avec de grands gestes de choses que personne à part eux n’entendait les aurait tenus exactement pour ce qu’ils étaient ; des amis ou des frères qui s’entendaient bien ; des frères, certes, mais avant tout des poètes ! Des explorateurs ! Des amoureux des mots ! Des chercheurs, des connaisseurs avertis des valeurs sûres et du poids de la formulation la plus franche, la plus fleurie, la plus pointue, la plus exacte, pour chaque chose, chaque émotion, chaque matière, bref chaque manifestation du monde visible et invisible. Un seul mot suffisait rarement, les couleurs étaient mélangées sur une palette fictive jusqu’à trouver le ton souhaité. (Sulzer, Les Vieux Garçons)

In gut gefütterte, dicke Wintermäntel gehüllt, kamen die beiden nur langsam gegen die eisigen Windstöße voran. In welche Worte ließen sich die flirrenden Peitschenhiebe der kurzen Böen fassen? Wie hieß der Wind? Wie hieß die Kälte? Viele Wendungen und Möglichkeiten erwogen sie in schneller Folge, tauschten sie aus und begutachteten sie, verglichen, verwarfen, wägten ab, die Wörter und Ausdrücke wurden gedreht, erweitert, verknappt und geprüft, die meisten erwiesen sich als unzulänglich. Edmond und Jules traten vorsichtig auf, denn wo der Boden feucht schien, befürchteten sie tückisches Glatteis. In der Sonne Getautes gefror leicht, wenn es wieder im Schatten lag.

Wer die beiden tuschelnden Männer beobachtete, die gestikulierend unterstrichen, was außer ihnen niemand hören konnte, mochte sie für genau das halten, was sie waren, Freunde oder Brüder, die einander stützten; Brüder, gewiss, vor allem aber Dichter! Erkunder! Wörtersucher! Sucher, Entdecker und hellwache Erkenner des sichersten Werts und Gewichts der freimütigsten, farbigsten, treffendsten, wahrsten Formulierung für jedes Ding, jede Regung, jeden Stoff, kurz jede Erscheinung der sieht- und nichtsichtbaren Welt. Nur selten genügte ein einziges Wort, Farben wurden auf der unsichtbaren Palette gemischt, bis der gewünschte Ton genau getroffen war. (Sulzer, Doppelleben)

Hier, am Beginn des Romans, verschränkt Sulzer die körperliche und sprachliche Ebene des Doppellebens. Die Brüder schreiten gemeinsam – synchron, spiegelhaft, symbiotisch –, doch ihre Bewegung gilt nicht der Welt, sondern der Sprache. Sie wollen „den Wind sagen“, aber die Suche nach dem Ausdruck ersetzt die Erfahrung. Ihr Doppelleben besteht darin, dass sie leben, um zu schreiben, und schreiben, um zu leben. Die physische Kälte wird zur Metapher einer ästhetischen Distanz: Zwischen Empfindung und Ausdruck liegt die Literatur – ihr gemeinsames Drittes.

Das leise Geräusch einer Fiakertür, die sich schließt, leitet in Alain Claude Sulzers Roman Les Vieux Garçons eine Katastrophe ein – und zugleich ein poetisches Programm. Der „incident sanglant“, mit dem der Roman beginnt, ist ein Unfall und eine Allegorie. Zwei Männer, Edmond und Jules de Goncourt, steigen in eine Kutsche, ohne zu wissen, dass sie in den Tod und in die Literatur einsteigen. Diese Szene ist die Miniaturformel des ganzen Buches: Bewegung, Zufall, Blut, Brüderlichkeit und Schrift. Der Unfall – in seiner physisch schmerzhaften, zugleich symbolischen Faktur – ist der erste Bruch im makellosen Gleichklang zweier Leben, die wie ein einziger Atemzug wirken. Als Edmonds Kopf durch die Glasscheibe der Droschke kracht, bricht nicht nur das Glas, sondern auch die gläserne Membran, die die Brüder voneinander trennt. Der Riss im Spiegel wird zum poetischen Motor des Romans: Sulzers Erzählung ist die Geschichte einer Symbiose, die durch Sprache und Schmerz auseinanderfällt.

Der Unfall ist zugleich eine Vorwegnahme des späteren Krankheitsverlaufs von Jules. In der Beschreibung dieses Ereignisses verdichtet Sulzer, was sein Roman insgesamt leistet: Er schreibt keine klassische Biographie, sondern eine Poetik der Verdopplung. Alles in diesem Buch geschieht zweimal: in der Realität und im Spiegel, im Körper und im Stil, im Leben und in der Literatur. Die Goncourt-Brüder sind ununterscheidbar und doch verschieden, jeder lebt im anderen fort. Der Erzähler – ein diskreter, unaufdringlicher Dritter – bewegt sich mit chirurgischer Präzision durch ihre Innenräume, ihre Routinen, ihre Gespräche, ihre Ängste. Es gibt keine dialogischen Kapitel, keine dramatischen Ausbrüche, sondern ein leises, minutiöses Beobachten. Sulzer greift damit auf die eigene Technik der Brüder zurück, deren Journal als monumentales Zeugnis des 19. Jahrhunderts gerade durch die obsessive Beschreibung der kleinsten psychischen Vibrationen berühmt wurde. Die Goncourt notierten alles – und Sulzer notiert ihr Notieren.

Schon der Titel der französischen Übersetzung verweist auf den ironischen Überschuss dieser Poetik: Les Vieux Garçons – die alten Junggesellen – sind Figuren der Moderne, Männer ohne Frauen, Körper ohne Nachkommen, Schriftsteller ohne Welt. Sie leben in einem Haus, das zur Erweiterung ihres Geistes wird, ein „cabinet de curiosités“ voller Bücher, Bilder, Stoffe, Gerüche. Ihr Leben ist ein ästhetisches Experiment, ihre Existenz eine Installation. Sulzer interessiert sich nicht für die äußere Geschichte der Goncourt, sondern für das, was zwischen ihnen geschieht – und noch mehr: für das, was zwischen ihnen nicht geschieht. Ihr Verhältnis ist zärtlich und zölibatär, erotisch aufgeladen und zugleich rein geistig. In einer Zeit, die zwischen romantischem Pathos und bürgerlicher Moral oszilliert, bilden sie eine dritte Form des Zusammenlebens: das Doppelleben. Es ist dieses paradoxe Miteinander, das Sulzer zur Bühne einer Reflexion über die Bedingungen des Schreibens selbst macht.

Die Eröffnungsszene, die das Buch mit einem Schock beginnt, ist von einer eigentümlichen Spannung zwischen Pathos und Kühle durchzogen. Der Text schildert, wie die Brüder durch ein winterliches Paris laufen, wie sie Wörter suchen, um den Wind zu beschreiben – „Comment dire le vent ? Comment dire le froid ?“ –, und schon hier markiert Sulzer die Sprache als zentrales Subjekt seines Romans. Das, was die Goncourt suchen, ist kein Ausdruck, sondern eine Möglichkeit, Welt und Wort zur Deckung zu bringen. Diese Suche ist endlos; sie ersetzt das Leben. Der Unfall unterbricht sie nicht, sondern vollendet sie: das Blut auf Edmonds Gesicht ist die Tinte, mit der Sulzer sein Buch schreibt.

In der poetischen Bewegung dieses Anfangs liegt bereits der Ton des ganzen Romans: eine Mischung aus Empfindsamkeit und analytischer Strenge, aus Nähe und Distanz. Sulzers Erzählen imitiert die Sprache des Journal, ohne sie zu kopieren – rhythmisch, ironisch, leicht verschoben. Der auktoriale Blick bleibt zugleich empathisch und chirurgisch. Diese Haltung erlaubt, dass der Text nie ganz psychologisch wird: Die Brüder bleiben Fremde füreinander, wie Figuren eines naturwissenschaftlichen Experiments. Sulzer zeigt, wie das Beobachten selbst zur Krankheit werden kann. Ihr Schreiben, ihr Forschen, ihr Erfassen der Welt ist zugleich der Grund ihres körperlichen Zerfalls.

Wenn Jules im zweiten Kapitel vor dem Fenster steht, seine täglichen Gymnastikübungen macht und über die „haltères“ sinniert, die „inégaux“ sind, dann ist auch das eine poetische Allegorie. Zwei Gewichte, scheinbar identisch, aber von unterschiedlicher Schwere – wie die beiden Brüder. Jules’ körperliche Anstrengung wird zum Symptom seiner geistigen Erschöpfung, und als er stürzt, bricht das Gleichgewicht ein zweites Mal. Dieses Motiv des Ungleichgewichts zieht sich durch das ganze Buch: die ungleiche Liebe, die ungleiche Krankheit, das ungleiche Überleben. Sulzer baut sein Werk wie ein barockes Stillleben, in dem alles Bedeutung trägt: die Geräusche der Hunde, das Ticken der Uhren, die Körperübungen, die Rezepte der Köchin Pélagie. Der Alltag ist eine Bühne für den metaphysischen Riss, der durch die Symbiose der Brüder geht.

Krankheit, Erotik und Stil

Die Krankheit von Jules – die Syphilis, die ihn langsam in den Wahnsinn führt – ist der dunkle Kern des Romans. Sulzer erzählt sie nicht medizinisch, sondern als ästhetische Transformation. Die Symptome – das Lallen, die Aussetzer, das Vergessen – erscheinen als Zersetzung der Sprache selbst. Wenn Jules beim Abendessen das Wort „style“ nicht mehr aussprechen kann und nur noch „sty“ sagt, dann verliert nicht nur er die Sprache: Der Stil selbst, der Stolz der Goncourt, zerbricht. Sulzer macht aus dieser Szene ein Miniaturdrama über das Ende der Literatur. Das Wort, das sie geschaffen hat, fällt ihnen aus dem Mund, es verformt sich, wird zum Laut, zum Stottern. Der Bruder, der den anderen korrigiert, wird zugleich der Autor, der den Verfall literarisch stilisiert. Krankheit wird zur Ästhetik des Zerfalls.

Dieser Zusammenhang zwischen Körper und Sprache, zwischen Eros und Schreiben, ist in Les Vieux Garçons allgegenwärtig. Die weiblichen Figuren – Rose, Pélagie, Maria – sind Spiegel und Gegenkörper. Rose, die verrückte, todbereite Amme, die ihre Herren zugleich liebt und verrät, wird zur Vorläuferin der Germinie Lacerteux. Pélagie, ihre Nachfolgerin, wirkt wie ein Echo: still, loyal, aber immer beobachtend. Die Frauen sind die unsichtbaren Zeuginnen eines männlichen Liebespakts, den sie zugleich ermöglichen und bedrohen. Sulzer deutet die literarische Produktivität der Brüder als sublimierte Sexualität. Der Eros wird in Sprache verwandelt, der Körper in Stil. Die Figur der Maria, der Hebamme, die beide Brüder liebt, bringt diese Dynamik auf den Punkt: Zeugung findet nur in der Kunst statt.

Diese Erotik der Verdopplung zieht sich auch in Sulzers eigener Sprache fort. Der Text ist von einem obsessiven Sinn für Rhythmus und Gleichgewicht bestimmt: Parallelismen, symmetrische Satzbauten, Spiegelungen zwischen Kapiteln. Jede Szene hat ihr Gegenbild. Wie bei Flaubert oder den Goncourt selbst entsteht der Stil aus der Wiederholung – aber Sulzers Wiederholung ist gebrochen, melancholisch. Er beschreibt, ohne zu urteilen, aber die Genauigkeit seiner Beschreibung trägt schon das Memento mori in sich. Das Beobachten wird zur Ethik und zur Gefahr zugleich: Wer alles sieht, zerstört das Leben, das er beschreibt.

Poetologisch betrachtet arbeitet Les Vieux Garçons mit einer narrativen Technik der transparenzlosen Transparenz. Der Erzähler ist allwissend, aber nicht psychologisch; er beschreibt die Brüder, als säße er unsichtbar in ihrem Haus. Es gibt keine Rückblenden, keine Zeitsprünge im modernen Sinn, sondern ein stetiges Fließen, ein Atem der Prosa, der den Leser in den Rhythmus des Alltags einzieht. Diese Erzählweise erzeugt eine paradoxe Intimität: Der Leser wird zum dritten Bruder, Zeuge und Komplize zugleich.

Besonders auffällig ist Sulzers Umgang mit Stille. Viele zentrale Szenen – der Unfall, die Gymnastik, das Abendessen, Jules’ Tod – geschehen in akustisch überdeterminierten Räumen. Der Roman lebt vom Gegensatz zwischen Geräusch und Schweigen. Die Hunde bellen, die Uhren ticken, der Wind pfeift – aber in diesen Klängen liegt das Nichts. Am Ende ist das Schweigen des toten Bruders das lauteste Geräusch. Sulzer verwendet das auditive Motiv, um den inneren Zerfall der Sprache zu inszenieren. So wie Jules’ Körper zerfällt, zerbricht auch der Klang seiner Stimme, bis nur noch Edmonds Stille bleibt.

Überleben als Katastrophe, Schreiben nach dem Ende

Der zweite Teil des Buches – nach Jules’ Tod – ist eine einzige Elegie. Edmond bleibt zurück in einem Haus voller Gespenster. Die Räume sind erfüllt von Stimmen, aber die Gegenwart fehlt. Er ordnet Manuskripte, bewahrt Gegenstände, führt das Journal weiter. Sulzer schreibt diese Passagen mit einer kalten Melancholie: Das Leben ist Archiv geworden. Dieser späte Abschnitt – emblematisch für den Schluss des Romans – verwandelt das Doppelleben in eine poetologische Metapher. Edmond lebt weiter, aber nur als Schatten des gemeinsamen Ichs. Das Schreiben wird zur Beschwörung. Sulzer formuliert hier den paradoxen Triumph der Literatur: Sie erhält das Doppelleben, indem sie es in Schrift verwandelt. Der Dialog geht weiter, obwohl einer der beiden verstummt ist. Das Doppelleben findet seine letzte Form in der Sprache als Nachleben – der Schrift, die zugleich Totengesang und Fortsetzung des Lebens ist.

Was bei Edmond wie Pflicht erscheint, ist in Wahrheit Verdrängung. Der Überlebende verwandelt den Bruder in Literatur, um den Verlust zu bannen. Sulzer zeigt hier mit seltener Schärfe, wie Erinnerung zur Grausamkeit werden kann: Die Liebe schreibt sich in Form einer ästhetischen Kontrolle fort. Der Tod wird ästhetisiert, der Schmerz komponiert. In dieser Spannung liegt die Modernität des Romans: Er kennt kein kathartisches Ende, keine Erlösung. Edmonds Weiterschreiben ist keine Trauerarbeit, sondern ein Selbstexperiment: Kann man durch Stil die Leere besiegen?

Das Motiv des Doppellebens bezeichnet nicht nur das Verhältnis der Brüder, sondern auch Sulzers eigenes Schreiben. Sein Roman ist eine Nachschöpfung und eine Spiegelung zugleich. Der Autor schreibt über zwei Autoren, die über ihr eigenes Schreiben schreiben. Der Text spiegelt sich selbst endlos zurück. Sulzer spielt mit diesem Rückspiegeleffekt, ohne ironisch zu werden: Seine Poetik ist von Ernsthaftigkeit getragen, von einem Glauben an die Wahrheit der Fiktion. Wie Edmond und Jules im Vorwort zu Germinie Lacerteux schrieben: „Le public aime les romans faux : ce roman est un roman vrai.“ – „Das Publikum liebt falsche Romane; dieser ist ein wahrer.“ Sulzer zitiert diesen Satz zu Beginn seines Buches und macht ihn zu seiner ästhetischen Signatur.

Diese Wahrheit, die nur in der Fiktion existiert, prägt die Struktur des Romans. Sulzer erfindet, aber er erfindet dokumentarisch. Er „dissèque leurs vies“ wie ein Chirurg. Die Sprache bleibt präzise, ruhig, nie sentimental, aber stets mit einer leisen Zärtlichkeit unterlegt. Es ist eine Poetik der Beobachtung, die das Gesehene nicht vereinnahmt, sondern in der Distanz belässt. Der Roman blickt auf die Goncourt mit dem gleichen mikroskopischen Blick, den sie selbst auf ihre Figuren richteten. So entsteht eine meta-literarische Schleife: Der Autor beobachtet die Beobachter, die selbst Beobachter ihrer Welt sind.

Das Ende des Romans – der Tod Jules’, das Verstummen der Stimmen – ist kein Abschluss, sondern eine Transformation. Sulzer beschreibt, wie Edmond allein bleibt, wie er in der Dunkelheit der Pariser Abende das Journal fortführt, als ob der Bruder noch immer neben ihm säße. Die Routine bleibt dieselbe: dieselbe Tasse, derselbe Stuhl, dieselben Worte. Aber das Echo fehlt. Das Schreiben wird zum Selbstgespräch ohne Antwort. In dieser Stille liegt die grausamste Form von Verdopplung: Der Lebende wird zum Schatten des Toten.

Sulzer gestaltet diesen Schluss mit äußerster formaler Ökonomie. Es gibt keinen dramatischen Höhepunkt, kein Pathos, nur eine fast geisterhafte Ruhe. Die Sprache wird noch einmal glasklar, beinahe klinisch. „Il était devenu le survivant de son propre double“ – so könnte man Sulzers unausgesprochenen Satz formulieren. Der Tod des Bruders ist das Ende des Wirs, und zugleich der Beginn der Literatur. Edmond schreibt weiter, weil er nur schreibend weiterleben kann. Das Buch endet, wie es begonnen hat: mit einer Bewegung von Leben zu Sprache, von Blut zu Tinte.

In dieser zirkulären Struktur liegt die eigentliche Eleganz des Romans. Der Anfang mit dem Glasbruch und das Ende mit der durchsichtigen Stille sind zwei Seiten derselben Poetik. Zwischen beiden Polen entfaltet sich eine Meditation über das Verhältnis von Körper und Schrift. Der erste Bruch öffnet den Blick, der letzte schließt ihn. Was bleibt, ist das Schreiben selbst, als einziger Ort der Begegnung zwischen Leben und Tod.

Sulzers eigene Poetik

Sulzers Erzählweise ist von einer kontrollierten Empfindsamkeit geprägt. Er schreibt mit der Kühle eines Historikers und der Wärme eines Romanciers, der an die Macht der Sprache glaubt. Sein Stil ist kein Nachahmen des 19. Jahrhunderts, sondern eine subtile Fortsetzung – eine „post-goncourtistische“ Poetik, die zugleich Hommage und Revision ist. Er nimmt den Naturalismus beim Wort und verwandelt ihn in eine poetische Anthropologie: Der Mensch wird zum Objekt der Betrachtung, aber diese Betrachtung ist nie zynisch.

Der Erzähler ist fast unsichtbar, aber die Sprache atmet. Sulzer verwendet lange, rhythmische Sätze, in denen sich Präzision und Musikalität verbinden. Das Visuelle dominiert – Kleidung, Licht, Möbel, Haut –, doch immer schimmert unter der Oberfläche das Unaussprechliche. Es ist eine Prosa, die das Unsichtbare durch das Sichtbare hindurch erzählt. So entsteht eine ästhetische Ethik der Wahrnehmung: Nur wer genau hinsieht, kann das Tragische erkennen. Zugleich inszeniert Sulzer das Scheitern dieser Genauigkeit. Die Goncourt wollten alles beschreiben – aber das Entscheidende entzieht sich. Der Tod, die Liebe, das Begehren, das Leiden bleiben unbeschreiblich. Sulzer zeigt, dass die Sprache immer zu spät kommt. In dieser Verspätung liegt ihre Wahrheit. Sein Roman ist damit auch ein Kommentar zur modernen Literatur insgesamt: das Bewusstsein, dass jedes Schreiben über das Leben eine Form von Verlust ist.

Les Vieux Garçons ist ein Roman über die Brüder Goncourt – und ein Roman über jeden Schriftsteller, der versucht, das Leben in Sprache zu verwandeln. Es ist eine Meditation über Nähe und Distanz, über den Preis der Beobachtung, über das Leben als Text. Der Titel verweist auf die soziale Außenseiterrolle der beiden Männer, aber im Inneren ist er die Formel einer metaphysischen Einsamkeit. Sulzer macht aus der Brüderbeziehung eine Parabel über das Menschsein: Wir leben alle im Doppelleben, zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir erzählen.

Am Ende bleiben zwei Figuren in der Erinnerung des Lesers: Jules, der Körper, der zerfällt, und Edmond, der Geist, der überlebt. Der eine stirbt an der Krankheit, der andere an der Erinnerung. Sulzers Prosa verwandelt diesen doppelten Tod in Schönheit. Es ist eine Schönheit des Verlusts, eine, die sich ihrer eigenen Grausamkeit bewusst ist. Vielleicht ist das der tiefste Sinn des Romans: Dass die Kunst nicht tröstet, aber das Sterben lesbar macht. So schließt sich der Kreis: Der Riss im Glas am Anfang wird zur Linse, durch die Sulzer die Brüder, ihr Jahrhundert und unser eigenes Doppelleben betrachtet. Der Roman endet, wie jede wahre Literatur endet – nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Echo.

Anmerkungen
  1. Büchermarkt des Deutschlandfunks am 28. Oktober 2022>>>

Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.