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Die Verleihung des Prix Goncourt im Jahr 2024 für seinen Roman Houris führte zu heftigen Angriffen gegen Kamel Daoud. Der Autor schreibt, dass dieser Preis die Wiederbelebung des Verräter-Stereotyps mit „beispielloser Gewalt“ („violence inouïe“) in der islamistisch-konservativen Presse zur Folge hatte. Die Presse verwendete sogar die unvollkommene Homonymie seines Namens (Daoud) mit dem des mythischen Verräters Colonel Bendaoud bis zur Übertreibung, um ihn zu diskreditieren. Die Attacken dienten dazu, ihm erneut das Etikett des Abtrünnigen („renégat“), Dissidenten und Deserteurs anzuheften, weil er das „Wir“ für das ewig französische „sie“ („eux“) verlassen habe. Die polemische Verteidigung der Freiheit und Pluralität in Il faut parfois trahir kann als direkte und tiefgreifende intellektuelle Reaktion auf diese erneuten Diffamierungen und die damit verbundene identitäre Orthodoxie verstanden werden.
Kamel Daouds Abhandlung Il faut parfois trahir (Gallimard, 2025) stellt eine leidenschaftliche thesenhafte Verteidigung des Universalismus und der individuellen Freiheit dar und rechnet scharf mit jenen Kräften ab, die er als Hüter der nationalen Erstarrung und des Identitätskults ansieht. Die Argumentation entwickelt sich um die paradoxe Umkehrung des Begriffes „Verrat“, der zum Vehikel der Befreiung wird.
Die Theologie des Verrats: Eine notwendige Befreiung
Der Titel Il faut parfois trahir (Manchmal muss man verraten) ist Programm und These zugleich. Daouds Verrat ist kein moralischer Fehltritt, sondern ein Akt der Bewegung, der Erkenntnis und des Wagemuts. Er selbst hofft, ein Verräter zu sein, um ein würdiger Vorfahr zu werden. Der Autor rechtfertigt dies mit der historischen Notwendigkeit, Stagnation zu überwinden, und argumentiert, dass Verrat die Wahrheit offenbart. Er schreibt:
Suis-je donc un traître ? Peut-être que oui, mais je m’en console en feuilletant les livres d’histoire : tous les héros ont trahi l’immobilité. Tous les prophètes devaient trahir leur époque et un désert jaloux. Dans la nuit, tous les éclaireurs se voient obligés de trahir la lenteur des leurs. Tous les hommes ont dû trahir la peur.
Bin ich also ein Verräter? Vielleicht ja, aber ich tröste mich, indem ich die Geschichtsbücher durchblättere: Alle Helden haben die Immobilität verraten. Alle Propheten mussten ihre Epoche und eine eifersüchtige Wüste verraten. In der Nacht sehen sich alle Pfadfinder gezwungen, die Langsamkeit der Ihren zu verraten. Alle Menschen mussten die Angst verraten.
Daouds Verrat ist somit der Preis für die Freiheit und die Aufrechterhaltung des Realen gegen das Imaginäre. Er sieht im Verrat eine Form der Übersetzung: „trahir, c’est traduire“ (Verraten heißt übersetzen, wohl aus dem Italienischen: „traduttore, traditore“). Die Interpretation besagt, dass Verrat gleichbedeutend mit Enthüllung, Klärung, Wagen und sich auf das Unbekannte einlassen ist. Dieser Verrat ist auch die „Desertion“ vom Stillstand des „Wir“.
Der Kult der Toten und die Ablehnung des Einzelnen
Daoud richtet sich vehement gegen Intellektuelle des Südens, die sich im ewigen Zustand des Dekolonisierens wähnen und die Geschichte auf ein Fragment des eigenen Leidens reduzieren. Die Identität wird bei seinen Gegnern aus dem Kult der Toten abgeleitet, während Daoud die Lebenden verteidigt. Er kritisiert das Verharren in der Erinnerung:
Or, la mémoire n’est pas une maison, mais un chemin. On la traverse pour interroger, pas pour demeurer.
Nun ist aber die Erinnerung kein Haus, sondern ein Weg. Man durchquert sie, um Fragen zu stellen, nicht um zu verweilen.
Er fordert, dass man die Gegenwart liebt und verteidigt die Ernten gegen jene, die nur die Wurzeln („racines“) kennen wollen. Anstatt sich von den Gebeinen der Toten („ossements des morts“) definieren zu lassen, muss man sich durch das Fleisch der Lebenden („chair des vivants“) beweisen. Diese Ablehnung der nekrophilen Vergangenheitsfixierung ist die Voraussetzung für jeglichen Fortschritt.
Die Forderung nach Pluralität und Emanzipation
Daouds Forderungen sind direkte Gegensätze zu den Dogmen seiner Gegner. Er bekennt sich zur Pluralität der Erkenntnis und zur mehrsprachigen Identität:
Contre ceux qui supposent qu’un livre suffit pour expliquer le monde, j’ai opté pour mille livres pour garder au monde le droit au dernier mot. Les hommes d’un seul livre ne sont jamais affranchis.
Gegen diejenigen, die glauben, dass ein einziges Buch ausreicht, um die Welt zu erklären, habe ich mich für tausend Bücher entschieden, damit die Welt das letzte Wort behält. Menschen, die nur ein einziges Buch kennen, sind niemals frei.
Er verteidigt seine eigenen drei Sprachen als Fenster, die sein Haus erhellen. Vor allem aber fordert Daoud die Emanzipation der Frau als notwendige Bedingung für die Freiheit des Volkes:
J’ai répété mille fois : ‚lorsque les femmes sont emprisonnées, les hommes se retrouvent condamnés‘.
Ich habe tausendmal wiederholt: ‚Wenn die Frauen eingesperrt sind, finden sich die Männer verurteilt.‘
Daouda fordert, dass man anstelle eines blinden Glaubens sich zum Hinterfragen („interrogation“) anstelle des blinden Glaubens wendet. Er strebt eine Literatur der Verkündigung („littérature de l’annonciation“) an, nicht der Denunzierung oder des Verzichts.
Der Gegner: Die Ideologie der Arabité und die Hasser
Daouds Hauptgegner sind die algerischen Konservativen, Islamisten und Identitären, die das Monopol auf die „reine“ Identität beanspruchen. Sie bezeichnen jeden, der universelle Werte wie Modernität, Gleichheit der Geschlechter oder Pluralität befürwortet, als Verräter, weil diese Werte als unwiderruflich französisch („irrémédiablement françaises“) abgestempelt werden. Diese Identitätswächter behaupten, dass Frankreich zu hassen ein Glaubenssatz sei („haïr la France est une croyance“), und sie nutzen die ideologisierte Arabité als politisches Herrschaftsinstrument.
Ein zentrales rhetorisches Werkzeug seiner Gegner ist der Mythos des Colonel Bendaoud, des ersten algerischen Saint-Cyr-Absolventen. Sie reanimieren die mythische und apokryphe Erzählung: Ein Araber bleibt ein Araber, selbst wenn er Colonel Bendaoud heißt! („Un Arabe reste un Arabe, même s’il s’appelle le colonel Bendaoud!“) Dieser Satz wird verwendet, um die Unmöglichkeit der Assimilation und die Unausweichlichkeit der arabischen Identität zu beweisen. Dieser mythische Verrat des Bendaoud, der dem Verrat des Judas in der „Cène“ (Abendmahl) ähnelt, dient dazu, jeden Bruch mit der nationalen Einstimmigkeit (unanimité) als ewige Schande zu brandmarken. Dadurch wird die Geschichte in einem einzigen, unbeweglichen Augenblick erstarrt. Daoud dechiffriert dies als politischen Akt:
L’arabité, telle qu’imaginée en Algérie, achève dans cette scène totémique la démonstration de sa vérité que contestent la réalité algérienne et ses histoires…
Die Arabité, wie sie in Algerien imaginiert wird, vollendet in dieser totemistischen Szene die Demonstration ihrer Wahrheit, welche die algerische Realität und ihre Geschichten in Frage stellen…
Der Konflikt zwischen Einheitlichkeit und Pluralität
Daouds gesamte Argumentation basiert auf der Gegenüberstellung von erzwungener Einheitlichkeit im Süden und der befreienden Pluralität im Norden.
Die Vereinheitlichung (unité/unanimité) wird im Maghreb als eine wilde Versuchung der Einheit („tentation féroce de l’unité“) gelebt, die monoton, einstimmig und identitär ist. Diese Einheit baut auf dem Prinzip des Dagegen („Contre“) und der Verweigerung auf. Daoud beschreibt die Haltung des Südens:
Au Sud s’affirme aujourd’hui la tentation féroce de l’unité. Nous devons faire front, crie le leader, être unis, exprimer une seule voix, former un seul corps, être le « nous », incarner la même personne.
Im Süden bekräftigt sich heute die wilde Versuchung der Einheit. Wir müssen Front machen, schreit der Anführer, vereint sein, eine einzige Stimme ausdrücken, einen einzigen Körper bilden, das „Wir“ verkörpern, dieselbe Person inkarnieren.
Diese Forderung nach Einstimmigkeit tötet den freien Willen.
Im Gegensatz dazu ist die Pluralität untrennbar mit dem Verrat verbunden, da sie die starre Einheit aufbricht. Die Pluralität manifestiert sich als Hybridität, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Daoud bekennt sich als Anhänger der Pluralität („partisan de la pluralité“) und sieht seine Trilingualität als Reichtum. Pluralität bedeutet Bewegung und Nomadentum:
Toute trahison se décline en pluralité, ambiguïté, complexité. Elle résume le baroque de la vie. Elle apparaît comme l’histoire en mouvement, alors on lui oppose l’histoire figée d’un instant.
Jeder Verrat äußert sich in Pluralität, Mehrdeutigkeit, Komplexität. Er fasst das Barocke des Lebens zusammen. Er erscheint als Geschichte in Bewegung, während man ihm die erstarrte Geschichte eines Augenblicks entgegensetzt.
Die frankophone Kultur ist für Daoud kein Zeichen der Kolonisierung, sondern der wahren Unabhängigkeit. Sie ermöglicht den Sprung ins Universelle („saut vers l’Universel“). Indem er die Sprache der vermeintlichen Kolonisatoren nutzt, befreit er seine Seele von den obersten Dekolonisatoren und beweist, dass ein Sieg auch ohne Krieg möglich ist. Daouds Loyalität gilt daher der Pluralität:
Je suis infidèle à tout ce qui réduit ces deux pays à de l’absurdité et à de l’antagonisme. Je suis infidèle à la rigidité, à la fixité. Je suis infidèle à la vérité unique. Je suis infidèle au livre unique et à la langue unique. Je suis traître, et je suis partisan de la pluralité, de la multiplicité, de la variance et des pérégrinations.
Ich bin allem untreu, was diese beiden Länder auf Absurdität und Antagonismus reduziert. Ich bin untreu gegenüber der Starrheit, der Fixiertheit. Ich bin untreu gegenüber der einzigen Wahrheit. Ich bin untreu gegenüber dem einzigen Buch und der einzigen Sprache. Ich bin ein Verräter, und ich bin ein Anhänger der Pluralität, der Vielfältigkeit, der Varianz und der Wanderungen.
So ist Daouds „Verrat“ ein Ausdruck des Lebenswillens, ein Aufruf zur Desertion vom Stillstand des Identitarismus und eine bejahende Antwort auf die Komplexität seiner französisch-algerischen Identität. Er argumentiert, dass diese Pluralität die einzige Chance für Algerien ist, sich nicht länger im imaginären „Contre“ gegen die Welt zu definieren, sondern zum Licht, zur Kühnheit und zur Lebendigkeit zu finden.