Terrorismusfiktionen

Themenheft „Récits et fictions du terrorisme“, Revue des sciences humaines 359 (2025).

Narrative Verarbeitung der Terroranschläge von 2015

Das vorliegende Themenheft der Revue des sciences humaines versammelt Beiträge, die aus einem Kolloquium vom 15. bis 17. November 2023 in Paris hervorgegangen sind. Die zentrale Fragestellung ist, wie die französische Gesellschaft die Terroranschläge von 2015 durch Erzählungen – seien es Zeugnisse oder fiktive Werke – verarbeitet. Das Heft bietet eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den narrativen, ethischen und psychologischen Herausforderungen, die der Terrorismus für die Literatur und die Gesellschaft darstellt.

Karte der Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris, Wikimedia.

Die Einleitung von Alexandre Gefen und Denis Peschanski skizziert das doppelte Interesse des Bandes: Einerseits dient die Literatur als Seismograph, der den Zustand der gesellschaftlichen Werte und Empfindlichkeiten in Angesicht der Krise erfasst. Andererseits analysiert sie die spezifischen literarischen und nicht-literarischen Mittel, die zur Bewältigung der Ereignisse eingesetzt werden.

Die Herausgeber stellen fest, dass die literarische Reaktion auf die Anschläge von 2015 – ähnlich wie die Aufarbeitung des 11. September in den USA – ein entscheidender Markstein in der zeitgenössischen Kulturgeschichte ist. Sie betonen die Vielfalt der Reaktionen, die von Zeugnissen (Philippe Lançon, Luz, Catherine Meurisse) bis zu Romanen (Mathieu Riboulet, Emmanuel Carrère, Karine Tuil, Yasmina Khadra, Yannick Haenel) reicht. Ein wichtiger Bezugspunkt ist das trandisziplinäre Forschungsprogramm 13-Novembre, das hunderte von Zeugenaussagen sammelt, um die individuelle Erfahrung des traumatischen Ereignisses zu dokumentieren.

Zentrale Fragen, die im Heft behandelt werden, umfassen: Die zeitliche Dimension der Textentstehung; die konzeptuellen und kritischen Kategorien, die zur Interpretation mobilisiert werden müssen; die Rolle der Fiktion und des Zeugnisses in der Gesellschaft; und die ethischen Herausforderungen für Überlebende, die das Wort ergreifen. Die Relevanz der Literatur liegt darin, dass sie die gestiegene Verwundbarkeit der Gesellschaft (auch auf juristischer Ebene, etwa durch die Anerkennung psychologischer Verletzungen) registriert. Die autobiografischen Erzählungen zeigen, wie das Schreiben zu einem Mittel wird, um die individuelle Erinnerung „neu zu vernähen“ und eine persönliche Kohärenz nach tiefem Trauma wiederherzustellen.

Ein roter Faden ist die Artikulation zwischen dem traumatisch Erlebten und der Literatur. Hier wird die Bedeutung narrativer Prozesse für die Aufrechterhaltung der Identitätskontinuität und Kohärenz hervorgehoben (wie im Beitrag von Eustache et al.). Die kollektive und generationelle Dimension des Traumas, die zu spontaner Solidarität führt, wird ebenfalls beleuchtet.

Besonders hervorgehoben wird die Auseinandersetzung mit dem Prozess „V13“ (dem Gerichtsprozess zu den Anschlägen vom 13. November 2015), den Emmanuel Carrère in ein literarisches Ereignis verwandelte. Hierbei geht es um die feine Grenze zwischen gerichtlicher und literarischer Wahrheit, um die Sichtbarmachung der Opfer und die Rolle des Prozesses als Gedächtnisraum und Ort der kollektiven Transformation des Traumas.

Abschließend werfen die Herausgeber ethische Fragen auf: Die Gewalt zwingt die Literatur, ihre Funktionen und Grenzen neu zu definieren. Dies führt zu fragmentarischen, nicht-linearen oder metadiskursiven Erzählformen, die das Unsagbare des Terrortraumas auszudrücken suchen. Auch die ethische Herausforderung, die Perspektive der Terroristen darzustellen, wird diskutiert, wobei die Gefahr einer problematischen Identifikation mit dem Täter beleuchtet wird. Die Literatur fungiert somit als ein alternativer Raum, in dem marginalisierte oder in offiziellen Narrativen fehlende Erinnerungen sichtbar werden können.

Lektüre der Einzelbeiträge

Lucie Da Costa Silva, Lucie Quibeuf, Francis Eustache et Peggy Quinette, Approche narrative du traumatisme : récits du terrorisme

Dieser Beitrag verwendet einen narrativen Ansatz, um das Trauma und die autobiografische Erinnerung im Kontext von Terrorismus zu untersuchen, basierend auf der Studie 1000 des interdisziplinären Programme 13-Novembre. Es wird erläutert, dass traumatische Ereignisse die Bildung kohärenter Erinnerungen und Erzählungen behindern können, da die sensorisch-perzeptive Verarbeitung die kognitive Integration von kontextuellen und narrativen Informationen überschattet. Hohe Desorganisation in Trauma-Erzählungen ist mit erhöhten Vermeidungssymptomen assoziiert. Erste Analysen der Studie 1000 zeigten, dass direkt exponierte Personen (Kreis 1) das Wort „Trauma“ häufiger verwendeten. Bei Überlebenden mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) wurde eine stärkere Nutzung von Wörtern gefunden, die sozialen und familiären Kontakt betreffen. Die Forschung zielt darauf ab, Prädiktoren für eine adaptive Erholung oder psychologische Not zu identifizieren und die Mechanismen zu beleuchten, durch die Terroranschläge in die Lebensgeschichte und Identitätskonstruktion integriert oder nicht integriert werden. Es wird erwartet, dass Veränderungen der individuellen Erinnerung und Identität, insbesondere auf familiärer und gemeinschaftlicher Ebene sowie in Bezug auf Werte und Überzeugungen, festgestellt werden.

Der Beitrag liefert einen empirischen und psychologischen Rahmen für die literarische Auseinandersetzung mit dem Trauma. Er untermauert die Beobachtung der Literaturwissenschaft (etwa Fragmentierung und Inkohärenz der Erzählungen) mit neuropsychologischen und linguistischen Daten und zeigt die grundlegende Bedeutung der narrativen Identität für die psychische Anpassung nach einem Terrorakt.

Christophe Corbin, Le djihad en France : un phénomène générationnel ?

Corbin untersucht fiktionale Texte (u. a. von Pascal Manoukian, François Vallejo, Julien Suaudeau), die versuchen, die Mechanismen des islamistischen Terrorismus zu ergründen und die Frage stellen, ob der Djihadismus in Frankreich primär als ein Generationenphänomen oder ein bloßer Abenteuerdrang verstanden werden kann. Viele Autoren deuten an, dass junge Menschen sich dem Djihad anschließen, weil sie in einer als dekadent empfundenen westlichen Gesellschaft einen Mangel an Sinn, Abenteuer und intellektueller Auseinandersetzung erfahren. Die Fiktionen fungieren als intellektueller Schutzwall, indem sie die Angst bekämpfen und das Phänomen benennen und verstehen wollen. Suaudeau (in Le Français) kehrt die binäre Opposition „sie gegen uns“ um, indem er konstatiert, dass die Terroristen ein Produkt der französischen Gesellschaft selbst sind („Wir sind ihr… Wir sind das Unkraut“).

Der Artikel beleuchtet die Rolle der Fiktion als Instrument des Verstehens und der Prävention im Angesicht der Radikalisierung. Er trägt zur ethischen Debatte bei, indem er zeigt, wie literarische Werke versuchen, die Motivationen der Täter zu erklären, ohne sie zu rechtfertigen, und dabei die Verantwortung der französischen Gesellschaft für das Scheitern der Integration thematisieren.

Marie Chagnoux, Ombre et lumière, la construction médiatique des figures des récits des attentats du 13 novembre 2015

Chagnoux untersucht die Konstruktion medialer Gedenkfiguren nach den Anschlägen vom 13. November 2015. In Anlehnung an das Format der Portraits of grief des New York Times nach 9/11, nutzen französische Medien „Mosaiken der Erinnerung“, um Individuen hinter den Zahlen sichtbar zu machen. Dieser Prozess ist jedoch von einem Filtermechanismus geprägt. Die Sichtbarkeit (Mediagenie) hängt oft von rhetorischen oder fotografischen Qualitäten ab, vor allem aber von der axiologischen Mediagenie: der Fähigkeit, gesellschaftliche Werte zu kristallisieren (z. B. „im Angesicht der Trauer standhaft bleiben“ oder „Hass ablehnen“), wie im Fall von Antoine Leiris oder Aurélie Silvestre. Diese mediale Narration ne ist neutral, sondern schreibt den Opfern oft archaische Rollen zu (z. B. „Marie und Mathias“ als tragisches Liebespaar im Pantheon von Pyramus und Thisbe). Das Ergebnis ist eine partielle und selektive kollektive Erinnerung, die bestimmte Opferfiguren beleuchtet und andere (z. B. männliche „Helden“ versus weibliche „Opfer“) marginalisiert oder symbolisch reduziert.

Der Beitrag liefert eine kritische Analyse des Einflusses medialer Narrative auf die kollektive Gedächtniskonstruktion. Er zeigt die Spannung zwischen individueller Erfahrung und medialer Stilisierung, die die Literatur oft versucht, zu korrigieren oder zu durchbrechen.

Aurélien Berset, Philippe Sollers, le captagon et les « haschischains » : une double fiction ?

Berset seziert die Darstellung des Terrorismus durch Philippe Sollers in einem Interview von 2015, in dem dieser die Attentäter des Bataclan mit der mittelalterlichen Legende der „Assassinen“ (Haschisch-Esser) vergleicht. Sollers stützt seine Interpretation auf die angebliche Einnahme des Stimulans Captagon durch die Djihadisten und seine eigene Drogenerfahrung in den 70er Jahren. Er rekurriert dabei explizit auf literarische Vorgänger wie Rimbaud und Baudelaire, die ebenfalls die Verbindung zwischen Drogen und poetischer Ekstase und Gewalt erkundeten. Berset demonstriert, dass Sollers’ Erklärung auf einer „doppelten Fiktion“ basiert: dem orientalistischen Mythos der Haschisch-Assassinen (der historische Fehler wiederholt, dass diese Mörder unter Drogeneinfluss gehandelt hätten) und der medialen Legende der Captagon-Nutzung durch die Bataclan-Täter (was durch Autopsien widerlegt wurde). Sollers’ Fokus auf die Psyche der Täter, ohne die Opfer zu beachten, wird als ethisch fragwürdig diskutiert.

Dieser Beitrag beleuchtet die Gefahr der mythologischen Überfrachtung und der ideologischen Instrumentalisierung von Terrorismus-Narrativen in der zeitgenössischen Literatur und Publizistik. Er zeigt, wie der Bedarf an einfachen Erklärungen zur Reaktivierung alter Fiktionen führen kann, selbst wenn diese historisch und faktisch falsch sind.

Christine Baron, Terrorisme et vulnérabilités. Un nouveau paradigme juridico-politique ?

Baron analysiert das Aufkommen der Verwundbarkeit (Vulnérabilité) als zentrales sozio-politisches Paradigma nach den Anschlägen von 2015. Die Terrorakte haben das kollektive Bewusstsein verändert und eine „Kultur der Angst“ (Moïsi) in westlichen Gesellschaften etabliert, die nun eher Schutz suchen als die Welt zu verändern. Diese Verletzlichkeit manifestiert sich im Recht durch die späte Anerkennung psychischer Schäden wie der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) als entschädigungsfähiges Leid. Der Terrorismus macht die Unschuld der Masse sichtbar, die nun ein leichtes Ziel ist, im Gegensatz zu ihrer traditionellen Darstellung als irrationale Bedrohung. Die Literatur, insbesondere die Chroniken von Carrère und Haenel, reagiert darauf mit größtmöglichem Takt und Empathie. Das Recht entwickelt sich weiter, indem es intime Erfahrungen wie die „Todesangst im Angesicht der Gefahr“ („angoisse de mort imminente“) als eigenständige Kategorie anerkennt und entschädigt. Die Literatur ergänzt das Recht, indem sie die Justesse (Richtigkeit/Angemessenheit) der Darstellung sucht und den Opfern ihre Geschichte zurückgibt.

Der Beitrag etabliert die Verwundbarkeit als juristisch-politischen und literarischen Schlüsselbegriff der Terrorismusbewältigung und zeigt das komplementäre Verhältnis von Recht und Literatur bei der Anerkennung und Reparation des zugefügten Schadens.

Michael Rinn, La quête du mot juste dans les récits du terrorisme. Au sujet de la séquence narrative des attentats de 2015

Rinn untersucht die „Suche nach dem richtigen Wort“ („quête du mot juste“) in den Erzählungen von 2015, wobei er die Hypothese aufstellt, dass die narrative Struktur der Anschläge von 9/11 als Vorlage diente. Terroristische Akte führen zunächst zur Sprachlosigkeit und „Sidération“ (Lähmung) bei den Zeugen, gekennzeichnet durch die Verwirrung von Sinnkategorien und sprachlicher Unsicherheit. Die Erzählung muss diese Lähmung überwinden, um das extreme Erlebnis mitzuteilen. Rinn analysiert die narrative Sequenz des Attentatsmoments („basculement“) in Werken von Riss und Lançon. Riss nutzt in Une minute quarante-neuf secondes Wiederholungen und Anaphern, um die subjektive Dehnung und Auflösung der Zeit darzustellen. Lançon erreicht am Ende der Sequenz einen stilistischen Frieden. Das Akt des Zeugnisses bekräftigt die physische, biographische Identität des „Ich“ und schafft so einen Widerstandsakt gegen das terroristische Diskurs, das Körper und Wort des Opfers auslöschen will.

Der Beitrag bietet eine rhetorische und semiologische Analyse der traumatischen Erzählung und ihrer formalen Bewältigung. Er definiert die Konstituierung eines „Topikons“ (Katalog von Gemeinplätzen) für Extremereignisse, der es ermöglicht, das Unsagbare zu benennen und dem Ereignis Sinn zu verleihen, was wiederum die literarische und künstlerische Schöpfung speist.

Stéphane Hirschi, Dire qu’on ne dit pas : invention de formes retissantes d’Erwan Larher à Catherine Meurisse

Hirschi untersucht die Werke zweier Überlebender, Erwan Larher (Le Livre que je ne voulais pas écrire) und Catherine Meurisse (La Légèreté), unter dem Gesichtspunkt der „Réticence“ (Zurückhaltung oder Widerstand gegen die einfache Zeugenaussage). Beide Werke entwickeln künstlerische „Gegen-Narrative“ („contre-narration“) und Vermeidungsstrategien. Meurisse nutzt in ihrem Comic grafische Brüche, Anakoluthe und die Indifferenzierung von Fakten und mentalen Bildern (z. B. Der Schrei von Munch oder das Geräusch tak tak tak). Larher erreicht die Distanzierung durch Metadiskurs, das Spiel mit Pronomen (tu, je) und die Allographie, indem er „Vu du dehors“-Kapitel von Außenstehenden (seinen Liebsten) ohne direkte Namensnennung einfügt. Diese Techniken des Ausweichens und Umschreibens zielen darauf ab, sich von der einfachen Opferrolle zu befreien und eine eigene künstlerische Äußerung zu schaffen – ein Prozess, den Hirschi als „Ré(s)ticence“ oder „Rétissance“ (Weben/Widerstand der Zurückhaltung) bezeichnet.

Der Artikel fokussiert auf die ästhetische und formale Dimension der Traumabewältigung. Er zeigt, wie narrative Fragmentierung und Selbstreflexion als bewusste künstlerische Strategien dienen, um die Nicht-Integrierbarkeit des Erlebten zu verarbeiten und gleichzeitig die Kontinuität des Selbst wiederzugewinnen.

Lisa Romain, Khalil de Yasmina Khadra et Le Train d’Erlingen de Boualem Sansal…

Romain vergleicht die Romane von Yasmina Khadra (Khalil, über den 13. November 2015) und Boualem Sansal (Le Train d’Erlingen), beides wichtige frankophone Autoren, die von der algerischen „Schwarzen Dekade“ geprägt sind. Beide Autoren sehen die Anschläge in Paris durch die Linse ihrer algerischen Erfahrungen und empfinden Schmerz für Frankreich, aber auch Groll darüber, dass ihre Warnungen zuvor ignoriert wurden. Sie verwenden Strategien der Distanzierung, um französischen „Parisianozentrismus“ und eine Verharmlosung des islamistischen Terrorismus zu kritisieren. Während Khadra eine lineare Erzählung mit Ich-Perspektive eines fiktiven, gescheiterten Attentäters (Khalil) wählt, nutzt Sansal postmoderne Metamärchen und Metaphern, um seine Abneigung gegen die realistische Darstellung der Terroristen auszudrücken. Romain stellt fest, dass beide Romane eine „gewisse Abneigung“ zeigen, sich das tragische reale Geschehen des 13. November (trotz seiner Relevanz) direkt anzueignen. Das Ereignis wird jedoch nicht als Wiederholung, sondern als Bestätigung ihrer Analysen interpretiert, was die Hoffnung auf ein Ende des historischen Kreislaufs und die Etablierung einer „Kette der Solidarität“ eröffnet.

Der Beitrag erweitert die Perspektive auf den europäischen Terrorismus durch eine postkoloniale und geopolitische Brille. Er vergleicht unterschiedliche ethische und ästhetische Ansätze zur Darstellung des Terroristen, die aus einer tiefen historischen Erfahrung mit politisch-religiöser Gewalt stammen.

Pierre Katzarov, La subjectivité du terroriste dans Khalil de Yasmina Khadra (2018) et Ours are the Streets de Sunjeev Sahota (2011)

Katzarov analysiert die kontroverse Erzählstrategie, die Ich-Perspektive des Terroristen zu übernehmen, in Khadras Khalil und Sahotas Ours Are the Streets (über die Londoner Anschläge von 2005). Diese Romane suchen nach den Ursachen der Radikalisierung, um das Schweigen und die Unverständlichkeit der Täter (wie im V13-Prozess erlebt) zu durchbrechen. Die Radikalisierung wird als verständliche ideologische Laufbahn dargestellt, die mit postkolonialer Identitätssuche und familiären Defiziten (problematische Väter) verbunden ist. Um eine moralische Falle und übermäßige Identifikation zu vermeiden, verwenden die Autoren Distanzierungsmechanismen: In Khalil geschieht dies durch die Verwendung von Kursivschrift für Djihad-Rhetorik und durch den moralischen Gegenpol des Freundes Rayan. Sahota nutzt die Unzuverlässigkeit des Erzählers und die im Roman angedeutete Paranoia oder der beginnende Wahn des Protagonisten Imtiaz. Beide Romane enden damit, dass die Protagonisten den eigentlichen Akt des Tötens verfehlen oder ablehnen.

Der Beitrag behandelt die literarische Ethik der Darstellung des Bösen. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Romane, indem sie die Terroristen an der Schwelle zur Unmenschlichkeit einfangen, Paradoxerweise als Prätexte dienen, um das „Gemeinsame“ und das Scheitern von Gemeinschaft zu reflektieren, fernab psycho-pathologischer oder einfacher soziologischer Erklärungen.

Charlotte Lacoste, « Ça paraît couillon mais je récite de la poésie ». Étude sur les pratiques littéraires post-attentats

Lacoste untersucht mittels textometrischer Analyse von Zeugnissen aus der Studie 1000 die tatsächlichen Lese- und Schreibpraktiken der Bevölkerung und der Überlebenden nach dem 13. November 2015. Obwohl die Anschlagsorte nicht-literarischer Natur waren, nahm die Lektüre zu, insbesondere von Zeitungsartikeln und Zeugnissen (am häufigsten Antoine Leiris‘ Vous n’aurez pas ma haine). Literatur erfüllt verschiedene Funktionen: apotropäische (schützende, z. B. das Erinnern an Poe, um Gefahren abzuwehren), prophetische (Vorahnung des Geschehens), und therapeutische (Linderung des Leidens, oft Poesie oder Werke der Hoffnung wie Paris est une fête). Auffällig ist jedoch, dass viele direkt Betroffene unter Konzentrationsschwierigkeiten und Leseunfähigkeit litten. Viele erlebten eine Entwertung des „Buchwissens“ im Angesicht der real erlebten Gewalt. Während einige sich zum Schreiben verpflichtet fühlten, lehnten andere die Veröffentlichung ab, aus Furcht vor dem Vorwurf der Profitmacherei. Die Macht der Oralität (mündliche Erzählungen, Gedichtrezitation) gewinnt in der Verarbeitung des Traumas an Bedeutung.

Der Beitrag liefert wertvolle empirische Daten zur Rezeption und Funktion der Literatur im post-traumatischen Alltag. Er zeigt die Grenzen der Schriftkultur auf und betont die therapeutische Wirksamkeit von Narration und Oralität als Mittel zur Distraktion und Sinnstiftung nach dem Schock.

Alix Choinet, Après l’attentat : absence, présence et dialogues dans les autobiographies et BD des survivants de l’attentat contre Charlie Hebdo

Choinet analysiert vier autobiografische Werke (BDs und Memoiren) von Charlie Hebdo-Überlebenden (Luz, Meurisse, Lançon, Riss). Der Fokus liegt darauf, wie die Erzählungen die Effekte des Traumas, insbesondere Dissoziation und nicht-integrierte Erinnerung, durch die Verschwimmung der Kategorien Präsenz und Absenz beleuchten. Präsenz am Tatort garantiert keine mentale Anwesenheit oder kohärente Erinnerung (Lançon, Riss), während Absenz (Meurisse, Luz) das Trauma der Nicht-Integration des Schocks manifestiert. Die Werke etablieren Dialoge als zentrale Strategie zur Überwindung der isolierenden Wirkung des Traumas: Dialoge zwischen Überlebenden, innere Dialoge (Lançon als Autor vs. Charakter), und Dialoge mit den Toten (Lançons „prière aux morts“, Luz’ Gespräch mit Charb). Diese Dialoge dienen dazu, das Schweigen zu überwinden und die Erfahrung von einer einzigartigen zu einer gemeinsamen zu transformieren.

Der Beitrag liefert eine detailreiche Analyse der narrativen Strategien zur Bewältigung des traumatischen Bruchs. Die Funktion des Dialogs wird als essenziell für die Wiederherstellung der Kontinuität der Erzählung und die Transzendierung des Schweigens dargestellt.

Ève Morisi, Le temps retrouvé ? Une minute quarante-neuf secondes de Riss

Morisi analysiert Riss’ Autobiografie Une minute quarante-neuf secondes, in der die extrem kurze Dauer des Anschlags (1 Minute 49 Sekunden) im Kontrast zu seinem monumentalen, traumatisierenden Impact steht. Der Text verwendet Diskontinuität und chronologische Verzerrungen (wie die Dehnung der Zeit auf „mehrere Ewigkeiten“), um die subjektive Verarbeitung des Schocks zu spiegeln. Das Attentat führt zu einer existentiellen Spaltung, in der „Vorher verschwunden war“. Riss nutzt literarische Mittel, um die Attentäter als entpersönlichte Metaphern zu fassen. Entscheidend ist Riss’ multidirektionale Gedächtnisarbeit (Rothberg), indem er den 7. Januar 2015 mit vielfältigen historischen Momenten organisierter politischer Gewalt (Algerischer Bürgerkrieg, Stalinismus, Kollektivmassaker in Afrika) in Verbindung bringt. Diese umfassende historische Einbettung dient als politisches und ethisches Gerüst, das den Terrorakt als „politisches Verbrechen“ interpretiert und zur Wiedererlangung von Kohärenz und prospektiver Erinnerung (Gestaltung der Zukunft) beiträgt.

Morisi zeigt, wie eine autobiografische Erzählung durch die kunstvolle Verknüpfung von individuellem Trauma und kollektiver Geschichte einen politischen Standpunkt formuliert und die zerstörerische Wirkung des Traumas durch eine wiederhergestellte Identitätskontinuität überwindet.

Henriette Korthals Altes – V13 : vers une justice transitionnelle et restaurative ?

Korthals Altes untersucht Emmanuel Carrères Chronik V13 im Hinblick auf das Ideal der „transitionalen und restaurativen Gerechtigkeit“. Der V13-Prozess, der wegen seiner logistischen und moralischen Ausmaße als „historisch“ und „außergewöhnlich“ gilt, stellte einen kollektiven Versuch dar, dem Unsagbaren durch das Urteil der Geschichte zu begegnen. Carrère beschreibt den Prozess als einen Ort, der über die reine Strafjustiz hinausgeht und den Opfern eine Stimme und Legitimität verleiht. Die Chronik fängt Momente des Dialogs und der Resilienz ein, insbesondere den Wunsch einiger Opfer, die Täter zu verstehen und Hass abzulehnen (wie George Salines und Nadia Mondeguer). Der Prozess wird als „immense Psychotherapie“ und „kollektive Erzählung“ interpretiert, die zur Trauerbewältigung und zur Neudefinition rechtlicher Konzepte (wie der „angoisse de la mort imminente“) beigetragen hat. Carrères Werk strebt nach einer poetischen Gerechtigkeit, die die Leiden transformiert und die Erinnerung über den Abschluss des Gerichtsverfahrens hinaus trägt.

Der Artikel unterstreicht die Rolle der literarischen Gerichtsreportage als Ort der Gedächtniskonstruktion und ethischen Vertiefung. Er zeigt, wie der Prozess und seine literarische Verarbeitung zu einem sozialen Raum für Trauer, Dialog und kollektive Heilung werden, der die Grenzen der traditionellen Strafjustiz erweitert.

Mounira Chatti, V13 d’Emmanuel Carrère. Une « chronique judiciaire » déceptive ?

Chatti bietet eine kritische Lesart von Carrères V13, die das Werk trotz seines umfassenden Anspruchs als „enttäuschend“ („déceptive“) bewertet. Carrère verfolgt zwar das Ziel einer „kollektiven Erzählung“ und sucht nach der Justesse, doch Chatti kritisiert die strukturelle Vereinfachung des Prozesses in drei hermetische Teile (Opfer, Angeklagte, Gericht), die Ambiguitäten reduziere. Carrères Stil wird als emphatisch, bisweilen narzisstisch und seine Reflexionen über den „sakralen“ Charakter des Prozesses als oberflächlich und philosophisch unausgereift beschrieben. Insbesondere wird die mangelnde Tiefe in der Auseinandersetzung mit philosophischen Themen und der Verdrehung arabischer Begriffe (wie „taqîya“ und „anachîd“) durch den radikalen Islamismus bemängelt. Chatti argumentiert, dass Carrère das Ziel, Geschichte und Gedächtnis zu konstruieren, über die Notwendigkeit stellt, die Komplexität und die verstörenden Fragen des Djihadismus wirklich zu durchdringen, was die kritische Reichweite des Werks limitiere.

Chatti liefert eine notwendige literaturkritische Meta-Analyse des Genres der Gerichts-Chronik. Sie stellt die Frage nach der ethischen und intellektuellen Legitimität des Autors bei der Darstellung extremer Ereignisse und ob der Anspruch, eine „Gerechtigkeit des Erzählens“ zu leisten, mit literarischer Selbstbeschränkung einhergeht.

Ingvild Folkvord et Jean Lassègue, Réagir au terrorisme : les procès pour terrorisme au prisme de la littérature

Folkvord und Lassègue analysieren komparativ literarische Reaktionen auf Terrorismusprozesse in Norwegen, Frankreich und Deutschland, um zu zeigen, wie Literatur einen außergerichtlichen Raum für die Aufarbeitung ungelöster Fragen schafft. Das norwegische Beispiel, Endre Rusets Gedicht Prosjektil (über die Utøya-Anschläge 2011), wandelt medizinisch-rechtliche Berichte in strenge Poesie um, die die verletzliche Sozialität des Körpers durch die monotone Darstellung des Eindringens von Projektilen betont und den Fokus vom Täter wegnimmt. Yannick Haenels Essay Notre solitude (über den Charlie Hebdo-Prozess) lehnt die direkte Beschreibung der Gewalt aus den Gerichtsvideos ab, wählt stattdessen die Amplifikation und mythische Überhöhung (z. B. die Zeugin Zarie Sibony als Persephone) und nutzt einen magischen Schreibritus, um das Unsagbare in die Sprache zurückzuführen und die Toten im Feld des Wortes präsent zu machen. Kathrin Rögglas Theaterstück Verfahren (über den NSU-Prozess in Deutschland) inszeniert die Unzulänglichkeiten des Gerichtsverfahrens selbst, indem es die verwirrten und festgefahrenen Beobachter in den Mittelpunkt stellt, und thematisiert die mangelnde Anerkennung der Opfer und das Versagen staatlicher Institutionen.

Der Beitrag verdeutlicht die spezifische literarische Kompetenz, juristische Materialien in alternative Erzählformen zu transformieren, um eine höhere Form der Gerechtigkeit zu fordern. Die komparative Perspektive zeigt, dass Literatur eine soziale Möglichkeit zur Restaurierung und Reflexion der Gemeinschaft darstellt, indem sie die Konzepte von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit immer wieder neu auslotet.

Fazit

Das Themenheft „Récits et fictions du terrorisme“ bietet eine bemerkenswert vielschichtige und interdisziplinäre Untersuchung der narrativen Bewältigung von Terrorismus, insbesondere der Anschläge von 2015. Ein zentraler Befund ist die Notwendigkeit der Narration im Angesicht der „Sidération“ (Lähmung) und der Sprachlosigkeit, die extreme Gewalt hervorruft. Die Literatur wird als überlebenswichtiger Akt des Widerstands gegen die Auslöschung der Identität und des Körpers durch den Terrorismus verstanden. Gleichzeitig zeigen die Beiträge, dass dieses Erzählgebot selten zu einem glatten, linearen Zeugnis führt. Stattdessen sind die literarischen Antworten durch formale Experimente und Fragmentierung gekennzeichnet (Hirschi, Rinn, Choinet), was die psychologische Realität der Traumatisierung der autobiografischen Erinnerung widerspiegelt (Da Costa Silva et al.). Die literarische Form dient als ästhetische und kognitive Strategie, um die Inkohärenz des Erlebten zu verarbeiten.

Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der ethischen Auseinandersetzung mit den Tätern (Romain, Katzarov, Berset). Die Autoren müssen narrative Mittel finden, um die Radikalisierung als intelligible sozio-politische und identitäre Laufbahn darzustellen (Katzarov), ohne in moralische Rechtfertigung oder mythologische Vereinfachung (Berset) abzurutschen. Die Perspektive der „Deuxième main“ oder die fiktionalisierte Annäherung ermöglicht es, über das „Gemeinsame“ und die Defizite der Gesellschaft zu reflektieren, aus denen der Terrorismus erwächst (Corbin, Katzarov). Die algerischen Autoren (Romain) erweitern diese Debatte um eine entscheidende postkoloniale und geopolitische Dimension, indem sie westliche Narrative kritisieren.

Drittens beleuchten die Beiträge das komplexe Verhältnis zwischen Literatur, Recht und Gedächtnis. Der Gerichtsprozess (V13) ist nicht nur ein juristischer Vorgang, sondern ein sozialer Raum für Trauer und kollektive Erzählung. Die literarische Chronik (Korthals Altes, Chatti) und andere Genres (Folkvord und Lassègue) fungieren als „Metajustice“, die die Grenzen und Unzulänglichkeiten des formalen Rechts kritisiert, um eine restaurative Gerechtigkeit anzustreben, die auch die tiefsten intimen Schäden (wie die Todesangst) anerkennt (Baron).

Die Untersuchung der Verwundbarkeit (Baron) und der medialen Filterprozesse (Chagnoux) zeigt, wie kollektive Ängste und gesellschaftliche Werte die Narrative prägen. Das Themenheft betont, dass die Literatur, sei es durch die multidirektionale Gedächtnisarbeit (Morisi) oder durch das einfache Akzeptieren der Oralität und therapeutischen Kraft des Wortes (Lacoste), eine unverzichtbare Funktion bei der Konstruktion von Sinn und Kohärenz nach dem Schock erfüllt. Die Literatur ist damit nicht nur ein ästhetisches Phänomen, sondern ein fundamentaler sozialer Ort zur Bewältigung des Unvorstellbaren.


Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.