Endlichkeit und Neubeginn: Hélène Cixous

Hélène Cixous’ neues Buch Ce qui n’était jamais arrivé (Gallimard, 2025) ist eine späte, erschütternde Meditation über Leben, Sprache und Tod – und zugleich ein poetisches Testament. Der Text beginnt mit einem körperlichen Zwischenfall: einem fast grotesk beschriebenen Moment des Kontrollverlusts, als die Autorin ihrem eigenen Finger beim Absterben zusieht. Doch dieses Ereignis wird zur Metapher für das Schreiben selbst – ein Schreiben mit der Hand, die nicht mehr gehorcht, ein Aufbegehren des Körpers gegen das Verstummen. Von dieser „minute de la fin“ aus öffnet sich das Buch in alle Richtungen: Tagebuch, Traumprotokoll, Familienchronik, archäologische Grabung im eigenen Gedächtnis. Wie stets bei Cixous ist das Private nur das Material, aus dem die poetische Erkenntnis destilliert wird. Sie schreibt sich durch Erinnerung und Schmerz hindurch, um jenen Grenzbereich zu berühren, in dem das Leben in Literatur umschlägt.

Ce qui n’était jamais arrivé ist ein Journal de la fin, aber zugleich ein Buch der Auferstehung. Während der Körper zerfällt, lebt die Sprache fort – unermüdlich, widerspenstig und zärtlich. Cixous lässt ihre Figuren – die Mutter Ève, den Vater Georges, den Bruder Pierre, die Katzen Haya und Isha – in einem lebendigen Totengespräch wiederkehren. Sie alle bewohnen den Zwischenraum von Traum und Erinnerung, sind „revenants“ in einem Theater aus Stimmen. Schreiben bedeutet hier nicht, Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern sie zu beschwören: Die Autorin ruft die Toten an, um sich selbst wachzuhalten. Die Hand, die nicht mehr schreiben kann, wird zur Allegorie der Schrift, die sich selbst überlebt – ein Akt der Selbstrettung durch die Literatur, die den Tod weder leugnet noch hinnimmt, sondern ihm Sprache verleiht.

Wie in Osnabrück oder Gare d’Osnabrück à Jérusalem verknüpft Cixous das Intime mit der Geschichte, aber diesmal ist die Historizität nach innen verlagert. Der Text ist weniger Erzählung als „archéologie du temps“ – eine Untersuchung der Löcher, der Unterbrechungen, der verlorenen Worte. „Je commençai à collectionner les trous“, schreibt sie programmatisch. Diese Poetik des Fehlens bestimmt die ganze Struktur: Das Buch sammelt Auslassungen, das Unaussprechliche, das noch nicht Geschehene, das nie Gesagte. Der Mangel wird produktiv, das Loch zum Speicher des Sinns. Was in früheren Büchern als Mythos, als Mutterfigur oder Traum erschien, erscheint hier als Leerstelle, als Stille, die spricht. Die Lücke wird zum Ort der Wahrheit.

Cixous’ Prosa ist von der Präsenz anderer Stimmen durchzogen – Kafka, Poe, Baudelaire, Shakespeare. Doch sie zitiert sie nicht als Autoritäten, sondern lässt sie in den Text eintreten wie Geister in ein Haus. Die Literatur wird zu einem Raum der Mit-Existenz, einer polyphonen Gegenwart, in der das eigene Schreiben mit fremden Stimmen verschmilzt. „Pit! Pit!“ ruft sie ihrem toten Bruder zu, und aus dem Echo entsteht ein Gespräch über die Grenzen der Zeit hinweg. Dieses Verfahren – das Zusammenfallen von Erinnerung, Lektüre und Vision – macht Cixous’ Schreiben besonders: Es ist keine Autobiographie, sondern eine Art kollektiver Traum, in dem das Ich nur eine Stimme unter vielen ist.

Zugleich erweist sich das Buch als eine Ethik der Zärtlichkeit. Wie schreibt man, wenn der Körper versagt? Wie hält man am Leben fest, wenn das Leben selbst sich entzieht? Cixous antwortet mit der Geste des Anrufs, mit der Wiederholung des Namens, mit der Stimme, die bleibt, wenn die Hand schon zittert. In dieser Zerbrechlichkeit liegt eine Kraft: Das Schreiben ist kein heroischer Akt, sondern ein zittriges, beinahe tierisches Überleben, begleitet vom Atem der Katzen, den letzten Zeuginnen der Kontinuität des Lebendigen. Die Szene der Autorin, die den Atem der Katze hört und darin Frieden findet, ist eine der zärtlichsten und zugleich radikalsten ihres Werkes.

So bildet Ce qui n’était jamais arrivé nicht den Abschluss, sondern den Ursprung eines Werkes, das sich immer aus seinem eigenen Verschwinden erneuert hat. Es ist ein Buch der Schwelle: zwischen Tod und Traum, zwischen Körper und Schrift, zwischen Erinnerung und Erfindung. Das „Nie Dagewesene“, das der Titel verspricht, ist das immer Wiederkehrende des Lebens – der Moment, in dem die Sprache, gegen alle Wahrscheinlichkeit, noch einmal beginnt. Cixous verwandelt die Endlichkeit in Neubeginn: Ihr spätes Schreiben ist das Aufblühen im Verfall, die letzte Blüte der Moderne, die sich selbst überlebt, indem sie weiter spricht.


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