Inhalt
Jordan Bardella, Ce que je cherche, Fayard, 2024.
Jordan Bardella, Ce que veulent les Français, Fayard, 2025.
Pierre-Stéphane Fort, Le grand remplaçant: la face cachée de Jordan Bardella, Studiofact, 2024.
Woher ich komme und was ich suche
Eine Podcastserie nennt ihn „Le nouveau costume de l’extrême droite“: 1 Dass Jordan Bardella bei den Präsidentschaftswahlen 2027 für den Rassemblement National antreten wird, ist keineswegs endgültig, aber zunehmend wahrscheinlich: Seine Mentorin Marine Le Pen hat öffentlich erklärt, dass er antreten solle, falls sie rechtlich gehindert sei. Gleichzeitig hält Le Pen weiterhin offiziell an ihrer eigenen Kandidatur fest — nicht zuletzt trotz ihrer Verurteilung und dem damit verbundenen fünfjährigen Ausschluss von der Kandidatur. Damit befindet sich die Partei strategisch in einem Doppelpfad‑Szenario: Le Pen bleibt als A‑Kandidatin im Spiel, Bardella als B‑Kandidat für den Fall einer Verhinderung. Die beiden nun vorliegenden Bücher von Bardella, eine biographisch-politische Programmschrift (Ce que je cherche, 2024) und ein populistischer Erzählband über 20 französische Bürgerinnen und Bürger (Ce que veulent les Français, 2025) sind Teil von Bardellas Kandidatur.
Die kritische Bewertung von Jordan Bardellas erstem Buch Ce que je cherche von 2024 konzentrierte sich stark auf dessen Charakter als politisches Werkzeug und Marketingprodukt, weniger auf so etwas wie einen literarischen Wert. Die Veröffentlichung selbst wird als ein Ritual betrachtet, das für ambitionierte Politiker in Frankreich unerlässlich ist, um „an vorderster Front zu stehen“. 2 Ziel des Buches sei es, Bardella zu einer neuen Statur zu verhelfen, da ihm bisher eine gewisse Substanz fehle („manque d’épaisseur“). Die Rezensenten beurteilen Ce que je cherche überwiegend als Vehikel für seine politischen Ambitionen. Viele Beobachter sehen darin in erster Linie ein politisches Manöver, das Bardellas Karriere dienen soll. Der Verlag Fayard setzte mit der Veröffentlichung ein deutliches Zeichen, da eine große, renommierte Publikation für einen Spitzenpolitiker der extremen Rechten bis dahin eine Premiere darstellte.
Bardellas Buch Ce que je cherche präsentiert sich als Manifest eines politischen Aufsteigers, dessen persönlicher Werdegang die Wiederherstellung der nationalen „Größe“ Frankreichs legitimieren soll. Das von Bardella beanspruchte Politikverständnis ist eines des Dienstes (sacerdoce) und der Meritokratie, die das Überwinden der sozialen Herkunft durch Arbeit und Anstrengung ermöglicht. Er lehnt den „fatalisme“ und die „fiction égalitariste“ der Linken ab. Die Wahl des Titels, wird unmittelbar durch ein Motto Napoleons I. Bonaparte geadelt: „Ce que je cherche avant tout, c’est la grandeur : ce qui est grand est toujours beau“. Bardella interpretiert seine Suche als unausweichliche Konsequenz seiner Herkunft: „Wenn ich Ihnen erzähle, woher ich komme, werden Sie verstehen, wonach ich suche.“ 3 Das Werk ist entsprechend autobiografisch und programmatisch gegliedert in einen Prolog und drei Hauptteile, die den Wandel von der politischen Umwälzung („Le grand retournement“) zur persönlichen Sozialisation („De la cité à la Cité“) und schließlich zur nationalen Selbstbehauptung („Fierté française“) nachzeichnen. Die Darstellung dient der rhetorischen Etablierung Bardellas als Verkörperung der republikanischen Meritokratie, der seinen Aufstieg dem „travail, son courage et son énergie“ verdankt. Das Kapitel „Affaires de génération“ zeigt nicht zufällig die Dynamik und die Herausforderungen der neuen Generation von RN-Politikern und Wählern. Es soll Bardella als Anführer einer neuen, modernisierten politischen Bewegung positionieren und dabei Generationenkonflikte ansprechen.
Der endgültige Anspruch auf die Führung Frankreichs leitet sich für Bardella aus dem unvermeidbaren Wahlerfolg und der vermeintlichen Inkompetenz aller anderen Blöcke ab. Er präsentiert die Wahlsiege des RN, insbesondere den historischen Sieg bei den Europawahlen 2019 und die mehr als 10 Millionen Wählerstimmen, als Beweis dafür, dass seine Bewegung die einzige legitime Stimme des Volkes ist. Seine Ernennung zum Spitzenkandidaten und die Kampagne als designierter Premierminister („Bardella, Premier ministre“) sind logische Konsequenzen dieser Dynamik. Im Gegensatz dazu werden seine Rivalen – der arrogante, in seiner „kleinen ideologischen Komfortzone“ verharrende Linke Mélenchon, der inkompetente Gabriel Attal und der „Prokrastinator“ Emmanuel Macron – systematisch demontiert, um sie als unwürdig zu diskreditieren, die Geschicke des Landes zu lenken. Bardella suggeriert, dass der RN durch gesunden Menschenverstand („bon sens“) und rigide Vorbereitung die einzige Kraft darstellt, die Frankreich vor dem endgültigen Verfall und dem Verschwinden retten kann.
Clément Guillou zeichnet in einem Artikel über das erste Buch Bardellas 4 das Bild eines kalkulierten, inhaltsarmen Buchprojekts: Bardellas Autobiographie Ce que je cherche erscheine „kaum politisch, noch weniger literarisch“ und sei vor allem ein Medien- und Marketingprodukt, unterstützt durch das Bolloré-Imperium aus Verlag, Fernsehsendern und Vertriebskanälen. Der Text biete weder neue Einsichten noch Selbstreflexion, sondern wiederhole identitäre und migrationskritische Stereotype; Bardella inszeniere sich als Stimme einer bedrohten Nation, ohne seine eigenen Widersprüche – etwa die erfolgreiche Integration seiner italienischen Familie – zu thematisieren. Formal sei das Buch ein Patchwork aus Floskeln, Zitaten und Anleihen bei Eric Zemmour und Renaud Camus, getragen von einer „rhétorique zemmouriste“ und der Vorstellung kultureller Unvereinbarkeit. Politisch markiere es eine Abkehr von Marine Le Pens Linie des „ni droite ni gauche“ hin zu einer strategischen Allianz von konservativer Rechter und extremer Rechter – ein Kurs, der laut Guillou den wahren Kern des Projekts offenbart: Bardella als Bollorés Kandidat für die Fusion von identitärem und liberalem Nationalismus. Die Bücher von Jordan Bardella sind relevant im Kontext der kommenden Wahlen, weil es seine politische Strategie, Ideologie und die Richtung des Rassemblement National offenlegt. Auch wenn sie inhaltlich dünn sein mögen, zeigen sie Identitätsvorstellungen, migrationskritische Narrative und die geplante Allianz von rechter und rechtsextremer Wählerschaft, die für die politische Ausrichtung Frankreichs entscheidend sein könnten. Wer die Rhetorik, Symbolpolitik und Wahlstrategie Bardellas kennt, kann besser einschätzen, welche Themen, Koalitionen und politischen Botschaften in der nächsten Wahlperiode relevant werden.
Dem arbeitenden Franzosen eine Stimme geben?

Die kürzliche Veröffentlichung 2025 von Jordan Bardellas zweitem, strategisch gänzlich anders vorgehendem Buch Ce que veulent les Français kontrastiert Nelly Kaprièlian in Les Inrockuptibles zeitgleich mit der letzten Auswahlrunde des Prix Goncourt als Sinnbild einer kulturellen und moralischen Spaltung Frankreichs. 5 Während die nun noch verbleibenden vier Anwärter auf den Goncourtpreis, Carrère, Mauvignier, Appanah und Lamarche (vgl. meine verlinkten Artikel auf diesem Blog), durch literarische Qualität, historische Reflexion und humanistische Tiefe geprägt seien, verkörpere Bardellas Werk den Gegenpol: ein ideologisch gefärbtes Manifest, das unter dem Vorwand, „den arbeitenden Franzosen“ eine Stimme zu geben, rechtsextreme Narrative über nationale Bedrohung und Minderheitenfeindlichkeit reproduziere. Diese Parallelität von literarischem Gedächtnis und politischer Amnesie, zum anderen die Inszenierung Bardellas von Authentizitätspathos und orchestriertem Elitismus – symbolisiert durch Bardellas pompöse Buchpremiere im Théâtre Marigny – verdichtet sich in Kaprièlians Analyse zur Diagnose einer „französischen Spaltung“ zwischen Kultur und Propaganda.
Kaprièlian liest also Bardellas Buch nicht als Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte, sondern als populistische Inszenierung, die Ressentiment und Opfermythos kultiviert, im Gegensatz zu den vier Romanen: „Auf der einen Seite Texte, die die Geschichte neu beleuchten, zur Erinnerung mahnen, von einigen der schlimmsten Umwälzungen des 20. Jahrhunderts (Revolutionen, Kriegen) und dem im Namen von Ideologien vergossenen Blut erzählen … Texte, die die Gewalt gegen die Schwächsten anprangern, das patriarchalische System, das männliche Gewalt gegen Frauen zulässt oder sogar fördert, die Gewalt gegen Minderheiten, insbesondere Homosexuelle, und die Frauen von schwulen Männern als Kollateralopfer von Homophobie; auf der anderen Seite ein Buch, das unter dem Deckmantel, ‚den arbeitenden Franzosen‘ eine Stimme zu geben (aber nicht irgendwelchen, sondern sorgfältig ausgewählten Vertretern der extremen Rechten) das Ziel verfolgt, seine Ideologie zu legitimieren, indem es Minderheiten als absolute Bedrohung für Frankreich stigmatisiert, und zwar anhand von Erfahrungsberichten ‚echter Menschen‘.“ 6
Beobachter wie Nicolas Massol interpretierten das Buch als Versuch Bardellas, seine eigene Marke zu etablieren und sich von seiner Mentorin Marine Le Pen abzusetzen. 7 Obwohl Bardella Loyalität versprach und eine enge Beziehung zu Le Pen beteuerte (so noch in Ce que je cherche), wurde als auffallend notiert, dass er sie in seinem Buch nur noch ein einziges Mal erwähnt. Diese Marginalisierung führt Massols zur Schlussfolgerung, dass Ce que veulent les Français letztlich Bardellas Wunschfrankreich offenbare: ein Land voller Bosse, ohne nicht-europäische Migranten, und „sans… Marine Le Pen“.
Corentin Lesueur liest in Le Monde 8 auch Bardellas jüngstes Buch als politisch-ästhetische Selbstvermarktung: ein Buch ohne literarischen oder analytischen Tiefgang, aber mit klarer strategischer Funktion – die Vorbereitung eines künftigen Präsidentschaftsanspruchs. Er analysiert Jordan Bardellas Ce que veulent les Français als Versuch, sich selbst als „homme providentiel“ – als politischer Erlöser – zu inszenieren und sich endgültig von Marine Le Pen zu emanzipieren. Ein Jahr nach seinem ersten, Le Pen gewidmeten Band präsentiere Bardella nun ein Werk, das vorgibt, den „Puls des Landes“ zu erfassen, tatsächlich aber vor allem seiner persönlichen Profilierung diene. Unter dem Vorwand, zwanzig „echten“ Franzosen das Wort zu geben, liefere er eine Reihe sentimentaler, politisch instrumentalisierter Porträts. Hinter der vermeintlichen Vielfalt – von Bauern bis Bankern – stehe ein homogenes, national-konservatives Weltbild; Migration erscheint ausschließlich in der Figur der italienischen Mutter des Autors und mit Bardellas Lieblingswirt italienischer Herkunft.
Zum Prolog von Ce que veulent les Français
Bardellas Prolog des aktuellen Buchs inszeniert sich als empathische Annäherung an das „wahre Frankreich“, doch seine Rhetorik folgt klaren Mustern des Rechtspopulismus. Bardella konstruiert eine scharfe Dichotomie zwischen einem moralisch integren, arbeitenden „Volk“ und einer abgehobenen, technokratischen „Elite“. Diese klassische Oppositionsfigur – Volk versus System – ist das ideologische Fundament seiner Erzählung. Der Ton ist zugleich pastoral und anklagend: die einfachen Franzosen erscheinen als Opfer eines politischen Apparats, der „den gesunden Menschenverstand“ verraten habe, während Bardella selbst als ihr demütiger Chronist und moralischer Anwalt auftritt. Hier wird das „Volk“ in quasi-hagiographischer Weise beschrieben: „Humble“, „lucide“, „courageux“ – moralisch integer und still leidend. Diese Sakralisierung der einfachen Bürger ist ein zentraler Mechanismus populistischer Identitätspolitik. Die Bürger werden nicht als pluralistische, widersprüchliche Individuen verstanden, sondern als kollektive moralische Einheit. Dadurch entsteht ein binäres Weltbild: die „Arena“ der korrupten Macht hier, das „wahre Frankreich“ dort. Der Effekt ist eine Entdifferenzierung politischer Realität zugunsten eines emotionalen Mythos.
Si la France tient debout, c’est grâce à son peuple et à lui seul ; plus que jamais, je sais combien les paroles des Français sont la clé. Si la France tient debout, c’est parce que le peuple n’abdique pas et qu’il refuse de mourir.
Ils sont ceux qui nous nourrissent, nous protègent, nous soignent, nous enseignent, nous relient…
Ils sont ceux qui bâtissent, entreprennent, travaillent dur, sans jamais se plaindre.
Ils sont ceux qui peinent, ceux qui portent sur leurs épaules les efforts de la société tout entière.
Mais ils sont aussi ceux qui espèrent, patientent, rêvent de petites réussites et de grands projets.
Wenn Frankreich noch steht, dann nur dank seines Volkes und niemandem sonst; mehr denn je weiß ich, wie wichtig die Worte der Franzosen sind. Wenn Frankreich noch steht, dann weil das Volk nicht aufgibt und sich weigert zu sterben.
Sie sind es, die uns ernähren, uns beschützen, uns pflegen, uns unterrichten, uns verbinden …
Sie sind es, die bauen, Unternehmer sind, hart arbeiten, ohne sich jemals zu beklagen.
Sie sind es, die sich abmühen, die die Anstrengungen der gesamten Gesellschaft auf ihren Schultern tragen.
Aber sie sind auch diejenigen, die hoffen, geduldig sind, die von kleinen Erfolgen träumen und von großen Projekten.
In quasi religiöser Metaphorik wird hier ein Volk überhöht: Frankreich „steht“ nur aufrecht, weil das Volk „nicht stirbt“ – eine rhetorische Verschmelzung von Nation und Volk als Schicksalsgemeinschaft. Zugleich enthält die Formulierung eine implizite Opfersemantik: Das Volk hält das Land „aufrecht“, während andere – die Eliten – es verraten. Hier manifestiert sich die ideologische Grundfigur des Rechtspopulismus: nationale Vitalität kontra dekadente Herrschaft.
Car un peuple qui livre sa vie […] confie une responsabilité et une dette morale à celui qui l’entend avec la noble ambition d’y apporter des réponses.
Denn ein Volk, das sein Leben hingibt […], überträgt demjenigen, der es mit dem edlen Ziel hört, Antworten darauf zu finden, eine Verantwortung und eine moralische Verpflichtung.
Diese Selbstadressierung enthüllt das Zentrum der populistischen Erzählung: Der Autor inszeniert sich als Auserwählter, dem das Volk sein Leben anvertraut. Aus der behaupteten Empathie wird ein moralischer Auftrag, eine Art sakrale Mission. Diese moralische Schuld („dette morale“) rechtfertigt die politische Autorität Bardellas als Stimme des Volkes. Die Formulierung übersetzt Repräsentation in eine quasireligiöse Beziehung von Opfer und Erlöser – eine Struktur, die demokratische Distanz aufhebt und in charismatische Identifikation verwandelt.
Ob die 20 Personen des Buchs überhaupt real existieren, lässt sich in den meisten Fällen gar nicht überprüfen, am Buchende lesen wir: „Die Namen und Vornamen einiger Personen, die im Rahmen der Arbeit an diesem Buch getroffen wurden, wurden aus Gründen der Vertraulichkeit in Bezug auf ihre derzeitige berufliche Situation geändert.“ 9 Vielleicht ist das auch gar nicht mehr wichtig, denn ihre Stimmen sind letztlich lediglich als vielstimmig dramatisierter Monolog eines Präsidentschaftsbewerbers erkennbar.
Rhetorisch nutzt der Text mehrere Strategien populistischer Selbstinszenierung. Erstens die authentizistische Geste: Bardella betont immer wieder, er reise „allein, ohne Photoapparat“, nur mit einem Notizbuch – ein ritualisierter Verzicht auf Machtzeichen, der seine Nähe zum Volk performativ behauptet, zugleich aber ein kalkuliertes Element des politischen Marketings bleibt. Zweitens bedient er die Nostalgie des Verlorenen: Die moderne Demokratie („démocratie 2.0“) wird als entleerte, beschleunigte Medienmaschine verächtlich gemacht, der das „vraie vie“ – das wirkliche Leben – abhandengekommen sei. Diese Klage über Entfremdung dient nicht der Analyse, sondern der emotionalen Mobilisierung gegen ein anonymes, „entfesseltes“ System.
Ideologisch verschiebt Bardella den Begriff des Politischen ins Moralische: Politik ist nicht mehr Konflikt oder Aushandlung, sondern ein Akt der Wiederherstellung des „Bon sens“, des gesunden, nationalen Gemeinverstands. Dadurch wird Komplexität systematisch diskreditiert – „nuance“ und „esprit critique“ erscheinen als Opfer der Moderne, nicht als notwendige Bedingungen demokratischer Urteilskraft. Die Krisenerzählung (Krankenhäuser schließen, Bauern gehen zugrunde, Bürger werden besteuert und vergessen) konstruiert eine apokalyptische Stimmung, in der der Politiker als Retterfigur auftreten kann, ohne programmatisch konkret zu werden.
Der Prolog arbeitet somit mit drei ideologischen Achsen: der moralischen Reinheit des Volkes, der Korruption der Eliten und der erlösenden Berufung des Erzählers. Die Sprache ist sentimental, fast liturgisch; die anaphorische Wiederholung („Ils sont ceux qui…“) erzeugt eine sakrale Aufladung der Volksfigur, deren Leiden zu einem quasi religiösen Opfer stilisiert wird. In dieser rhetorischen Sakralisierung des „peuple“ liegt die gefährlichste Dimension des Textes: Die demokratische Vielstimmigkeit wird verdrängt zugunsten einer homogenen, mythisch überhöhten Gemeinschaft, deren Stimme Bardella zu verkörpern beansprucht. Seine Empathie ist kein humanistischer Gestus, sondern ein Instrument der politischen Identitätsstiftung – ein Akt symbolischer Aneignung des Volksgefühls, der letztlich auf Exklusion zielt.
Der ehrliche Fischer Bernard: Beispielanalyse Kapitel I, 1
Das erste Teil-Kapitel „I. Ceux qui nous nourrissent. – 1. Une vie sur la mer“ entfaltet sich zunächst als empathische Reportage, verwandelt sich jedoch zunehmend in ein ideologisch aufgeladenes Gleichnis über das „wahre Frankreich“. Bardella nutzt den Lebensweg des Sétois Bernard Di Maio als paradigmatische Erzählung für ein Land, das – so die implizite These – von der EU, den Umweltorganisationen und der „décroissance“-Ideologie verraten wurde. Der Text folgt einer dreistufigen rhetorischen Dramaturgie: Heroisierung, Opferdiskurs und politische Instrumentalisierung.
Bardella beschreibt Bernard und seine Arbeit mit epischer Zärtlichkeit: die Gerüche des Hafens, der rostende Rumpf, das frühe Aufstehen – eine Ästhetik der physischen Authentizität. Diese detailverliebte Schilderung dient nicht dokumentarischer Präzision, sondern der Mythenbildung: Arbeit und Herkunft werden sakralisiert, die Figur des Fischers erscheint als Hüter eines vormodernen, ehrlichen Frankreich. Schon in der Kindheit des Protagonisten („À six ans, il regarde les bateaux…“) inszeniert Bardella das Motiv des Berufungsschicksals – eine Art Heiligenerzählung in säkularer Form.
Die biographische Erzählung kippt allmählich in einen Diskurs der Bedrohung. Nach der heroischen Episode des Schiffsuntergangs – einem fast biblischen Moment der Läuterung – wandelt sich der Ton: „En 2000, il y avait cinquante chalutiers à Sète. Aujourd’hui, ils ne sont plus que dix. C’est simple, l’Union européenne veut nous tuer.“ Der Pathos des Überlebens schlägt in den Zorn des Übervorteilten um. Die EU, Umweltverbände und Globalisierung werden zu Feindbildern, die das lokale Leben systematisch zerstören. Bardella inszeniert das kleine Volk („petit peuple“) als Opfer einer technokratischen Fremdherrschaft – ein klassisches Element nationalistischer Narration, die das Nationale als moralische, das Überstaatliche als dekadente Macht markiert.
Der Begriff „souveraineté alimentaire“ fungiert als Schlüsselwort: Er überführt die individuelle Lebensgeschichte in eine kollektive Mission. Bardella verschmilzt wirtschaftliche Selbstbehauptung mit nationaler Wiedergeburt. Die Sorge um die Fischerei wird zur Allegorie auf den Zustand Frankreichs: „Die Aufgabe des Fischers aus Sète besteht darin, das Land mit Produkten zu nähren, um deren Qualität man uns weltweit beneidet: Roter Thunfisch aus dem Mittelmeer, Wolfsbarsch, Tintenfisch oder Goldbrasse. Eine Nation, die einen solchen Schatz in ihren Gewässern besitzt und sich dafür entscheidet, ihre Produzenten zu schwächen, glaubt nicht mehr an sich selbst.“ 10 Damit verleiht Bardella einer ökonomischen Realität – dem Strukturwandel der Küstenregionen – eine metaphysische Dimension. Der Verlust des Berufs wird zur Selbstverleugnung der Nation, und jeder politische Gegner erscheint als Täter in diesem moralischen Drama.
Die Umweltschützer werden als moralisierende Heuchler karikiert („convaincus de leur bon rôle, celui de dicter l’avenir…“), die EU als zerstörerische Bürokratie, der Staat als Komplize der Faulheit. Die Figuren Greenpeace oder „les ONG d’extrême gauche“ sind keine Gesprächspartner, sondern dämonisierte Gegenpole. Der Text arbeitet konsequent mit der binären Struktur eux/nous: sie – die Globalisten, die Grünen, die Bürokraten – und wir – die Arbeitenden, die Ernährer, die Treuen. Diese rhetorische Struktur erlaubt emotionale Identifikation, aber keine politische Differenzierung.
Am Ende weitet sich der Diskurs ins Soziale: Bardella lässt Bernard über Arbeitslosigkeit, Sozialhilfen und „certificats de complaisance“ klagen. Das Ressentiment wird hier zur verbindenden Erfahrung eines „wahren Frankreich“: Wer arbeitet, fühlt sich betrogen; wer nicht arbeitet, ist Nutznießer. Das moralische Gewicht der Arbeit ersetzt jedes ökonomische oder ökologische Argument. Die letzte Szene – der Traum von der korsischen Fahne – rundet das Kapitel symbolisch ab: Rückzug, Reinheit, Identität. Bardella führt so den Weg von der Meeresmetapher zum nationalen Pathos – aus der Biographie eines Fischers wird ein Manifest gegen Liberalismus, Europa und Multikulturalismus.
Das Kapitel ist präzise komponierte politische Prosa – emotional, suggestiv, literarisch geschliffen –, zugleich ein Musterbeispiel populistischer Ideologisierung des Alltäglichen. Unter dem Deckmantel des Respekts für das Handwerk konstruiert Bardella eine moralische Gemeinschaft der „ceux qui nourrissent“ gegen die „ceux qui décident“. Der Text operiert nicht mit Argumenten, sondern mit Bildern des Verrats und der Reinheit. In Bardellas Poetik der Nähe verbirgt sich eine Rhetorik der Ausgrenzung.
Obwohl der Rassemblement national hier nicht namentlich auftaucht, bleiben laut Lesueur dessen ideologische Konstanten – nationale Abschottung, Fremdenfeindlichkeit, Sozialdarwinismus – präsent. Er kritisiert besonders Bardellas rhetorische Kunstgriffe, mit denen er Fremdenfeindlichkeit unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Vernunft oder patriotischer Empathie platziere. Die Widersprüche zwischen der behaupteten Nähe zum „pays réel“ und der tatsächlichen Distanz des Autors – illustriert durch die glanzvolle Buchpremiere im Théâtre Marigny – entlarven den Versuch als kalkulierte Selbstmythisierung.
Lesueurs Artikel in Le Monde nennt exemplarische Figuren aus Jordan Bardellas Buch Ce que veulent les Français, ohne sämtliche zwanzig porträtierten Personen im Detail zu benennen. Aus der Rezension lassen sich einige konkrete Typisierungen entnehmen: François Héniau, ein Rinderzüchter aus dem Loiret, der sich über mangelnde Anerkennung und über vermeintlich zu hohe Sozialleistungen für Nicht-Arbeitende empört. Bardella kommentiert dessen Klage ausdrücklich zustimmend – ein exemplarischer „Stimmengeber“ für das Narrativ der arbeitenden, vernachlässigten Provinz. – Dominique, 55 Jahre, Direktor von Investitionen beim omanischen Staatsfonds, dient Bardella als Vorwand, um über „nationale Präferenz“ zu sprechen. Er zitiert dessen angebliche Bewunderung für die dortige Arbeitsmarktpolitik – allerdings unter Ausblendung der von NGOs dokumentierten Missstände. – Pascale Piera, ehemalige Anwältin und Richterin, heute Europaabgeordnete des Rassemblement Nation, Bardella beschreibt ihre berufliche Laufbahn, vermeidet jedoch jede parteipolitische Kennzeichnung, um den Anschein überparteilicher Legitimität zu wahren. – Ein Taxifahrer und ein Pflegekraft werden erwähnt – als Teil der sozialen Breite, die Bardella vorspiegelt. Ein Karatemeister, der später Lehrer an der „Star Academy“ wurde, steht als Beispiel für den volkstümlich-medialen Hintergrund mancher Porträtierten. Dazu kommen Vertreterinnen und Vertreter aus Landwirtschaft, Polizei, Finanzwesen und Gastronomie.
Die Auswahl, so die Kritik, bilde keine echte gesellschaftliche Vielfalt, sondern eine symbolische Bühne: Bardella lässt jene sprechen, deren Frustrationen sich mit seiner politischen Agenda verknüpfen lassen – Stimmen, die seine Rolle als Sprachrohr des „pays réel“ legitimieren sollen. Die Verlagsankündigung streift im Betonen der „authentischen“ Hommage eines „bescheidenen“, „fleißigen“ Frankreich den Sozialkitsch:
Après l’immense succès de son premier ouvrage, écoulé à plus de 230 000 exemplaires, Jordan Bardella revient avec un nouveau livre choc : Ce que veulent les Français, véritable journal intime d’une France travailleuse, humble et silencieuse. Pendant près d’un an, il a arpenté les routes, traversé les villes et les villages, tendant l’oreille aux Français de toutes conditions. Il a recueilli leurs doléances, leurs colères profondes, mais aussi les rêves, les attentes, et cette espérance si française qui continue de vivre inlassablement malgré les épreuves. Ce livre n’est pas seulement un recueil de confidences : il est le miroir d’un peuple oublié, la parole authentique d’une France que les élites méprisent et refusent d’écouter. Les responsables politiques qui le liront ne pourront plus dire qu’ils ne savaient pas. (Verlagsankündigung Fayard)
Nach dem großen Erfolg seines ersten Werks, das sich über 230.000 Mal verkauft hat, kehrt Jordan Bardella mit einem neuen, aufrüttelnden Buch zurück: Ce que veulent les Français („Was die Franzosen wollen“), ein authentisches Tagebuch eines fleißigen, bescheidenen und stillen Frankreichs. Fast ein Jahr lang war er unterwegs, durchquerte Städte und Dörfer und hörte den Franzosen aller Gesellschaftsschichten zu. Er sammelte ihre Beschwerden, ihre tiefe Wut, aber auch ihre Träume, Erwartungen und diese so typisch französische Hoffnung, die trotz aller Widrigkeiten unermüdlich weiterlebt. Dieses Buch ist nicht nur eine Sammlung von vertraulichen Bekenntnissen: Es ist der Spiegel eines vergessenen Volkes, die authentische Stimme eines Frankreichs, das von den Eliten verachtet wird und das sie nicht hören wollen. Die Politiker, die es lesen, können nicht mehr sagen, dass sie nichts gewusst hätten.
Anne Feitz von Les Echos fasst das Ziel des Buches prägnant zusammen: „sich als präsidentschaftsfähig präsentieren“ 11 Die politische Geste werde durch die Inszenierung Bardellas auf dem Cover unterstützt, wo er in einer „gaullistischen Pose“ an seinem Holzschreibtisch und auf der Rückseite in einer „chirac-artiger Bildsprache“ vor Kühen auf einer Wiese dargestellt werde – beides klare Hinweise auf seine großen Ambitionen.
Anthony Cortes von L’Humanité sieht in Bardellas zweitem Buch eine „Ablenkung von sozialer Wut“. 12 Die Zeugnisse der Bürger würden verzerrt und genutzt, um die politischen Antworten des Rassemblement als sich aufdrängend hinzustellen. Ein Hauptkritikpunkt war, dass das Buch seinen Titel Lügen strafe, indem es eine selektive Sicht auf die französische Gesellschaft biete, die Bardellas politische Agenda entgegenkomme. Nicolas Massol von Libération argumentiert, Bardella gebe die Erfahrungen „eines bestimmten Frankreich“ 13 weiter, die nicht der Vielfalt des realen Landes entsprächen. Massol untermauert diese These mit Statistiken: „Nur 20 % der ausgewählten Profile sind Angestellte oder Arbeiter, obwohl diese Gruppen 45,3 % der Erwerbstätigen ausmachen.“ Im Gegensatz dazu seien 55 % der 20 Begegnungen, also elf, aus dem Kreis der Unternehmenschefs, Direktoren, Handwerker und Selbstständigen gewählt worden, obwohl diese weniger als 30 % der Erwerbstätigen ausmachen. Daher schließt Massol: „Bardella hätte sein Buch besser mit dem Titel Was die Chefs wollen betiteln sollen.“ („Bardella aurait été mieux inspiré d’intituler son livre Ce que veulent les patrons.“) Diese Fokussierung markiert aus Sicht Massols eine Abkehr von der früheren populistischen Linie des Front National hin zu einem „trumpistischen Modell“, das die „Kleinen mit den Großen“ vereine. Bardella zeichne ein märchenhaftes Frankreich der Arbeit („France du travail“ als eine „monde enchanté“), in dem soziale Konflikte unbekannt seien und die Interessen durch Nationalismus konvergierten. Bardella schreibe, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber hätten ein und dieselbe Flagge. („Le salarié et le patron ont un seul et même drapeau.“) Die wahren Feinde seien stattdessen die EU, die Umweltnormen und die Bürokratie.
Die Veröffentlichung bei Fayard, das dem Medienimperium von Vincent Bolloré gehört, wurde als Teil der politischen Zusammenarbeit zwischen Bardella, seiner Partei und dem Bolloré-Konzern gedeutet und die pompöse Buchvorstellung im Théâtre Marigny als politischer Akt interpretiert: „Der Abend ist auch ein politischer Akt in diesem Verlagshaus, das zum … Treffpunkt der rechtsextremen Medien und Politik geworden ist.“ 14
Annika Joeres hat im Spiegel 15 Vincent Bolloré als ideologisch engagierten Medienunternehmer porträtiert, der seine milliardenschwere Macht gezielt zur politischen Einflussnahme nutzt. Mit seinem weitverzweigten Imperium – von CNews über Europe 1 bis zum Journal du Dimanche – habe er die französische Medienlandschaft tiefgreifend nach rechts verschoben und ein Klima der Angst erzeugt, das dem Rassemblement National den Weg ebne. Bolloré inszeniere Migration als Bedrohung, verbreite den rechten Mythos des grand remplacement und verschmelze Boulevard, Talkshow und Agitation zu einem einflussreichen Meinungsapparat, der Marine Le Pen offen begünstigt (und inzwischen Bardella). Seine Selbstdarstellung als bloß „christlich-konservativer“ Patriarch kontrastiert scharf mit der systematischen Entlassung kritischer Redakteure und der Instrumentalisierung seiner Sender für rechtsextreme Narrative. Der Artikel deutet Bollorés Engagement als kalkulierte Machtstrategie – ökonomisch wie ideologisch –, die Frankreichs demokratische Öffentlichkeit in eine gefährliche Schieflage bringe.
Hinsichtlich des Inhalts wurde Bardellas erstes Werk von Florent Le Du als „quasi vollkommen leer“ beschrieben, es fehle an Details und Reflexion über seine persönliche Geschichte („Creux politiquement, sans détails ni réflexion sur son récit personnel“), 16 wobei die politischen Strategien ebenso wie Spitzen gegen Gegner an der Oberfläche bleiben („tout reste en surface“). Der Autor bemüht sich um eine intime, aber gefilterte Darstellung seiner Herkunft. Er versucht, seine Geschichte als die eines „gewöhnlichen Franzosen, in dem sich viele wiedererkennen können“ darzustellen 17 Kritisiert wird jedoch, dass er seine Kindheit in einem Plattenbau in Saint-Denis zwar schildert, aber seine andere Wohnsituation bei seinem Vater in einem wohlhabenderen Vorort verschweigt, um seine „soziale Klassenzugehörigkeit“ zu betonen. 18 Der wahre Zweck des ersten Buches bereits wird vom Kommentator Mathieu Lindon auf zwei Worte reduziert: „die Macht“ („le pouvoir“). 19
Bardellas Suche: politische Neuausrichtung und ideologische Botschaften

Der Inhalt des Buches Ce que je cherche von 2024 wird als strategisches Dokument betrachtet, das Bardellas Wunsch nach einer neuen politischen Positionierung unterstreicht. Er strebt eine klare Ausrichtung auf die klassische Rechte an, was als Bruch mit der langjährigen „sozial-populistischen“ Linie Marine Le Pens interpretiert wird. 20 So befürworte Bardella ausdrücklich die Strategie Nicolas Sarkozys von 2007, populäre Schichten und das konservative Bürgertum zu vereinen. Er halte die Idee, „die Franzosen aus den populären Schichten und einen Teil der konservativen Bourgeoisie in einem Schwung zu vereinen – wie Nicolas Sarkozy es 2007 tat – für relevant“ („L’idée de réunir dans un même élan les Français issus des classes populaires et une partie de la bourgeoisie conservatrice – comme Nicolas Sarkozy le fit en 2007 – est pertinente“) Guillaume Tabard deutet Bardellas Buch als Grundlage für eine „Union der Rechten“. 21 Im Gegensatz zum RN-typischen „Sozialstaatspopulismus“ präsentiere Bardella eine wirtschaftliche Vision, die dem pro-unternehmerischen und „vernünftig liberalen“ Diskurs der „klassischen Rechten“ nähersteht.
Bardella weist das Etikett „extrême droite“ kategorisch zurück, da dieses Label lediglich dazu diene, ihn zu verteufeln und in das „Museum der Schrecken der Geschichte“ zu verbannen, wodurch seine Gegner jede substanzielle Debatte über die wirklichen Probleme verhindern wollen. Er behauptet, sein politisches Engagement werde von der Vernunft geleitet und entbehre jeglicher intellektuellen Nähe zur politischen Tradition der extremen Rechten, wobei er stattdessen den Kampf gegen alle Formen von Hass, Rassismus und die islamistische Ideologie als seine Kernwerte beansprucht, um das Recht der Franzosen auf ihre Identität zu verteidigen. Diese prononcierte Ablehnung dient letztlich der strategischen Positionierung, indem sie den RN als die einzige legitime Stimme des „gesunden Menschenverstandes“ („bon sens“) darstellt, die gegen die „Gutmenschen-Elite“ („bien-pensance“) antritt und das Wiedererlangen der nationalen Souveränität fordert.
Bardella interpretiert die Einheit der französischen Rechten nicht primär als ideologische Harmonie, sondern als kühl kalkulierte, strategische Notwendigkeit, um die politische Lähmung des Landes zu beenden („l’heure est trop grave pour se disperser“). Der Schlüssel zur Überwindung der jahrzehntelangen Isolation und der Brandmauer („Cordon Sanitaire“) war die historische Allianz mit Éric Ciotti und der Fraktion der Les Républicains (LR), die Bardella als „wahre Revolution“ und als Befreiung aus dem politischen „Bann“ feiert. Ziel dieser selektiven Einheit ist es, die LR-Anhänger als „Waisen“ einer gemäßigteren Rechten zu gewinnen und durch die Integration konservativer Figuren die Glaubwürdigkeit des RN als regierungsfähige Kraft zu beweisen. Gleichzeitig wies Bardella ein Bündnis mit Éric Zemmours Reconquête als „Rückkehr in die Vergangenheit“ und als strategische Belastung ab, da Zemmour „zu karikaturhaft“ sei, um die notwendige breite Wählerschaft zu mobilisieren. Die Überwindung des Cordon Sanitaire ist somit ein taktischer Coup, der die soziologische Barriere durchbricht, indem Bardella sich als der Anführer präsentiert, der das „Establishment der Republik“ („noblesse de la République“) herausfordert und die „Irruption des Volkes“ in die Machtzentren möglich macht.
Jordan Bardella richtet scharfe Vorwürfe gegen Emmanuel Macron, die sich auf dessen persönlichen Charakter, politische Manöver und eine alarmierende Misswirtschaft stützen, die zur Spaltung und Schwächung Frankreichs geführt habe. Macron wird als von seinem Ego beherrscht, zynisch, schamlos und ein „duplizistischer“ Taktiker beschrieben, dessen ständige Meinungswechsel und die Haltung des „En même temps“ (gleichzeitig) in Wahrheit ein „nationales Debakel“ seien. Er habe eine arrogante und verächtliche Haltung gegenüber dem Volk und liebe die „wirkliche Welt“ nicht, sondern nur die Träume, die seinem „brodelnden Gehirn“ entsprängen. Macron werde für die alarmierendste finanzielle Bilanz der letzten Jahrzehnte verantwortlich gemacht, inklusive Rekorddefiziten, und habe französisches Vermögen verschleudert – wie den Verrat von Alstom an General Electric – was als Verrat an den nationalen Interessen gewertet wird. Seine Amtszeit sei zudem von institutioneller Schwäche und Zögern geprägt.
Die strategischen Manöver Macrons zum Machterhalt sind ein weiterer zentraler Angriffspunkt. Er habe die vorzeitige Auflösung der Nationalversammlung als Akt der Rache nach der Wahlniederlage genutzt und einen „entehrenden Wahlpakt“ mit der extremen Linken (Nouveau Front Populaire/Mélenchon) geschlossen, um den RN zu blockieren, obwohl er diese Linke kurz zuvor noch als antisemitisch und antidemokratisch verurteilt hatte. Diese Taktik belege seine „seltsame Vorstellung von Demokratie“. Zudem habe Macron durch ideologische Projekte wie die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung versucht, politische Fallen zu stellen, statt sich um die tatsächlichen Probleme zu kümmern. Auf identitärer Ebene habe Macron die „Archipellisierung“ und Fragmentierung Frankreichs vorangetrieben, indem er eine „kulturelle Leugnung“ verfolge, die sich in seinem angeblichen Ausspruch „Es gibt keine französische Kultur“ manifestiere, und indem er gegenüber der Gewalt und Einwanderung eine kollektive Naivität an den Tag lege. Die Regierung zeige „Feigheit“ und „Impotenz“ gegenüber der Kriminalität und der nicht erfolgten Abschiebung gefährlicher Ausländer.
Jordan Bardella vertritt eine nationalistisch-identitäre Politik, die Migration, Sicherheit und kulturelle Homogenität ins Zentrum rückt. Er stilisiert die „crise migratoire“ zur entscheidenden Bedrohung seiner Generation und verknüpft sie mit der rechtsextremen Theorie des „grand remplacement“, die er rhetorisch umschreibt, aber inhaltlich übernimmt. Sein politisches Programm ist auf soziale Exklusion ausgerichtet – etwa durch die Forderung, Sozialleistungen für Sans-Papiers zu streichen. Gesellschaftspolitisch tritt er als Kulturkonservativer auf, der gegen gleichgeschlechtliche Ehe und Leihmutterschaft argumentiert, zugleich aber taktisch Kompromisse signalisiert. Seine technologische Skepsis – etwa gegenüber Künstlicher Intelligenz, die er als „autre grand remplacement“ bezeichnet – spiegelt eine populistische Abwehr moderner Veränderung, die er als Entfremdungserfahrung deutet.
Ökonomisch positioniert sich Bardella im Gegensatz zu Marine Le Pen als marktwirtschaftlicher Rechter, der Steuersenkungen für Unternehmen und Aktivierungspflichten für Sozialleistungsempfänger fordert (vgl. Kap. „Au nom du mérite“ in Ce que je cherche). Bardella vollzieht eine kalkulierte strategische Abkehr von der früheren „sozialistischen“ Kapitalismuskritik seiner Partei, indem er sich als Pragmatiker positioniert, der wirtschaftlichen Aufschwung durch „confiance“ (Vertrauen), steuerliche Entlastung der Produktion („allègement fiscal“) und Bürokratieabbau für Unternehmen sichern will. Die ursprünglich isolationistisch wirkende Forderung nach intelligentem Protektionismus wird dabei geschickt in einen geopolitischen Realismus umgedeutet, der angesichts der Fehler der Globalisierungseliten und des neuen Blockdenkens (USA und China) als notwendiges Gegenmittel zur nationalen Entwaffnung und als Voraussetzung für die Macht Frankreichs dargestellt wird. Dieser manövrierte Marsch zur Marktakzeptanz dient der Gewinnung des traditionellen bürgerlichen Wählers, während er gleichzeitig die Macronisten für alarmierende Defizite und Schulden und die Linke für „demagogische“ und „ruinöse“ Vorschläge wie unrealistische Mindestlöhne verantwortlich macht.
Ökologisch wendet er sich gegen jede Form von „écologie punitive“, verherrlicht das Auto, diffamiert Windkraft als Umweltbedrohung und erklärt Grenzschutz zum Kern nationaler Umweltpolitik – eine ideologische Umdeutung ökologischer Diskurse in den Dienst des Nationalismus. Außenpolitisch pflegt er ein opportunistisches Profil: formal pro-ukrainisch, de facto ambivalent gegenüber Russland, während er sich an italienischen Rechtsnationalisten wie Salvini orientiert. Seine Programmatik verknüpft ökonomischen Liberalismus mit identitärer Abwehrhaltung – ein autoritär-nationales Projekt, das soziale Konflikte entlang ethnischer und kultureller Linien kanalisiert.
Seine „Feder belebt sich wirklich nur, wenn es um Einwanderung geht“, lesen wir im Nouvel Observateur. 22 Bardella nutze das autobiografische Element, um Einwanderung als die Hauptbedrohung für das „französische Volk“ darzustellen. Dabei warne er vor dem Fortschreiten der „Entassimilation“ („La désassimilation est en marche“) und konstatiere, dass der Bürgerkrieg vor der Tür steht („La guerre civile est à nos portes“).
Frankreichs Vernunftehe: gegenüber Deutschland und der Europäischen Union
L’Europe s’est longtemps construite sur un couple franco-allemand idéalisé, devenu au fil du temps un mariage de raison. Les divergences se sont accrues, la confiance a faibli. (Bardella, Ce que je cherche.)
Europa wurde lange Zeit auf einer idealisierten deutsch-französischen Partnerschaft aufgebaut, die im Laufe der Zeit zu einer Vernunftehe wurde. Die Meinungsverschiedenheiten nahmen zu, das Vertrauen schwand.
Das Bild einer bloßen Vernunftehe von Deutschland und Frankreich ist vielsagend: die europäische Integration wird hier von Jordan Bardella als nüchterne Zweckgemeinschaft gedeutet, nicht als historisches Friedensprojekt. Die „faible confiance“ suggeriert eine emotionale Entleerung der politischen Vision. Damit distanziert sich der Vorsitzende der französischen Partei Rassemblement National rhetorisch von der Idee einer europäischen Einheit als Ideal und ersetzt sie durch ein Konzept bilateraler Zweckmäßigkeit – ein Paradigmenwechsel, der gut in eine nationalkonservative Argumentationslinie passt. Bardella stellt Deutschland und die EU gleich, als gemeinsame Quelle ökonomischer Unterdrückung: „Die französische Industrie hat zu lange unter einer blinden Ausrichtung auf die von Berlin und Brüssel diktierten Wettbewerbsregeln gelitten.“ 23 Der Begriff „dictées“ evoziert eine autoritäre Ordnung, in der Frankreich zum Schüler einer fremden Norm wird. Das reproduziert ein populistisches Narrativ ökonomischer Fremdbestimmung: Frankreich als Opfer einer technokratischen, deutschen Wirtschaftslogik. Es ist eine Umdeutung europäischer Kooperation in ein Bild struktureller Demütigung.
Je crois en une Europe des Nations, pas en une Europe allemande. L’amitié franco-allemande doit rester un dialogue, non une soumission.
Ich glaube an ein Europa der Nationen, nicht an ein deutsches Europa. Die deutsch-französische Freundschaft muss ein Dialog bleiben, keine Unterwerfung.
Hier wird das Vokabular der „amitié“ – traditionell Symbol der europäischen Aussöhnung – semantisch aufgeladen: sie wird zur Grenze gegen „soumission“. Damit verschiebt sich der Diskurs vom partnerschaftlichen Dialog zur Verteidigungsrhetorik. Die Metapher der Unterwerfung impliziert auch hier ein asymmetrisches Verhältnis, das nationale Souveränität bedroht. Diese Umcodierung des Freundschaftsmotivs ist ein zentrales rhetorisches Mittel des souveränistischen Diskurses: Sie verwandelt Integration in Widerstand.
La Nation n’est pas un concept abstrait ou obsolète. Partout dans le monde elle est une réalité vivante, faite de territoires et de terroirs, de villes et de villages, de plages et de montagnes, de chairs et d’histoire. Ses défenseurs sont les gardiens d’une fraternité entre compatriotes, d’une société à visage humain dans un monde liquide que certains veulent sans attaches ni frontières.
Die Nation ist kein abstraktes oder überholtes Konzept. Überall auf der Welt ist sie eine lebendige Realität, bestehend aus Territorien und Regionen, Städten und Dörfern, Stränden und Bergen, Menschen und Geschichte. Ihre Verteidiger sind die Hüter einer Brüderlichkeit unter Landsleuten, einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz in einer flüchtigen Welt, die manche ohne Bindungen und Grenzen haben wollen.
Bardellas Rhetorik beschwört einen fast organischen Nationalbegriff, in dem Territorium, Körper („chairs“) und Geschichte verschmelzen. Das Bild des „monde liquide“ evoziert eine Bedrohung durch Globalisierung, Mobilität und Diversität. Durch die Opposition „monde liquide“ vs. „société à visage humain“ entsteht ein moralisches Gefälle: der Nationalismus erscheint als menschlich und schützend, die Offenheit als entmenschlichend. Diese naturalisierte Vorstellung der Nation legitimiert implizit Exklusion – wer nicht Teil der „chair“ der Nation ist, erscheint körperlich fremd.
Ces émeutes révèlent […] la fracturation du pays, l’existence d’une haine de la France, non depuis des pays extérieurs, mais sur le sol de France. La barbarie est autour de moi. […] Pour moi, il n’y a aucun autre message qu’un rejet de l’État, de ses symboles et de ses représentants, un rejet de ce que nous sommes.
Diese Unruhen offenbaren […] die Spaltung des Landes, die Existenz eines Hasses auf Frankreich, nicht aus dem Ausland, sondern auf französischem Boden. Die Barbarei umgibt mich. […] Für mich gibt es keine andere Botschaft als die Ablehnung des Staates, seiner Symbole und seiner Vertreter, eine Ablehnung dessen, was wir sind.
Hier verschiebt sich die Wahrnehmung sozialer Unruhen in eine existenzielle Feindbeschreibung. Die Rede von der „barbarie“ und vom „rejet de ce que nous sommes“ essentialisiert gesellschaftliche Konflikte zu einer moralisch-nationalen Konfrontation. Strukturelle Ursachen (soziale Ausgrenzung, Diskriminierung) werden delegitimiert zugunsten einer Dichotomie zwischen „la France“ und einem inneren Feind. Solche Deutungen sind typisch für identitäre Rhetorik: sie emotionalisieren Politik als Überlebenskampf einer bedrohten Zivilisation.
Être un “petit Blanc” en cité, où les cultures étrangères sont une norme et la culture française, une exception, peut être déroutant. […] Parfois, cette nostalgie […] revient à se sentir étranger dans son propre pays.
Als „kleiner Weißer“ in einer Vorstadt zu leben, wo fremde Kulturen die Norm und die französische Kultur die Ausnahme sind, kann verwirrend sein. […] Manchmal kommt diese Nostalgie […] einem Gefühl gleich, sich in seinem eigenen Land fremd zu fühlen.
Der Begriff „petit Blanc“ aktualisiert koloniale Semantiken der Entortung und des Opferdiskurses. Er konstruiert einen ethnisierten Gegensatz zwischen einer „norme étrangère“ und der „culture française“ und verwandelt subjektives Unbehagen in eine politische Diagnose nationaler Entfremdung. Die Suggestion einer „dépossession“ – der Verlust der eigenen Heimat – ist ein zentraler Topos populistischer und rechtsextremer Erzählungen. Sie dient der Mobilisierung von Angst und Nostalgie, während Migration als Bedrohung nationaler Identität stilisiert wird.
Bardellas Vision für Europa ist klar: Es geht um die Verteidigung des nationalen Interesses gegenüber den von Brüssel auferlegten Entscheidungen, die die Franzosen zu spüren bekämen: „Et les Français subissent ces choix!“. Er sieht die Europawahlen als entscheidenden „référendum sur la politique du président“. Er befürwortet eine Neuausrichtung hin zu „des Nations protectrices“ und lobt die „progression remarquable de mouvements patriotes“ auf dem Kontinent. Die Kritik an Deutschland manifestiert sich in der Verurteilung des Atomausstiegs, der Deutschland unter dem „poids du lobby des Verts“ in die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen geführt habe. Er plädiert dafür, die „faiblesse“ der EU nicht länger als Trophäe zu tragen, sondern zur nationalen „puissance“ (Macht) zurückzukehren.
Bardella positioniert sich und seine politischen Verbündeten als pragmatische Realisten, die die geopolitischen und ökonomischen Veränderungen der Welt (US-Blockbildung, Ende der liberalen Globalisierung) erkannt haben. Im Gegensatz dazu werden die EU-Führer als „naiv“, dogmatisch und intellektuell im Rückstand dargestellt. Bardella versucht, die EU als eine ideologisch getriebene, schwache und historisch überholte Struktur zu delegitimieren, die im Widerspruch zu den notwendigen nationalen Interessen Frankreichs steht. Die ideologische Implikation ist die Notwendigkeit eines Kurswechsels hin zu nationaler Stärke, Protektionismus und ökonomischer Souveränität, um die Unabhängigkeit Frankreichs in einer sich neu ordnenden Welt zu gewährleisten.
Die Logik der Loyalität: Marine Le Pen und die Abgrenzung nach Rechts
Im Zentrum von Bardellas politischem Selbstverständnis steht 2024 noch die Figur Marine Le Pens, deren Beziehung er als von absolutem Vertrauen und unerschütterlicher Loyalität geprägt schildert. Sein politisches Erwachen datiert er auf das Fernsehduell zwischen Le Pen und Jean-Luc Mélenchon im Jahr 2012. Er sei stolz, für sie zu arbeiten, und beteuert: „Je n’ai jamais songé a baisser les bras ou trahir celle pour qui je m’étais engagé“. Diese Loyalität gipfelt in der öffentlichen Proklamation des „Ticket à l’américaine“, bei dem Le Pen als Präsidentschaftskandidatin und er selbst als Premierminister vorgesehen ist. Diese Inszenierung dient der politischen Komplementarität, denn der Erfolg des RN sei „d’abord le sien [Le Pens], le fruit de ses choix, de sa détermination“. Damit positioniert sich Bardella nicht als Rivale, sondern als der strategische Vollstrecker, der von der „famille du Rassemblement national“ eine Chance erhalten hat. Diese Zurückhaltung könnte sich freilich, wie oben gezeigt, schon mit dem zweiten Buch 2025 ändern.
Parallel zur Betonung der Loyalität zu Le Pen vollzieht Bardella eine strategische Abgrenzung von radikaleren Kräften. Er weist die Etikettierung „extrême droite“ entschieden zurück, da sie lediglich ein Versuch sei, ihn zu „diaboliser“ und „un quelconque discours sur le fond“ zu verhindern. Der Bruch mit den Exzessen des früheren Front National (FN) wurde seiner Darstellung nach vollzogen, um eine „force de gouvernement mature“ zu werden. Besonders scharf erfolgt die Abgrenzung von Éric Zemmour. Er gesteht Zemmour zwar intellektuelle Anerkennung als Journalisten und Autor zu, kritisiert ihn aber als Politiker, der „Trop caricatural, excessif pour être compris de tous“ sei. Zemmour wird als unfähig dargestellt, die „indispensable jonction“ zwischen Volk und konservativer Bourgeoisie herzustellen. Die Allianz mit Zemmour hätte der RN in die Vergangenheit zurückgeführt: „Je vois dans une alliance avec le parti Reconquête un retour vers le passé“. Indem er Zemmour implizit die „fébrilités“ des alten, unregierbaren Lagers zuweist, präsentierlt er sich selbst als Garant einer seriösen patriotischen Einheit.
Populistisches Framing, Rhetorik und nationale Wiederbelebung
Bardellas Narrativ ist auch in Ce que je cherche durchzogen von klassischen populistischen Elementen, die den Konflikt zwischen „den Unseren“ und den „Eliten“ unerbittlich zuspitzen. Er stilisiert sich als Sprachrohr der „France des oubliés“ und des „peuple de onze millions de Français“, dem die arrogante Elite um Emmanuel Macron mit „mépris“ begegne. Die Macronisten werden als „noblesse de la République“ dargestellt, die sich über das Volk erhebe, das wagt, „surgir dans notre monde“.
Die Erzählung seiner Herkunft aus der HLM-Siedlung (cité) von Saint-Denis fungiert dabei als zentrales Framing-Mittel für seine Glaubwürdigkeit: „Mon histoire est celle d’un Français ordinaire dans laquelle beaucoup pourront se reconnaître“. Er spricht von der „violence“ und dem „deal“, die ihn zur Politik trieben, und nutzt seinen italienischen Migrationshintergrund, um die Notwendigkeit der Assimilation zu betonen: „Si l’intégration de Iolanda et Severino a si bien fonctionné, c’est qu’elle était européenne“. Die gegenwärtige „désassimilation“ durch immigration de masse sei die Ursache für die fracturation und den morcellement des Landes.
Rhetorisch bedient er sich einer Metaphorik des Kampfes und des Sports. Seine Karriere ist eine unaufhörliche Anstrengung, sei es als Sisyphos, der den Felsen den Berg hinauf rollt, oder als Kämpfer, der im politischen „grand bain“ die Schläge einsteckt. Macron wird hingegen als „avion de ligne en plein ciel, sans pilote“ dargestellt, der durch seine „volatilité idéologique“ die „IVe République“ (ein Synonym für politische Instabilität) reproduziere. Die Verteidigung der nationalen Kultur und der Religion, etwa bei der Katastrophe von Notre-Dame, wo das Herz der Franzosen „à l’unisson“ schlug, ist der emotionale Gegenpol zur Kälte der Elite.
Jordan Bardellas Ce que je cherche enthält starke Elemente eines historischen roman national, da er die nationale Identität als ein unveräußerliches, zu verteidigendes kulturelles Erbe versteht. Dieses Narrativ soll die durch Globalisierung und Einwanderung zerrüttete Gesellschaft wieder einen. Bardella postuliert, dass die Nation ein „Erbe an Erinnerungen“ („legs de souvenirs“) sei, und fordert die Franzosen auf, den „roman national neu zu fassen“ („refondre le roman national“), um dem Land wieder einen Sinn zu geben. Dieses Epos stützt sich auf historische Pfeiler der Größe und des Widerstands: Er zitiert Napoleon Bonaparte als Sinnbild für die Suche nach „grandeur“, bewundert Charles de Gaulle, der die „Kraft des Neins in der Geschichte“ („force du non dans l’Histoire“) verkörperte, und ehrt Jeanne d’Arc als Schutzpatronin Frankreichs. Kulturelle Symbole wie die Kathedrale Notre-Dame de Paris werden als die „Seele Frankreichs“ beschrieben, deren Brand die „Nation-Zivilisation“ in ihrem tiefsten Inneren verband. Die Wiederherstellung dieser glorreichen Geschichte ist für ihn essenziell, denn Völker ohne Gedächtnis und ohne Wurzeln seien „Völker in Ruinen“.
Die Mobilisierung dieses nationalen Narrativs dient als Bollwerk gegen kulturelle Leugnung und Dekadenz. Bardella attackiert die Haltung, es gäbe „keine französische Kultur“, und warnt vor der „Archipellisation“ (Fragmentierung) Frankreichs in unzusammenhängende Gemeinschaften. Er betont, dass die Nation auf gemeinsamen Werten, wie der Gleichheit von Mann und Frau und der Freiheit der Frau, sowie auf einer „Vielfalt der regionalen Traditionen“ als „Schatz angesichts des Globalismus“ beruhe. Der Kampf, den er führt, ist eine existentielle „Bataille pour notre civilisation, notre identité et l’avenir de nos enfants“. Er fordert ein „Gebot des Widerstands“ („devoir de résistance“) und einen „Geist der Eroberung“ („esprit de conquête“). Letztlich sollen die Franzosen begreifen, dass sie durch die historische Kontinuität – die von der Krönung von Reims bis zum Föderationsfest reicht – verbunden sind, um die „Auslöschung der französischen Zivilisation“ zu verhindern, die durch den Zusammenbruch der nationalen Schule droht.
Aufruf zum Widerstand
Die Wahlen 2024 dominieren die Première partie des Buches, beginnend mit der „Déflagration“ (Detonation) nach den Europawahlen. Bardella inszeniert den Sieg bei den Europawahlen (fast 32 % der Stimmen) als historischen Erfolg, der zur von ihm geforderten Auflösung der Nationalversammlung führte: „J’ai voulu provoquer la démission du gouvernement et un retour aux urnes. Nous y sommes“. Der anschließende Wahlkampf wird zur „course contre la montre“, deren Ziel die „conquête de Matignon“ war. Die Strategie sah eine Öffnung und main tendue (ausgestreckte Hand) zur patriotischen Rechten vor, gipfelnd in der Allianz mit Éric Ciotti von LR. Dies sollte das RN als „force de gouvernement mature“ beweisen.
Die Niederlage bei den Legislativwahlen (nur 126 Sitze trotz des Sieges bei den Stimmen) wird als demokratischer Diebstahl und Folge des „front républicain“ gedeutet. Er verurteilt die „alliance monstrueuse entre M. Mélenchon et M. Macron“ und die „manœuvres tacticiennes“, die den Franzosen die freie Wahl verweigerten. Diese populistische Taktik der Delegitimierung des Wahlergebnisses durch das „parti unique“ dient dazu, die politische Entschlossenheit für zukünftige Siege zu manifestieren: „Rien ne peut se faire sans le Rassemblement national, ou contre lui“.
Bardella präsentiert Ce que je cherche nicht nur als eine Selbstverteidigung gegen Anfeindungen und harcèlement médiatique, sondern als kohärente Erzählung eines Schicksals, das sich von der cité zur Cité erhebt. Er beendet das Werk mit einem Appell zum Widerstand gegen den drohenden „déclin“ und die „fatalité“, wobei er seine Generation auffordert, an den „destin de notre pays“ zu glauben. Der Essay beweist, dass die Suche nach „Größe“ in Bardellas politischer Sprache untrennbar mit der strategischen Nutzung des eigenen Narrativs und einer prononcierten populistisch-patriotischen Rhetorik verbunden ist, die jegliche Kritik als Teil einer „traque médiatique“ abweist, um die eigene „Fierté française“ zu untermauern.
Pierre-Stéphane Fort: die verborgene Seite von Jordan Bardella

Die Kernthesen des Buches Le grand remplaçant von Pierre-Stéphane Fort, das die verborgene Seite von Jordan Bardella beleuchtet, konzentrieren sich auf die Diskrepanz zwischen Bardellas öffentlichem, „entdämonisiertem“ Image und seinem tatsächlichen opportunistischen, radikalen und von der Le Pen-Dynastie abhängigen Werdegang.
Der Titel Le Grand remplaçant (Der große Austauschkandidat) spielt auf brillante und provokante Weise mit der zentralen ideologischen These der extremen Rechten, während er gleichzeitig Jordan Bardellas einzigartigen politischen Status innerhalb des Rassemblement National (RN) charakterisiert. Die kritische Interpretation des Titels oszilliert somit zwischen ideologischer Anspielung und politischer Funktionsbeschreibung.
Einerseits greift der Titel unmittelbar die von der identitären Bewegung geprägte Doktrin des grand remplacement auf, jene These, die behauptet, das autochthone französische Volk werde systematisch durch Einwanderer ersetzt. Diese Thematik ist tief in Bardellas Rhetorik verankert und dient der emotionalen Mobilisierung seiner Wählerschaft. Das Buch enthüllt, dass Bardella selbst die Existenz dieser angeblichen Entwicklung öffentlich als eine „réalité qui est juste“ (eine Realität, die wahr/gerecht ist) beurteilt hat. Sein Kommunikationsberater enthüllte, dass das Narrativ seiner Kindheit in der Banlieue gezielt darauf abzielte, die Angst vor diesem Austausch zu schüren: Er sprach in seinen Reden vom „cauchemars“ der cité und warnte: „Tremblez, la vague du grand remplacement arrive !“ (Zittert, die Welle des großen Austauschs kommt!). Diese direkte ideologische Anknüpfung wird durch Bardellas engsten Berater Pierre-Romain Thionnet bekräftigt, der Renaud Camus, den Urheber dieser Theorie, offen als einen seiner „maîtres à penser“ (Vordenker) bezeichnet. Der Titel transportiert somit eine Botschaft der Zivilisationsangst und der identitären Konfrontation.
Andererseits bezieht sich Le Grand remplaçant auf Jordan Bardellas Rolle als designierter Nachfolger Marine Le Pens. Im dynastischen und klanaffinen Gefüge des RN ist Bardella der erste Parteipräsident, der nicht den Namen Le Pen trägt. Er wird zum „dauphin“ stilisiert, dem „Grand Ersatzmann“, der die „boutique“ übernimmt und dessen Karriere in der Zukunft – möglicherweise 2027 oder 2032 – in die Präsidentschaftskandidatur münden soll. Der Buchtitel spielt also auf die politische Substitution innerhalb der Parteiführung an. Ehemalige Vertraute berichten sogar, Bardellas ursprünglicher „grand plan“ sei es gewesen, „de remplacer Marine Le Pen“ (Marine Le Pen zu ersetzen), um das Ruder des in seinen Augen ineffektiven Parteiapparates zu übernehmen. Er erkannte jedoch, dass er seine Ziele eher „avec elle et pas contre elle“ (mit ihr und nicht gegen sie) erreichen konnte.
Der Titel vereint somit zwei Arten des Ersetzens: das demografische Ersetzen, das Bardella als dringende nationale Gefahr darstellt und das seine ideologische Legitimität begründet, und das politische Ersetzen, das seinen kometenhaften Aufstieg zum unentbehrlichen „numéro un bis“ im RN beschreibt. Die Doppeldeutigkeit des Titels ist höchst strategisch und spiegelt Bardellas Image als „cyborg“ und „politicien“ wider, der ideologischen Opportunismus ( opportunisme chronique et décomplexé) nutzt, um seine ambitionierte Karriere voranzutreiben. Der Grand remplaçant ist demnach sowohl das verführerische Etikett einer radikalen Ideologie als auch die Beschreibung eines Polit-Profis, der auf seine Gelegenheit wartet, um an die Spitze der französischen Exekutive aufzusteigen.
Einige Thesen von Fort sind:
Bardella als „Chamäleon“ und „Politischer Opportunist“
Fort stellt Bardella als eine politische Figur dar, deren Überzeugungen extrem wandelbar sind und die dazu neigt, ein „Chamäleon“ zu sein. Er wird als „politicien“ und nicht als „homme politique“ bezeichnet, dem es an einem festem Fundament an Überzeugungen („socle de convictions solides“) mangele. Seine politische Karriere sei nicht durch tief verwurzelte Ideale motiviert, sondern durch das Streben nach Macht und Posten: „Soit vous faites de la politique pour des convictions, soit vous faites de la politique pour des postes“. Frühere Verbündete wie Florian Philippot beschreiben, wie Bardella seine politische Linie je nach internen Machtverhältnissen (rapports de force) änderte, etwa als er Philippots pro-Frexit bzw. seine soziale Linie zugunsten der identitären Linie von Philippe Olivier fallen ließ. Er besitzt die Fähigkeit, den Wind zur richtigen Zeit zu erkennen („capacité de détecter le sens du vent au bon moment“).
Der „Große Ersatzmann“ und das Image-Marketing
Bardellas Aufstieg ist das Ergebnis einer massiven und bewussten Marketingstrategie, die darauf abzielt, ein perfekt „glattes“ und „beruhigendes“ Image zu schaffen. Er wird als der Herr Saubermann des RN („le M. Propre du Rassemblement national“) bezeichnet, dessen Erscheinung – stets tadellos in Anzug und Krawatte, glänzende Schuhe, nichts steht über („pompes qui brillent et rien qui dépasse“) – stark kontrolliert wird. Das Ziel ist es, ihm ein „profil le plus lisse, le plus rassurant possible“ zu geben. Er wurde von Kommunikationsexperten intensiv trainiert („média training“), um Emotionen, Gestik und sogar sein Lächeln zu perfektionieren. Der Spitzname „le cyborg“ (der Cyborg) im RN unterstreicht seine angebliche Emotionslosigkeit und Hyperkontrolle.
Inszenierung des Narrativs der „Elitewerdung aus der Banlieue“
Ein zentrales Framing-Element ist die Erzählung vom Aufstieg aus der „cité“ (Wohnsiedlung/Banlieue) von Saint-Denis. Dieses Narrativ wurde von Kommunikationsberatern gezielt entwickelt, um ihn als Stimme des vergessenen Frankreichs („France des oubliés“) zu positionieren und dem Wähler zu vermitteln: „Ich bin in einem Vorort aufgewachsen, habe Massenimmigration, Unsicherheit, Kriminalität und den Islam erlebt, ich werde Ihnen Lösungen vorschlagen.“ 24 Kritiker werfen ihm vor, die Realität seiner Jugend zu überzeichnen („poudrière“), um diesen Mythos zu nähren, seine Geschichte wäre die eines gewöhnlichen Franzosen („Mon histoire est celle d’un Français ordinaire“).
Abhängigkeit von der Le Pen-Dynastie und dem Familien-Clan
Trotz der Tatsache, dass Bardella der erste RN-Präsident außerhalb der Le Pen-Familie ist, wird argumentiert, dass sein Aufstieg untrennbar mit privaten Beziehungen und dem „phénomène de dynastie familiale“ verknüpft ist. Seine Karriere erhielt entscheidende Impulse durch seine Beziehung zu Marie-Caroline Le Pens Tochter, Nolwenn Olivier, wodurch er in den „premier cercle“ (ersten Kreis) der Familie aufstieg. Diese „GUD Connection“ – die Verbindung von Privatleben, Karrieren und Geschäft im RN – ist ein wiederkehrendes Thema.
Verbindung zur radikalen Rechten und die „GUD Connection“
Trotz der offiziellen „Dédiabolisation“ (Entdämonisierung) unterhält Bardella enge Kontakte zur identitären und ultraradikalen Szene. Sein engstes Team ist von identitären Überzeugungen geprägt (wie sein Stabschef Arthur Perrier und Berater Pierre-Romain Thionnet, ein Befürworter von Renaud Camus, dem Urheber des Konzepts des „grand remplacement“). Zudem zeigt der Fortbestand der Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die von GUD-Veteranen wie Frédéric Chatillon und Axel Loustau kontrolliert werden (etwa e-Politic), dass der RN weiterhin Millionenbeträge an diesen „écosystème“ zahlt, der gewalttätige, rassistische und antisemitische Ideologien unterstützt. Fort betont, dass die die Glut wieder heiß wird („braises se réchauffent“), wenn es um die nationalsozialistische Ideologie geht, und dass der RN die Verbindungen zu den Ultraradikalen nicht vollständig gekappt hat.
„Doppelrede“ und Inkonstanz im Europaparlament
Bardella wird der Doppelrede bezüglich seiner Abstimmungsmuster im Europaparlament beschuldigt, insbesondere bei Themen wie Umweltschutz, Frauenrechten, LGBT-Rechten und Russland/Ukraine. Er präsentiert sich in den Medien als Verteidiger der Umwelt und der Frauenrechte, während er und die RN-Abgeordneten regelmäßig gegen entsprechende Resolutionen stimmen oder sich enthalten. Sein pro-ukrainischer und kritischer Diskurs gegenüber Putin ab 2023 wird als „revirement total“ (völlige Kehrtwende) und „manœuvre tactique“ (taktisches Manöver) interpretiert, das darauf abzielt, die Russland-Nähe abzuschütteln und Bündnisse mit pro-NATO-Parteien wie Giorgia Melonis in Italien zu ermöglichen.
Die Rolle der Medienpräsenz und der Jugend
Bardella nutzt Soziale Medien (insbesondere TikTok) meisterhaft, um die Jugend zu erreichen und zu „verzaubern“ („ensorceler“). Seine enorme Medienpräsenz, die häufige Verwendung von „punchlines“ und Konfrontationsstrategien („ne jamais subir une interview“) sind das Ergebnis intensiver Vorbereitung. Die Reaktionen der Jugendlichen, die ihn als „gendre idéal“ sehen, aber seine politischen Ideen nicht kennen, belegen den Erfolg seines Popstar-Framings.
Ziele: Premierminister (Matignon) und die Präsidentschaft 2027/2032
Bardellas Ambitionen sind auf die Übernahme der Macht ausgerichtet. Marine Le Pen hat ihn als Premier in einem möglichen „ticket à l’américaine“ für 2027 positioniert, während seine Präsidentschaft für 2032 angedacht ist, da er für 2027 als „jeune en facial“ (gesichtstechnisch zu jung) gelte. Die Wahl des Parteipräsidenten 2022 wurde als künstliche Inszenierung betrachtet, die Bardellas Kontrolle über die RN-Maschinerie sichern sollte, ohne Le Pens Autorität zu untergraben. Diese Einschätzung von Fort kann freilich durch den oben erwähnten Entzug der Wählbarkeit für Marine Le Pen bereits überholt sein.
Fort stellt Bardella als eine Figur dar, die den radikalen Kern der extremen Rechten unter einem modernen, glatten und opportunistischen Marketingschleier verbirgt, wobei seine gesamte Karriere, sein Image und seine politischen Wendungen als strategische Manöver zur Erreichung persönlicher Machtziele interpretiert werden.
Lektüre von Ce que je cherche mit Pierre-Stéphane Fort
Der autobiografische Versuch Jordan Bardellas, Ce que je cherche, präsentiert sich als das Zeugnis eines „Français ordinaire“, der durch die Kraft der méritocratie républicaine aus den schwierigen Verhältnissen der Seine-Saint-Denis aufgestiegen ist. Liest man dieses sorgfältig konstruierte Narrativ jedoch mit der kritischen Brille von Pierre-Stéphane Forts Enthüllungsbuch, Le Grand remplaçant, und mit Vertretern der Populismustheorie so löst sich Bardellas selbstinszeniertes Bild als Produkt der Authentizität auf und weicht dem Porträt eines taktischen Politikers und „caméléon“, dessen Handlungen und Überzeugungen von Machiavellis Diktum geleitet scheinen: „Chacun voit ce que tu parais, peu perçoivent ce que tu es“.
Die Demaskierung der Meritokratie: Vom „Ghetto“ zum „Produkt“
Bardella legt in seinem Buch Wert darauf, seine Herkunft aus der cité HLM von Saint-Denis zu betonen, wobei er die dort erlebte „violence“ und den „deal“ als Triebfedern seines politischen Engagements darstellt, das ihn schließlich zur „présidence du premier parti de France“ führte. Dieser Aufstieg, der das Überwinden sozialer Determinismen suggeriert, wird von Fort jedoch als ein kalkuliertes Marketing-Produkt entlarvt. Fort dokumentiert, dass Bardella, entgegen seinem eigenen Narrativ, in seiner Jugend durch die finanzielle Unterstützung seines Vaters und den Besuch einer katholischen Privatschule privilegiert war. Die Geschichte des Kindes aus der Banlieue, die sich „contre la paresse“ und für den „mérite“ ausspricht, ist Fort zufolge ein bewusst von Kommunikationsberatern geschaffenes „narratif“, um ihn als „M. Propre du Rassemblement national“ zu inszenieren und die breite Wählerschaft der „France des oubliés“ anzusprechen. Sein Auftreten, vom Anzug bis zum geübten Lächeln, wird als reine „Actors Studio“ Performance beschrieben, die Hyperkontrolle und die „addiction aux éléments de langage“ maskieren ein „absence de culture politique, de colonne vertébrale idéologique“. Bardella ist nicht der authentische Aufsteiger, sondern ein „produit en construction“, dessen Erfolg nicht auf dem „sacrifice“ der Jugend, sondern auf der perfekten Beherrschung der politischen Inszenierung beruht.
Abhängigkeit und interne Intrigen statt absoluter Loyalität
In Ce que je cherche manifestiert Bardella eine „loyauté“ und „confiance absolue“ gegenüber Marine Le Pen (Le Pen), die er als seine Mentorin und die Frau seiner politischen „dette“ beschreibt. Diese öffentliche Versicherung der Loyalität, die jegliche Gerüchte um ein „futur duel“ als „grotesques“ abtut, wird von Forts Quellen systematisch untergraben. Le Grand remplaçant zeigt, dass Bardellas Aufstieg durch seine private Beziehung zur Familie Le Pen / Olivier / Chatillon befeuert wurde und er somit ein „pur produit estampillé Marine“ bleibt. Fort enthüllt eine tiefgreifende interne Abhängigkeit, die Bardellas Position als „numéro un bis“ relativiert. Die wenigen Versuche Bardellas, eine eigenständige politische Linie zu verfolgen, etwa in der Russland-Frage, indem er die „naïveté collective à l’égard des ambitions de Vladimir Poutine“ anprangert, werden von Fort als Beweis für seine begrenzte Autonomie interpretiert. Interne Quellen bestätigen, dass Le Pen bei solchen „velléités d’autonomie“ sofort „recadré“ – zurechtgewiesen – wird, was Bardella auf die „limites de sa liberté“ hinweist. Darüber hinaus legen ehemalige Vertraute Fort dar, dass Bardellas ursprünglicher „grand plan“ nicht Loyalität, sondern der Putsch war: „Le but, à cette époque, c’était très clairement de prendre la place de Marine Le Pen“, da er Le Pen für unfähig hielt.
Ideologische Anpassung und versteckter Radikalismus
Bardella positioniert sich in Ce que je cherche als seriöser Politiker, der „ni les outrances ni les excès“ liebt und sich von dem extremistischen Erbe distanziert. Er kritisiert politische Gegner wie Gabriel Attal für ihre „volatilité idéologique“ und „duplicité“. Doch Forts Buch kehrt diesen Vorwurf um und legt Bardellas chronischen Opportunismus offen.
Sein offizielles Bekenntnis zu Europafragen wird konterkariert durch die Tatsache, dass er in der „commission des planqués“ (PETI-Kommission) 70 % der Zeit abwesend war, während er monatlich 7.300 Euro Netto erhielt. Seine angebliche Haltung zum Klimawandel („nous sommes les plus écologistes de la classe politique aujourd’hui“) steht im Widerspruch zu seinem Abstimmungsverhalten im Europaparlament, wo er gegen Schlüsselresolutionen zum Pacte vert und zur restauration de la nature stimmte. Noch gravierender ist seine in Ce que je cherche zum Ausdruck gebrachte pro-ukrainische Haltung, die Fort als „manœuvre tactique“ entlarvt, da Bardella und das RN im Europaparlament systematisch gegen Resolutionen zur Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine stimmten oder sich enthielten.
Am stärksten widerspricht Forts Analyse Bardellas behaupteter Entdämonisierung. Bardella nutzt identitäre Sprache, indem er die Republik kritisiert, in der es eine „préférence étrangère où l’on accorde aux Autres des droits et des privilèges que les Nôtres se voient refusés“. Fort beweist, dass diese Ideologie nicht nur in Bardellas Denken verwurzelt ist (er hält grand remplacement für eine „réalité qui est juste“), sondern auch in seinem engsten Umfeld, das offen Renaud Camus als „maîtres à penser“ verehrt. Forts spektakulärste Enthüllung ist das anonyme Twitter-Konto @RepNatDuGaito, das Bardella zugeschrieben wird. Dieses Konto verbreitete „propos de haine“, karikierte Journalisten als „journalopes“ und teilte offen rassistische und homophobe Inhalte, was die gesamte Fassade der „dédiabolisation“ als kosmetischen Akt entlarvt.
Die kritische Lektüre des Buches Ce que je cherche mit den Augen von Forts Le Grand remplaçant legt offen, dass Bardellas Werk weniger eine ehrliche Abrechnung sei, sondern ein durchgeplantes politisches Alibi, das die Existenz des eigentlichen „Grand remplaçant“ – eines ehrgeizigen Taktikers, der die Maske der Jugend und Loyalität trägt, um radikale Ideen auf Salonfähigkeit zu trimmen – verschleiern soll. Forts Schlussfolgerung ist, dass hinter der der verführerischen Maske der Jugend („séduisant masque de la jeunesse“) die Ideen des RN sich nur sehr wenig geändert haben.
Populismustheoretisches Fazit
Jan-Werner Müller betont in Was ist Populismus?, Populisten beanspruchten ein Monopol auf die Repräsentation des Volkes. Bardellas Rhetorik bestätigt diese Diagnose: Seine Rede vom „peuple qui exige d’avoir voix au chapitre“ impliziert, dass nur er dieses Volk wirklich verstehe. Damit verengt er den demokratischen Pluralismus auf eine exklusive Identitätspolitik, die Dissens als Verrat deutet. In der Logik von Bardellas Büchern wird „le peuple“ nicht als heterogene, argumentierende Öffentlichkeit gefasst, sondern als moralische Einheit, deren legitime Stimme durch ihn allein artikuliert wird.
Pierre Rosanvallon 25 hebt hervor, dass Populismus aus einer „Pathologie der Repräsentation“ entsteht, einer Entfremdung zwischen Institution und Volk. Bardella nutzt diese Diagnose als Waffe: Er verwandelt berechtigte Kritik an demokratischer Entfremdung in ein Narrativ der „dépossession“. Diese politische Melancholie – das Gefühl, „étranger dans son propre pays“ zu sein – fungiert als affektive Grundlage seines Projekts. Das Versprechen der „réappropriation“ des Gemeinwesens ersetzt eine programmatische Antwort auf strukturelle Probleme durch eine emotionale Reklamation von Zugehörigkeit. Rosanvallon warnt, dass die vereinfachende Unterteilung in ein einheitliches „Wir“ gegen die „Elite“ eine Illusion erzeugt: Populismus sei ein „perverses Ergebnis … einer Versuchung zur Simplifikation des demokratischen Ideals“. Bardellas Rhetorik entspricht diesem Muster: Er propagiert, die „vergessenen“ Franzosen zu verkörpern und gebe ihnen eine Stimme. Für Rosanvallon verschleiert dieser „proximale“ Ton (einfaches Sprechen im Namen des Volkes) die demokratische Komplexität; er droht, die Vielheit der Gesellschaft durch ein vereinfachtes Volksbild zu ersticken. Kurz gesagt erscheint Bardellas Anspruch, das „Volk“ unmittelbar zu vertreten, aus Rosanvallons Blickwinkel als symptomatisch und problematisch zugleich – er entspringt zwar realen Demokratiekrisen, verfestigt jedoch durch sein vereinfachtes „parler vrai“ letztlich eher die populistische Pathologie.
Jordan Bardellas Ce que je cherche lässt sich als exemplarischer Text für das Verständnis moderner Populismuskonzepte lesen. In seiner Selbstinszenierung als Sprachrohr eines „peuple de onze millions“ erfüllt Bardella jene „anti-elitistische“ Grundstruktur, die Cas Mudde 26 als Kern des Populismus definiert: die moralische Gegenüberstellung eines reinen Volkes und einer korrupten Elite. Doch diese moralische Dichotomie wird bei Bardella nicht analytisch, sondern affektiv aufgeladen – sie evoziert soziale Empörung, ohne deren Ursachen kritisch zu durchleuchten. Die „noblesse de la République“ fungiert als symbolischer Gegner, durch den die eigene Authentizität sich konstituiert.
Ernesto Laclau 27 sah im Populismus die Artikulation eines leeren Signifikanten, der disparate Forderungen symbolisch bündelt. Bardella bedient sich genau dieses Mechanismus: „nation“, „souveraineté“ und „identité“ fungieren als semantische Knotenpunkte, in denen ökonomische Frustration, kulturelle Angst und Nostalgie verschmelzen. Doch im Unterschied zu Laclau bleibt bei Bardella der äquivalenzbildende Gestus autoritär fixiert – er homogenisiert statt zu integrieren. Das „peuple réel“ wird zum rhetorischen Kollektiv, das nur existiert, indem es sich gegen imaginierte Feinde – Migranten, Journalisten, Technokraten – abgrenzt.
Schließlich zeigt Bardellas Buch die Grenzen des populistischen Diskurses, die Nadia Urbinati 28 als „delegativen Populismus“ beschreibt: eine Bewegung, die im Namen der Volkssouveränität letztlich die deliberative Demokratie schwächt. Bardella inszeniert sich als Vermittler der Volksstimme, nicht als Garant institutioneller Kontrolle. Seine Rhetorik der „irruption du peuple“ in die Machtzentren bleibt symbolisch – sie reproduziert die Asymmetrie zwischen Führer und Geführten, die der Populismus zu überwinden vorgibt. Insofern ist Ce que je cherche weniger Ausdruck einer demokratischen Erneuerung als die poetische Legitimation einer Repräsentationsform, die Kritik absorbiert, aber keine Pluralität zulässt.
Anmerkungen- „Le nouveau costume de l’extrême droite“, Radio France Culture, 4 Episoden.>>>
- Lauriane Clément, Le livre, passage obligé pour politique ambitieux, La Croix, 7. November 2024.>>>
- „En vous racontant d’où je viens, vous comprendrez ce que je cherche.“>>>
- Clément Guillou, „Le livre de Jordan Bardella, un objet marketing propulsé par Vincent Bolloré“, Le Monde, 10. November 2024.>>>
- Nelly Kaprièlian, „Bardella en librairie et sélection du Prix Goncourt : une division française“, Les Inrockuptibles, 30. Oktober 2025.>>>
- Nelly Kaprièlian, „Bardella en librairie et sélection du Prix Goncourt : une division française“, Les Inrockuptibles, 30. Oktober 2025.>>>
- Nicolas Massol, „Dans son livre, Jordan Bardella à fond les patrons“, Libération, 28. Oktober 2025.>>>
- Corentin Lesueur, „Jordan Bardella se pose en homme providentiel dans un livre supposé prendre le pouls du pays « réel »“, Le Monde, 29. Oktober 2025.>>>
- „Les noms et prénoms de certaines personnes rencontrées dans le cadre de l’écriture de ce livre ont été modifiés pour des raisons de confidentialité liées à leur situation professionnelle actuelle.“>>>
- „La mission du Sétois est de nourrir le pays avec des produits dont la qualité est enviée dans le monde entier : le thon rouge de Méditerranée, le loup, la seiche ou la daurade royale. Une Nation qui possède un tel trésor dans ses eaux et qui choisit d’affaiblir ses producteurs ne croit plus en elle-même.“>>>
- Anne Fritz, „Avec son nouveau livre, Jordan Bardella veut se donner une stature de présidentiable“, Les Echos, 29. Oktober 2025.>>>
- „détournement de la colère sociale“, Anthony Cortes, „« Ce que veulent les Français » : un retour en librairies qui clarifie surtout ce que veut Bardella“, L’Humanité, 28. Oktober 2025.>>>
- „d’une certaine France“, Nicolas Massol, „Dans son livre, Jordan Bardella à fond les patrons“, Libération, 28. Oktober 2025.>>>
- „La soirée est aussi un acte politique, dans cette maison d’édition qui est devenue… le repaire de l’extrême droite médiatique et politique.“ „Avec « Ce que veulent les Français », Jordan Bardella et le groupe Bolloré poursuivent leur collaboration politique“, Nouvel Observateur, 29. Oktober 2025.>>>
- Annika Joeres, „Der Angstmacher“, Der Spiegel, 29. Juni 2024>>>
- Florent Le Du, „Chez Bardella, la plaie est dans la plume“, L’Humanité, 13. November 2024.>>>
- „Mon histoire est celle d’un Français ordinaire dans laquelle beaucoup pourront se reconnaître“, Lucas Burel, Véronique Groussard et Camille Vigogne Le Coat, „Ce que je cherche, le livre qui trahit la folie des grandeurs de Jordan Bardella et Vincent Bolloré, Nouvel Observateur, 23. Oktober 2024.>>>
- Florent Le Du, „Chez Bardella, la plaie est dans la plume“, L’Humanité, 13. November 2024.>>>
- Mathieu Lindon, „L’enlisé de l’Elysée“, Libération, 9. November 2024>>>
- Lucas Burel et Camille Vigogne Le Coat, „Références à Sarkozy, clins d’oeil à Zemmour, obsession migratoire… On a lu le livre de Jordan Bardella“, Nouvel Observateur, 9. November 2024.>>>
- Guillaume Tabard, Chronique contre-point, Le Figaro, 9. November 2024.>>>
- Lucas Burel, Véronique Groussard et Camille Vigogne Le Coat, „Ce que je cherche, le livre qui trahit la folie des grandeurs de Jordan Bardella et Vincent Bolloré, Nouvel Observateur, 23. Oktober 2024.>>>
- „L’industrie française a trop longtemps souffert d’un alignement aveugle sur les règles de concurrence dictées par Berlin et Bruxelles.“>>>
- „J’ai grandi en banlieue, j’ai connu l’immigration de masse, l’insécurité, la délinquance, l’islam, je vais vous proposer des solutions.“>>>
- Pierre Rosanvallon, La contre-démocratie: la politique à l’âge de la défiance (Paris: Seuil, 2006); Pierre Rosanvallon, Le siècle du populisme (Paris: Seuil, 2020).>>>
- Cas Mudde, “The Populist Zeitgeist”, Government and Opposition, 39(4) (2004): 541–63. “Populism is a thin-centered ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic camps, ‘the pure people’ versus ‘the corrupt elite’, and which argues that politics should be an expression of the volonté générale (general will) of the people.”>>>
- Ernesto Laclau, On Populist Reason (London/New York: Verso, 2005).>>>
- Vgl. Nadia Urbinati, Democracy Disfigured: Opinion, Truth, and the People (Harvard University Press, 2014), insbes. Kapitel 6, „Populism and the Principle of Representation“. Außerdem Nadia Urbinati, Me the People: How Populism Transforms Democracy (Harvard University Press, 2019).>>>