Ruhe in einer Welt der Gespenster: Cyrille Falisse

Ausgangskrise und Erzählperspektive

Der Debütroman von Cyrille Falisse, Seuls les fantômes (Belfond, 2025), setzt mit einer abrupten Krise ein: Melvile, der von seiner Partnerin verlassen wurde, verliert jede Form innerer Stabilität. Die Trennung wird nicht als gewöhnliches Liebesleid, sondern als Zusammenbruch körperlicher und psychischer Funktionen gezeigt. Das Verstummen des Begehrens begleitet das Aussetzen des Selbstgefühls. Diese körperliche Verstörung ist zugleich ein Erzählsignal: Die Welt, wie Melvile sie wahrnimmt, hat ihre Konturen verloren.

J’habite au second étage d’une maison où la porte-fenêtre coulissante ne ferme pas complètement. Un courant d’air froid et humide me lèche le menton. Le proprio est le père de Joanne, une amie. Elle crèche juste en dessous avec Samuel, son mec, un artiste qui procrastine. Un insomniaque lui aussi. Le prix du loyer n’est pas énorme donc je me la ferme. En contrepartie je gèle et mon appart sent le moisi. La vaisselle sale dégage très vite une odeur immonde, les cendriers froids à côté c’est du parfum. Et ce futon qui me défonce le dos. Qui peut aimer dormir sur un truc aussi dur ? Celle dont je veux mais ne peux oublier le nom m’a bien eu. Je l’ai acheté sur ses conseils en me disant qu’il serait le parfait outil du Kâma-Sûtra qu’on allait explorer ensemble. Un lit au niveau du sol, elle trouvait ça à la fois pratique et érotique. Ça ne l’a pas empêchée de me quitter en prétextant que j’étais une petite chose faible et fragile.

Ich wohne im zweiten Stock eines Hauses, in dem die Schiebetür nicht richtig schließt. Ein kalter, feuchter Luftzug streicht mir über das Kinn. Der Vermieter ist der Vater meiner Freundin Joanne. Sie wohnt direkt unter mir mit ihrem Freund Samuel, einem Künstler, der gerne Dinge aufschiebt. Er leidet ebenfalls unter Schlaflosigkeit. Die Miete ist nicht besonders hoch, also halte ich den Mund. Dafür friere ich und meine Wohnung riecht muffig. Das schmutzige Geschirr verbreitet sehr schnell einen widerlichen Geruch, die kalten Aschenbecher daneben sind dagegen noch ein Duft. Und dieser Futon, der mir den Rücken ruiniert. Wer kann es schon genießen, auf so etwas Hartem zu schlafen? Diejenige, deren Namen ich vergessen möchte, aber nicht kann, hat mich reingelegt. Ich habe ihn auf ihren Rat hin gekauft und mir gesagt, dass er das perfekte Werkzeug für das Kamasutra sein würde, das wir gemeinsam erkunden wollten. Ein Bett auf Bodenhöhe, das fand sie praktisch und auch erotisch. Das hat sie nicht davon abgehalten, mich zu verlassen, mit der Begründung, ich sei ein kleines, schwaches und zerbrechliches Ding.

Der letzte Satz liefert die narrative Triebfeder: Die Worte seiner Ex-Freundin sind nicht nur der Grund für die Trennung, sondern auch die Quelle seiner Selbstzweifel und Obsession, die ihn innerlich quälen. Ironischerweise ist selbst das Futon-Bett, das einst als „parfait outil du Kâma-Sûtra“ auf ihren Vorschlag hin angeschafft wurde, nun ein Instrument der Folter und eine physische Erinnerung an verlorene Intimität und das Scheitern seiner Beziehung. Auf körperlicher Ebene drückt sich die Depression in sexueller Impotenz und Verzweiflung aus. Sein Körper fühlt sich wie ein „tronc figé, la tête en brume“ („erstarrter Rumpf, Kopf im Nebel“) an, während seine obsessiven Gedanken als „boucles“ (Schleifen) zurückkehren, lauter und stärker („plus fortes, plus assourdissantes“).

Je ne jouis plus. Plus d’envie. C’est mort dans le futal. J’ai le braquemart en berne. Ça pisse rouge, ça broie du noir. J’ai honte d’être un homme fantôme. Et je bute, culbute sans création, je frotte, je me rembarre dans les piaules moisies des atomes éphémères. Je ne jouis plus. Je plaque des corps, le tronc figé, la tête en brume. Je crise dans l’asthme. Je ramone, tamponne, végète des heures dans ces arcs sans visage. Je pétris la peau en soubresaut. J’y suis presque parfois, prêt à lâcher la bride qui m’enserre, le regard en œillère. Perdant le nord, je tire des coups en l’air. La nuit dernière j’ai nagé dans la mère, j’ai noyé mes chimères dans ses vagues.

Ich komme nicht mehr zum Höhepunkt. Keine Lust mehr. Es ist tot in der Hose. Mein Schwanz hängt schlaff herunter. Er pinkelt rot, es ist düster. Ich schäme mich, ein Gespenster-Mann zu sein. Und ich stolpere, stolpere ohne Kreativität, ich reibe, ich verkrieche mich in den schimmeligen Kammern vergänglicher Atome. Ich komme nicht mehr zum Höhepunkt. Ich drücke Körper, der Rumpf erstarrt, der Kopf benebelt. Ich krämpfe vor Asthma. Ich schrubbe, tupfe, vegetiere stundenlang in diesen gesichtslosen Bögen. Ich knete die Haut in Zuckungen. Manchmal bin ich fast so weit, bereit, die Zügel loszulassen, die mich umschlingen, den Blick in Scheuklappen. Ich verliere die Orientierung und schieße ins Leere. Letzte Nacht bin ich in der Mutter geschwommen, habe meine Chimären in ihren Wellen ertränkt.

Dieser Auszug präsentiert Melviles ersten literarischen Beitrag unter dem Pseudonym Dorian G. im ODC-Sektor, der radikale, rohe Poesie als Ventil für seine Verzweiflung nutzt. Seine sexuelle Dysfunktion und Impotenz, die seine Ex-Freundin wütend machte, steht auch metaphorisch für seine generelle Unfähigkeit, Freude oder Lebenslust zu empfinden. Er bezeichnet sich selbst als „homme fantôme“, was das zentrale Thema des Romans aufgreift – die Konvokation der Geister. Sein lyrischer Ton ist geprägt von körperlicher Auflösung und Gewalt („Je crise dans l’asthme“, „Je ramone, tamponne“) und thematisiert das Scheitern seiner Versuche, durch anonymen Sex Trost zu finden („Je plaque des corps… sans visage“). Die Dichtung ist eine sublimierte Form seiner Obsession und Depression und schafft den notwendigen Resonanzraum, um Tangere (Alice) anzuziehen und somit den Prozess der Heilung in Bewegung zu setzen. Diese inneren Turbulenzen werden oft als gewalttätige, physische Ereignisse erlebt: die „boucles“ trommeln wie ein „essaim de frelons“ („Hornissenschwarm“) an seine Schläfen, und er sieht sich als „trou qui se creuse dans tout le corps“ („Loch, das sich im ganzen Körper vertieft“). Schreiben und die virtuelle Identität „Dorian G.“ dienen als Versuch, dieses „homme fantôme“ zu sublimieren und seinem Ego zu erlauben, „sur un tas de cendres“ („auf einem Haufen Asche“) wieder aufzublühen.

Psychische Landschaften: Gespenster, Körper und digitale Räume

Natur- und Wassermetaphern dienen der Verortung und emotionalen Bewertung von Melviles Trauma. Seine zwanghaften Gedanken kehren „par vagues“ („in Wellen“) zurück, und er beschreibt seine Angst, im Meer des Verfalls „entre les algues et les coffres au trésor“ („zwischen den Algen und den Schatztruhen“) zu versinken. Die Heilung hingegen ist mit Bewegung (*mouvement*) und Flüssigkeit verbunden: Das kalte Wasser der Dusche bietet einen Moment des Friedens, in dem „l’eau m’apaise“ („in dem das Wasser mich beruhigt“). Dennoch ist die Vergangenheit trügerisch; Alice/Tangere warnt ihn davor, dass die Täler „sich mit dickem Schlamm vollsaugen, wenn man die Toten zu sehr aufwühlt“. Der „limon“ („Schlamm“) repräsentiert hier die Gefahr, dass die unvorsichtige Erforschung traumatischer Erinnerungen das Terrain verunreinigt und zu einem Strudel („tournoient les voix du passé“) führt, anstatt Klarheit zu schaffen. Im Gegensatz zum „étang, eau stagnante“ („Teich, stehendes Wasser“) seiner Depression, das ein „Zufluchtsort für Molche und Frösche“ („repaire des tritons et grenouilles“) ist, liegt die Freiheit in der Bewegung. Alice bekräftigt: „il n’y a de liberté que dans le mouvement“ („es gibt nur Freiheit in der Bewegung“). Selbst am Ende findet Melvile Ruhe, indem er die Gesichter der Verschwundenen im „clapotis du courant“ („Plätschern des Stroms“) der Bergflüsse sieht, was suggeriert, dass die Geister in fließender Natur verarbeitet werden können, anstatt in der statischen „prison de la mémoire“ gefangen zu bleiben.

Die Beziehung, deren Ende Melvile nicht verwindet, wird rückblickend als ein ungesundes Geflecht aus Abhängigkeit, Übergriff, Beschämung und unlösbaren Erwartungen rekonstruiert. Der Roman legt diese Dynamik schonungslos offen, etwa wenn Melvile beschreibt, wie er sich zunehmend in Rollen drängen ließ, die seine Partnerin verlangte: „Elle avait fait de moi un putain de nécrophile“ („Sie hatte aus mir einen verdammten Nekrophilen gemacht“). Die Sexualität dient hier nicht der Intimität, sondern wird zum Instrument von Macht, Angst und Fixierung. Die Trennung reißt keine gesunde Bindung auf, sondern löst den letzten Halt eines ohnehin destabilisierten Subjekts.

Parallel dazu präsentiert Falisse ein zweites Feld: das digitale Netzwerk, in die sich Melvile flüchtet. Die Plattform strukturiert sich nach Farben, Codes und Anerkennungslogiken, die rasch die Funktion eines Ersatzmilieus übernehmen. Der Text, den Melvile dort publiziert, erzeugt erstmals wieder Resonanz – allerdings über eine ästhetisierte Selbstzerstörung: „Bravo, c’est très fort. On sent la rage contenue…“ („Bravo, das ist sehr stark. Man spürt die zurückgehaltene Wut …“). Die Plattform wird so zu einem Raum, in dem Leid kommunizierbar, aber nicht heilbar wird; sie lenkt ab, statt zu stabilisieren.

L’interface balance des répliques de film de science-fiction. Il y est question de couleurs par niveau de privilèges. J’ai la couleur infrarouge, ça correspond aux rebuts. Je suis à ma place. Pour progresser, il faut que je remplisse une fiche et que j’uploade un avatar. Je viens à peine de découvrir le fichier attaché. Je suis perdu. La curiosité initiale laisse vite place à un ennui abyssal. Les boucles n’ont pas aimé être mises de côté. Elles reviennent plus fortes, plus assourdissantes… […] Vers 18 heures, on frappe à ma porte. Mon cœur explose. J’ai un nouveau nom, Dorian G.

Die Benutzeroberfläche erinnert an Science-Fiction-Filme. Es geht um Farben, die je nach Privilegienstufe vergeben werden. Ich habe die Farbe Infrarot, die für Ausschussware steht. Ich bin an meinem Platz. Um weiterzukommen, muss ich ein Formular ausfüllen und einen Avatar hochladen. Ich habe gerade erst die angehängte Datei entdeckt. Ich bin verwirrt. Die anfängliche Neugier weicht schnell einer abgrundtiefen Langeweile. Die Schleifen haben es nicht gemocht, beiseite geschoben zu werden. Sie kommen zurück, stärker, ohrenbetäubender… […] Gegen 18 Uhr klopft es an meiner Tür. Mein Herz explodiert. Ich habe einen neuen Namen, Dorian G.

Melviles Einstieg in das „réseau social privé sur invitation“ durch seine Freundin Joanne ist ein entscheidender Wendepunkt, da er ihm einen Ausweg aus dem selbstgewählten Gefängnis der Obsession bietet. Die anfängliche Ablenkung ist nur kurzlebig, da seine „boucles“ (zwanghaften Gedanken) an die Ex-Freundin sofort „plus fortes, plus assourdissantes“ zurückkehren, was die Tiefe seiner psychischen Qual verdeutlicht. Die Wahl des Pseudonyms „Dorian G.“ – eine Anspielung auf Oscar Wildes „Dorian Gray“ (zumal er später ein Profilbild hat, das ihm physisch vorteilhaft ist) – markiert den Beginn einer neuen, wenn auch virtuellen, Identität. Dieser Avatar erlaubt ihm, jene „faible et fragile“ Existenz, die seine Ex ihm attestierte, hinter sich zu lassen und seine radikalen, verzweifelten Gefühle in roher Poesie auszudrücken.

Die Begegnung mit Tangere, die nur als Profil existiert, markiert einen Wendepunkt. Ihre Botschaft „Je ne trébuche pas sur vos mots, ils me portent…“ („Ich stolpere nicht über Ihre Worte, sie tragen mich“) trifft Melvile mit einer Intensität, die der Roman ohne Pathos, aber mit Genauigkeit beschreibt. Der digitale Austausch lässt für einen Moment Ruhe einkehren: „Rien. Pas de voix… le silence, la quiétude“ („Nichts. Keine Stimmen … Stille, Ruhe“). Der Kontakt bleibt fragil, doch er zeigt: Kommunikation kann Melvile zumindest zeitweise aus seinen inneren Schleifen lösen.

Incroyable, j’ai grandi à Saint-Dalmas Valdeblore. Je relis plusieurs fois ce message. Là ça devient angoissant. Le plus surprenant, c’est que pendant ce moment de silence que je m’impose pour prendre la mesure de la nouvelle, je n’entends rien. Rien. Pas de voix, pas de son, pas de vent dans les bronches. Le silence, la quiétude. Enchantée, Melvile. Je suis Alice. Je n’ai pas vraiment grandi à Saint-Dalmas. Ma grand-mère avait un chalet là-bas, j’y allais aussi pendant mes vacances. Tu vois la grande montée ? C’était là, sur la droite, pas loin de l’église. Oui, c’est assez fou toute cette histoire. Peut-être avons-nous joué ensemble ?

Unglaublich, ich bin in Saint-Dalmas Valdeblore aufgewachsen. Ich lese diese Nachricht mehrmals. Jetzt wird es beängstigend. Das Überraschendste ist, dass ich in diesem Moment der Stille, den ich mir auferlege, um die Nachricht zu verarbeiten, nichts höre. Nichts. Keine Stimmen, keine Geräusche, kein Wind in den Lungen. Stille, Ruhe. Hallo, Melvile. Ich bin Alice. Ich bin nicht wirklich in Saint-Dalmas aufgewachsen. Meine Großmutter hatte dort ein Chalet, ich war auch in den Ferien dort. Siehst du den großen Anstieg? Es war dort, auf der rechten Seite, nicht weit von der Kirche entfernt. Ja, diese ganze Geschichte ist ziemlich verrückt. Vielleicht haben wir zusammen gespielt?

Die Enthüllung, dass Alice (Tangere) aus Saint-Dalmas Valdeblore stammt, Melviles zentralem Kindheitsort und „refuge“, löst einen Moment überwältigender Bedeutung aus. Die unmittelbare Folge ist ein innerer Frieden: „je n’entends rien. Rien. Pas de voix, pas de son, pas de vent dans les bronches. Le silence, la quiétude“. Dies zeigt, dass die Konfrontation mit der Vergangenheit und das Wiederanknüpfen an die Kindheit die „boucles“ des Wahnsinns (seine Obsessionen und Ängste) zum Verstummen bringen kann. Die unwahrscheinliche Koinzidenz (zwei isolierte Menschen aus demselben, kleinen Bergdorf treffen sich in einem obskuren Online-Netzwerk in Brüssel) bricht Melviles Wahrnehmung der Realität und gibt ihm das Gefühl, dass „nichts schöner ist als die auftauchende Kindheit“ („Rien n’est plus beau que l’enfance qui remonte à la surface“). Alice/Tangere erweist sich hier als Echo oder Spiegel der verlorenen Heimat und des ursprünglichen, unschuldigen Ichs, das er in seiner Depression zu finden sucht.

So bilden die Kommunikationsformen ein Spannungsfeld zwischen direkter menschlicher Interaktion, innerem Monolog und digital vermittelter Kommunikation. Während Melvile im realen sozialen Umfeld kaum noch handlungsfähig ist, zu kaum einem kohärenten Gespräch fähig erscheint und reale Kontakte meidet, gewinnen innere Stimmen und digitale Chats zunehmend an Bedeutung. Das digitale Netzwerk bietet eine formalisierte, regelhafte und entpersonalisierte Kommunikationsform, die zugleich Schutz und Distanz schafft. Die Gespräche mit Tangere markieren dabei einen Übergang: Sie zeigen, dass emotionale Verbindung trotz Anonymität entstehen kann, jedoch nur in kontrollierten, textbasierten Interaktionen, die Melvile nicht überfordern. Der Roman stellt damit verschiedene Ebenen von Kommunikation einander gegenüber: die destruktive, asymmetrische Kommunikation der vergangenen Beziehung; die überfordernde, unvermittelte Außenwelt; die regulierenden Kommunikationsstrukturen der Plattform; und schließlich die fragile, vorsichtige Wiederannäherung an zwischenmenschliche Verständigung. Diese Konstellation verdeutlicht, wie Melvile Sprache und Austausch nutzt, um seine psychische Desorientierung zu ordnen.

Zugleich rücken die sogenannten „fantômes“ in den Vordergrund – drei Frauen aus Melviles Vergangenheit, deren Erinnerungsbilder sich über seine Gegenwart schieben. Die Beschreibung der Kindheitsfreundin Laetitia verbindet präzise Erinnerung und Schmerz: „Deux perroquets orange et vert, voilà ce que nous étions devenus.“ („Zwei orange-grüne Papageien – das waren wir geworden.“) Falisse macht deutlich, dass diese Vergangenheit nicht „idealisiert“, sondern funktional ist: Sie erklärt die Verletzlichkeit, die Erwartungsprägungen und das Bedürfnis nach Wiederholung, die Melviles Krisenverhalten bestimmen.

Der Roman entfaltet außerdem eine zweite, noch tiefere biografische Schicht: die Mutterfigur, deren Tod eine zentrale Leerstelle darstellt. Melvile beschreibt sie in einer Mischung aus Dokumentarstil und Zärtlichkeit: „Elle avait un grand front… ses yeux étaient mélancoliques…“ („Sie hatte eine hohe Stirn … ihre Augen waren melancholisch …“). Der Verlust der Mutter erklärt nicht die Krise vollständig, bildet aber den Hintergrund für die wiederkehrende Erfahrung des Verlassenseins. Der Bezug Melviles zur Mutter wird von Kindheit an durch eine komplexe Mischung aus intensiver Bindung, pathologischer Eifersucht und tief sitzender Schuld definiert. Sie, genannt „La Galopante“ (Die Galoppierende), verkörperte eine übermäßige Theatralik und forderte von Melvile eine grenzüberschreitende Nähe; dies manifestierte sich in Kindheitsträumen des „complexe de jeep“, wo er sie verschlingen wollte. Diese Beziehung war von der Eifersucht der Mutter geprägt, die Melvile als „Krebs, der seinen Namen nicht nennt“ bezeichnet, noch bevor ihre physische Krankheit metastasierte. Sie machte ihn sogar zum Komplizen ihrer Dramen, indem sie ihn anwies, den Vater auszuspionieren und dessen Unterwäsche zu kontrollieren. Das zentrale Trauma ist jedoch der langwierige Krebstod der Mutter und ihr Wunsch nach Euthanasie. Melvile ist überzeugt, dass sein verzweifelter Ausruf „Il faut que cesse cette lente agonie“ („Diese langsame Agonie muss enden“) die Krankenpflegerin veranlasste, die tödliche Dosis zu verabreichen, wodurch er sich als Mörder seiner Mutter sieht: „Mes mots ont tué ma mère“. Die Verarbeitung dieser unerträglichen Schuld und des gebrochenen Versprechens, sich um den Vater und die Schwester zu kümmern, treibt Melvile an, die Geister seiner Vergangenheit zu suchen und seine eigene Identität fernab des mütterlichen Schattens neu zu definieren, obwohl ihm die Mutter in einer späteren Vision versichert, dass er nicht für ihren Tod verantwortlich war, da sie bereits sediert wurde.

Erinnerung, Verlust und fragile Heilung

Im letzten Drittel öffnet sich der Roman zu einem Reise- und Suchnarrativ, das jedoch nicht wirklich geographisch motiviert ist. Der Entschluss, Nina in Tansania zu suchen, wirkt impulsiv, aber konsequent: „J’ai besoin de retrouver quelqu’un.“ („Ich muss jemanden wiederfinden.“) Die Reise ersetzt die Selbstdestruktion; sie ist ein Versuch, die Vergangenheit aktiv zu bearbeiten, anstatt sich weiter von ihr überwältigen zu lassen. Ob die Suche erfolgreich ist, spielt letztlich keine Rolle – wichtig ist ihr psychologischer Sinn. Die Rückkehr nach Frankreich führt Melvile schließlich in eine ruhigere, abgegrenzte Lebensweise in den Bergen. Die Natur wird nicht romantisiert, aber als stabilisierender Raum erkennbar. In einer der letzten Szenen sieht Melvile die verstorbenen oder verlorenen Frauen als stille Projektionen im Wasser: „Leurs visages d’alluvions jouent dans les remous…“ („Ihre aus Sediment geformten Gesichter spielen in den Strudeln …“). Die Geister verschwinden nicht; sie werden integrierbar.

Der Roman endet nicht mit einer Genesung, aber auch nicht mit einer Resignation. Melvile erkennt seine Zerbrechlichkeit und formuliert sie als Stärke: „Je suis fragile. Mais ce n’est pas une faiblesse.“ („Ich bin zerbrechlich. Aber das ist keine Schwäche.“) Die Erzählstruktur des Textes arbeitet genau darauf hin: auf die Möglichkeit, mit dem Unverfügbaren zu leben. Die Geister sind nicht besiegt, aber sie verlieren ihre bedrohliche Macht. Erinnerung, Verlust und Begehren bleiben Teil eines offenen Prozesses, den der Roman präzise, unspektakulär und menschlich nachzeichnet.

Der besondere ästhetische Reiz von Seuls les fantômes liegt in der Verbindung aus radikaler psychologischer Innenperspektive und unpathetischer Sprache, die die emotionalen Erschütterungen des Erzählers mit ungewöhnlicher Klarheit zugänglich macht. Falisse gelingt es, existenzielle Erfahrungen – Verlust, Desorientierung, Selbstentfremdung – durch eine bildhafte und zugleich analytische Prosa darzustellen, die weder melodramatisch noch distanziert wirkt. Die starke Metaphorik bleibt stets an konkrete Wahrnehmungen und Körperempfindungen gebunden, wodurch sie eine dichte Textur erzeugt, in der psychische Vorgänge unmittelbar erfahrbar werden. Hinzu kommt die Strukturierung des Romans durch digitale Kommunikationsformen und mentale Schleifen, die eine zeitgenössische Form des Erzählens etablieren: fragmentarisch, rhythmisierend, zwischen Reflexion und Überwältigung. Diese Haltung erzeugt eine ungewöhnliche Balance zwischen Verletzlichkeit und formaler Strenge – ein Spannungsverhältnis, das dem Text seine anhaltende Eindringlichkeit verleiht.


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