Im Kreis der Schuldigen: ein Frankreich in Spiegeln bei Philippe Brunel

Alain Delons Double

Philippe Brunels Le cercle des obligés (Grasset, 2025) ist eine hybride Form aus roman vrai, journalistischer Recherche und autobiographischer Rückschau. Ausgangspunkt ist die berüchtigte affaire Markovic: 1968 wird Stefan Markovic, Serbe, Schattenmann und „doublure lumière“ Alain Delons, ermordet aufgefunden – eine Episode, in der sich Kino, Politik und Unterwelt auf beklemmende Weise überkreuzen. Fünfundzwanzig Jahre später nimmt ein namenloser Ich-Erzähler, ehemals Reporter, die Spuren seines Mentors Pierre Salberg wieder auf. Er kehrt an die Schauplätze der Vergangenheit zurück, Hyères, la presqu’île de Giens, das Var, um ein unvollendetes Manuskript fortzuschreiben und zugleich sich selbst zu rekonstruieren.

Damit verschränkt Brunel zwei Bewegungen: die Suche nach einer objektiven Wahrheit und die existentielle Selbstprüfung dessen, der erzählt: „Ich würde die Ermittlungen, die er nicht die Kraft oder den Willen hatte zu Ende zu führen, von vorne beginnen … und heimlich sein Erbe antreten.“ 1 Die Enquête wird zur Metapher der literarischen Arbeit selbst – einer Gedächtnisarbeit, die das Vergangene nie besitzt, sondern immer nur neu imaginiert.

Philippe Brunel (geb. 1952), ursprünglich Sport- und Reportagenschriftsteller (z.B. Vie et mort de Marco Pantani), nutzt hier seine dokumentarische Genauigkeit, um das Verhältnis von Realität, Medien und Fiktion zu vermessen. Le cercle des obligés ist in diesem Sinn weniger Kriminal- als Erkenntnisroman: eine Meditation über die Illusion der Aufklärung, über das Verschwinden der Wirklichkeit im Zeichen ihrer medialen Reproduktion.

Frankreich als Schau- und Trugbild

Das Frankreich des Romans ist das Land nach 1968 – ein Land zwischen politischer Dekadenz und kulturellem Glanz. Brunel schildert die Zeit als spectacle permanent, als Schau- und Trugbild. Die Wirtschaftswunderjahre sind vorbei, und hinter der Fassade des Gaullismus breiten sich Müdigkeit, Korruption und moralische Entleerung aus. In Paris, „im dreizehnten Arrondissement, begleitet vom klagenden Kreischen der Hochbahn“ 2, lebt die Nachkriegsgeneration in einem urbanen Grauton, während der Mythos des Kinos – Delon, Melville, Bardot – eine Ersatzreligion bietet.

Das „unansehnliche und graue Paris“ („Paris insalubre et grisâtre“) kontrastiert mit der Côte d’Azur als Bühne der Illusion: Sonne, Meer, Filmfestivals, Bars, „le Boston“, „le Grillon“. Diese beiden Räume – der graue Norden und der gleißende Süden – strukturieren den Roman als moralische Ordnung: zwischen Trübung und Blendung.

Brunel zeigt die Entstehung einer neuen Popkultur, in der sich Politik, Showbusiness und Kriminalität mischen. Alain Delon verkörpert „le héros absolu“, aber zugleich das Symbol einer Generation, die Schönheit mit Verdacht belegt. Der Roman zitiert ganze Passagen aus Interviews, Zeitungsartikeln, Polizeiberichten – eine Collage der medialen Oberfläche. Populäre Figuren (Melville, Bardot, Fallaci, Visconti, Aznavour) erscheinen nicht als bloße Namen, sondern als Zeichen einer Ästhetik, die das Reale in das Kinematographische überführt.

Diese Epoche ist durchdrungen von Bildern: „Bardot, die nackt im blauen Wasser schwimmt … Redfords Blondheit, Sydney Pollacks New Yorker Herbsttage“. 3 Die Kultur des Nachkriegsfrankreichs erscheint als permanenter Split Screen, in der das Bild die Erfahrung ersetzt. Brunel führt diese Bildwelt nicht nostalgisch vor, sondern als kritische Matrix, in der Erinnerung und Geschichte sich gegenseitig absorbieren.

Textarchitektur und Zeitebenen

Der Roman ist selbst wie eine Collage komponiert – ein Mosaik aus procès-verbaux, Zitaten, Zeitungsausschnitten, persönlichen Notizen und inneren Monologen. Der Erzähler liest Protokolle, studiert „les pages de Var-Matin“, zitiert alte Berichte. So entsteht ein Text aus Texten, ein Archiv, das seine eigene Instabilität offenlegt. Diese Vielstimmigkeit ist nicht bloß dokumentarisch, sondern poetologisch: Jede Quelle widerspricht der anderen, jede Stimme ist zugleich Beleg und Maskerade. Die Sprache der Presse, so prägnant wie sensationslüstern, steht neben der elegischen Reflexion des Erzählers, der sein Schreiben als moralische Pflicht versteht: „J’avais une dette envers Salberg… ainsi nous serions liés à nouveau.“

Brunel rekonstruiert die journalistische Welt der 1970er Jahre mit fast ethnographischer Genauigkeit: die verrauchte Redaktion, das Klappern der Maschinen, die „Underwood lourde et massive“, die Hierarchie der „chefs de service“. Diese Szenen bilden eine Studie der Kommunikation vor der digitalen Zeit: Sprache als Material, nicht als Interface. Die Kommunikationsformen im Roman – Gespräch, Brief, Tonaufnahme – sind stets von Ausfall und Überschreibung bedroht. Zwischen den Zeilen herrscht das Schweigen, das alles strukturiert. „Die ganze Geschichte wirst du von jedem einzelnen in kleinen Häppchen erfahren … die wahre Wahrheit“, 4 heißt es programmatisch im Motto. Das fragmentarische Gespräch wird zum Modell der Erkenntnis selbst.

Brunel konstruiert eine vielschichtige Zeitarchitektur, die auf filmischen Verfahren beruht: Überblendungen, Rückblenden, Parallelmontagen. Drei Ebenen – Kindheit (1968), Reportage (1983), Gegenwart (2023) – durchdringen sich und lösen die Chronologie auf. Das Vergangene erscheint als Bild im Bild: Der Erzähler sieht sich selbst im Rückspiegel der Erinnerung, als Kind im Treppenhaus, als junger Reporter, als Mann mittleren Alters am leeren Hafen von Hyères. Zeit wird zur Spiegelkammer, „un miroir sans tain“, durch das man hindurchblickt, ohne das Dahinter je zu erreichen.

Die Erzähltechnik ist zugleich analytisch und lyrisch: reportageartig im Detail, impressionistisch in der Wahrnehmung. Die Montage aus Archivtexten, Gesprächen und innerem Monolog verwandelt den Roman in ein Medium zweiter Ordnung – eine Reflexion über das Erzählen selbst. Die Spurensuche führt nicht zur Wahrheit, sondern zu einer Ästhetik der Spur, der trace. Die Wiederkehr der Motive – Autos, Hotelzimmer, Hafenlichter, Zigarettenrauch – schafft eine musikalische Struktur: Erinnerung wie ein Refrain.

Verdopplung und Spiegelung

Im Zentrum steht die Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Pierre Salberg und dem Erzähler – eine säkulare Form von Initiation. Salberg, „reporter de légende“, repräsentiert das Ethos des alten Journalismus: Aufrichtigkeit, Präzision, moralische Einsamkeit. Der Schüler, „un être indéfini, en instance, à portée d’illusion“, sucht in ihm eine Vaterfigur und findet einen Spiegel. Diese Konstellation wiederholt die Struktur der Verdopplung, die der Roman überall inszeniert: Markovic als Double Delons, der Erzähler als Double Salbergs, die Realität als Double ihrer medialen Repräsentation. „Je n’ai jamais su si c’était Delon ou son double fictif“ – dieser Satz fasst das erkenntnistheoretische Dilemma zusammen.

Frauenfiguren erscheinen meist als Projektionen – Marseille-Schönheiten, Krankenschwestern, mondäne Freundinnen – Trägerinnen eines Verlusts, „noires de peau, au maillot rouge une pièce“, Ikonen einer Erinnerung, die nur noch in Bildern überlebt. Brunel arbeitet mit einer dichten Metaphorik der Spiegelung und des Lichts. Die urbane Nacht ist ein „déluge de lumière pailletée“, die Autos „véritables féeries urbaines“. Diese Bildsprache evoziert die Ästhetik des Film noir, des Samouraï – jene Mischung aus Kälte, Einsamkeit und Stil, die Delons Generation geprägt hat.

Das Licht steht für Erkenntnis und Täuschung zugleich: Die Wahrheit blendet. Wasser-, Regen- und Spiegelmotive verwandeln die Wirklichkeit in eine Reflexionsfläche. Auch der Titel spielt auf diese Kreisbewegung an: der cercle des obligés ist ein sozialer, moralischer und ästhetischer Ring – eine Welt, in der jeder durch Loyalität und Schuld gebunden ist.

Kulturell mischt Brunel die hohe und die populäre Sphäre. Seine Intertexte reichen von Borges („Il y a deux hommes en un, le vrai c’est l’autre“) über Rilke und Visconti bis zu Sinatra, Morricone, Aznavour. Frankreich erscheint als bréviaire existentiel orchestriert von „les standards d’Aznavour, de Simon and Garfunkel, les hits de Gloria Gaynor“. Diese Pop-Texturen verleihen dem Roman eine auratische Patina: Geschichte wird über Musik erinnert.

Ästhetik der Wahrheit und Form

Der Roman reflektiert die Spannung zwischen journalistischer Faktizität und literarischer Wahrheit. Der Erzähler erkennt, dass das Sammeln von Fakten nur eine Geste ist: „Le but n’était plus d’atteindre la vérité.“ Das ästhetische Prinzip ersetzt das forensische. Schreiben wird zum Akt der Treue, nicht der Enthüllung. Brunel schreibt gegen die Transparenz an. In der Sprache selbst entsteht ein Raum der Verlangsamung, eine „poétique de l’opacité“. So verwandelt sich das Dokumentarische in eine Meditation über das Medium: Der Roman zeigt, dass jede Form von Wirklichkeitserkenntnis ästhetisch vermittelt ist – „la vérité est un effet de forme“.

Im letzten Teil kehrt der Erzähler an den Ort der Gewalt zurück: „Le port de Hyères, c’est la morte saison.“ In dieser Stille, in der das Vergangene wie eine leere Kulisse daliegt, erreicht der Roman seinen paradoxen Höhepunkt: das Scheitern der Aufklärung als Moment ästhetischer Wahrheit. Der Erzähler findet keine neuen Zeugen, keine neuen Dokumente – nur Bilder: das leere Hotel, das entlaubte Tennisnetz, den Wind über dem Meer. „Das lockere Netz hielt in seinen Maschen einen Teppich aus abgestorbenen Nadeln fest.“ 5 Dieses Schlussbild ist emblematisch: Das Netz der Erinnerung hält nur Fragmente fest, Spuren, die sich zu einer Form fügen – nicht zu einer Wahrheit. Der Roman endet nicht mit Enthüllung, sondern mit einer Versöhnung mit dem Ungeklärten: die Akzeptanz der Unschärfe als Form der Klarheit („l’acceptation du flou comme forme de lucidité“).

Der Titel Le cercle des obligés entfaltet seine Bedeutung auf mehreren Ebenen – sozial, moralisch und poetisch. Wörtlich bezeichnet der „cercle des obligés“ die Gemeinschaft derer, die sich durch Schuld, Dank oder Loyalität aneinander gebunden fühlen: Journalisten, Schauspieler, Politiker, Komplizen einer Ära, die von Macht, Schweigen und gegenseitiger Erpressung zusammengehalten wird. Im übertragenen Sinn aber meint Brunel damit die existenzielle Verstrickung jedes Einzelnen in ein unsichtbares System von Abhängigkeiten – ein Kreis, aus dem niemand austreten kann, weil Erinnerung, Schuld und Verpflichtung ein geschlossenes System bilden. Der Erzähler selbst gehört zu diesem Kreis, „lié à jamais à Salberg“, wie er sagt; auch seine Spurensuche ist eine Form der moralischen Wiedergutmachung. Poetisch schließlich spielt der Titel auf die Kreisstruktur des Romans an – das Wiederkehren der Orte, der Zeiten, der Figuren –, in dem jede Wahrheit sich nur in der Bewegung des Rückkehrens zeigt. Le cercle des obligés bezeichnet also den endlosen Kreislauf der Schuld und des Wissens, der das menschliche Dasein bestimmt: ein Kreis der Erinnerung, aus dem niemand freikommt.

Le cercle des obligés ist ein Roman über die Ästhetik der Spur und die moralische Verpflichtung des Erinnerns. In der Überlagerung von Fakt und Fiktion, Archiv und Traum, Historie und Popkultur zeigt Brunel ein Frankreich, das sich selbst nur noch als Bild kennt. Der Kreis der „obligés“ ist der Kreis derer, die sehen müssen – der Reporter, der Künstler, aber auch der Leser.

Anmerkungen
  1. „J’allais reprendre à zéro l’enquête qu’il n’avait pas eu la force ou l’envie d’achever … et j’en assumerais secrètement l’héritage.“>>>
  2. „le treizième arrondissement cadencé par les stridences plaintives du métro aérien“>>>
  3. „Bardot nageant nue dans les eaux bleutées… la blondeur de Redford, les automnes new-yorkais de Sydney Pollack.“>>>
  4. „L’histoire tout entière, tu l’apprendras de chacun, par petits bouts… la vraie vérité.“>>>
  5. „Le filet détendu retenait dans ses mailles un tapis d’aiguilles mortes.“>>>

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