Guillaume Dustans Abdriften und Christophe Beaux’ literarische Befreiung

Von William zu Guillaume

Der Band Un tombeau pour Dustan: lettre d’amour posthume (Laffont, 2025) ist die intime Erzählung des Autors Christophe Beaux über seine prägende erste Liebe zu William Baranès (1965–2005), der später skandalumwittert als Schriftsteller unter dem Namen Guillaume Dustan bekannt wurde. Die Beziehung zwischen Christophe, einem unerfahrenen Provinzler, und William, einem damals bereits anziehenden und ambitionierten Studenten der Sciences Po, dauerte achtzehn Monate und spielte sich im pulsierenden, aber von der AIDS-Epidemie heimgesuchten Paris der späten 80er Jahre ab. Raffaël Enault hat 2018 mit der Biographie Dustan superstar bereits den Versuch vorgelegt, die Fakten von den Fantasien und Stilisierungen zu scheiden. Einige von Beaux biographischen Deutungen von Dustan, etwa sein Verhältnis zum Vater, finden sich schon in Frédéric Huets Guillaume Dustan (2011), dennoch wirft Beaux ein eigenes, existenzielles Licht auf sein Verhältnis zum Autor. Die Konzentration auf die Zeit vor 1996 erlaubt es Beaux, eine narrative Leerstelle zu besetzen, bevor Dustan die vollständige Kontrolle über seine eigene Erzählung erlangte. Dies ist eine strategische Notwendigkeit in der Auseinandersetzung mit einem Autor, dessen gesamte Karriere darauf abzielte, die Fiktion zu eliminieren. Dustan widmet einen Roman u.a. Nicolas Rey. Ob er den Autor in sein Werk eingeschrieben hat, als reale Vorlage für die Figur „Nicolas“ in Dustans Roman Nicolas Pages (1999), konnte ich allerdings nicht bestätigt finden. Dustans Buch, das die Anfänge ihrer Liebesbeziehung schildert, ist ein Paradebeispiel für die radikale Selbstfiktionalisierung Dustans, bei der er einen anderen zeitgenössischen Schriftsteller als Objekt seines Begehrens fiktionalisiert. Die Lettre d’amour posthume von Beaux positioniert Baranès/Dustan als historische und zugleich intime Figur innerhalb des Queer-Kontextes der 1980er Jahre in Paris. Die Fiktionalisierung durch Beaux ist so ein Beitrag zur Definition von Dustans Erbe, indem sie die Gründerfigur der radikalen Autofiktion in eine romantische, tragische Figur der AIDS-Ära verwandelt.   

Son smoking, William l’avait fait confectionner sur mesure chez Arnys, une maison alors honorablement connue du faubourg Saint-Germain. Il avait choisi l’uniforme de soirée le plus classique qui soit, sans fantaisies ni fioritures d’aucune sorte, et avait pris grand soin de m’expliquer pourquoi : une parure futile, même infime, aurait signalé l’amateurisme de son propriétaire et ruiné l’élégance de l’ensemble. Le luxe ne devait pas se voir, encore moins s’il avait été onéreux. Les attentions personnalisées du tailleur pour son client, telles que les initiales WB brodées en fil de soie ton sur ton à l’intérieur de la doublure, devaient rester inconnues d’autrui. Le pantalon était évidemment sans pinces ni revers, en dépit des canons du genre dans les années quatre-vingt, ni passants de ceinture, mais avec une ganse noire en satin moiré descendant sur la couture extérieure du haut de la cuisse jusqu’à la cheville. La ceinture, large et plissée, était du même satin que la ganse – pas question qu’elle soit flashy ou en velours de soie couleur lie-de-vin ! – et s’attachait sur les reins par un bandeau élastique et une boucle dorée, volontairement invisibles. La veste était croisée assez haut, comme le veston classique d’un costume de ville, et son large revers en pointe était en satin noir et moiré, toujours le même. La chemise avait un plastron en nid d’abeille et un col français normal, pas cassé à la façon des tenues de pacotille, encore moins évasé comme un col italien. Quant au nœud papillon de soie noire, il était à bouts droits et, cela va sans dire, à nouer soi-même.

Seinen Smoking hatte William bei Arnys, einem damals im Faubourg Saint-Germain renommierten Haus, maßschneidern lassen. Er hatte sich für die klassischste Abenduniform entschieden, ohne jegliche Extravaganzen oder Schnörkel, und mir ausführlich erklärt, warum: Selbst die kleinste Verzierung hätte die Unprofessionalität ihres Trägers signalisiert und die Eleganz des Gesamtbildes ruiniert. Luxus durfte nicht sichtbar sein, schon gar nicht, wenn er teuer war. Die persönlichen Aufmerksamkeiten des Schneiders für seinen Kunden, wie die mit Ton-in-Ton-Seidenfaden auf das Futter gestickten Initialen WB, mussten anderen verborgen bleiben. Die Hose hatte natürlich keine Bundfalten und keine Umschläge, entgegen den Modetrends der achtziger Jahre, und auch keine Gürtelschlaufen, sondern eine schwarze Borte aus Moiré-Satin, die von der Außennaht des Oberschenkels bis zum Knöchel verlief. Der breite, plissierte Gürtel war aus dem gleichen Satin wie die Borte – auf keinen Fall durfte er auffällig oder aus weinrotem Seidensamt sein! – und wurde an den Lenden mit einem elastischen Band und einer goldenen Schnalle befestigt, die bewusst unsichtbar waren. Die Jacke war recht hoch gekreuzt, wie ein klassischer Blazer eines Stadtanzugs, und ihr breites, spitz zulaufendes Revers war aus schwarzem, moiréartigem Satin, immer derselbe. Das Hemd hatte ein Wabenplastron und einen normalen französischen Kragen, nicht gebrochen wie bei billigen Anzügen und schon gar nicht ausgestellt wie ein italienischer Kragen. Die schwarze Seidenfliege hatte gerade Enden und musste natürlich selbst gebunden werden.

Dieser detaillierte Auszug dient nicht nur der Beschreibung von Williams Kleidung beim ersten Treffen, sondern enthüllt vielmehr seine soziale Ambition und die bürgerliche Ästhetik, die er vor seiner Metamorphose zu Dustan verfolgte. Die obsessiv genaue Beschreibung des Smokings von Arnys ist ein Beleg für Williams Bestreben nach „unsichtbarem Luxus“ („luxe ne devait pas se voir“). Alles an diesem Anzug – von den persönlichen Initialen WB im Innenfutter bis zur Wahl des klassischsten und unaufdringlichsten Stils – signalisiert, dass William damals danach strebte, ein tadelloses Mitglied der Pariser Elite zu sein, ein „großer Staatsbeamter“, der „die Codes ohne den Versuch, sie zu überschreiten“ beherrschte. Die Eleganz sollte nicht amateurhaft wirken, sondern makellos. Ironischerweise ist dieser Anzug, den Christophe am Ende des Buches als Williams Gewand für die Ewigkeit („le porte désormais pour l’éternité“) imaginiert, das exakte Gegenteil der provokanten Aufmachungen Dustans – wie der goldenen Mad Max-Jacke oder den grellen Perücken –, die er später für seine Medienauftritte wählte. Der Smoking symbolisiert Williams abgelehnte bürgerliche Bestimmung und den Beginn seiner Rolle als Christophs Pygmalion, der seinen unerfahrenen lapin maßregelt und ihm seine Neigungen aufzwingt.

Die Dynamik zwischen beiden Männern war sofort von Faszination, Dominanz und zeitweise Schuldgefühlen geprägt. William etablierte sich als Christophes Pygmalion, der seine Studien, beruflichen Entscheidungen, Neigungen und Lektüre beeinflusste. Christophe unterwarf sich bereitwillig und versuchte, William zu klonen. Diese Dominanz zeigte sich auch im sexuellen Bereich, wie in der demütigenden Episode der Analfissur, die William durch unvorsichtigen Geschlechtsverkehr verursachte und später in einem seiner Romane verarbeitete. William lehrte ihn die pratique maîtrisée des Sexes, zeigte ihm Pornokinos und boîtes à cul, führte ihn in seinen Freundeskreis ein und brachte ihm so „leichte Verführung“ bei.

Die Beziehung endete allmählich, als Christophe sich aus unbedeutenden Gründen – wie Williams Körpergeruch und seine pedantische Art – zu distanzieren begann. Kurz nach der Trennung (im Herbst 1989) offenbarte William Christophe seine HIV-Infektion, die er sich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr zugezogen hatte, nachdem Christophe ihn abgewiesen hatte. William verkündete die Diagnose ohne Pathos und mit „ritterlicher Selbstbeherrschung“. Christophe, der sich bis dahin nur mit Latex oder Abstinenz geschützt hatte, brach in Panik und unvernünftige Reue aus und fühlte sich „für immer schuldig“. William schützte Christophe in einer letzten Geste der Zuneigung davor, ihm in einem Moment der Verzweiflung ungeschützt in die Ansteckung zu folgen.

En revanche, celles et ceux, à l’instar de William et moi, qui n’avaient connu que le latex ou l’abstinence, l’angoisse de la capote qui éclate, la trouille des tests réguliers, les questions intrusives et embarrassées du médecin de famille, les calculs savants pour se rassurer sur sa probable immunité – un peu comme les femmes autrefois prenaient leur température en égrenant les jours –, le renoncement à des mecs incroyablement sexy mais trop marqués par la lipodystrophie ou criblés de trous de seringue sur les bras, le carnage dans les chiottes des dance clubs, les larmes ravalées pour échapper au regard interrogateur des proches… la comprenaient. Car, à cette époque, être « plombé » signifiait un pronostic de mortalité certaine, avec un compte à rebours de trois à cinq ans. Cela présageait d’endurer, pour commencer, des souffrances lentes, terribles, puis de subir progressivement un corps atrophié, décharné, supplicié, ressemblant à celui d’un déporté.

Im Gegensatz dazu hatten diejenigen, die wie William und ich nur Latex oder Abstinenz kannten, die Angst vor einem kaputten Kondom, die Angst vor regelmäßigen Tests, die aufdringlichen und peinlichen Fragen des Hausarztes, die komplizierten Berechnungen, um sich seiner wahrscheinlichen Immunität zu vergewissern – ähnlich wie Frauen früher ihre Temperatur gemessen und die Tage gezählt haben –, den Verzicht auf unglaublich sexy Männer, die jedoch zu stark von Lipodystrophie gezeichnet oder mit Einstichstellen an den Armen übersät waren, das Gemetzel in den Toiletten der Tanzclubs, die unterdrückten Tränen, um den fragenden Blicken der Angehörigen zu entgehen … verstanden sie. Denn zu dieser Zeit bedeutete „bleihaltig” eine sichere Todesprognose mit einem Countdown von drei bis fünf Jahren. Das bedeutete, zunächst langsame, schreckliche Qualen zu ertragen und dann nach und nach einen verkümmerten, ausgemergelten, gequälten Körper zu erleiden, der dem eines Deportierten ähnelte.

Nach der Trennung von Christophe und der HIV-Diagnose vollzog William Baranès seine radikale Metamorphose zum provokativen Guillaume Dustan, einem poète maudit, der die post-bourgeoise Gesellschaft kritisierte. William nutzte seinen neuen Status, gab seine juristische Karriere auf, floh nach Tahiti und begann dort, seine intimen Erfahrungen – einschließlich derer mit Christophe – schonungslos literarisch zu verarbeiten, oft unter Verwendung der echten Namen seiner Partner.

Christophe schlug beruflich denselben Weg als Staatsbeamter ein wie William, angetrieben von einem Wettbewerbsgeist, um William zu beeindrucken oder zu übertreffen. Er lebte ein erfolgreiches, aber in seinen Augen „banales“ Leben. William starb 2005 im Alter von 39 Jahren an einer „unfreiwilligen medikamentösen Vergiftung“. Christophe interpretiert dies als einen lange vorbereiteten mystischen Suizid, der ein Akt der Rebellion gegen die bürgerlichen Träume seines Vaters war. Das Buch dient Christophe als „Grabmal“ (tombeau) für den Freund und Expartner, um die ungelöste Schuld und die jahrzehntelange Obsession zu verarbeiten und sich vom „Zauber“ Williams zu befreien.

Das Werk im Kontext der Debatten

Un tombeau pour Dustan ist ein persönliches Zeugnis der kulturellen, sexuellen und existenziellen Herausforderungen, mit denen schwule Männer in Frankreich an der Wende zum 21. Jahrhundert konfrontiert waren, insbesondere im Schatten der AIDS-Krise und der damit verbundenen gesellschaftlichen Moraldebatten. Die späten Achtziger und Neunziger werden als eine Zeit des „Schreckens“ (horreur) beschrieben. Die HIV-Infektion war gleichbedeutend mit einem sicheren Todesurteil. Die Angst war allgegenwärtig: Angst vor dem reißenden Kondom, vor Tests, vor gesellschaftlicher Verurteilung. William und Christophe lebten inmitten des Gaytto, einer geschlossenen Gemeinschaft, die Schutz bot, aber auch Isolation. Die sexuelle Freiheit der vorherigen Generation war durch die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit ersetzt worden.

Der Erzähler reflektiert, dass der bewusste Entschluss, schwul zu leben, in dieser Zeit einen Akt der sozialen Rebellion darstellte: den Bruch mit der bürgerlichen Ordnung, der Ablehnung familiärer Erwartungen und der Akzeptanz eines intranquillen, aber freien Lebensstils. Heute, so der Erzähler, sei vieles von diesem rebellischen Geist verloren gegangen; der moderne schwule Mann sei oft „ein Hetero wie jeder andere“, verwässert durch gesellschaftliche Integration (Heirat, Kinder, beruflicher Erfolg). William/Dustan nutzte seine persönliche Tragödie (HIV-Infektion) und seine öffentliche Rolle, um eine radikale libertäre Philosophie zu vertreten. Er verstand seinen Körper und seine Sexualität als Schlachtfeld gegen die „bourgeoise Schuldzuweisung“ („culpabilisation bourgeoise“) und das „System der Unterdrückung“.

La permissivité chez les pédés, souvent confondue avec une amoralité, a tendance à heurter ceux qui ne le sont pas et s’ajoute à leur appréhension ancestrale de la pénétration. Or, en cette fin des années quatre-vingt, leurs frayeurs intemporelles s’exacerbaient sous le vent vicié d’une peste maligne. Une angoisse populaire s’était répandue, légitime, nourrie par l’inconnu de chaque épidémie nouvelle. Cette terreur était accrue indûment par la superstition qu’il s’agissait d’un châtiment mérité, expiatoire, comme le confirmaient les homélies d’un pape polonais débonnaire en surface mais fondamentalement réactionnaire – sans parler d’autres religions plus rétrogrades encore. Une « punition divine » qu’intériorisaient certains pédés. Dustan n’était pas apparu sur la scène médiatique que déjà la figure du pédé repoussoir hantait son décor.

Die Freizügigkeit unter Schwulen, die oft mit Amoralität verwechselt wird, stößt Nicht-Schwule häufig vor den Kopf und verstärkt ihre seit jeher bestehende Angst vor Penetration. Ende der achtziger Jahre wurden ihre zeitlosen Ängste durch den faulen Wind einer bösartigen Seuche noch verschärft. Eine berechtigte Angst hatte sich in der Bevölkerung verbreitet, genährt durch das Unbekannte jeder neuen Epidemie. Dieser Schrecken wurde durch den Aberglauben, es handele sich um eine verdiente, sühnende Strafe, ungerechtfertigt verstärkt, wie die Predigten eines oberflächlich gütigen, aber im Grunde reaktionären polnischen Papstes bestätigten – ganz zu schweigen von anderen, noch rückständigeren Religionen. Eine „göttliche Strafe”, die manche Schwule verinnerlichten. Kaum war Dustan in den Medien aufgetaucht, schon spukte die Figur des abschreckenden Schwulen in seiner Kulisse herum.

Dieser Auszug analysiert, wie die AIDS-Krise die gesellschaftliche Ablehnung der Homosexualität verschärfte und in eine moralische Verurteilung ummünzte. Die traditionelle Angst vor Homosexualität („appréhension ancestrale de la pénétration“) wurde durch die Epidemie zu einer „angoisse populaire“ (Volksangst) gesteigert, die von der „bösen Seuche“ („peste maligne“) genährt wurde. Diese Ängste wurden durch die moralischen Diskurse der Religionen untermauert, insbesondere durch die Predigten eines polnischen Papstes, die die Krankheit als „verdiente, sühnende Strafe“ („châtiment mérité, expiatoire“) darstellten. Die Passage zeigt, dass diese Verurteilung so stark war, dass einige schwule Männer diese „göttliche Strafe“ („punition divine“) verinnerlichten. Dies bildet den historischen und ideologischen Hintergrund für Dustans spätere, rebellische Figur („pédé repoussoir“), die gerade diese bürgerliche Schuldzuweisung durchbrechen wollte.

Dustan forderte die freie Sexualität („baise libre“), insbesondere das Barebacking (d.h. den ungeschützten Verkehr) zwischen HIV-Positiven, als Akt der Selbstverantwortung und des freien Willens. Er lehnte die Forderung ab, für andere verantwortlich zu sein, da dies zur Selbstvernachlässigung führe. Seine Haltung war ein direkter Angriff auf die vorherrschenden Safe-Sex-Diskurse der Gesundheitsbehörden und der Gay-Aktivisten (wie Act Up und Aides).

Dustans Auftritte in den Medien (insbesondere bei Thierry Ardisson) machten ihn zur Hassfigur. Er wurde systematisch als „schmutziger Schwulen-Macho“ („sale pédé-étalon“) und als Feind der öffentlichen Ordnung dargestellt. Seine Äußerungen, wie die Befürwortung von Ecstasy anstelle der Hostie, sollten bewusst provozieren. Dustan sah sich selbst als ein Märtyrer, der die Wahrheit der Gesellschaft aufdeckte: „Die Wahrheit ist sehr gewalttätig, sie ist so gewalttätig, dass man nicht darüber spricht“. Er liebte es, verstoßen zu werden, und sah sich in der Tradition des Verfluchten, desjenigen, der die bürgerlichen Tabus (seine jüdische Herkunft, seine Homosexualität, seine HIV-Infektion) vereinte und sie dem Establishment ins Gesicht spuckte.

Die Erzählung beleuchtet die ernste Konsequenz dieser Debatten: Obwohl Dustans Haltung philosophisch motiviert war, fand die Tragödie der Epidemie jeden Abend statt, symbolisiert durch die „Schützengräben“ („tranchées“) der Sex-Clubs und die verlorene Generation, deren Freunde im Krematorium landeten.

Dustan lesen

Dans ma chambre (1996)

Dans ma chambre (1996), Guillaume Dustans erstes veröffentlichtes Werk, ist ein extremes Buch, das sich fast ausschließlich dem Thema Sex widmet und dessen Darstellung oft unerträglich ist. Es gehört zu den ersten Texten Dustans, die einen neo-klinischen Schreibstil aufweisen, der durch einen freiwillig rohen und grausamen Stil gekennzeichnet ist, welcher jedoch eine konstante Sensibilität durchscheinen lässt. Das Werk stellt eine formale Nachahmung eines Pornofilms dar, wobei die Erzähllogik dem visuellen Vorrang lässt und Sex auf eine Reihe intensiver, aber von Sinnlichkeit entleerter Handlungen reduziert wird. Die Erzählung erfolgt in kurzen Kapiteln, die Polaroid-Sequenzen ähneln. Es thematisiert die Welt des homosexuellen, nachtaktiven und hedonistischen Sex.

Dieser Text dient als radikale Bejahung des Lebens, obwohl es vom Tod bedroht ist, und fungiert als Bericht über eine Befreiung von der heterosexuellen, puritanischen und normierten Welt. Dustan stellt Homosexualität als eine spezifische Identität dar. Die Entstehung des Werks wird von der Dringlichkeit des Schreibens angesichts der Bedrohung durch AIDS motiviert. Die Erzählung, die zeitweise äußerst brutal ist (etwa bei der Beschreibung des Piercings der Genitalien), zeigt die sexuellen Praktiken der Zeit auf, einschließlich ungeschützten Geschlechtsverkehrs. Das Buch endet mit dem Aufbruch ins Ausland, was als Bewegung zur Rettung oder zum Ausweg gedeutet werden kann.

Je sors ce soir (1997)

Je sors ce soir, der zweite Band der ersten Trilogie, kann als zugänglicher Einstieg in Dustans Werk gelten. Das Buch konzentriert sich auf die boîte de nuit, einen Ort des modernen Vergnügens, den Dustan in die französische Literatur einführt. Die Erzählung folgt streng den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung und schildert eine einzige Nacht im Club la Loco in weniger als hundert Seiten. Der Stil ist musikalisch, mit kurzen, einfachen und repetitiven Sätzen, die dem kontinuierlichen Bass der Technomusik nachempfunden sind.

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger wird Je sors ce soir als „doux et zen“ beschrieben, in dem „Rosa über Schwarz triumphiert“. Es ist weniger sexuell und markiert eine Art Entspannung. Der Text beschreibt die körperlichen Empfindungen des Nachtlebens und plädiert für das Loslassen der Selbstkontrolle. Die fortschreitende Bewusstlosigkeit des Erzählers im Laufe der Nacht wird durch das Einfügen leerer Seiten im letzten Drittel des Buches dargestellt. Der Titel selbst, Je sors ce soir, ist eine einfache und programmatische Bejahung des Subjekts.

Plus fort que moi (1998)

Plus fort que moi ist der dritte und letzte Band der ersten Trilogie und kann als Grenzbuch gelten. Dustan radikalisiert sein Thema, indem er sich explizit dem sadomasochistischen Sex zuwendet. Das Buch ist extrem hart in seinen Beschreibungen von SM-Praktiken, die eine „heiße Kälte“ („froideur chaude“) aufweisen. Die SM-Praxis wird mit einem pädagogischen Prozess oder einer „Lehre“ („apprentissage“) in Verbindung gebracht.

Das Buch nutzt eine rückblickende Konstruktion, die durch einen Prolog und einen Epilog (beide 1998 datiert) eingerahmt wird. Es schildert die Entwicklung des Autors von 1981 bis 1995. Der Text wird dem Leser als eine Art „Bildungsroman“ präsentiert, der die Entstehung der Identität des Autors durch sexuelle Erfahrungen nachzeichnet. Die Widmung „an meine Mutter“ und die Erwähnung der eigenen HIV-Infektion im Jahr 1990 umrahmen die Darstellung des masochistischen Triebs, der als Reaktion auf einen ursprünglichen, väterlichen „Fluch“ auf die Sexualität des Sohnes interpretiert wird. Am Ende findet der Zyklus mit der Abreise des Erzählers nach Tahiti, einem „sonnigen Paradies“, seinen Abschluss.

Nicolas Pages (1999)

Nicolas Pages markiert einen entscheidenden Wendepunkt in Dustans Schaffen: Es vollzieht einen spektakulären Bruch mit der reinen Sexualität der ersten Trilogie und wendet sich dem Thema der Liebe zu. Das Buch ist im Umfang viel größer und gilt als Summe („livre-somme“). Es behandelt paradoxerweise zwei miteinander verflochtene Liebesgeschichten: eine unerwiderte Leidenschaft für Nicolas Pages und die komplizierte Beziehung zu Marcelo, alias Nelson oder Lapin (der eigentliche emotionale Fokus des Romans). Es ist ein heterogenes Werk („texte gigogne“), das Metatextualität, Reflexionen über Literatur und einen umfangreichen Index enthält, der als indirektes Selbstporträt dient.

Das Werk thematisiert die politische Dimension der Liebe und beleuchtet die Ungerechtigkeiten gegenüber homosexuellen Paaren, insbesondere wenn ein Partner (wie Marcelo, der Chilene) Ausländer ist. Dustan entwickelt hier seine Vorstellung einer „Gay Culture“, die auf gelebten Praktiken und Sitten basiert. Das Buch ist trotz seines ernsten Hintergrunds (Tod, AIDS) von einem fröhlichen Ton und Humor durchzogen. Dustans Schreibweise, die Elemente wie Essays, Artikel und ein Opern-Libretto mischt, wird auch als „Transgender-Schrift“ bezeichnet.

Génie Divin (2001)

Génie Divin wird als der mögliche Höhepunkt und das Zentrum von Dustans zweiter Trilogie angesehen. Der Stil ist durch ein „verallgemeinertes Geschwätz“ („bavardage généralisé“) gekennzeichnet, das ein anti-hierarchisches und unstrukturiertes literarisches „Beliebiges“ („n’importe quoi“) darstellt. Das Buch verwendet eine chronologische, tagebuchartige Struktur und rezykliert alle möglichen Genres, um diese Genres zu „performen“. Im Kern propagiert Dustan einen verallgemeinerten Hedonismus, der auf dem Prinzip des Vergnügens als politisches Programm beruht.

Das Werk ist stark von Provokation geprägt und nimmt eine radikal „politisch inkorrekte“ Haltung ein. Zu den Kernthemen gehören die Kritik an der „sogenannten Linken“, der „Hetero-Nazi-Ordnung“, dem Patriarchat und der Familie als Ort der Zerstörung. Dustan positioniert sich gegen den „wahren Roman“, da er den Romancier als reaktionär ansieht, im Gegensatz zum Auto(hagio)biografen, der Besserung anstrebt. Er interpretiert die AIDS-Krise als eine metaphysische Krankheit und Metapher für die gesellschaftliche Versklavung, die das Genießen verbietet.

LXiR (2002)

LXiR ist der letzte Band der zweiten Trilogie; neue oder vertiefte Themen sind Euthanasie, die Forderung nach „Übermenschlichkeit für alle“ („la surhumanité pour tout le monde“), Videospiele und Spiritualität. Dustans politische Reflexionen werden präzisiert und umfassen Kritik am Wirtschaftsliberalismus und der „Kontrollgesellschaft“. Der zentrale Wandel im Buch ist der Übergang von einer „schwulen“ zu einer „queeren“ Identität.

Der Text enthält ein Manifest, das die „traurige politisch korrekte Judäo-Christliche“ Ordnung und das Kastensystem explizit ablehnt. Dustan setzt sich für ein System ein, das auf dem Vergnügen des Körpers („jouissance du corps“) und der Überwindung von Scham basiert, unterstützt durch den „guten Gebrauch von Drogen“ und physischen Fortschritt. Das Buch ist formal ein komplexes Objekt, das Interviews, theoretische Abhandlungen und autobiografische Fragmente in einem collageartigen, hybriden Stil vereint. Es stellt fest, dass seine Bücher eine Form der „Autoanalyse“ darstellen.

Dustan als Figur bei Tristan Garcia

Tristan Garcias Roman La meilleure part des hommes (2008) wird durch die Augen der Journalistin Elizabeth Levallois (Liz) erzählt und beleuchtet die ideologischen und emotionalen Kämpfe einer Generation im Angesicht der AIDS-Krise in Frankreich, hauptsächlich von den späten 1980er bis in die frühen 2000er Jahre. Die Handlung dreht sich um vier Hauptfiguren: Liz selbst; ihren älteren, intellektuellen Liebhaber Jean-Michel Leibowitz (Leibo), der von links nach rechts driftet; den etablierten schwulen Aktivisten Dominique Rossi (Doum), Mitbegründer der Organisation Stand; und den jungen, anarchischen Schriftsteller William Miller (Willie), der Doums Liebhaber und später sein radikaler Nemesis wird. Das Narrativ folgt dem Aufstieg der schwulen Emanzipationsbewegung („Die Große Freude“), ihrem Niedergang durch die Bedrohung von AIDS und dem folgenden Konflikt zwischen Anpassung und Extremismus.

Der zentrale Konflikt spitzt sich zu, als Willie, ein „skandalöser Autor“ der Autofiktion, öffentlich für ungeschützten Sex (Barebacking) plädiert und die Präventionspolitik von Doum und Stand als „faschistische Moralkreuzzüge“ anprangert. Die Spannungen eskalieren von öffentlichen Denunziationen und Artikeln (Willie veröffentlicht kompromittierende Fotos von Doum) bis hin zu physischer Gewalt (Doum greift Willie an). Während Doum und Leibowitz sich schließlich in einem gemeinsamen Buch gegenseitig entlasten, ihre Lebenswege rechtfertigen und Willie zur Figur des „Irresponsable“ erklären, sinkt Willie ab. Er stirbt schließlich einsam in Amiens an den Folgen von AIDS, während Doum in die korsische Heimat zurückkehrt und Leibowitz eine hohe politische Position erreicht, was die unumgängliche Niederlage des radikalen Außenseiters gegen die Institutionen der Macht und des Kompromisses zementiert.

Der Titel des Romans, La meilleure part des hommes (Der beste Teil der Männer/des Menschen), besitzt eine tiefgreifende ironische und dialektische Bedeutung. Er verweist auf zwei Arten des menschlichen Wertes. Zum einen thematisiert der Roman die schlechteste Seite („la pire part“) der Männer – Eifersucht, Verrat, Zerstörungswut und ideologischen Opportunismus. Zum anderen aber es negativo wird der beste Teil des Menschen in der Figur William Miller verkörpert, der seine wahre innere Güte und sein enormes Potenzial unberührt ließ und nur seine Fehler und Gemeinheiten in der Welt manifestierte. Der Titel suggeriert damit, dass die „beste Seite“ jener Menschen, die Großes leisten (wie Leibowitz und Doum), in ihren Werken, ihrem Ruhm und ihren äußeren Taten liegt. Im Gegensatz dazu stirbt die beste Seite derer, die sich weigern, mit der Welt zu kooperieren – wie Willie – mit ihnen selbst, was den eigentlichen tragischen Kern des Romans darstellt.

Die Figur William Miller (Willie) ist eine kaum verhüllte literarische Darstellung des realen Schriftstellers Guillaume Dustan. Willie wird als skandalöser Schriftsteller und „Apostel der ungeschützten sexuellen Beziehungen“ dargestellt, der durch seine Autofiktion und seine radikale Positionierung gegen AIDS-Prävention („das Gummi tötet, AIDS lässt leben“) bekannt wird. Sein erstes Buch, Megalomaniac Panic Demence H (MPDH), ist chaotisch und provokant, thematisiert exzessive Sexualität und Philosophie (Spinoza, Nietzsche) und etabliert Willie als Kultfigur der jungen, hedonistischen schwulen Community. Diese literarische und politische Persona – die Ablehnung von Moral und das Bekenntnis zum reinen Vergnügen als Waffe gegen die Gesellschaft – spiegelt Dustans zentrale Motive wider.

Willies Rolle im Roman ist die des „Irresponsable“ (des Verantwortungslosen) und unvermeidlichen Eindringlings. Er betritt die Ideenwelt „ohne von irgendjemandem zu erben“, was ihm kurzzeitig einen Anschein von Genialität und Originalität verleiht, im Gegensatz zu den intellektuellen Gymnasten wie Leibowitz, die auf Traditionen und „Positionen“ bauen. Seine ganze Existenz wird als eine „Performance“ und ein „ständiges Spektakel“ gedeutet, das darauf abzielt, die Etablierten zu provozieren und zu zerstören. Für Doum und Leibowitz ist Willie die fleischgewordene Dekadenz und der „Barbar des Traums“, der die moralische Ordnung untergräbt. Er wird so zum Feindbild einer gesamten Generation und zum notwendigen Antihelden, den Doum und Leibowitz besiegen müssen, um ihre eigenen Lebenswege im Lichte der Geschichte zu rechtfertigen.

Trotz seiner manifesten „Schmutzigkeit“, seiner Manipulationen und seines Verrats deutet die Erzählerin Liz William Miller als eine tragische Figur von innerer Reinheit und unverstandenem Wert. Er ist jemand, dessen „bester Teil“ ausschließlich im Inneren lag und mit ihm stirbt. Im Gegensatz zu Doum und Leibowitz, die sich dem Opportunismus hingaben, um ihre Errungenschaften zu sichern, war Willies zerstörerische Haltung eine „Postur des Widerstands“, eine „völlig willkürliche“ („superarbitraire“) und unkorrumpierbare Treue zu seinem eigenen extremen Credo. Sein Tod in Armut und Vergessenheit in der Provinz ist bei Garcia die physische Manifestation seiner ideologischen Niederlage und gleichzeitig die Bestätigung, dass er der einzig wahre, wenn auch gescheiterte, Revolutionär seiner Zeit war.

Dustan heute und Beaux‘ Tombeau

Das Werk Guillaume Dustans erhält heute, insbesondere bei der jüngeren Generation, ein neues Interesses. Dies ist möglich, da die PrEP (Prä-Expositionsprophylaxe) die existenzielle Angst der 90er Jahre beseitigt hat. Jüngere Leser nähern sich Dustan weniger wegen der drastischen Sexdarstellungen, die sie als blasé empfinden, sondern wegen seiner radikalen Verteidigung der Freiheit. Allerdings wird Dustans Libertarismus von der jungen Generation (die oft fluide und nicht-binäre Identitäten vertritt) anders interpretiert, nämlich als eine Forderung nach absoluter Gleichheit aller Identitäten, unabhängig von ihrer sozialen Relevanz. Der Erzähler fragt sich, ob William/Dustan diese Anachronismen der neuen Leser, die ihn gegen seinen Willen instrumentalisieren, gutgeheißen hätte.

Dans cette évolution vers des lendemains meilleurs, quelque chose s’est perdu ou émoussé : la part du rebelle en nous, quand nous avions « choisi » d’être homo. […] Autrefois, dans ce choix assumé résidait de surcroît une part de rébellion sociale : sortir du groupe, prendre le large, devenir le vilain petit canard trahissant certains espoirs de ceux qui nous avaient vus naître et grandir, inquiétant ceux qui nous aimaient et devinaient qu’on allait souffrir un peu plus que les autres. Cette sécession initiale entraînait une succession de dissidences. Un mode de vie à part, libre et singulier, mais intranquille, où des liens discrets au sein d’une communauté d’élection tissaient un cocon protecteur, se substituant souvent à une famille qui avait pris ses distances. Une géographie urbaine aussi, avec son langage et son humour vernaculaires, et un léger complexe de supériorité qu’on retrouve fréquemment dans les minorités paranoïaques. Ce que Dustan appelait la vie dans le ghetto.

In dieser Entwicklung hin zu einer besseren Zukunft ist etwas verloren gegangen oder abgestumpft: der rebellische Teil in uns, als wir uns „entschieden“ hatten, homosexuell zu sein. […] Früher lag in dieser bewussten Entscheidung auch ein Teil sozialer Rebellion: aus der Gruppe ausbrechen, sich davonmachen, das hässliche Entlein werden, das bestimmte Hoffnungen derer verriet, die uns geboren und aufwachsen gesehen hatten, und diejenigen beunruhigte, die uns liebten und ahnten, dass wir etwas mehr leiden würden als die anderen. Diese anfängliche Abspaltung führte zu einer Reihe von Dissidenzen. Ein eigenständiger, freier und einzigartiger, aber unruhiger Lebensstil, in dem diskrete Bindungen innerhalb einer Wahlgemeinschaft einen schützenden Kokon bildeten, der oft an die Stelle einer Familie trat, die sich distanziert hatte. Eine urbane Geografie auch, mit ihrer eigenen Sprache und ihrem Humor und einem leichten Überlegenheitskomplex, den man häufig bei paranoiden Minderheiten findet. Was Dustan das Leben im Ghetto nannte.

Dieser Passus thematisiert Homosexualität als einen ursprünglichen Akt der sozialen Rebellion in der damaligen Zeit, der im Zuge der modernen Integration verloren gegangen sei. Diese Entscheidung war eine anfängliche Abspaltung, die das Individuum aus der bürgerlichen Gesellschaft katapultierte, um zum vilain petit canard zu werden. Diese Entscheidung war nicht nur schmerzhaft, sondern führte auch zu einem separaten, freien und einzigartigen, aber unruhigen Lebensstil. Die Folge war die Bildung einer Ersatzgemeinschaft („communauté d’élection“), die als schützender Kokon wirkt. Der Autor zitiert Dustans Bezeichnung dieser Gemeinschaft als Leben im Ghetto. Der Autor trauert um den Verlust dieses rebellischen Impetus, da der moderne, integrierte Schwule zu einem Hetero wie jeder andere geworden sei.

Thomas Clerc als Herausgeber von Guillaume Dustans OEuvre charakterisiert ihn durch folgende Schlüsselmerkmale: Dustans Bild wurde durch seine verstreuten Schriften, die spektakuläre Entwicklung seines Denkens und Schreibens sowie den provozierenden Aspekt seines Werks verzerrt. Seine leichtfertig konstruierte „skandalöse Reputation“ führte dazu, dass er auf einen reinen Provokateur reduziert wurde. Clerc sieht Dustan jedoch als eine der sehr seltenen utopischen Figuren in der gesitteten französischen Literaturszene der Jahrhundertwende. Sein Werk ist laut Clerc von einem starken Vitalismus geprägt, der eine Alternative zur nationalen Depression bietet, anstatt den „traurigen Ton des Nihilismus“ anzustimmen. Die Ankündigung seiner Seropositivität führte paradoxerweise zu seiner literarischen Geburt, da die Todesgefahr die Dringlichkeit des Schreibens freisetzte. Er weigerte sich, Homosexualität auf ein reines Ethos des Leidens und der Schuld zu reduzieren. Dustan war ein militanter Homosexueller, ein bekennender Hedonist und ein „politischer Pornograf“. Sein politisches Projekt ist ein liberaler Libertarismus. Sein Ziel war es aus Sicht Clercs, eine neue Lebensweise zu fördern, die auf dem Prinzip des Vergnügens beruht. Dustan sah sich als Fortführer des Geistes von ’68, der sich gegen den Neopuritanismus der französischen Gesellschaft richtete, der seiner Meinung nach auch die traditionelle Linke erfasst hatte. Er sah die Gay Culture, die aus der ultraniederen Position des Sexuellen entstand, als eine Bewegung, die der gesamten Gesellschaft zugutekam.

Clerc unterteilt Dustans Werk in drei Phasen (von denen die ersten beiden in den Bänden I und II der Œuvres abgedeckt sind): Die erste Trilogie (in Œuvres I) führe vom Sexuellen zur Identität: Diese Phase (Dans ma chambre, Je sors ce soir, Plus fort que moi) zentriert sich auf die Explizierung des homosexuellen Sexus und die Affirmation der sexuellen Identität („pédé“). Clerc sieht dies als notwendige Phase des strategischen Essentialismus zur Selbstkonstruktion. Die zweite Trilogie (Œuvres II) führe vom Sexus zur Kultur und Politik: Diese Werke (Nicolas Pages, Génie Divin, LXiR) markieren einen entscheidenden Wendepunkt: den Übergang „vom Sexus zum Genre, vom Ich zum Wir und von der reinen Subjektivität zur Unreinheit der Politik“. Dustan entwickelt hier seine Politik des verallgemeinerten Hedonismus. Die Autobiografie wird hier zur Form der „Gegenkultur“. Drittens betont Dustans konträre Position zur foucaultschen Doxa. Während Michel Foucault die „repressive Hypothese“ (die Annahme, dass Sexus unterdrückt wird) ablehnte und das Bekenntnis als Falle des Bio-Pouvoir sah, bejaht Dustan leidenschaftlich die Existenz von Repression (des Körpers, des Sexus, der Homosexualität). Dustan glaubt, dass die Autobiografie das beste literarische Mittel ist, um diese Repression zurückzudrängen. Dustan sei ein „Universalist des Besonderen“ („universaliste du particulier“), der von einer ultra-minoritären Position (der marginalen Gay-Szene) aus eine universelle Literatur schuf, die die ganze Gesellschaft mit ihren Fragen der Freiheit, des Körpers und des Puritanismus konfrontierte.

Die dauerhafte Bedeutung von Dustan liegt für Beaux in seinem literarischem Stil, insbesondere in seiner frühen Roman-Trilogie: Seine Markenzeichen ist die rohe, schonungslose Beschreibung von Sexualität und Körperlichkeit, die aber nicht vulgär ist. Diese Derbheit ist rhetorisch und demonstrativ. Sie reflektiert die Dringlichkeit („urgence“) und den Wettlauf gegen den Tod: schnell und stark zu schreiben. Durch die Anwendung dieser trockenen, schmucklosen Sprache erreicht Dustan den höchsten Grad der persönlichen Wahrhaftigkeit („véracité“). Er liefert sich vollständig aus („se livre intégralement“), was ihm die Authentizität einer großen Stimme verleiht. Die Form wird bei Dustan zum Subjekt; sie ist der Vektor seiner Wahrheit. Er gilt Beaux als ein „bedeutender, innovativer, fantasievoller und radikaler Schriftsteller“ an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.

SIDA, genres et sexualité: Guillaume Dustans chez Thierry Ardisson.

Christophe Beaux’ Text Un tombeau pour Dustan funktioniert u.a. und Guillaume Dustans als biografischer Schlüssel und literaturkritischer Spiegel zu Dustans radikalen autobiografischen Schriften. 1 Dustans Werk, herausgegeben von Thomas Clerc, insbesondere die erste Trilogie (Dans ma chambre, Je sors ce soir, Plus fort que moi), griff auf die gemeinsame 18-monatige Beziehung mit Christophe in Paris zurück und machte diesen und die von ihm erlebten Ereignisse zu zentralen Bestandteilen seiner literarischen Welt.

Die intimste intertextuelle Verbindung liegt in der schonungslosen literarischen Übernahme realer Personen und Ereignisse durch Dustan. Christophe, den William liebevoll, aber auch dominant, „lapin“ (Kaninchen) nannte, findet seinen vollen Namen im Index eines von Dustans Werken. Dort wird er als „Klon“ bezeichnet und als Schönheitsideal, das ihm seine erste echte Depression einbrachte („idéal de beauté qui m’a valu ma première vraie dépression“) beschrieben. Ein besonders schmerzhaftes und belastendes Beispiel für diese intertextuelle Ausbeutung ist die Aufnahme von Christophs Fissur, die William durch unvorsichtigen Sex verursachte, in einem seiner Romane. Auch andere Figuren aus Dustans Büchern werden in Un tombeau pour Dustan mit ihren realen Pendants verknüpft: Die Figur des „Stéphane“ in Dustans erstem Buch entpuppt sich als zwei verschiedene Personen („les deux Philippe“), und ein alter Freund Dustans, Alex (Alessandro), wird im Tombeau als jemand erwähnt, der von Dustan in seinem Roman Nicolas Pages „bis auf die Knochen aufgefressen“ hat und „wie ein Vampir“ wurde.

Beaux’ Erzählung positioniert sich als literaturkritische Auseinandersetzung und Rechtfertigung von Dustans Poetik. Beaux bewundert den Dustan der Anfänge, der die post-bourgeoise Gesellschaft scharf kritisierte, für dessen „Rudesse“ (Rauheit, Derbheit) und „Véracité“ (Wahrhaftigkeit). Diese literarische Stärke lag in Dustans Fähigkeit, eine trockene und schmucklose Sprache zu verwenden, die ihn zum höchsten Grad seiner eigenen Wahrheit führte, und die Dustans radikale Ehrlichkeit und seinen Anti-Lügen-Charakter widerspiegelte. Dustan lehnte den traditionellen Roman als reaktionär ab und sah sich selbst als Auto(hagio)biograph, der durch die schonungslose Offenlegung seines Ichs und seiner Sexualität einen politischen Akt vollzog.

Ein zentraler intertextueller Nexus liegt in der Thematisierung der AIDS-Krise und der Sterblichkeit. Dustans Durchbruch in die Literatur wurde durch seine HIV-Diagnose und die daraus resultierende Dringlichkeit („urgence“) beschleunigt. Er sah sein Werk als Testament, in dem er seinen Vater und die soziale Ordnung enterbte. Die kontroverse Position Dustans zur Barebacking-Debatte und seine Ablehnung des Puritanismus werden in Un tombeau pour Dustan ausführlich diskutiert, wobei Christophe die biografischen Umstände und die philosophische Motivation hinter Dustans Haltung beleuchtet. Die Figur Dustan verkörperte durch seine provokative Selbstdarstellung (Perücken und öffentliche Auftritte) eine Art Märtyrer („Saint Dustan crucifié“), ein Selbstbild, das er in seinen Werken kultivierte, indem er das Schweigen über die Krankheit ablehnte.

Sa séropositivité ? Je l’avais longtemps pensé, car j’avais été témoin de cette sentence et du désespoir dans lequel elle l’avait plongé. C’était la première cause facile pour tout expliquer. Mais je n’y croyais plus. William n’avait pas vrillé parce que son espérance de vie s’était rétrécie. Il portait d’emblée en lui un élan à la fois créatif et destructeur qu’il a lui-même dénommé « génie divin » : cette dynamique intérieure pouvait suffire à motiver sa dérive. J’y ajouterai une supposition à deux balles : n’était-ce pas pour mieux faire chier son père que William se foutait en l’air ? […] En ruinant le rêve paternel d’ascension bourgeoise et en préférant les mecs, Bill avait tout fait pour rendre son géniteur dingue de douleur.

Seine HIV-Infektion? Das hatte ich lange Zeit geglaubt, denn ich war Zeuge dieses Urteils und der Verzweiflung gewesen, in die es ihn gestürzt hatte. Das war die erste einfache Erklärung für alles. Aber ich glaubte nicht mehr daran. William war nicht durchgedreht, weil seine Lebenserwartung gesunken war. Er trug von Anfang an einen kreativen und destruktiven Elan in sich, den er selbst als „göttliche Genialität” bezeichnete: Diese innere Dynamik konnte ausreichen, um sein Abgleiten zu motivieren. Ich möchte noch eine billige Vermutung hinzufügen: Hat William sich nicht umgebracht, um seinen Vater zu ärgern? […] Indem er den Traum seines Vaters vom sozialen Aufstieg ruinierte und Männer bevorzugte, hatte Bill alles getan, um seinen Vater vor Schmerz in den Wahnsinn zu treiben.

Dieser Abschnitt hinterfragt die einfache Kausalität zwischen Williams HIV-Diagnose und seiner späteren radikalen Lebensführung. Christophe erkennt, dass Williams „dérive“ („Abdriften“) nicht allein durch die verkürzte Lebenserwartung motiviert war. Vielmehr interpretiert er Dustans Weg als eine tief sitzende, antibürgerliche und selbstzerstörerische Rebellion. Die Homosexualität und die Zerstörung des väterlichen Traums vom bürgerlichen Aufstieg („rêve paternel d’ascension bourgeoise“) werden hier als bewusste Waffe gegen seinen Vater, einen bürgerlichen Psychoanalytiker, dargestellt. Williams Aktionen waren chemisch reine Grausamkeit („de la cruauté chimiquement pure“), die darauf abzielte, den Vater zu verletzen. Dustans Transformation vom ambitionierten William Baranès zum skandalösen poète maudit, der die soziale Ordnung pulverisierte („pulvériserait l’ordre social“), ist somit ein radikaler Ausdruck dieser antibürgerlichen Dissidenz.

Um in der bürgerlichen Welt akzeptiert zu werden, sah sich Dustan genötigt zu lügen und zu schweigen: Schon in Sciences-Po nahm er die Gewohnheit an, nicht zu sagen, dass er jüdisch oder schwul sei, um die „Grimasse“ der Ablehnung zu vermeiden und akzeptiert zu werden (in Génie Divin). Die bürgerliche Haltung sei gekennzeichnet durch die Angst, die Gesetze zu brechen. Die Etikette der bürgerlichen Gesellschaft wird als ein System der „total control“ beschrieben, basierend auf der Verdrängung der Triebe, Scham des Körpers, Schuld und sexueller Demütigung; der traditionelle bürgerliche Roman wird als „réactionnaire“ betrachtet, der Angst vor dem Leben hat und den Körper ignoriert oder leugnet (in Génie Divin). Die bürgerliche französische Literatur wird als „alt“, „snobistisch“ und „rechts“ kritisiert, da sie sich in aristokratischen Werten der „Distinktion“ verfängt und das „Gemeine, Gewöhnliche“ („le commun, l’ordinaire“) ablehnt. Sie ist besessen davon, „gut zu schreiben, anstatt das Leben zu schreiben“ („Bien écrire au lieu d’écrire la vie“) (in Nicolas Pages). Der Erzähler schreibt, dass er sich nur während seiner Zeit als perfekte Karikatur eines Bourgeois in Ascot und Loden („en ascot et loden“) von der Polizei beschützt fühlte und sich dadurch als Teil der „Leute, die die Gesetze machen“ („les gens qui font les lois“) wähnte (in Nicolas Pages). Die Elite im Club dagegen besteht für Dustan aus „den Schönsten, Schicksten, Härtesten der Welt“ („La crème de la crème. Les plus beaux, chic, hard du monde“), die Drogen konsumieren und handeln (in Plus fort que moi). Diese „Clubbers“ sind die „neue Menschheit/Humanität“ („nouvelle humanité“) mit neuen „Kompetenzen“: Drogen nehmen, sich kleiden, vögeln, tanzen (in LXiR). In Plus fort que moi schreibt Dustan, die „Leute der Nacht“ („gens de la nuit“) seien „die zivilisiertesten von allen“ („les plus civilisés de tous“). In der Nacht wird mehr auf das eigene Verhalten geachtet als in einem aristokratischen Salon. Die Kommunikation in Clubs meide „offensichtliche Dinge“ wie Beruf, Geld, Bücher oder Platten. Stattdessen handelt man nur, wobei Blick und Geste („L’œil aux aguets. Le geste chargé de sens“) an Bedeutung gewinnen. In der Menge des Nachtclubs ist man höflich, stößt niemanden an („personne ne bouscule“), das Berühren geschieht nur minimal, um den Weg freizumachen, und das Tragen von brennenden Zigaretten oder vollen Gläsern wird als Geschicklichkeitssport gehandhabt (in Je sors ce soir). Die Nachtklubkultur wird so für Dustan zu einer „realisierten Utopie“ („utopie réalisée“), in der jeder sein „Bestes gibt“ („chacun s’y conduit au mieux“). Obwohl Dustan den Snobismus der alten Elite verabscheut, akzeptiert er eine Form des „dandysme de masse“ und des „snobisme“, der die Autorität herausfordert. Dieser Snobismus wird hier als „einziges Laster“ („seul défaut“) seiner neuen Kultur genannt, die jedoch multikulturell ist, im Gegensatz zu den „grauen“ Alten (in Génie Divin).

Motivische und referentielle Spiegelungen verweben die beiden Werke von Beaux und Dustan zusätzlich. Der Titel von Dustans Debütroman, Dans ma chambre (In meinem Zimmer), definiert den intimen Raum der Sexualität und des Drogenkonsums, ein Ort, den William dem unerfahrenen Christophe eröffnete und der zur Metapher für Dustans geschlossenes und gefährliches Identitätsfeld wurde. Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist das der Hölle: Dustan beschrieb die Backrooms als „enfer de Dante“ (Dantes Inferno), eine Metapher für das „gaytto“, in dem sich die beiden Protagonisten zur Zeit der Epidemie bewegten. Christophe erinnert sich außerdem daran, wie William ihm Bücher empfahl, die Dustans spätere literarische Thematik vorwegnahmen, wie John Rechys Cité de la nuit (City of Night), ein Werk über schwule Prostituierte, das William Christophe vorenthalten wollte, da es ihm „perverse Ideen“ einflößen würde. Schließlich enthält Dustans Werk Sätze, die in Beaux‘ Erzählung eine posthume, tragische Bedeutung erlangen, wie das Zitat aus Je sors ce soir: „Jamais je ne vieillirai“ (Ich werde niemals altern).

Befreiung

Un tombeau pour Dustan bildet ein posthumen Befreiungsakt, der durch die Konfrontation mit Dustans literarischem Werk ermöglicht wird. Christophe beendet seine jahrzehntelange Obsession und sein Schuldgefühl, indem er Dustans literarischem Ethos der Wahrhaftigkeit folgt und seine eigene „Wahrheit“ niederschreibt. Er sieht das Verfassen des „Tombeau“ als einen notwendigen Akt der eigenen Befreiung, eine therapeutische Funktion, die Dustan auch für seine eigene Autobiografie sah, indem er das Schreiben als „die Fortsetzung meiner Psychoanalyse“ bezeichnete, um die „zu harten Dinge“ zu verarbeiten. Indem Christophe seine Erzählung als Hommage und Kritik zugleich anlegt, erringt er seine Autonomie von dem Pygmalion, der sein gesamtes Leben bestimmt hatte. Es ist, als würde Christophe, um von der Magie Williams befreit zu werden, dessen eigene radikale literarische Praxis in einem finalen, reinigenden Akt der parrhésia imitieren und abschließen.

Das Schreiben dient so dem Autor als ultimativer Versuch, die zerstreuten Trümmer der Erinnerung zu sammeln, sie zu ordnen und zu bewahren, um so von William und der Schuld befreit zu werden. Die Poetik ist tief von der Reflexion über die Tücke der Erinnerung („mémoire vicieuse“) geprägt. Die Erinnerung spielt dem Autor Streiche, indem sie Tatsachen ausblendet (z. B. Williams gleichzeitige Beziehung zu Nathalie) und nur das Schöne und Mächtige bewahrt. Die Erzählung muss daher die Lücken durch „Onirismus und Illusion“ füllen, um den wahren Gefühlen näherzukommen.

Es ist ein subjektives, aufrichtiges und starkes Werk. Beaux offenbart seine eigene Ambivalenz: die Haltung zwischen Assimilation und Ablehnung, zwischen Bewunderung und Rache, Liebe und Hass, die ihn an William kettete. Die literarische Bewertung des Buches ist daher untrennbar mit seiner therapeutischen Funktion verbunden, das jahrzehntelange Schuldgefühl zu lösen, das durch William’s Tod verstärkt wurde. Zentraler poetischer Moment ist der Epilog, in dem die Abschiedsnotiz (geschrieben im Jahr 2005) eingefügt ist. Diese ist ein intimes Cantique und fasst die toxische und intensive Beziehung zusammen: das Wechselspiel von Hass und Anbetung, das Verlangen, William zu vernichten und gleichzeitig in sich aufzunehmen.

Das Buch endet mit der symbolischen Befreiung des Erzählers (Christophe) zwanzig Jahre nach Williams Tod: Nachdem Christophe bei einem Abendessen mit Williams ehemaligem Freund Alex (Alessandro) realisiert, wie sehr William sein gesamtes Leben als „Abdriften seiner Funktion“ („dérivée de sa fonction“) bestimmt hat, sucht er Alex‘ Wohnung in der Nähe des Montparnasse-Friedhofs auf.

Christophe entscheidet, dass er den Bann brechen muss. Er besucht Williams Grab. Das Grab ist makellos und olympisch, geziert nur von wenigen kleinen Steinen, in jüdischer Tradition. Dort liest Christophe in aller Stille („psalmodier en silence“) die Abschiedsnotiz vor, die er 2005 in den Sarg geworfen hatte – eine Mischung aus Liebeserklärung, Trennungsprotokoll und Geständnis. In diesem Moment der Verabschiedung empfindet er eine Erleichterung und Regeneration. Der unwillkürliche Zauber Williams löst sich auf. Christophe richtet sich auf, körperlich und seelisch. Er erkennt die letzte Lektion Williams: „Es gibt keine Grenze für die Macht der Vorstellungskraft und des Willens“. Christophe legt einen anthrazitfarbenen Stein auf das Grab und hofft, nun endlich „frei, oder besser gesagt befreit“ von William und der Last ihrer gemeinsamen Geschichte zu sein. Das Buch schließt mit der Erinnerung an die erste Begegnung und die Gewissheit, dass William nun seinen Smoking für die Ewigkeit trägt.

Es ist Christophes spätes Eingeständnis, dass die dominanteste und schmerzhafteste Beziehung im Leben des Erzählers gleichzeitig diejenige war, die ihn durch die Bewahrung seiner körperlichen Unversehrtheit (Williams Schutz vor Drogen und ungeschütztem Sex) gerettet hat, und nur durch das symbolische Ablegen dieses literarischen Grabmals kann die eigene Lebensbahn zurückerobert werden.

Die Entscheidung von William Baranès, seine Existenz als Guillaume Dustan zu inszenieren und zu beenden, war ein radikaler Befreiungsversuch vom bürgerlichen Aufstiegstraum seines angesehenen Vaters. William, der als unersättliches Genie und zukünftiger hoher Staatsbeamter prädestiniert war, wählte stattdessen bewusst die Rolle des „poète maudit“, um die soziale Ordnung zu pulverisieren. Seine Homosexualität, seine HIV-Infektion und sein exzessiver Lebensstil waren Instrumente dieser antibürgerlichen Dissidenz, die darauf abzielte, seinen Vater wahnsinnig vor Schmerz zu machen. William „brûlait ses vaisseaux“ (verbrannte seine Schiffe), indem er die bürgerliche Ordnung herausforderte sagte. Sein literarisches Ethos der „rudesse“ und „véracité“ war die extreme, selbstzerstörerische Verwirklichung dieser Rebellion, die den Grundstein für die lebenslange Obsession Christophs legte.

Christophe Beaux’ eigene jahrelange Verstrickung in diese Dynamik setzt Dustans Befreiungsversuch paradox fort. Zunächst versuchte Christophe, Williams Klon zu werden, indem er dessen bürgerliche Ambitionen kopierte und ebenfalls Karriere in der „haute fonction publique“ machte. Dies war ein Akt der „unreifen Konkurrenz“, um William zu übertrumpfen. Doch in seinem erfolgreichen, konventionellen Leben fühlte sich Christophe entzaubert als Abklatsch von Williams, ohne eigenes Schicksal. Das Verfassen des Grabmals ist der verzögerte, aber notwendige Ausbruch aus diesem deterministischen, bürgerlichen Käfig. Indem Beaux seine Geschichte – einschließlich seiner Schuld, seiner „fissure anale“ und seiner Demütigungen – mit der gleichen schonungslosen Wahrhaftigkeit niederlegt, die er an Dustan bewundert, vollzieht er selbst den Bruch mit dem bürgerlichen Schweigen, erbt Dustans rebellische Poetik und erlangt seine späte Befreiung.

Diese biografische Erzählung zeigt, wie sich die Traumatisierung der homosexuellen Dissidenz der Generation von William alias Guillaume bis in die Gegenwart fortsetzt. Für beide war die Homosexualität in den 80er und 90er Jahren Jahren eine „sécession initiale“ und ein „Akt der sozialen Rebellion“. Der allgegenwärtige „Horror“ der AIDS-Krise und das existentielle Dilemma „entre crever en baisant ou ne pas vivre“ („zwischen Sterben beim Vögeln oder nicht leben“) zwang diese Generation in eine permanente Unruhe. William reagierte mit einer rasenden Jagd auf sein Ende („course effrénée vers sa fin“), was bei Christophe lebenslange, unaufgelöste Schuld und eine Obsession auslöste, in der er William als „kardinale Ursache“ seiner eigenen „errements“ ansah. Die Notwendigkeit, zwanzig Jahre nach Dustans Tod ein „kaddish personnel“ zu psalmodieren, um von diesem „sortilège“ (Zauber/Fluch) befreit zu werden, beweist, dass das Trauma der Rebellion gegen die Konformität noch immer die Biografien der Überlebenden durchdringt, bis zur späten literarischen Beerdigung des eigenen Abdriftens.

Epilog: widersprüchliche Wahrheiten

Christophe Beaux war laut Enaults Biographie Dustan superstar einer der männlichen Partner, die William aus seinem öffentlichen Leben ausschloss, da William/Dustan darauf bedacht blieb, die bürgerlichen, heterosexuellen Normen zu wahren, um seine Karrierechancen als angehender hoher Beamter nicht zu gefährden. Er wechselte sorgfältig zwischen einer Beziehung mit einer Frau (wie Nathalie Rigal) und einem Mann (wie Christophe) ab, da eine Frau an seiner Seite ein „Sesam für alle Machtzirkel“ darstellte, in die er aufsteigen wollte. Christophe Beaux wird in Dustans drittem Buch, Plus fort que moi, explizit erwähnt, als William beschreibt, wie er seine intimen Beziehungen zwischen Männern und Frauen abwechselte. Diese eingangs von mir angedeutete Ambivalenz zwischen bürgerlicher Ambition und antibürgerlicher Provokation scheint auch die späteren Jahre zu bestimmen:

Raffaël Enault schildert ein Lebensende von Guillaume Dustan (alias William Baranès), das nicht in die Mythisierung des jungen Provokateur-Künstlers mit tragischem AIDS-Schicksal passt, ich referiere im Folgenden aus Enaults Biographie: Dustan starb im Oktober 2005 im Alter von 39 Jahren. Die offizielle Todesursache wurde als „unfreiwillige medikamentöse Überdosis“ angegeben. Eine toxikologische Analyse ergab eine toxische Dosis von Maprotilin (Ludiomil), einem ihm verschriebenen Antidepressivum. Drogen wurden nicht gefunden. Auch wenn Dustan seit Januar 1990 seropositiv war, sah er jedoch seit der Einführung der Dreifachtherapien um 1996 die Chance, alt zu werden, sodass seine HIV-Infektion nicht die direkte Todesursache war.

Seine letzten Jahre waren geprägt von einem Absturz vom Höhepunkt medialer Aufmerksamkeit in eine tiefe psychische Krise. Um das Jahr 2000, auf dem Gipfel seines Ruhms nach dem Prix de Flore, verstärkten sich Guillaume Dustans Megalomanie und Paranoia. Er konsumierte exzessiv Drogen wie Kokain, Ecstasy und Heroin und kombinierte diese mit Alkohol und Anxiolytika. Er verlor seine Position als Leiter der „Le Rayon“-Kollektion bei Balland, da die Kollektion defizitär war und er mit dem neuen Eigentümer Denis Bourgeois in Konflikt geriet. Dustan fühlte sich ignoriert und bedroht, was seine aggressive und überzogene öffentliche Rolle als „Drama Queen“ und Provokateur nährte. Seine Unfähigkeit, sich zu erneuern und sein festgefahrenes „Bösewicht-Barebacker“-Image abzulegen, führte zu zunehmender Isolation und dem Gefühl, gescheitert zu sein.

Angesichts seiner Verzweiflung und finanzieller Ängste beschloss William Baranès, seine Pariser Bohème aufzugeben und in den Staatsdienst zurückzukehren. Im Januar 2003 nahm er seine Stelle am Verwaltungsgericht in Douai an. Er versuchte, ein „normales“ Leben zu führen, kleidete sich klassisch und suchte psychiatrische Hilfe. Doch die Isolation der Provinz, die er als feindselig empfand, verschlimmerte seine Depression. Er entwickelte zwanghaftes Sammelverhalten (insbesondere Vinyl-Schallplatten) und litt unter starker psychischer Labilität und Paranoia, was ihn unfähig machte, seine Arbeit fortzusetzen. Seine psychotischen Anfälle (einschließlich Wahnvorstellungen und Stimmenhören) führten im Dezember 2004 nach einem Hundebiss zu einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik in Épinay-sur-Seine.

Nach einer Phase intensiver Behandlung mit Antipsychotika und Antidepressiva (wie Depakote und Zyprexa) verbesserte sich sein Zustand im Frühjahr 2005 langsam; er nahm wieder zu und schien stabilisiert. Er kehrte nach Paris in ein kleines Studio zurück. William Baranès wirkte jedoch körperlich vorzeitig gealtert und verlangsamt. Er nahm den Kontakt zu seinen alten Freunden wieder auf und zeigte am 1. Oktober 2005 neue literarische Hoffnung, indem er mit der Arbeit an einer Biographie über Andy Warhol begann. Nur wenige Tage später, am 2. Oktober 2005, endete sein Leben, wobei die genauen Umstände (ob versehentliche Überdosierung des Antidepressivums Maprotilin oder Suizid) ungeklärt blieben.

Die Gesamtdeutung von Guillaume Dustan (William Baranès) in der Biografie Dustan Superstar beschreibt ihn als eine komplexe, zerrissene Figur der Extreme, deren Existenz eine einzige, durchdachte politische und literarische Performance war. Die Biografie porträtiert ihn als einen missverstandenen Mythos und eine Kultfigur der zeitgenössischen Literatur, dessen Aura über die rein literarischen Kreise hinausging. Dustans Schaffen – die sogenannten Autofictions – diente ihm als Laboratorium und politisches Programm, das darauf abzielte, die soziale Ordnung zu zerstören, Codes zu brechen und eine absolute Freiheit zu erlangen, die in seinem Leben und seinen Texten die Obsession schlechthin war. Diese gewählte Doppellebensstrategie zwischen dem Hochbeamten William Baranès und dem extravaganten Provokateur Guillaume Dustan war der Motor seines „großen Romans“, der nie aufhörte, sich selbst zu schreiben.

Als Autor erlebte Dustan zwar Ruhm, aber keinen kommerziellen Erfolg. Er wurde in den Medien als „Agitateur gay Nummer eins“ und „letzter poète maudit“ gefeiert, gewann 1999 den Prix de Flore und hatte die Ambition, ein „Schriftsteller-Star“ zu werden. Trotz dieser medialen Präsenz verkauften sich seine Bücher schlecht oder kaum; so wurden von seinem ersten Werk nur etwa 2.000 Exemplare abgesetzt. Er empfand das Scheitern seiner Bücher und die Schließung seiner Buchreihe „Le Rayon“ als einen „Crash“. Nichtsdestotrotz war das Schreiben für ihn zutiefst therapeutisch; er behauptete, er hätte ohne das Verfassen seiner Werke sterben müssen, da ihm die Literatur half, seine Neurosen, Selbstzweifel und suizidalen Tendenzen zu überwinden.

In Bezug auf seine gesellschaftliche Position war Dustan ein Paradox zwischen antibürgerlichem Aktivismus und bürgerlicher Prägung. Er war ein „perfekter Bourgeois“, der gute Manieren pflegte, feine Kleidung trug und sich seiner sozialen Herkunft bewusst war. Sein Vater verkörperte für ihn das „bürgerliche Machtgefüge“ und „das Gesetz“. Der von ihm gewählte antibürgerliche Lebensstil – die Feier von Sex, Drogen und Queer-Kultur – war eine direkte, politische Revolte gegen die patriarchalen und heterosexuellen Normen, die sein Vater symbolisierte. Dustan nutzte seine Schriften, um Codes zu brechen und die soziale Ordnung umzustürzen. Er war jedoch niemals unpolitisch; seine Transgression war ein kalkuliertes Mittel, um das System, das ihn hervorgebracht hatte, zu demontieren. Der Guillaume Dustan mit Perücke war somit eine Provokation und ein Schutzschild, der die intellektuelle Basis des William Baranès benötigte, um das höchste Ziel zu erreichen: die Freiheit, die er als „die Quelle jeder Häresie“ verstand – die Fähigkeit, widersprüchliche Wahrheiten in sich zu vereinen.

    Anmerkungen
  1. Œuvres : tome I, préfaces et notes de Thomas Clerc, P.O.L, 2013: Dans ma chambre, Je sors ce soir, Plus fort que moi; tome II, préfaces et notes de Thomas Clerc, P.O.L, 2021: Nicolas Pages, Génie Divin, LXiR; tome III, préfaces et notes de Thomas Clerc, P.O.L, en préparation pour 2026.>>>

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