Poesie erleiden: Annäherungen
Je m’assois par terre, dans le couloir, et je parle à Édouard, je lui dis : « Tu es mon frère. » Je répète je ne sais combien de fois cette phrase : « Tu es mon frère, tu es mon frère, tu es mon frère… » Je lui dis ça comme on parle tout seul à quelqu’un qui n’est pas là, comme on se prépare à lâcher ce qu’on a sur le cœur, à dire des choses que l’on n’a jamais osé dire, par gêne, par pudeur, ou parce qu’on les a exprimées seulement avec des gestes, des comportements, mais jamais prononcées clairement.
Ich setze mich auf den Boden im Flur und spreche mit Édouard. Ich sage ihm: „Du bist mein Bruder.“ Ich wiederhole diesen Satz unzählige Male: „Du bist mein Bruder, du bist mein Bruder, du bist mein Bruder …“ Ich sage das zu ihm, wie man zu jemandem spricht, der nicht da ist, wie man sich darauf vorbereitet, das, was man auf dem Herzen hat, loszulassen, Dinge zu sagen, die man aus Verlegenheit, aus Scham oder weil man sie nur mit Gesten und Verhaltensweisen ausgedrückt, aber nie klar ausgesprochen hat, nie zu sagen gewagt hat.
David Thomas’ Un frère (2025) stellt sich einer doppelten Herausforderung: einerseits erzählt der Autor vom Leben und Sterben seines Bruders Édouard, der vier Jahrzehnte an Schizophrenie litt; andererseits reflektiert er zugleich die Schwierigkeit, über psychische Krankheit literarisch zu schreiben, ohne das Subjekt auf seine Diagnose zu reduzieren. Wie kann ein fiktionaler oder literarisch verarbeiteter Text der Erfahrung psychischer Krankheit gerecht werden? Wie lassen sich Leid, Fremdheit und die fragmentierte Wahrnehmung, die Schizophrenie mit sich bringt, in narrative Formen übersetzen, ohne voyeuristisch oder vereinfachend zu wirken? Diese Fragen bilden das Grundproblem des Romans.
Der Text ist weder lineare Biografie noch klinischer Bericht, sondern ein Mosaik aus Erinnerungen, Reflexionen, Szenen und inneren Dialogen. Ausgehend vom Fund des toten Bruders entfaltet Thomas ein Panorama aus Kindheitserinnerungen, familiären Krisen, Krankenhauserfahrungen, aber auch liebevollen Details, alltäglichen Splittern und poetischen Reflexionen über Tod, Krankheit und Geschwisterliebe. So entsteht ein schwebender Text zwischen Autobiografie, Essay und Roman. Der literarische Zugriff ist damit selbst Teil der Problemstellung: Un frère zeigt nicht nur, was psychische Krankheit mit einem Menschen und seinen Angehörigen macht, sondern thematisiert auch die Schwierigkeit, diese Erfahrung erzählbar zu machen.
Das Werk setzt mit der Szene des Todes an: Der Erzähler entdeckt den leblosen Körper seines Bruders in dessen Wohnung. Von dort aus entfaltet sich eine Rückschau. Thomas berichtet von einer Kindheit voller Nähe, dann von den ersten Anzeichen der Krankheit in der Jugend Édouards, den jahrzehntelangen Klinikaufenthalten, Rückfällen und Medikamenten, schließlich von der Vereinsamung und dem Bruch mit dem alltäglichen Leben. In diesen Erinnerungen wechselt der Text zwischen schonungsloser Beschreibung – der Medikamente, den physischen und psychischen Nebenwirkungen – und poetischen Momenten, in denen sich die Stimme des Autors an den Bruder wendet. In der Mitte des Romans reflektiert Thomas über sein eigenes Zögern, diesen Text zu schreiben: Darf man so etwas überhaupt? Gegen Ende stehen die Beerdigung, die Auflösung der Wohnung und das Fortwirken der Erinnerung. Der Schluss verweigert jede endgültige Lösung: Édouard bleibt als Abwesender anwesend, im Handy gespeichert, in der Sprache gegenwärtig.
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Fragment und Krankheitserfahrung
Die formale Struktur von David Thomas‘ Roman, gekennzeichnet durch kurze Kapitel, abrupte Szenenwechsel und essayistische Einschübe, ist eine bewusste ästhetische Entscheidung, die die Diskontinuität der Schizophrenie nachahmt. Diese Krankheit manifestiert sich weder für den Betroffenen noch für die Angehörigen als kohärente Geschichte, sondern als eine Abfolge von Brüchen, Krisen und unzusammenhängenden Episoden. Die Nicht-Linearität des Romans spiegelt die Fragmentierung von Édouards Subjektivität wider, der vom Erzähler als „er selbst, aber nicht mehr er. Ein anderer.“ beschrieben wird, und dessen Leben von der Krankheit zu einem „lebenden Toten“ gemacht wurde. Der Erzähler erlebt die Krankheit als einen „Nebel“, der fast vierzig Jahre lang über der Familie lag und Édouards Silhouette langsam, aber unaufhaltsam verschwinden ließ, „bis er kaum noch zu unterscheiden war, bis er nur noch ein Schatten war“. Diese Unfähigkeit, Édouard als eine vollständige, unveränderte Person wahrzunehmen, wird in der Erzählweise widergespiegelt, die Sprünge zwischen Kindheitserinnerungen, Momenten der akuten Krise und gegenwärtigen Reflexionen macht, wie etwa die spekulativen Szenen von Édouards Tod am 18. Juni, während der Erzähler mit seiner Familie im Urlaub war. Solche abrupten Wechsel verhindern eine kontinuierliche Erzählung und spiegeln die Erfahrung wider, dass Édouards Leben nicht als eine logische Abfolge, sondern als eine Reihe von isolierten, oft traumatischen Momenten erscheint. Selbst der Autor kämpft mit dieser Fragmentierung, als er über seinen Bruder schreibt, er sei „ein Culbuto“ (Stehaufmännchen), der zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt, was sich in der zögerlichen und sprunghaften Entwicklung des Textes niederschlägt.
Diese narrative Fragmentierung ist nicht nur ein Ausdruck von Édouards innerem Zustand, sondern auch der paradoxen Situation der Angehörigen. Für sie ist die Krankheit Édouards „eine andere Welt, eine obskure Welt“, in der sie keine Orientierung finden. Die essayistischen Einschübe, in denen der Erzähler über die Natur der Krankheit, die Schwierigkeit des Schreibens und die Auswirkungen auf seine Familie reflektiert, verdeutlichen diesen Versuch, Sinn zu stiften, wo es oft keinen gibt. Die Form des Romans verweigert bewusst die Illusion von Ganzheit, da eine kohärente „Geschichte“ der Krankheit unangemessen wäre. Stattdessen werden Édouards Leben und Leiden in einer mosaikartigen Weise dargestellt, die seine Erfahrungen mit der Musik (Blues als seine Sprache), seine persönlichen Kämpfe und seine Momente der „relativen Stabilität“ in kurzen, eigenständigen Abschnitten beleuchtet. Diese ästhetische Entscheidung ermöglicht es dem Erzähler, die rohe, ungefilterte Realität der Schizophrenie und ihren Einfluss auf das Leben aller Beteiligten darzustellen, ohne sie zu verharmlosen oder zu rationalisieren, und macht deutlich, dass das Leiden „ein Schmerz ist, der sich in eine Präsenz verwandelt“, die im Text weiterlebt.
Doppelte Abwesenheit
David Thomas thematisiert in seinem Roman die „deux pertes“ (zwei Verluste) seines Bruders Édouard, ein Konzept, das als zentraler interpretativer Schlüssel dient, um die tiefgreifende und paradoxe Trauer der Angehörigen psychisch Kranker zu beleuchten. Die erste Verlust war ein fast vierzigjähriger, unendlicher Abstand, in dem die Schizophrenie den Erzähler „jeden Tag ein bisschen mehr von meinem ersten Echo beraubte“. Édouard war zwar physisch anwesend, aber „er selbst, aber nicht mehr er. Ein anderer.“ Dieses allmähliche Verschwinden, diese „aliénation“, wurde durch die Krankheit verursacht, die das Urteilsvermögen, den freien Willen, die Autonomie und die Glaubwürdigkeit seines Bruders zerstörte. Der Erzähler beschreibt, wie er in dieser Zeit Phasen der Sorglosigkeit, Blindheit, Verleugnung und Vermeidung durchlief, aber auch Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Wut, Alkohol und Isolation erlebte, um sich selbst zu retten. Dies manifestierte sich als ein „Nebel“, der fast vierzig Jahre lang über der Familie lag, eine „stumme Klage des Schmerzes“, während die Silhouette seines Bruders „langsam, unausweichlich, von der Geisteskrankheit mitgerissen, bis er kaum noch zu unterscheiden war, bis er nur noch ein Schatten war“. Die Schizophrenie zwang ihn in einen inneren Kampf, der ihn zu einem „lebenden Toten“ machte, dessen Leben vom Kampf geprägt war.
Die zweite Verlust war Édouards brutaler physischer Tod, den der Erzähler jedoch als logische Konsequenz der „vierzig Jahre, die eine Rutschpartie hin zu immer mehr Härte waren“, voraussah. Als der Erzähler seinen toten Bruder fand, versuchte er zunächst, die Realität des Todes zu leugnen, rief die Feuerwehr, obwohl er wusste, dass es zu spät war. Doch in diesem Moment des Todes, als die Krankheit augenblicklich zu verschwinden schien, erlebte er eine tiefgreifende Rückbesinnung auf den Bruder seiner Kindheit. Die Erkenntnis, dass „es nicht sein Tod war, sondern sein Leben, das unerträglich war“, führte dazu, dass der Tod selbst keine Erleichterung brachte, sondern Traurigkeit und Wut. Der Tod verdoppelte die Trauer um den „verlorenen“ lebenden Bruder. Der Erzähler beschreibt, wie er in diesem Moment des Abschieds wieder zu einem zwölfjährigen Kind wurde, und die Bindung, die sie als Kinder und Jugendliche hatten, „gerade zerbrochen ist. Die Krankheit erscheint nicht mehr, sie hat sich aufgelöst. Sofort.“ Dieser doppelte Verlust und die daraus resultierende wiedererweckte, ursprüngliche Trauer durchziehen die gesamte Erzählung und erzeugen eine melancholische Grundstimmung. Das Schreiben wird für den Erzähler zu einem Weg, „aus einem Schmerz eine Präsenz zu verwandeln“, wodurch Édouards materielle und immaterielle Existenz im Text weiterlebt.
Körperlichkeit als Speicher der Krankheit
Die Schizophrenie manifestiert sich bei Édouard nicht nur in seinem Verhalten und seiner Sprache, sondern auch drastisch in der Materialität seines Körpers, der zu einem sichtbaren Archiv seines jahrzehntelangen Leidens wird. David Thomas beschreibt mit erstaunlichem Realismus die physischen Auswirkungen der Psychopharmaka auf den Körper seines Bruders. Er wünscht sich, dass ein ignoranter Kritiker selbst erleben möge, was diese Medikamente bewirken: „vierzig Kilo zunehmen, so schwitzen, dass die Kleidung durchnässt ist, die Zähne verlieren, die Hände zittern wie bei einem Parkinson-Kranken, Schwierigkeiten beim Stuhlgang, beim Erektion haben, beim Sprechen, beim Sehen, beim Gehen ohne zu stolpern und beim Verstehen, wo man ist“. Diese Nebenwirkungen, zusammen mit dem „pestilentiellen Atem, der durch bestimmte Medikamente verursacht wird“, zeugen von einer tiefgreifenden „aliénation“, einem Verlust des Selbst, das über psychische Symptome hinausgeht und den Körper als Zeugnis einer Krankheit darstellt, die ihn über fast vierzig Jahre entfremdete. Schon in den 1980er Jahren wurden Édouard „viel zu starke Moleküle“ verabreicht, die ihn zu einem „lebenden Toten“ machten, der kaum artikulieren konnte und dessen Schritte, die Langsamkeit seiner Gesten und die Leere seines Blickes von der Kraft der Behandlung und der Beruhigungsmittel zeugten. Auch die Beschreibung des „abscheulichen Zustands“ seiner Wohnung, geprägt von Schmutz, vergammelten Essensresten und Zigarettenstummeln, wird als direkte Folge seiner Krankheit dargestellt, die zum „Verlust der Würde“ und des Selbstrespekts führt.
Die Körperlichkeit bleibt selbst nach dem Tod Édouards ein zentrales Symbol. Der Erzähler beschreibt den toten Körper seines Bruders mit einer bemerkenswerten Präzision, die über das rein Physische hinausgeht: „Ich schaue ihn an, die Haut seines Gesichts hat sich nach unten gedehnt“. Diese und weitere Details, wie die „grauen“, „violetten, blauen, grünlichen Flecken“ auf seinem Körper und Gesicht, unterstreichen, wie der Körper zum letzten Zeugnis des Leidens wird. Der Erzähler betont die Bedeutung des Körpers als integralen Bestandteil der Identität: „Der Körper ist wichtig, die Bewegungen, die Atmung, die Blicke, die Haut, das ist wichtig. Jemand ist nicht nur eine Persönlichkeit, Gedanken, Meinungen, es ist auch eine physische Masse, die sich bewegt, sich verschiebt, die eine Textur, einen Geruch, eine Stimme, Augen hat, die genauso viel und oft mehr sagen als diese Stimme“. Durch diese detaillierte Beschreibung, auch über den Tod hinaus, wird der Körper zum Träger einer unauflösbaren Präsenz, die im Text weiterlebt. Der Akt des Schreibens über seinen Bruder dient dem Erzähler dazu, „wer du warst, wiederherzustellen“ und „einen Schmerz in eine Präsenz zu verwandeln“, wodurch Édouards physische und immaterielle Existenz im Erzählstrang verewigt wird.
Metaphorische Annäherung an die „andere“ Wahrnehmung
Mais il y a une différence entre écrire de la poésie et être de la poésie, être dans une autre nature du réel. Le poète perçoit cette autre réalité et la retranscrit sachant parfaitement ce qu’il compose, il a une prise sur ce qu’il compose, il sait ce qu’il fait, il maîtrise sa poésie. Le malade ne la maîtrise pas, il la subit. « Plus grave, il le vit »… L’un et l’autre ont cette capacité de voir la même chose, mais parce que cette vision est raisonnée pour le poète mais pas pour le malade, l’un est capable de retranscrire ce qu’il voit et l’autre pas. L’un nous rend cette autre réalité invisible intelligible, palpable, perceptible, l’autre absconse et s’adresse à nous dans une langue que lui seul connaît. Ils ont tous les deux la candeur pour confondre le lampadaire dans une rue sombre avec la pleine lune. Mais le poète décide de voir la pleine lune. Peut-on en dire autant du malade ?
Aber es gibt einen Unterschied zwischen Gedichte schreiben und Poesie sein, in einer anderen Natur der Realität sein. Der Dichter nimmt diese andere Realität wahr und gibt sie wieder, wobei er genau weiß, was er dichtet, er hat Einfluss auf das, was er dichtet, er weiß, was er tut, er beherrscht seine Poesie. Der Kranke beherrscht sie nicht, er erleidet sie. „Schlimmer noch, er lebt sie“… Beide haben die Fähigkeit, dasselbe zu sehen, aber weil diese Sichtweise für den Dichter begründet ist, für den Kranken jedoch nicht, ist der eine in der Lage, das, was er sieht, wiederzugeben, der andere nicht. Der eine macht uns diese andere unsichtbare Realität verständlich, greifbar, wahrnehmbar, der andere bleibt unverständlich und spricht zu uns in einer Sprache, die nur er kennt. Beide haben die Unschuld, die Straßenlaterne in einer dunklen Straße mit dem Vollmond zu verwechseln. Aber der Dichter beschließt, den Vollmond zu sehen. Kann man das auch vom Kranken sagen?
Diese Passage unterscheidet entscheidend zwischen dem „Sehen“ des Dichters und dem „Sehen“ des psychisch Kranken, wobei Rimbauds Konzept des Dichters als „Seher“ durch eine „vernünftige Entregelung aller Sinne“ herangezogen wird. Der Erzähler betont, dass beide zwar eine „andere Realität“ wahrnehmen können, der Dichter diese Wahrnehmung jedoch kontrolliert (sie ist „vernünftig“), während der psychisch Kranke sie „lebt“ und in ihr gefangen ist, unfähig, sie zu kontrollieren oder verständlich zu artikulieren. Dies unterstreicht die Tragik von Édouards Zustand: Er befindet sich ständig in einem „poetischen Zustand“, einer „anderen Wahrnehmung“, aber dies ist ein Gefängnis, ein „Exil“, in dem er „es erleidet“. Die Unfähigkeit des Kranken, „das, was er sieht, zu transkribieren“, macht seine Realität für andere „abscons“ (obskur, schwer verständlich) und steht in scharfem Kontrast zur Fähigkeit des Dichters, das Unsichtbare verständlich zu machen. Diese Passage ist eine Reflexion über die isolierende Natur psychischer Krankheiten und die inhärente, unkontrollierbare „Poesie“ der Erfahrung seines Bruders.
Der Roman von David Thomas nähert sich der komplexen Wahrnehmung der Schizophrenie auf eindringliche Weise durch metapherreiche Bilder, die den Geisteszustand Édouards nicht nur pathologisch, sondern auch imaginativ erfassbar machen. Besonders eindrucksvoll ist die Episode, in der der Erzähler einen Traum hat, in dem sein bereits verstorbener Bruder Édouard ihn anruft. Auf die Frage des Erzählers „Mais tu es où ?“ (Aber wo bist du?) antwortet Édouard mit ruhiger Stimme: „Je suis en Paranoïa.“ Dieser scheinbar surreale Satz fungiert als poetische Metapher, die die Anderswelt der Krankheit Édouards als einen eigenen, bewohnbaren Raum darstellt. Die ungewöhnliche, fast schöne Klangfarbe des Wortes „Paranoïa“ evoziert beim Erzähler das Bild einer tropischen, äquatorialen Insel, die gleichermaßen von sanften Stränden und erfrischenden, üppigen Wäldern geprägt ist. Diese Vorstellung steht in krassem Gegensatz zur landläufigen Bedeutung von Paranoia und bietet dem Erzähler eine symbolische Antwort auf die quälende Frage, wohin sein Bruder in den fast vierzig Jahren seiner Krankheit, dieser „unendliche Abstand“, eigentlich verschwunden war: „En Paranoïa, un pays où vivent les malades.“ Hier wird der fremde Geisteszustand nicht als bloßes Defizit oder als „Fehlfunktion“ des Gehirns verstanden, sondern als eine eigenständige „Topographie des Abweichens“, ein inhärentes „Anderssein“, das Édouard als „er selbst, aber nicht mehr er. Ein anderer.“ charakterisiert. Die Metapher des Insel-Exils verstärkt die Vorstellung, dass der Schizophrene „KONSTANT in einem poetischen Zustand, KONSTANT in einer anderen Wahrnehmung“ gefangen ist, von der er das „Festland“ der normalen Welt zwar sehen, aber nicht mehr bewohnen kann.
Ein weiteres prägnantes Beispiel für diese metaphorische Annäherung findet sich im ersten Kapitel des Romans, wo Édouard auf einem Hochzeitsfest beschrieben wird. Während die anderen Gäste in einem „ballet fluide et élégant“ gleiten, sitzt Édouard „immobile, courbé, les épaules rondes en carapace, les mains jointes entre les genoux“, mit einer „masque sur le visage, le masque de la souffrance.“ Dieser Zustand der Erstarrung und die „Maske der Leiden“ verdichten metaphorisch die Erfahrung der Krankheit: Schizophrenie wird hier als ein Stillstand inmitten des fließenden Lebensstroms dargestellt. Der Kontrast zwischen der leichten Bewegung der feiernden Menschen und der Starre Édouards unterstreicht, wie „malheur, lui, fige les êtres“ – das Unglück die Menschen einfriert. Die Maske des Leidens, die Édouards Gesicht bedeckt, während er anscheinend mit einer inneren Stimme spricht und einen Ausdruck „der unvermeidlichen Niederlage“ trägt, symbolisiert die tiefe Entfremdung des eigenen Selbst. Die „wahre“ Persönlichkeit Édouards, sein früheres, brillantes Ich, ist hinter dieser Maske verborgen und für die Außenwelt unzugänglich geworden. Dies ist eine poetische Verdichtung für die „aliénation“, den Verlust des Urteilsvermögens, des freien Willens und der Autonomie, die die Krankheit über fast vierzig Jahre verursacht hat und Édouard zu einem „lebenden Toten“ machte. Die Metapher der Maske verweist darauf, dass die Krankheit nicht nur das äußere Erscheinungsbild verändert, sondern auch die innerste Identität des Betroffenen in einem „Nebel“ hüllt, der die wahre Person langsam zu einer „Schatten“ werden lässt.
Schreiben zwischen Verrat und Rettung
Der Autor tritt in seinem Roman wiederholt in einen imaginären Dialog mit seinem verstorbenen Bruder Édouard, dessen fiktive Stimme die problematische Natur des Schreibprozesses immer wieder hervorhebt. Édouard verbietet dem Erzähler unmissverständlich: „Je t’interdis d’écrire sur ma maladie.“ Diese imaginäre Konfrontation enthüllt ein tiefes Dilemma: Das Schreiben über die psychische Erkrankung des Bruders kann als Verrat empfunden werden, da es Édouard öffentlich ausstellt und Gefahr läuft, ihn auf seine Krankheit zu reduzieren. Die Fragen des toten Bruders – „Qu’est-ce que tu fous avec ce livre ? Je ne veux pas que tu racontes ça de moi. Tu crois que j’ai envie qu’on ait cette image de moi ?“ – verdeutlichen die Sorge um die Wahrnehmung seiner Person, die über fast vierzig Jahre durch die Schizophrenie entfremdet wurde und ihn zu einem „lebenden Toten“ machte. Édouard wirft dem Erzähler vor, „lâche“ zu sein, weil er bis zu seinem Tod gewartet habe, um darüber zu schreiben: „Tu as attendu que je sois mort pour t’autoriser à le faire. T’es un lâche. T’as pas de couilles. Tu n’aurais jamais osé faire ça de mon vivant.“ Diese Anschuldigungen zeigen die moralische Belastung und die ambivalente Rolle des Autors, der zwischen dem Wunsch, die Existenz des Bruders zu bewahren, und der Befürchtung, dessen Intimität zu verletzen, hin- und hergerissen ist. Der Erzähler verteidigt sich, indem er behauptet, er schreibe, „um wiederherzustellen, wer du warst“ und über Édouards „Kampf“ sowie seine „eigene Erfahrung“ zu berichten.
Literatur wird in diesem Kontext nicht als kathartische Heilung verstanden, sondern als ein ambivalenter Prozess, der gleichermaßen notwendig und schmerzhaft ist. Der Autor äußert explizit: „Ich glaube keine Sekunde daran, dass Schreiben Erleichterung verschafft.“ Er erlebt eine tiefe „paralysie“ beim Beginn des Schreibens und beschreibt sich als „culbuto“ (Stehaufmännchen), das zwischen Schreibimpuls und Entmutigung schwankt, wodurch der Prozess „ins Stocken gerät“. Er fürchtet, nichts „Relevantes“ zu den Themen psychische Krankheit, Tod oder Trauer hinzufügen zu können. Trotzdem ist das Schreiben notwendig, um die Erinnerung an Édouard wachzuhalten und „aus einem Schmerz eine Präsenz zu verwandeln, sie mir zurückzugeben.“ Der Schmerz liegt im „Übertreten des Schweigens des Toten“, da die Erzählung in Bereiche vordringt, die Édouard zeitlebens zu schützen versuchte. Der Autor gesteht ein, dass er „die Realität verzerrt“ und seinen Bruder „verschönert“ hat, weil die Bindung zu ihm stärker war als die Forderung nach „Klarheit oder Genauigkeit.“ Das Ziel ist nicht, den Bruder zu idealisieren, sondern seine „Präsenz“ unvergänglich zu machen: „Sie wird mich niemals verlassen. Weil ich nicht will, dass sie mich verlässt.“ Dieser Akt des Schreibens ist somit keine Befreiung von der Trauer, sondern ein fortwährender, komplexer Versuch, eine lebendige Verbindung zu einem verlorenen Menschen aufrechtzuerhalten.
Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit
Ein zentrales Spannungsmoment des Romans liegt im Überschreiten der Grenze zwischen der zutiefst privaten Erfahrung des Leidens und dem Akt des öffentlichen Erzählens. Der Autor David Thomas ist sich der ethischen Dimension bewusst, dass er den intimen Schmerz seines Bruders Édouard ausstellt, der eigentlich nicht ohne Weiteres literarisch verfügbar sein sollte. Diese Spannung zeigt sich im immer wiederkehrenden imaginären Dialog mit dem toten Bruder, der unmissverständlich feststellt: „Je t’interdis d’écrire sur ma maladie.“ Édouard stellt die Frage, ob der Autor die Erlaubnis hat, über sein Leben zu erzählen, und befürchtet, dass das Schreiben ihn auf sein Leiden reduzieren und ein Bild von ihm vermitteln könnte, das er nicht möchte: „Ich will nicht, dass du das über mich erzählst. Glaubst du, ich will, dass man dieses Bild von mir hat?“ Der Autor empfindet eine tiefe „Paralyse“ und „Angst“ beim Schreiben, zweifelt daran, ob er überhaupt etwas Relevantes zu den Themen psychische Krankheit, Tod oder Trauer hinzufügen kann. Er gesteht ein, dass er „die Realität verzerrt“ und seinen Bruder „verschönert“ hat, weil die Bindung zu ihm stärker war als die Forderung nach „Klarheit oder Genauigkeit“. Das Schreiben wird somit zu einem ambivalenten Prozess, der gleichermaßen notwendig wie schmerzhaft ist und das Schweigen des Toten übertritt.
Thomas’ Antwort auf die Frage, ob man über das Leid anderer schreiben darf, ist ambivalent: Ja, wenn es darum geht, das Menschliche sichtbar zu machen und Édouard als komplexen Menschen darzustellen, nicht nur als Kranken. Der Autor verteidigt seine Entscheidung, indem er sagt: „Ich schreibe gerade, um wiederherzustellen, wer du warst.“ Er will Édouards „Kampf“ und seine „eigene Erfahrung“ festhalten. Um dieser Verengung auf die Krankheit entgegenzuwirken, legt Thomas großen Wert auf die detailreichen Beschreibungen von Édouards vielseitiger Persönlichkeit, seinen Leidenschaften und Eigenheiten. So wird seine tiefe Verbundenheit zum Blues hervorgehoben – der Blues war „seine Sprache“, er spielte Gitarre, nicht für die Öffentlichkeit, sondern um sich mit seinem tiefsten Inneren zu verbinden. Auch Édouards sportliche Erfolge im Reiten mit seinem Pony Pionnier, seine Dandy-Erscheinung und sein Sinn für Eleganz in der Jugend, sein witziges und provokantes Wesen als Kind, seine Hartnäckigkeit in der Liebe und sein intellektueller Scharfsinn in Gesprächen werden ausführlich beleuchtet. Selbst seine Angewohnheit, keine Unterwäsche zu tragen (engl. „to go commando“), wird als Zeichen seiner Persönlichkeit gefeiert, die ihn weiterhin überraschen lässt und seine Präsenz über den Tod hinaus verlängert. Durch diese umfassende Porträtierung wird deutlich, dass das Leiden Édouards zwar zentral ist, aber seine Person niemals darauf reduziert werden soll; stattdessen geht es darum, „aus einem Schmerz eine Präsenz zu verwandeln, sie mir zurückzugeben.“
Erinnerungsakte
Der Roman von David Thomas ist in seinem Kern ein tiefgründiger Kampf gegen das Vergessen, der durch eine Reihe von Akten der Erinnerung initiiert wird, nachdem der Bruder Édouard verstorben ist. Das Aufräumen seiner Wohnung wird zu einer zentralen Szene dieser Auseinandersetzung. Obwohl der Erzähler und sein Bruder Antoine zunächst gemeinsam aufräumen, um die Wohnung für die Eltern vorzeigbar zu machen und dabei unzählige Medikamente sowie Cannabis finden, übernimmt der Erzähler später diese Aufgabe allein. Er widmet sich dem Durchblättern und Sortieren von Papieren, wie Kontoauszügen, Steuererklärungen, Lohnabrechnungen, CAF-Korrespondenz und sogar alten Ausweisdokumenten mit Fotos seines Bruders aus verschiedenen Lebensabschnitten. Diese intime Auseinandersetzung mit den administrativen und persönlichen Spuren von Édouards Leben, das sich über dreieinhalb Jahrzehnte erstreckt, ist schmerzhaft, schafft aber auch eine tiefe Nähe zum Verstorbenen: „Es ist traurig, aber es tut mir gut, das zu tun, denn ich bin seiner Leben und ihm am nächsten.“ Auch das Wiederhören alter Platten von Rory Gallagher, J.B. Lenoir oder Howlin’ Wolf inmitten dieser Tätigkeit, mit dem „Knistern des Saphirs auf der Rille“, erinnert den Erzähler an eine Zeit, in der alles, was ihn prägte, untrennbar mit seinem Bruder verbunden war. Diese Handlungen retten Édouards Existenz vor dem Vergessen, das die Krankheit und der Tod zu verschlingen drohten. Sogar kleine Entdeckungen, wie die, dass Édouard keine Unterwäsche trug und „he went commando“, werden zu freudigen Momenten, die den Bruder weiterhin überraschen lassen und zeigen, dass man „fortfährt, Dinge über ihn zu lernen“ und „es nicht vorbei ist“.
Durch diese vielfältigen Erinnerungsakte entsteht der Text selbst zu einem lebendigen Erinnerungsraum, in dem Édouard nicht nur als Patient, sondern als facettenreicher Mensch weiterlebt. Er wird als Bruder, Musiker, Freund und Liebender porträtiert, dessen Leidenschaften und Eigenheiten detailliert beschrieben werden. Seine Codes in Notizbüchern, die auf seinen geliebten Pony Pionnier oder seine große Liebe Lorraine verweisen, verdeutlichen seine tiefen Bindungen und Sehnsüchte. Besonders seine tiefe Verbundenheit zum Blues, der „seine Sprache“ war und durch den er „die Schwingungen seiner Seele“ ausdrückte, lässt ihn als Musiker lebendig werden, der nicht für die Öffentlichkeit, sondern für sich selbst spielte, um sich mit seinem tiefsten Inneren zu verbinden. Die zentrale Funktion der Literatur in Thomas‘ Roman ist es, das Vergangene zu konservieren und Édouards Präsenz unvergänglich zu machen. Obwohl der Autor zugibt, die Realität „verzerrt“ und seinen Bruder „verschönert“ zu haben, um der Reduzierung auf die Krankheit entgegenzuwirken, dient dies dem übergeordneten Ziel, „wiederherzustellen, wer du warst“. Der Text ordnet eine „verstreute Realität“ neu an, um sie erträglich zu machen und die Präsenz des Bruders zu bewahren, da der Autor nicht will, dass diese Präsenz ihn jemals verlässt. Somit wird der Roman zu einem Zeugnis der Liebe und des Kampfes gegen die Auslöschung eines komplexen menschlichen Lebens.
Präsenz und Auflösung
Trotz aller Härte und Distanz bleibt der rote Faden des Buches die Geschwisterliebe. In der Szene, in der der Erzähler neben dem toten Bruder sitzt und immer wieder sagt: „Tu es mon frère“, wird diese Liebe verdichtet. Hier reduziert sich das Verhältnis nicht auf Krankheit, Schuld oder Scham, sondern auf eine nackte Beziehung, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Diese Szene steht im Zentrum des Romans: Sie macht klar, dass jenseits der Krankheit ein unzerstörbares Band existiert, das nicht gebrochen werden kann.
Am Ende des Romans kulminieren die Themen in einer doppelten Bewegung: dem Auflösen des Bruders in der physischen Welt (Beerdigung, Leerräumen der Wohnung, administrative Streichungen) und seiner gleichzeitigen Präsenz in Erinnerung und Sprache. Der Schluss („Il apparaît dans mon téléphone toujours à la première place sur la liste de mes favoris“) zeigt diese paradoxe Situation: Édouard ist tot, aber er bleibt unauflöslich gegenwärtig im Alltag des Autors. Der Roman endet damit nicht in einer Auflösung, sondern in einem Schwebezustand zwischen Abwesenheit und Präsenz.
Gerade darin liegt die literarische Pointe: Psychische Krankheit und Tod lassen sich nicht „auflösen“ oder „bewältigen“. Un frère verweigert den Trost eines geschlossenen Endes. Stattdessen zeigt der Roman, dass das Band zwischen den Brüdern fortbesteht – als ständige, manchmal schmerzhafte, aber auch lebendige Erinnerung. Der literarische Text selbst wird so zum Medium dieser dauerhaften Präsenz. Damit beantwortet Thomas die eingangs gestellte Frage, wie man sich einer psychischen Erkrankung fiktional nähern kann: nicht durch Erklärung oder Linearität, sondern durch fragmentarisches Erinnern, durch die Anerkennung der Ambivalenz von Nähe und Distanz, und durch die literarische Inszenierung einer Stimme, die zwischen Leben und Tod weiterklingt.
Un frère ist ein Roman über Schizophrenie, aber noch mehr ein Roman über die Unmöglichkeit, diese Krankheit adäquat zu erzählen. Indem er Brüche, Fragmentierungen und Ambivalenzen formal nachbildet, bleibt der Text der Erfahrung treu. Seine literarische Größe liegt darin, dass er nicht nur über Krankheit spricht, sondern die Brüderliebe ins Zentrum stellt – und damit zeigt, dass Menschsein auch in der radikalen Zerstörungskraft der Krankheit nicht ausgelöscht wird. Zudem gelingt es Thomas durch Metaphern wie „Paranoia als Land“ oder die „Maske“ der Krankheit, eine literarische Sprache für die „andere“ Wahrnehmung des Schizophrenen zu finden: eine Sprache, die das Fremde nicht glättet, sondern erfahrbar macht. Durch die detailreiche Darstellung von Édouards Musikalität (Blues als seine Sprache), Hobbys und Eigenheiten kämpft der Roman gegen die Reduktion auf die Krankheit und konserviert das Menschliche in all seiner Komplexität. Das Buch wird so zu einem Erinnerungsraum für den Bruder, der Édouards vielschichtige Präsenz ungeschminkt und doch liebevoll im Text weiterleben lässt.