Dominique Fourcade: Dichten nach dem 7. Oktober 2023

Dominique Fourcade, voilà c’est tout, P.O.L., 2025.
Dominique Fourcade, Ça va bien dans la pluie glacée ?, P.O.L., 2024.
Dominique Fourcade, flirt avec elle, P.O.L., 2023.
Dominique Fourcade, En laisse, P.O.L., 2005.

Poesie und Terror

« tueuse, et tuante
est l’époque
à nouveau insensément cruelle
c’est un murmure distinct entre des lèvres inconnues sur lesquelles on a peur de poser les siennes. » (Dominique Fourcade, voilà c’est tout, 2025)

Tödlich, und tötend ist diese Zeit, von Neuem unsinnig grausam. Ein Flüstern nur, deutlich, zwischen fremden Lippen, auf die zu legen man die eigenen fürchtet. So heißt es im Fortsetzungsband voilà c’est tout, der mit etwas zeitlichem Abstand die poetische Reaktion von Dominique Fourcade auf den 7. Oktober und die Folgen weiterführt.

Die Veröffentlichung von Dominique Fourcades erstem Gedichtband zum Thema, Ça va bien dans la pluie glacée? (P.O.L., 2024), markierte einen entscheidenden Aspekt in der Werkentwicklung eines Autors, der lange Zeit für seine formalen Experimente und seine Herausforderung der Erzählstimme bekannt war. Fourcade etablierte sich in der französischen literarischen Avantgarde durch die Erforschung der phônê (der Stimme des Textes). Diese Historie der formalen Strenge und des lyrischen Rückzugs ist von zentraler Bedeutung, um die intellektuelle Tragweite von Fourcades neuerlicher, expliziter Hinwendung zu aktuellen geopolitischen Krisen zu erfassen. Diese Hinwendung ist nicht neu, sondern Teil einer wachsenden moralischen und ästhetischen Verantwortung gegenüber der Gegenwart. Sie vollzieht sich in einer chronologischen Sequenz, begann mit dem Irak-Krieg in En laisse (2005) und setzte sich mit dem Ukraine-Krieg in flirt avec elle (2023) fort. Der Band von 2024 wurde in direkter und dringlicher Reaktion auf die Ereignisse ab Oktober 2023 verfasst und im Februar 2024 veröffentlicht. Die Dringlichkeit des Schreibprozesses ist somit nicht nur thematisch, sondern auch formal im hybriden Text verankert, der Verse und Prosa alternierend nutzt. In der Fortsetzung von ça va bien dans la pluie glacée verwebt dann voilà c’est tout (P.O.L., 2025) das Intime mit dem Tragischen des Krieges in Gaza in einer lyrisch vibrierenden Sprache, die zwischen Verzweiflung und Widerstand, zwischen Kunst, Tod und Schönheit oszilliert – und am Abgrund die unerschütterliche Aufforderung bekräftigt, die Hoffnung nicht zu verlieren.

Der Titel En laisse (an der Leine) entstammte direkt der visuellen und ethischen Schockwelle, die durch die Fotos des Abu-Ghraib-Gefängnisses ausgelöst wurde. Er bezieht sich auf das spezifische Bild, auf dem eine amerikanische Soldatin einen irakischen Gefangenen nackt und an der Leine hält. Die Leine (la laisse) wird zur zentralen Metapher für die Kriminalität, Erniedrigung und die pervertierte Machtbeziehung in der modernen Kriegsführung. Fourcade identifiziert sich radikal mit allen Elementen dieser Szene: Er ist das Opfer (lui), die Soldatin (elle) und die Leine (la laisse) selbst. Das Titelkonzept drückt die schreckliche Austauschbarkeit der Rollen aus – die Leine dient dazu, die beiden schrecklichen Seiten, die ständig wechseln, herumzuführen („les deux bords terribles qui s’échangent sans cesse“). Der Titel ist somit eine Aussage über eine schicksalhafte Kriminalität („criminalité destinale“), die die Menschlichkeit des Autors (und die des Lesers) zutiefst in Frage stellt.

Megan Ambuhl (links) und Lynndie England mit „Gus“, Foto von Charles Graner. Quelle.

Der Titel flirt avec elle (Flirt mit ihr) markiert Fourcades Auseinandersetzung mit dem Schrecken des Ukraine-Krieges im Jahr 2022. „Dominique Fourcade hatte am Ende seines Lebens das Gefühl, das noch einmal zu erleben, was er ganz am Anfang erlebt hatte: die Verzweiflung des Krieges. Doch seit seiner Kindheit und Jugend hatte sich vieles verändert: das nun sehr starke Gefühl für Europa, die Realität des Schriftstellerdaseins, das heißt, jemand zu sein, der keinen Augenblick des Daseins tiefer und getreuer erleben kann als in der Erfahrung des Schreibens. Er verfasste ein langes Gedicht in 15 Abschnitten, gefolgt von einem „Flirt mit drei Fotografien“. Sein Schreiben beschäftigt sich mit der Gegenwart, nichts als der Gegenwart, sowohl trivial als auch mythologisch. Das Wort Flirt erschien ihm sofort als die bei weitem leichteste Art, mit der Beziehung zum Ernsthaftesten umzugehen: Das „elle“ in „ avec elle“ bezeichnet den Tod. Tod in all seinen Formen, und nicht nur in den spezifischen des Krieges, in denen er sich heute aufdrängt.“ 1 Das „elle“ des Todes wird auch mit der Ukraine gleichgesetzt, die sich an die Stelle des lyrischen Subjekts setzt („l’Ukraine (…) se substitue à l’elle de flirt avec elle„). Der „Flirt“ ist hier keineswegs leichtfertig, sondern beschreibt die notwendige, aber unerträgliche Nähe und die intensive literarische Beziehung des Autors zu diesem Grauen. Der Krieg in der Ukraine schuf für sein Schreiben und sein Leben einen sehr engen Handlungsspielraum („marge de manœuvre très étroite“). Der Flirt steht für den Versuch, angesichts des Krieges die Grenzen der eigenen Dichtung zu verschieben („repousser les limites de mon écriture“) und eine methodische Zärtlichkeit („tendresse méthodique“) als Reaktion auf das unvorstellbare Leid, wie etwa die Vergewaltigung als Kriegswaffe, zu entwickeln.

Der Titel Ça va bien dans la pluie glacée ? (Geht es gut im eisigen Regen?) nun ist eine ironisch-rhetorische Frage, die Fourcades existenzielle Erschütterung durch den Konflikt zwischen Israel und Palästina im Oktober/November 2023 zusammenfasst, welcher die Grundlage des Buches bildet. Die „pluie glacée“ (eisiger Regen) fungiert als eine intensive, schmerzhafte Metapher für die allgemeine Katastrophe und den moralischen Zusammenbruch des Westens, der unter den Schlägen, die er sich selbst zufügt, in sich zusammenbricht („s’effondre sur lui-même sous les coups qu’il se porte en propre“). Das Bild der Kälte und der Nässe evoziert ein allumfassendes Leid und wird explizit mit dem Tod in Verbindung gebracht, wenn der Autor von einem „schwarzen Waschen von eisigem Regen und seinen Ertrunkenen“ („un lavis noir de pluie glacée et ses noyés“) spricht. Die lässige, fast banale Frage Ça va bien… ? kontrastiert scharf mit dieser unerbittlichen und tödlichen Umgebung, die der Autor als eine gegenseitige Blutdusche („une douche de sang réciproque“) beschreibt, die zu erleben sein Schicksal als Schriftsteller ist. Der Titel drückt somit die Desorientierung und das ungeschützte Ausgesetztsein in einem Moment des globalen Untergangs aus.

Obwohl alle drei Bücher das Grauen des zeitgenössischen Konflikts behandeln, unterscheiden sie sich primär in der Art der Konfrontation mit der Gewalt und der daraus resultierenden poetischen Strategie. Als Antwort auf einen singulären, überwältigenden Schock, der primär eine existenzielle und moralische Kaskade der Verantwortung auslöst, verbunden mit dem Zusammenbruch der Sprache. Als ethische Implosion der menschlichen Natur, ausgelöst durch ein mediales Zeugnis, und als Forderung einer radikalen, empathischen Ko-Identifikation mit Täter und Opfer als Methode, um die Gewalt zu verstehen. Als dauerhafte, fast journalistische Transkription des anhaltenden Kriegsalltags (flirt avec elle), die den Autor zwingt, die Form seiner Poesie zu erweitern, um der systematischen Natur der Gräueltaten und der existenziellen Forderung der Überlebenden gerecht zu werden. In allen Fällen agiert das Schreiben als Seismologie und „Bericht über den weltweiten Augenblick“ („rapport à l’instant mondial“), wobei die Gewalt stets als Katalysator dient, um die Grenzen der Poesie neu zu definieren und die Verletzlichkeit (vulnérabilité) des Autors als entscheidenden literarischen Akt festzuhalten.

In Ça va bien dans la pluie glacée ?, das als „Anti flirt avec elle“ beschrieben werden kann, äußert sich der Schrecken in der allgegenwärtigen Desorientierung und dem Verlust des Schutzraumes: Der Autor ist ständig in den Konflikt involviert und schreibt „von Gaza-Donzy Oktober 23“, wobei er sich in Gaza wähnt, mit einem Bett aus „Gravats und Glasscherben“. Die Gewalt ist nicht nur ein militärisches Ereignis, sondern ein Desaster („désastre“) und eine Sintflut („déluge“), die den gesamten Westen verschlingen, da die westliche Zivilisation unter den selbst zugefügten Schlägen zusammenbricht. Die schärfste Form des Schreckens ist die moralische Kapitulation und die schreckliche („épouvantable“) Transformation der Opfer (Opfer der Shoah) in Täter (die ein „carnage“ – Gemetzel – anrichten), wobei dasselbe „unerträgliche Vokabular“ verwendet werde. Der Autor muss sich existenziell von der einst geliebten eigenen Idee Israels lossagen und sucht angesichts der „lapidation“ und der „hurlements de douleur“ der Entführten einen Weg, um aus den Reihen der Mörder („hors du rang des meurtriers“) zu springen.

Der Umgang Fourcades mit Krieg, Gewalt und Schrecken in den drei Büchern zeigt eine Entwicklung von der existentiellen Verantwortung über die ästhetische Identifikation hin zur moralischen und zivilisatorischen Anklage.

Poetische Reaktion statt politischer Kommentar

Dominique Fourcades Ça va bien dans la pluie glacée ? erschien im Herbst 2024, wenige Monate nach den erneuten Eskalationen in Gaza. Das Werk ist keine Chronik, kein Essay über Politik, sondern eine literarische und sprachphilosophische Reaktion. Fourcade positioniert sich als Dichter, der aus der Unmöglichkeit, „richtig“ zu reagieren, eine Form schafft. Die Schrift reagiert nicht durch Analyse, sondern durch die Spannung zwischen Sprechen und Schweigen, Nähe und Distanz, Scham und Engagement. Der Text fragt, was Sprache leisten kann, wenn Gewalt und Geschichte sich gegenseitig blockieren.

Schon im frühen Abschnitt heißt es:

« je ne sais plus aimer. je ne sais plus où aimer. l’interdit a changé de camp : il n’est plus interdit de ne pas aimer l’Ukraine, il est interdit d’aimer ce qui se déchaîne en Israël/Palestine. »

Hier wird das emotionale und ethische Dilemma formuliert, das den gesamten Text durchzieht: die Unmöglichkeit, die eigene Empathie gerecht zu verteilen, ohne sich selbst moralisch zu verstricken. Der Satz folgt der Syntax des Zusammenbruchs – ohne Großbuchstaben, mit parataktischen Wiederholungen. Schon formal drückt sich hier eine fragmentierte Ethik aus: Literatur wird zum Raum der Zerrissenheit.

Dominique Fourcades Haltung zum Nahostkonflikt ist tief pessimistisch und von Verzweiflung geprägt, wobei er die Shoah als zentralen ethischen und politischen Bruch betrachtet. Sein Verständnis seiner Dichtung in Kriegs- und Krisenzeiten dient dabei als existenzielles Mittel des Widerstands und der Aufarbeitung dieser Brüchigkeit. Fourcades schärfste Kritik gilt der Zerstörung einer fundamentalen moralischen Hoffnung: Jener, dass das unermessliche Leid der Shoah die jüdische Bevölkerung für immer davon abhalten würde, selbst „zu Henkern zu werden“. Im Kontext der aktuellen Ereignisse im Konflikt (Oktober–Dezember 2023) sieht Fourcade diese Hoffnung als vollständig zerstört an. Er beobachtet eine „schreckliche Übersetzung“ von Opfern zu Tätern („bourreaux“), die sich tragischerweise des „demselben unerträglichen Vokabular“ der Schrecken bedient. Fourcade fordert, dass der Staat Israel „sein Antlitz ändern“ müsse.

Der zentrale und potenziell explosivste Teil der Rezeption konzentriert sich auf Fourcades Adaptation eines Zitats des Nobelpreisträgers Imre Kertész. Kertész, ein Überlebender der Shoah, definierte die post-Holocaust-Identität als eine universelle moralische Verpflichtung jenseits religiöser oder gemeinschaftlicher Zugehörigkeit. Fourcade übernimmt diese universalistische Definition und führt eine radikale ethische Transfusion durch. Die brisante Aussage lautet: „Nach der Shoah ist Jude zu sein, für mich, der ich es nicht bin, vor allem eine moralische Pflicht, die sich mir auferlegt. Ebenso heute Palästinenser zu sein, ohne aufzuhören, Jude zu sein“. Damit bedient Fourcade sich der Antwort, die Kertész 2006 auf die von Catherine David gestellte Frage „Quel Juif suis-je ?“ („Was für ein Jude bin ich?“) gab. Der Autor nutzt diese moralische Verpflichtung als Mittel zur Klärung eines wichtigen Kapitels im Chaos seines Lebens und im „Roman“ seines Schreibens. Indem Fourcade Kertész heranzieht, verortet er die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt fest in der post-Shoah-Moralität und dem intellektuellen Erbe, das die Shoah als einen unbedingten ethischen Bruch („rupture éthique inconditionnelle“) und eine höchste Verletzung der Menschenrechtserklärung („atteinte suprême à la Déclaration des droits de l’homme“) etablierte.

Die Notwendigkeit, in Zeiten des Krieges zu schreiben (ursprünglich ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine), ist für Fourcade eine existentielle Frage des Überlebens und des Kontakts zur Realität. Er bezeichnet seine Arbeit als eine Art „Tagebuch des Widerstands“ („journal de résistance“). Er sah sich gezwungen, sich „auf den Krieg einzustellen“ („se brancher sur la guerre“), da er glaubte, andernfalls zu sterben oder aufhören zu müssen. Seine Poesie dient dazu, in Momenten der Ausweglosigkeit – da Krieg, Liebe und Tod „ohne Ausweg“ („sans issue“) sind – eine Form der Evakuierung zu schaffen, die er als „Rutschen zur Evakuierung“ („toboggans d’évacuation“) beschreibt.

Fourcades dichterische Herausforderung besteht darin, die Simultaneität aller Lebensaspekte darzustellen. In seinem Werk treffen das Triviale und das Sublime, das „schmutzige Wäsche und die Quartette von Beethoven“ sowie das fließende Blut und die Kunst (etwa Cézannes Aquarelle) aufeinander. Das Ziel ist es, dieses gleichzeitige „Alles kommt zur gleichen Zeit“ in einer sequenziellen sprachlichen Form festzuhalten. Zudem ist das Thema der Wiederholung zentral. Die Erfahrung, dass die Kriege seiner Kindheit sich in Europa wiederholen, verstärkt das Gefühl des tragischen Zyklus. Sein literarisches Gesamtwerk versteht er unter dem Titel „L’exposé du temps présent“ (Die Darstellung der gegenwärtigen Zeit), womit er die akute Auseinandersetzung mit der moralischen und politischen Krise der Gegenwart zusammenfasst.

Sprache, Schuld und Zeugenschaft

Fourcade schreibt nicht „über“ den Konflikt, sondern „in“ ihm. Die literarische Geste ist Zeugenschaft, aber eine zögernde, tastende Zeugenschaft. Er nennt sich mehrfach einen „agent de l’étranger“:

« je reste agent de l’étranger. je ne peux pas parler autrement. »

Dieses „agent de l’étranger“ bezeichnet eine doppelte Bewegung – Fremdheit und Verantwortung. Das lyrische Ich ist Beobachter und Beteiligter zugleich. Es reagiert aus Europa, aus Frankreich, aus dem Bewusstsein kolonialer, religiöser, kultureller Schuld. Die Formel erinnert an Paul Celans Vorstellung des „Fremdsprechens“: nur die Sprache des Fremden kann eine Sprache der Wahrheit sein, weil sie von der Gewalt getrennt bleibt.

Die poetologische Konsequenz daraus ist eine Sprache, die sich gegen jede Glättung wehrt. Fourcade nutzt kurze, ruckartige Sätze, Auslassungen, Ellipsen. Der Text atmet Diskontinuität. So wird das Fragmentarische selbst zur ethischen Form: Es weigert sich, den Konflikt zu ordnen oder zu ästhetisieren.

Zugleich tritt immer wieder Scham auf – Scham des europäischen Intellektuellen, der das Leid „von außen“ betrachtet. In einer Passage heißt es:

« nous regardons la pluie tomber sur Gaza depuis les écrans ; on se sent lavé, mais c’est un lavage impur. »

Das Bild der „pluie glacée“ des Titels wird hier konkretisiert: Regen als Reinigung, aber „impur“ – verunreinigt, weil das Sehen passiv bleibt. Literatur reagiert, indem sie diese Passivität reflektiert, nicht indem sie sie verleugnet.

Gaza, der Wall, die Durchquerung

Ein zentrales Motiv des Textes ist das Durchqueren von Grenzen. Fourcade schreibt:

« j’entre dans Gaza. j’entre dans Gaza à partir d’Israël, après être entré en Israël à partir de Gaza. je suis le même homme dans chaque cas. »

Diese Wiederholung der Bewegung – hinein, hinaus, wieder hinein – bricht jede Vorstellung fester Identitäten auf. Die Grenze zwischen Täter und Opfer, Innen und Außen, Israel und Gaza wird poetisch aufgehoben, nicht um sie zu verwischen, sondern um sie in ihrer Brutalität fühlbar zu machen. Der Text zwingt den Leser, die Perspektive zu wechseln, ohne sich je niederzulassen.

Formal geschieht dies durch rhythmische Parallelismen. Das „je“ ist nicht stabil, sondern wird durch seine Bewegung definiert. Die Struktur spiegelt den Versuch, den „anderen Raum“ zu betreten, wissend, dass dies nur symbolisch möglich ist.

Fourcade verknüpft die Grenze mit der Erfahrung des Körpers. Der Betonwall – „le mur, la paroi de la mort“ – wird zur Metapher des Abgetrennten, Erstarrten. Dem gegenüber steht das Bild aus Tanya Habjouqas Fotografie Occupied Pleasures, das er beschreibt:

« une jeune femme, tête nue, lance un javelot. derrière elle, le mur. elle rit. »

Diese Szene wird zur Ikone des Widerstands. Die junge Frau – nackt im Sinne von ungeschützt – verkörpert die Vitalität, die inmitten der Besatzung fortbesteht. Fourcade interpretiert diese Geste als eine Form des poetischen Wurfs:

« le javelot, c’est le vers. il traverse l’air, il fend l’interdit. »

Hier verknüpft sich die poetische und politische Dimension direkt. Das Gedicht selbst wird zum Speer, der die Grenze durchstößt, aber nicht zerstört. Die Metapher des „javelot“ verleiht der Literatur Handlungsmacht – nicht als Waffe, sondern als Bewegung, als Projektion von Stimme und Hoffnung.

Intertextuelle Ethik: Kafka, Genet, Dickinson

Fourcade reagiert nicht mit politischen Argumenten, sondern mit literarischen Bezugnahmen. Diese Intertextualität ist keine Dekoration, sondern eine ethische Strategie: sie zeigt, dass Literatur nur im Dialog mit anderen Stimmen sprechen kann.

Eine Schlüsselstelle zitiert Franz Kafka:

« faire le bond hors du rang des meurtriers ».

Dieser Satz aus Kafkas Tagebuch wird zu einem Leitmotiv des Buches. Fourcade kommentiert:

« nous n’avons pas sauté. nous sommes restés au rang. et écrire n’a pas suffi. »

Das Eingeständnis, dass Literatur allein den Sprung nicht vollzieht, ist zugleich ihre Rechtfertigung: sie hält das Bewusstsein dieser Schuld offen. Die Reflexion über das Scheitern wird zur Form der Verantwortung.

Daneben erscheinen Jean Genet und Emily Dickinson. Genet steht für den Schriftsteller, der sich radikal auf die Seite der Entrechteten stellt – „Genet à Gaza, c’est un impossible retour“. Dickinson verkörpert die Innenschau, das leise, fast hermetische Gedicht als Schutzraum. Fourcade balanciert zwischen beiden: der ekstatischen Solidarität und der introvertierten Zartheit.

Er schreibt:

« je voudrais être Emily à Gaza, écrire à la fenêtre, regarder le mur se dissoudre dans la lumière. »

Dieser Wunsch ist utopisch und zugleich verzweifelt. Die Metapher des „Fensters“ – ein wiederkehrendes Motiv – symbolisiert die Sehnsucht nach Durchsicht, aber auch die Trennung zwischen Beobachter und Geschehen.

So wird Intertextualität zu einem moralischen Verfahren: Literatur reagiert auf Gewalt, indem sie andere literarische Körper heraufbeschwört, die das Sprechen erst ermöglichen.

Shoah und Israel als moralisches Spannungsfeld

Ein besonders heikler Teil des Textes betrifft die Reflexion über Israel, die Shoah und das Erbe jüdischen Leidens. Fourcade bewegt sich hier auf einer Linie zwischen Empathie und Kritik. Er schreibt:

« le judaïsme m’a appris la parole, mais Israël m’apprend le silence. »

In diesem Satz kulminiert die Spannung zwischen religiöser Bewunderung und politischer Enttäuschung. „Parole“ steht für die schöpferische Kraft der Sprache, „silence“ für die moralische Erschütterung angesichts von Gewalt, die im Namen des Überlebens geschieht.

Er fährt fort:

« on n’a pas survécu à Auschwitz pour construire un autre camp. mais qui suis-je pour le dire ? »

Die Selbstbefragung („qui suis-je ?“) entzieht der Anklage ihre Selbstgerechtigkeit. Das Ich will nicht richten, sondern sich mitschuldig wissen. Literatur reagiert hier durch Selbstrelativierung – sie hält die Spannung zwischen moralischem Impuls und erkenntnistheoretischer Demut.

Fourcade arbeitet dabei mit der historischen Erinnerung als moralischer Folie. Die Shoah erscheint nicht als abgeschlossenes Ereignis, sondern als Maßstab für das gegenwärtige Handeln. Das Paradox: Wer sich auf das Opfer-Sein beruft, kann selbst zum Täter werden. Der Text benennt dieses Paradox nicht abstrakt, sondern existenziell: im Ton von Scham, Trauer und Verzweiflung.

Die dichterische Sprache – knapp, stoßweise, ohne rhetorische Entlastung – ist dabei entscheidend. Jeder Satz wirkt wie ein Sturz. So entsteht eine Ethik der Form: Nicht die Aussage allein trägt Bedeutung, sondern die gebrochene Syntax selbst ist Reaktion auf das moralische Ungeheuerliche.

Der Autor reflektiert seinen tiefen Pessimismus und stellt fest:

« je me dis ceci (et ne le dis qu’à moi-même en pleurant de détresse) : le plus irréparable causé par la Shoah aura été la fondation d’Israël dans la forme où il a été fondé. […] j’en éprouve encore l’horreur et le remords. je sais au milieu du jour, là, tandis que j’écris, et je saurai toute la nuit que la Shoah est l’atteinte suprême à la Déclaration des droits de l’homme sur laquelle tout repose, pour nous Occidentaux, ou devrait reposer, depuis 1789. »

„ich sage mir dies (und sage es nur mir selbst unter Tränen der Verzweiflung): Das Unwiederbringlichste, was durch die Shoah verursacht wurde, war die Gründung Israels in der Form, in der es gegründet wurde. […] ich empfinde immer noch das Entsetzen und die Reue. ich weiß mitten am Tag […] dass die Shoah der höchste Angriff auf die Erklärung der Menschenrechte ist, auf der für uns Westliche alles beruht, oder beruhen sollte, seit 1789.“

Dieser Auszug enthüllt die radikalste und schmerzhafteste Schlussfolgerung des Autors: Er betrachtet die Shoah nicht nur als historisches Verbrechen, sondern auch deren unwiederbringlichste Folge als die Gründung des Staates Israel in seiner spezifischen Form. Der Autor, der sein ganzes Leben Empathie für das den Juden in Europa im 20. Jahrhundert zugefügte Leid empfand, sieht die Gründung Israels als einen tragischen Rückschritt. Er argumentiert, dass dieser Staat nicht hätte gegründet werden dürfen, zumindest nicht als ein Staat, dessen Kriterien auf der Dominanz einer Gemeinschaft und Konfession (der jüdischen Gemeinschaft) beruhen und der schrittweise jeder anderen Gemeinschaft Raum und Atem nimmt. Für ihn stellt die Shoah den „höchsten Angriff“ auf die 1789 formulierte Erklärung der Menschenrechte dar, welche die Grundlage westlicher Moral und Politik bilden sollte. Indem er die Shoah mit der Gründung Israels in Verbindung bringt und diese als ethisch verfehlt kritisiert, drückt er seinen totalen Pessimismus aus, auch wenn er betont, dass der existierende Staat nicht ausgelöscht werden dürfe, sondern sein Antlitz ändern müsse.

Ästhetische Konsequenzen: Form, Fragment, Delikatesse

Fourcades Poetik basiert auf der Überzeugung, dass die einzige adäquate Reaktion auf Katastrophe Delikatesse ist – eine Zartheit, die weder ästhetisiert noch abstumpft. Er schreibt:

« la délicatesse est politique : elle refuse l’écrasement. »

Diese „politische Delikatesse“ ist eine Ethik des Tons. Der Text meidet große Gesten, vertraut auf Leerräume, Pausen, Wiederholungen. Gerade die formale Zurückhaltung – die Weigerung, Pathos zu erzeugen – wird zu einer Haltung der Würde.

Die Struktur des Buches ist nicht linear, sondern mosaikartig. Kurze Prosasegmente wechseln mit poetischen Einschüben, Reflexionen, Zitat-Fragmenten. Diese Form spiegelt das zerbrochene Verhältnis von Sprache und Welt. Das Werk liest sich wie eine fortgesetzte Meditation, in der jeder Gedanke sofort in Frage gestellt wird.

Ein Beispiel:

« j’écris pour ne pas comprendre. comprendre serait trahir. »

Das paradoxe Verhältnis von Schreiben und Verstehen bringt die Ethik der Negativität auf den Punkt: Literatur soll nicht erklären, sondern offenhalten. In dieser Haltung liegt die Reaktion auf den Nahostkonflikt – nicht im Diskurs, sondern in der Weigerung, das Unfassbare zu domestizieren.

Gleichzeitig arbeitet Fourcade mit einer visuellen und klanglichen Ästhetik: Wiederkehrende Motive wie „pluie“, „mur“, „javelot“, „voix“, „fenêtre“ strukturieren die Wahrnehmung. Die Worte werden zu ikonischen Trägern von Erfahrung. Diese Bildsprache verbindet die konkrete politische Realität (Regen, Mauer, Körper) mit einer poetischen Transzendenz.

So entsteht eine doppelte Ebene: das Schreiben als Wahrnehmung der Welt und das Schreiben als moralische Übung. Beide verschmelzen in einer Poetik der attention – einer wachen, behutsamen Aufmerksamkeit.

Literatur als Ort der Verantwortung

Fourcade reagiert auf den Nahostkonflikt, indem er die Möglichkeiten und Grenzen von Literatur auslotet. Er liefert kein Urteil, sondern ein Modell ethischer Wahrnehmung. Sein Schreiben ist ein Versuch, die Welt nicht zu beherrschen, sondern zu bezeugen.

Am Ende des Buches heißt es:

« je n’écrirai pas pour la paix. j’écrirai pour que la guerre ne soit pas seule à parler. »

Dieser Satz fasst die ästhetisch-ethische Programmatik zusammen. Literatur soll nicht die Illusion einer Versöhnung erzeugen, sondern das Monopol der Gewalt auf Sprache brechen.

Damit stellt Fourcade sein Werk in die Tradition einer „écriture du témoin“, die von Celan über Blanchot bis zu Jorie Graham reicht. Doch im Unterschied zu diesen Stimmen betont er die Gleichzeitigkeit von Scham und Schönheit, von Analyse und Atem. Ça va bien dans la pluie glacée ? ist kein moralisches Manifest, sondern eine fragile Geste, die zeigt, dass Verantwortung in der Art zu sprechen liegt.

Seine Reaktion auf den Nahostkonflikt ist daher in erster Linie poetologisch: Sie zeigt, wie sich Ethik in Syntax verwandelt. Das kurze, ruckende „je“, die Sprünge zwischen Perspektiven, die tastenden Wiederholungen – all das ist nicht formale Eigenart, sondern moralische Handlung.

Literatur kann die Gewalt nicht stoppen; sie kann aber verhindern, dass sie sprachlos bleibt. Fourcade schreibt aus der Kälte („pluie glacée“) heraus und zeigt, dass diese Kälte selbst – die Distanz, das Zittern – vielleicht der einzige Raum ist, in dem noch Menschlichkeit entsteht.

Zum Folgeband voilà c’est tout (2025)

Im letzten Abschnitt von Ça va bien dans la pluie glacée?, kurz vor der Angabe des Zeitraums, aus dem die Texte stammen, reicht der Autor zwei paläolithische Klingen („deux lames paléolithiques“) – zwei Faustkeile („bifaces“) – als „Silexe des Gewissens“ (silex de conscience) und Zitate. Diese dienen der Erinnerung und der Hoffnungslosigkeit gleichermaßen: Ein Zitat von Nietzsche aus Jenseits von Gut und Böse, das vom „großen Stil in der Moral“ spricht, den Europa den Juden verdankt. Ein weiteres Zitat aus der Bibel (Genesis Kapitel XII, Vers 6), in dem Abraham bei seiner Ankunft im Verheißenen Land die Anwesenheit eines anderen Volkes – die Kanaaniter – anerkennt und sich selbst nur als „Ger“ (wörtlich: Migrant) betrachtet. Die letzten Worte des eigentlichen Textes sind eine Frage der Trauer und der Verpflichtung gegenüber diesen moralischen und historischen „Zitaten“: Bin ich der Einzige / in meiner Trauer / ihn beim Wort zu nehmen / Oktober–November–Dezember 2023.

« suis-je le seul / dans mon deuil / à le prendre au mot / octobre-novembre-décembre 2023 »

Fourcades Gedichtband voilà c’est tout (2025) ist als Fortsetzung und zugleich als Ende („la suite, en tout point la suite et la fin“) des Bandes ça va bien dans la pluie glacée ? (2024) konzipiert und befasst sich auf einer metapoetischen Ebene mit der Autorschaft, der Angst und der Erfahrung der Epoche, wobei er inhaltlich die tragische und tödliche Situation zwischen Israel und Palästina reflektiert. Der Dichter stellt fest, dass das neue Werk nicht vom selben Verfasser stamme, da die Identität eines Autors niemals statisch sei und sich der Schieberegler der Angst („le curseur de l’angoisse“) sowie das Verhältnis zur Zeit und der Liebe ständig verschieben. Die gegenwärtige Erfahrung der Epoche beeinflusst die Schrift unerbittlich, indem sie diese beugt und zerreißt. Das Buch repräsentiert daher die Art von Poesie, die der Autor versucht („la sorte de poésie que je tente“), die aber weit von der Poesie entfernt ist, die er erhoff. Hierbei wird das Wort selbst als ein Modus des Femininen („mode du féminin“) identifiziert, und die menschliche Grundsituation wird als die des Verlassenseins beschrieben, obwohl alles nur eine Frage des Kontakts sei.

Die konkrete Auseinandersetzung beginnt mit dem Titel eines Kapitels, in dem der Autor die Epoche als tötend und tötend („tueuse, et tuante“) bezeichnet, und sich dem Konflikt mit der Feststellung nähert, dass die Situation tragischer denn je sei. Ein bewegendes, fast märchenhaftes Bild der geteilten Menschlichkeit liefert der Abschnitt „Israël / Palestine refrain pour les deux pays“: Ein Soldat, der ein Freund eines feindlichen Soldaten war, wird tot nahe dessen Grab gefunden, und jeder trug in seiner austauschbaren Uniform („treillis interchangeable“) eine Nuss und das Wort „prairie“. Dieser kurze Text, den der Autor selbst gerne verfasst hätte, wird einer anonymen und säkularen Stimme zugeschrieben, deren Entstehung zwischen Mai 1948 und Dezember 2023 angesetzt wird.

Fourcade bedient sich einer expliziten Überblendung der politischen und militärischen Dominanzverhältnisse im Nahostkonflikt in eine klassische Geschlechterdichotomie, um die existenzielle Tragik der Situation zu verdeutlichen. Der Autor stellt fest, dass Israel der „mâle dominant“ (der dominante Mann) ist, während Palästina die „dominée“ (die Dominierte) darstellt. Der Autor verknüpft die Möglichkeit einer Lösung direkt mit dieser geschlechtsspezifischen Analyse, indem er seinen Wunsch äußert, dass Israel an Femininität gewinnt („gagne en féminité“), da dies einen Teil des Problems lösen würde. Die tiefe emotionale Bindung zu Palästina, der dominierten Seite, wird zugleich in einer zutiefst femininen Sprache artikuliert, die in der dringlichen, fast rituellen Bitte gipfelt. Diese Geschlechtercodierung korrespondiert mit der Poetik des Autors selbst, da das Wort generell als ein Modus des Weiblichen („mode du féminin“) definiert wird.

Der Dichter bekräftigt seine tiefe Liebe zu Palästina, die durch die Trümmer („les décombres“) gefestigt wurde, und nennt bedeutende Fürsprecher wie Jean Genet, Mahmoud Darwich und Edward Saïd. Dennoch erklärt er, er würde diese Liebe sofort aufgeben, sollte Palästina zu einem dominanten Staat werden; es sei jedoch auch alles andere als einfach, aufzuhören, Israel zu lieben. Angesichts des Ausmaßes des Schreckens („l’étendue de l’horreur“), den Israel laut Fourcade derzeit zufügt, ist es dem Autor unmöglich, eine gleichlautende Bitte an Israel zu richten. Er fleht jedoch Palästina an, ihm in diesem Unglück eine Tasse Bitterorangenmarmelade aufzubewahren, ihn den Duft von Kirschlorbeer riechen zu lassen und vor allem, ihm zu erlauben, ihre Regeln unter dem Mond zu trinken („laisse-moi boire tes règles sous la lune“). Mit Blick auf die Zerstörung in Gaza befürchtet der Autor, dass die Menschheit erneut in eine Periode eingetreten ist, in der sie periodisch ein Bad in Blut benötigt, wie von Marguerite Yourcenar in Mémoires d’Hadrien beschrieben.

Das grundlegende Thema, das das Schicksal der Nationen prägt, ist laut Fourcade die Angst, „zu Hause zu sein“ („l’être chez soi“). Israel habe seine eigene Angstpartitur in Form von Stärke interpretiert und dabei die der anderen ausgeschlossen, wodurch es nun im Schraubstock seiner eigenen Kraft gefangen sei. Die entscheidende Erkenntnis des Auszugs lautet, dass es auf dieser Erde niemals ein Zuhause geben wird, wenn es nicht mit dem Anderen geteilt wird. Als lebendiges, wenn auch derzeit unerreichbares, Beispiel für diesen gemeinsamen Raum („espace commun“) führt der Autor die Gründung des Divan-Orchesters durch Edward Saïd und Daniel Barenboim an, welche auf der universellen Sprache der Musik beruhte und die Überzeugung nährt, dass diese Form des Teilens zurückkehren und Bestand haben kann.


Anhang: Zu den Teilen von ça va bien dans la pluie glacée ?

Hippopotamus-Pakt und die doppelte Untersagung

Dieser erste Teil etabliert Fourcades existenzielle Krise und seinen poetischen Referenzrahmen. Sein Modell ist das prädynastische Hippopotamus, das auftaucht, um durch einem madenpickenden Tier von seinen Parasiten – in Wahrheit seinen Ängsten – befreit zu werden, was niemals gelingt. Dieses Bild symbolisiert die unlösbare, fundamentale Notlage des Autors. Die „doppelte Untersagung“ im Oktober 2023 – das Verbot, die Ukraine nicht zu lieben, und das Verbot, das Geschehen in Israel/Palästina zu lieben – definiert die moralische und geographische Krise, aus der heraus er schreibt: „Gaza-Donzy octobre ’23“.

Die akute Situation wird als eine gemeinsame „Dusche der Not“ („douche de détresse“) beschrieben, die der sich selbst zerfleischende Westen über sich ergehen lässt. In dieser Situation erinnert er an den zentralen Gedanken Kafkas, dass die Literatur die Möglichkeit biete, „einen Sprung aus den Reihen der Mörder“ („bond hors du rang des meurtriers“) zu wagen. Fourcade hält diesen Sprung für die einzig notwendige Handlung kurz vor dem Ende. Seine Dichtung, die sich in diesem Kontext neu erfindet, wird zu einem existenziellen Akt, der dem Autor das Überleben ermöglichen soll, auch wenn er befürchtet, nicht mehr die Kraft für diesen existenziellen Widerstand aufbringen zu können.

Das Desaster und die Intelligibilität der Ruinen: Blutdusche und Schreibakt: Die Logik des reziproken Tötens

Fourcade definiert seine Dichtung in der Krise als „Prozess des Eintauchens“ („processus d’immersion“) und als Möglichkeit, das Desaster intellektuell fassbar (intelligible) zu machen. Er vollzieht eine radikale Gleichsetzung der leidenden Parteien, indem er betont, derselbe Mann zu sein, der aus Israel nach Gaza und aus Gaza nach Israel eintritt, und erlebt die Krise als eine „wechselseitige Blutdusche“ („douche de sang réciproque“), die den Westen verschlingt. Das Schreiben ist ein „Akt-Beobachtung“ und eine physische Realität, die das Triviale (Promiskuität im Schutt) und das Absolute des Schreckens zusammenführt.

Der Autor sieht das aktuelle Geschehen als ein „laufendes Ereignis-Gedicht“ („événement-poème qui est en cours“), das die Wiederkehr alter Tragödien (wie die der Kriege in seiner Kindheit) markiert. Angesichts der Gewalt – sowohl der realen als auch der symbolischen, die ihn in Gaza als „Agent des Auslands“ („agent-de-l’étranger“) identifiziert und steinigen will – postuliert Fourcade, dass in dieser „Logik des reziproken Tötens“ es keine Unschuldigen gibt. Dennoch bleibt für ihn, der sich moralisch verpflichtet fühlt, „Palästinenser zu sein, ohne aufzuhören, Jude zu sein“, die Kraft des Schreibens selbst unzerstörbar.

Das Unwiederbringlichste

Dieser Teil des Textes ist geprägt von „totalem Pessimismus“ und kulminiert in der scharfen moralischen Verurteilung, dass die Gründung Israels in seiner spezifischen Form das „unwiederbringlichste“ („irréparable“) Resultat der Shoah sei. Fourcade bekräftigt seine lebenslange Empathie für das Leid der Juden im 20. Jahrhundert, sieht jedoch in der Staatsgründung einen fatalen Rückschritt: Die Shoah selbst sei der „höchste Angriff auf die Erklärung der Menschenrechte“ von 1789, während die Gründung Israels auf der Dominanz einer Gemeinschaft beruhe, die anderen Raum und Atem nehme. Er fordert daher vehement, dass der existierende Staat „sein Antlitz ändern“ müsse.

Paradoxerweise beleuchtet der Autor über einen Austausch mit Hadrien France-Lanord auch die positive globale juristisch-ethische Konsequenz der Shoah. Das „unbedingte ethische Zerbrechen“, das die Shoah darstellte, habe die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 erzwungen. Dieser Text führte das ethische Konzept der Würde („dignité“) in die Rechtstexte der UNO ein. Fourcade stellt fest, dass die Gründung Israels (Mai 1948) diese fortschreitende globale moralische Reflexion nicht berücksichtigte. Der Autor postuliert ferner die Notwendigkeit der „Philia“ (Freundschaft) als notwendige nicht-juristische Grundlage für das politische Zusammenleben.

Lippen auf Betonwänden

Die Suche nach einem „unerwarteten, spezifisch palästinensischen Aktuellem“ führt Fourcade in die Kunst. Er findet es in Tanya Habjouqas Fotografie „Occupied Pleasures“, welche eine palästinensische Speerwerferin („lanceuse de javelot“) vor der Grenzmauer zeigt. Der Titel, „Besetzte Vergnügen“, symbolisiert die Illegitimität der Freude und die ständige Besetzung des Körpers und Geistes durch die omnipräsente Unterdrückung, wobei Zeit und Raum als begrenzt und alles als unerlaubt empfunden wird. Als Gegenbild zu dieser Mauer des Todes schlägt Fourcade vor, das universelle Matisse-Zeichen der Lippen auf die Betonwände zu projizieren, um zur „Parole und zum Begehren“ zurückzukehren und eine unkontrollierbare Form des Friedens zu initiieren.

Der Abschnitt schildert den traumatischen Akt der Trennung des Autors vom Staat Israel, der als ein „unbarmherziges Schreib-Rendezvous“ beschrieben wird. Diese Trennung, die er mit der schweren Aufgabe vergleicht, einem geliebten Wesen das Ende der Liebe mitzuteilen, resultiert aus der Zerstörung einer fundamentalen Hoffnung. Fourcade beklagt die „schreckliche Übersetzung“ von Opfern zu Henkern („bourreaux“), die unter Verwendung des „demselben unerträglichen Vokabular“ des Schreckens geschieht. Die ursprüngliche Identität Israels, die durch die „unsagbare Angst und das Leid“ der Shoah hätte eine „unendliche Güte“ erwarten lassen, ging nach Fourcade verloren, da die Staatsgründung auf der Lüge („Ein Volk ohne Land für ein Land ohne Volk“) beruhe.

Flucht der Skarabäen

Im Angesicht des eskalierenden Konflikts in Gaza, wo das Gebiet in 2400 Blöcke geteilt und die Bevölkerung zur Evakuierung gezwungen wird, lehnt Fourcade die „Sprachelemente“ („éléments de langage“) der Politiker als obszön und zynisch ab. Er kontrastiert diese mit den „völlig unverständlichen“ Schreien der israelischen Geiselfamilien, die er als Ausdruck „extremer, durch und durch menschlicher Wildheit“ empfindet und mit der er sich zutiefst verbunden fühlt. Für die traumatisierten Kinder sucht er nach einer „sinnlichen musikalischen, säkularen Taktgebung“ („scansion“) als Grundlage einer erzieherischen Zartheit, um das Grauen erträglich zu machen.

Ein intensives symbolisches Bild ist die Flucht Zehntausender Skarabäen („scarabées“) aus Gaza in Richtung Ägypten, die ein dichtes, dunkles, biblisches Symbol der Massenbewegung bilden. Fourcade schließt sich im metaphorischen Sinne dieser Masse an, indem er unter dem Grenzzaun gräbt, um seine eigene Spur zu verlieren. Er findet Halt in den Worten Martin Bubers von 1947, der eine binationale Struktur und Autodetermination für beide Völker forderte, die die Dominanz des einen ausschließt. Abschließend bietet Fourcade zwei „Feuersteine des Gewissens“ („silex de conscience“) als moralisches Vermächtnis an: Einerseits Nietzsches Anerkennung des „großartigen Stils in der Moral“ („grand style dans la morale“), den Europa den Juden verdankt, und andererseits die Passage aus der Genesis (XII:6), in der Abraham bei seiner Ankunft anerkennt, dass die Kanaaniter bereits im Land sind, wodurch er die Grundlage für ein Zusammenleben als Migrant anstelle des exklusiven Besitzes legt.

Anmerkungen
  1. Verlagsankündigung P.O.L.>>>

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