Inhalt
Ein Tag mit Rimbaud
Der Roman Le coeur en dehors (Grasset, 2009) von Samuel Benchetrit führt uns in die Welt von Charlie Traoré, einem zehnjährigen Jungen malisch-schwarzer Herkunft, der in einer französischen Banlieue-Siedlung, einer „Cité“, aufwächst. Sein tägliches Leben ist geprägt von der Zuneigung seiner Mutter Joséphine, seiner Schwärmerei für Mélanie, der Freundschaft zu seinen Kameraden und der Sorge um seinen drogenabhängigen älteren Bruder Henry. Die Handlung setzt dramatisch ein, als Charlies Mutter von der Polizei festgenommen wird, da ihre Papiere nicht in Ordnung sind. Der Roman schildert daraufhin einen einzigen, prägenden Tag in Charlies Leben, von den frühen Morgenstunden bis tief in die Nacht, während er durch seine Cité streift, um seinen Bruder Henry zu finden und die Geschehnisse um die Verhaftung seiner Mutter zu ergründen. Diese Odyssee führt ihn durch die nach Dichtern benannten Türme, verfallene Einkaufszentren und trostlose Viertel seiner Umgebung.
Auf seiner Suche begegnet Charlie verschiedenen Charakteren, die ihm Einblicke in die harte Realität seines Viertels gewähren, darunter Drogenkonsum, Armut und das Gefühl des Verlorenseins. Zugleich offenbart Charlie eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe, eine reiche Vorstellungskraft und einen einzigartigen Sinn für Humor, der die Misere seiner Umgebung transzendiert. Er reflektiert über die Absurdität, hässliche Gebäude nach berühmten Künstlern zu benennen, und seine Gedanken schweifen oft zu Phantasien über Mélanie und seine Zukunft ab, während er die beängstigende Realität um seine Familie verarbeitet. Letztendlich erfährt Charlie von Henry, dass ihre Mutter keine gültigen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse besitzt und beide, Mutter und Sohn, von der Abschiebung bedroht sind. Trotz seiner kindlichen Ängste und der unsicheren Zukunft beschließt Charlie, zu seiner Mutter in das Abschiebezentrum zu gehen, um sie zu sehen und die Situation zu begreifen, ein Akt der Reife und Zuneigung.
Angesichts der prominenten Bezüge zu Arthur Rimbaud stellt sich die Frage, inwiefern der Roman Le coeur en dehors als eine moderne „Rimbaud-Fiktion“ gelesen werden kann. Welche Aspekte von Rimbauds Leben und Werk werden aufgegriffen und in die Erzählung über Charlie integriert? Verkörpert Charlie selbst, oder eine andere Figur wie sein Bruder Henry, Elemente von Rimbauds Persönlichkeit oder seiner Lebensumstände? Wie wird Rimbauds radikales Verständnis von Poesie und sein „Abschied von der Literatur“ in dieser jugendlichen Perspektive reflektiert? Welche Bedeutung erhalten Rimbauds biografische Stationen, wie sein freiwilliges Leben in den Kolonien oder sein gewaltsamer Tod, im Kontext von Charlies Cité-Erfahrung, und werden Rimbauds Homosexualität oder sein tatsächlicher Tod thematisiert? Und schließlich, welche Rolle spielt Rimbauds Literatur im bewegenden Schlusspunkt des Romans?
Lektüren aus der Tour Rimbaud
Samuel Benchetrits Roman Le coeur en dehors ist eine Auseinandersetzung mit Identität, Verlust und Durchhalten, die dabei das Leben und Werk des französischen Dichters Arthur Rimbaud reflektiert. Die Intertextualität ist hier kein bloßes Namedropping, sondern ein komplexes Geflecht von Anspielungen, die Charlies Entwicklung und seine Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägen.
Au début, je croyais que Rimbaud c’était une tour. Parce qu’on dit la tour Rimbaud. Et puis mon copain Yéyé m’a raconté que Rimbaud était un poète. Je voyais pas trop pourquoi on avait donné le nom d’un poète à ma tour. Yéyé a dit que c’était parce qu’il était connu et mort depuis longtemps. Je lui ai demandé s’il était mort après avoir vu la tour. Yéyé a dit que non, il était mort vraiment avant. J’ai dit que valait mieux pour lui, parce que la tour est sacrément moche et qu’il aurait eu drôlement les boules d’avoir son nom sur un truc pareil.
Erst dachte ich, Rimbaud ist ein Turm. Denn man sagt „der Rimbaud-Turm“. Dann erzählte mir mein Freund Yéyé, dass Rimbaud ein Dichter war. Ich verstand nicht ganz, warum man meinem Turm den Namen von einem Dichters gegeben hat. Yéyé sagte, weil er berühmt war und schon lange tot. Ich fragte ihn, ob er gestorben ist, nachdem er den Turm gesehen hatte. Yéyé sagte nein, er ist schon vorher gestorben. Ich sagte, das ist besser für ihn, denn der Turm ist verdammt hässlich und er hätte sich sicher geärgert, dass sein Name auf so einem Ding steht.
Charlie erklärt hier ausführlicher sein anfängliches Missverständnis und die Ironie, dass ein so berühmter Dichter wie Rimbaud einem „verdammt hässlichen“ Turm in seiner Hochhaussiedlung seinen Namen leihen musste. Er scherzt, dass es besser für Rimbaud gewesen sei, schon vor dem Bau des Turms gestorben zu sein. Dies etabliert ein wichtiges Motiv des Romans: die Diskrepanz zwischen idealisierten kulturellen Namen und der oft tristen Realität des Lebens in der Banlieue.
Die Cité als intertextueller Raum: Poeten-Namen auf Betonfassaden
Die offensichtlichste Ebene der Intertextualität sind die nach Dichtern benannten Gebäude der Cité, in der Charlie lebt. Er wohnt in der „Tour Rimbaud“ und bemerkt auch andere Namen wie „Tour Verlaine“, „Cité Hugo“ oder „Centre d’activité Guillaume-Apollinaire“. Zunächst ist Charlie naiv; er glaubt, „Rimbaud“ sei einfach der Name eines Wohnblocks. Sein Freund Yéyé klärt ihn auf, dass Rimbaud ein bekannter, längst verstorbener Dichter war. Charlies Reaktion ist symptomatisch für die Entfremdung zwischen Hochkultur und urbaner Realität: Er findet es albern und geschmacklos, hässliche, desolate Gebäude nach Poeten zu benennen. Diese Diskrepanz zwischen dem erhabenen Ideal der Poesie und der trostlosen Realität der Cité wird zu einem zentralen Motiv. Die Poeten-Namen werden zu einer Metapher für gescheiterte Utopien oder zumindest für eine Kultur, die sich ihrer eigenen Ursprünge entfremdet hat. Sie sind da, aber ihre Bedeutung ist verlorengegangen oder pervertiert worden. Charlie, der in diesem Widerspruch lebt, ist gezwungen, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Charlie als moderner „Dichter“ und Rimbauds Einfluss auf seine Wahrnehmung
Charlie selbst kann als eine Art moderner „Dichter“ oder „Seher“ (voyant) im Rimbaud’schen Sinne verstanden werden, auch wenn er selbst keine Verse schreibt. Rimbauds Konzept des „Dérèglement de tous les sens“ (Zerrüttung aller Sinne) zielte darauf ab, eine erweiterte, visionäre Wahrnehmung zu erreichen. Charlie besitzt eine außergewöhnliche Vorstellungskraft und Sensibilität, die ihn die Welt auf eine Weise erleben lassen, die über die bloße Realität hinausgeht. Seine Fähigkeit, sich in Geschichten zu verlieren, sei es bei der Vorstellung seiner Romanze mit Mélanie oder in der Kreation einer düsteren Horrorfiktion über Henrys Drogenproblem in seiner Französischarbeit, zeugt von einer inneren Welt, die reichhaltiger ist als seine äußeren Umstände. Er findet Schönheit selbst in dem, was er nicht ganz versteht, wie bei den Werken Baudelaire oder Chopin. Sein Lehrer Monsieur Hassan bezeichnete Henrys Rückzug als „Dépression“, eine Art inneres Explodieren. Charlies eigene Phantasie ist sein Schutzmechanismus und seine Art, die Härte des Lebens zu verarbeiten, indem er sie in Geschichten verwandelt, die er dann sogar mit seinen Freunden teilt. Er ist ein Träumer, der aus der „tour Rimbaud“ auf die Welt blickt und sich nach den verschwundenen Sternen sehnt, die einst von diesem höchsten Turm aus gesehen wurden. Diese Sehnsucht nach dem Verlorenen und Schönen, die ihm Madame Franck (die „alte Victoria“) erzählt, ist zutiefst poetisch.
Die Begegnung mit Rimbauds Werken: Die Bibliothek Proust und der „Diebstahl“
Ein entscheidender Moment ist Charlies Besuch in der „Proust“-Bibliothek, wohin ihn ein zwielichtiger Mann schickt, um Henry zu finden. Dort stößt Charlie auf Rimbauds Werke, namentlich „Illuminations“ und „Une saison en enfer“ . Er öffnet die „Illuminations“ willkürlich und liest eine Zeile, die ihn zutiefst berührt: “ Un pas de toi, c’est la levée des nouveaux hommes et leur en-marche“. Obwohl er die volle Bedeutung nicht erfassen kann, findet er die Worte „schön“ und merkt sie sich. Dies ist ein Moment der Erkenntnis: Die Poesie Rimbauds spricht zu ihm, überwindet die Kluft zwischen dem Dichter und dem zehnjährigen Jungen in der Cité. Die Poesie ist nicht nur der Name eines hässlichen Gebäudes, sondern eine lebendige Kraft.
Je me suis arrêté sur Rimbaud. Il y avait trois livres. Deux petits, Illuminations et Une saison en enfer. Et un gros, Œuvres complètes. J’ai pris le premier petit, et je l’ai ouvert n’importe où. Je pourrais pas vous réciter ce que j’ai lu, mais je me rappelle une phrase quand même, et si vous connaissez Rimbaud, ça vous dira.
Charlie sucht in der Bibliothek bewusst nach Rimbaud und findet dessen Werke. Dies zeigt seinen Wunsch nach Wissen und Verständnis jenseits seiner unmittelbaren Umgebung. Die Auswahl und das zufällige Aufschlagen eines Buches unterstreichen die spielerische, aber tiefgründige Art, wie Charlie sich der Literatur nähert. „Un pas de toi, c’est la levée des nouveaux hommes et leur en-marche.“ Diese Zeile von Rimbaud, die Charlie zufällig liest, berührt ihn tief, auch wenn er sie nicht vollständig versteht. Er betrachtet sie als ein „Geschenk“, das er für später aufbewahrt. Das Zitat selbst, das von „der Erhebung neuer Menschen“ und ihrem „Aufbruch“ spricht, kann als ein Keim der Hoffnung und des Wandels in Charlies Leben verstanden werden, das von Armut und Unsicherheit geprägt ist. Es symbolisiert das Potenzial für eine bessere Zukunft oder eine persönliche Transformation.
Der „Diebstahl“ von „Une saison en enfer“ ist ebenfalls von Bedeutung. Charlie betrachtet es nicht als Diebstahl im eigentlichen Sinne, sondern als eine Art „Ausleihe“, da er keine Bibliothekskarte besitzt und somit keinen regulären Zugang. Dieser Akt spiegelt Rimbauds eigene Missachtung bürgerlicher Konventionen und Autoritäten wider. Es ist ein Akt der Aneignung von Wissen und Schönheit auf unkonventionelle Weise, getrieben von einer inneren Notwendigkeit. Das Buch wird zu einem Begleiter auf seiner weiteren Reise.
Henry als gescheiterter Rimbaud oder sein „Abstieg in die Hölle“
Eine Figur, die Aspekte von Rimbauds Lebensumständen, insbesondere seinen „Abstieg in die Hölle“ (Une saison en enfer) und sein Scheitern, verkörpert, ist Charlies älterer Bruder Henry. Henry war einst ein brillanter Schüler, ein „wahres Genie“, der Bücher auswendig lernen und ganze Bände rezitieren konnte. Doch dann änderte er sich, begann sich zu verweigern und der Schule fernzubleiben. Sein Drogenkonsum ist sein persönliches „Festin“, das „bitter“ geworden ist. Henrys Zustand der Abhängigkeit und der Verzweiflung, sein Dasein als „Zombie“, der durch die Cité streift, ist eine moderne Interpretation von Rimbauds „Saison in der Hölle“.
Die entscheidende Verbindung wird am Ende des Romans enthüllt: Als Charlie das gestohlene Rimbaud-Buch öffnet, fällt ein Leihschein heraus, auf dem „Henry Traoré – Juillet 2003“ steht. Dies ist eine zutiefst ergreifende Offenbarung. Sie zeigt, dass Henry, trotz oder gerade wegen seiner Abhängigkeit, denselben intellektuellen Durst nach Rimbauds Werken verspürte. Es deutet darauf hin, dass Henry in seiner eigenen „Hölle“ nach Trost oder Verständnis in der Poesie suchte, genau wie Charlie es jetzt tut. Diese gemeinsame, verborgene intellektuelle Verbindung zwischen den Brüdern, die beide auf ihre Weise „abseits“ der Norm stehen, ist ein bewegendes Element des Romans. Henrys früheres Leben als „Rakete“ im Sprint, das durch Drogen „verlangsamt“ wurde, kann auch als Metapher für einen frühen, vielversprechenden Beginn interpretiert werden, der dann in Rimbaud’scher Manier abrupt endet oder eine „Wende“ nimmt.
Rimbauds Abschied von der Literatur und das Leben in den „Kolonien“
Rimbauds „Abschied von der Literatur“ im jungen Alter und sein späteres Leben als Händler in den Kolonien Afrikas finden im Roman eine thematische Entsprechung, wenn auch nicht als direkte Nachahmung. Henrys Drogenabhängigkeit und sein Rückzug aus der Gesellschaft können als eine Form des „freiwilligen Lebens in den Kolonien“ der Sucht und des Elends interpretiert werden. Er lebt in einer Art Exil des Geistes. Die Cité selbst, ein isoliertes, oft vernachlässigtes Gebiet, kann als eine solche „Kolonie“ oder ein marginalisierter Raum betrachtet werden. Charlies Reflexion über das Finden eines Waldes, falls seine Mutter nicht zurückkehren sollte, deutet ebenfalls auf den Wunsch nach einem radikalen Bruch und einer Flucht in die Wildnis hin, ähnlich Rimbauds exotischeren Lebensphasen.
Rimbauds Homosexualität wird im vorliegenden Textmaterial nicht thematisiert oder auf die Figuren übertragen. Auch Rimbauds gewaltsamer Tod ist kein direktes Thema, obwohl die Härte und die Gefahren des Lebens in der Cité (Drogen, Gewalt, „Vampir“-Nachbar, Tod des Familienvaters Montales) allgegenwärtig sind und das Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit des Lebens schärfen.
Der Roman-Schluss: Eine „Saison in der Hölle“ als Beginn der Erkenntnis
Der Roman endet mit Charlie, der auf den Stufen vor dem Abschiebezentrum sitzt, in dem seine Mutter festgehalten wird. Dieser Ort der unfreiwilligen Inhaftierung und Ungewissheit ist für Charlie seine persönlichste „Hölle“. Er legt die rote Rose, ein Geschenk der Rolands und Symbol für Zärtlichkeit und Schönheit inmitten der Widrigkeiten, neben sich. Dann öffnet er das von Henry entliehene Buch und beginnt, die ersten Zeilen von Rimbauds „Une saison en enfer“ zu lesen:
Jadis, si je me souviens bien, ma vie était un festin où s’ouvraient tous les coeurs, où tous les vins coulaient.
Un soir, j’ai assis la Beauté sur mes genoux. – Et je l’ai trouvée amère. – Et je l’ai injuriée.
Je me suis armé contre la justice.
Je me suis enfui. O sorcières, ô misère, ô haine, c’est à vous que mon trésor a été confié !
Einst, wenn ich mich recht entsinne, war mein Leben ein Fest, in dem sich alle Herzen öffneten, in dem alle Weine flossen.
Eines Abends setzte ich die Schönheit auf meine Knie – und fand sie bitter – und habe sie beschimpft.
Ich bewaffnete mich gegen die Gerechtigkeit.
Ich floh. O Hexen, o Elend, o Hass – euch wurde mein Schatz anvertraut!
Dieser Schluss ist von großer literarischer Dichte. Charlie liest den Beginn von Rimbauds „Une saison en enfer“, eine Passage, die von einem einst festlichen Leben spricht, das dann bitter wird und in eine Flucht vor der Gerechtigkeit und in die Abgründe von „Hexen, Elend, Hass“ mündet. Diese Worte spiegeln die chaotischen und schmerzhaften Erfahrungen wider, die Charlie im Laufe des Tages gemacht hat, und die Tragik von Henrys Leben. Die Wiederholung der Anfangszeile am Ende der Passage verstärkt das Gefühl eines Kreislaufs von Hoffnung und Enttäuschung. Für Charlie ist dieser Text ein Spiegel seiner eigenen Gefühle von Angst, Scham und dem Wunsch nach Stärke und Überwindung.
Aber vielleicht müsste man Rimbauds Prolog hier in einer Sprache der Straße für Charlie übersetzen, etwa so:
Damals, wenn ich ehrlich bin – mein Leben war wie ’ne Party. Türen open, Herzen am Start, Drinks ohne Ende.
Neulich, so abends, hab ich die Baddie aufs Knie gesetzt.
Hab sie getasted. Bitter.
Also hab ich sie gefronted. Angespuckt. Abgeschoben.
Justice? Hab ich mich drauf scharfgemacht, ready to shoot.
Ich bin abgehaun. Hexen, Elend, Hass – hier, nehmt mein‘ ganzen Shit.
Ich hab alle Hoffnung in mir gekillt. Jeden Vibe erwürgt wie’n Hund.
Ich hab die Bullen gerufen, damit ich beim Abnippeln in ihre Knarren beißen kann.
Ich hab die Sickness gerufen, damit sie mich mit Staub und Blut ersticken.
Nur Pain und Chaos – das war mein Gott, Bruder.
Ich lag im Dreck, hab im Gestank vom Crime geatmet.
Hab den Wahnsinn verarscht, ihn auf meine Art gefickt.
Frühling am Start – und der Typ lacht voll ugly.
Neulich, fast am Abnippeln, check ich: Vielleicht gibt’s ’nen Schlüssel zurück zur alten Party. Vielleicht krieg ich nochmal Hunger. […]
Charlies Akt des Lesens in dieser trostlosen Umgebung ist kein Zeichen von Flucht, sondern von Konfrontation und Verarbeitung. Die von ihm gelesenen Zeilen Rimbauds spiegeln seine eigene kindliche Erfahrung wider: Das Leben, das einst ein „Fest“ voller Offenheit und Freude war, hat sich in der Begegnung mit der „Schönheit“ der Realität (der Liebe zu seiner Mutter, aber auch der harten Wahrheit ihrer Situation) als „bitter“ erwiesen. Charlie ist gezwungen, die „Schönheit“ des Lebens – oder die Illusion davon – zu beschimpfen, weil sie ihn mit der bitteren Wahrheit konfrontiert. Das „Coeur en dehors“ (Herz außen) wird hier erfahrbar: Charlies verletzliches, offenes Herz ist dieser grausamen Realität schutzlos ausgeliefert.
Doch in dieser Bitternis liegt auch eine Form der Erkenntnis und des Wachstums. Der Roman bietet keine einfache Lösung oder ein Happy End; Charlies Mutter ist noch immer inhaftiert, die Zukunft ungewiss. Aber der Akt des Lesens, die Verbindung zu Henry durch dasselbe Buch und die Symbolik der Rose zeigen, dass Charlie trotz allem nicht zerbricht. Er findet einen Weg, die Tragödien seines Lebens durch die Linse der Poesie zu verstehen und zu verarbeiten. Das Buch „Une saison en enfer“ wird für ihn zu einem Werkzeug, um seine eigene „Hölle“ zu benennen und zu interpretieren. Der Roman suggeriert, dass selbst im tiefsten Elend eine tiefe Menschlichkeit, Zärtlichkeit und eine poetische Sensibilität existieren können, die das Individuum befähigen, die Realität nicht nur zu ertragen, sondern ihr einen tieferen Sinn abzugewinnen. Charlie wird nicht zu Rimbaud, aber er lernt, wie Rimbaud, seine eigene „Saison in der Hölle“ zu durchleben – und vielleicht, eines Tages, daraus stärker hervorzugehen.