News-Roman vom perfekten Gefangenen

„Un premier roman urbain, ultra-réaliste et social“, so wurde Mathieu Palain für seinen ersten Roman Sale gosse charakterisiert. 1 Urban, ultrarealistisch und sozial. Eine ähnliche Zuschreibung brachte ihm für den zweiten Roman nun den Preis des Nachrichtenromans ein, Le Prix du Roman News für Ne t’arrête pas de courir. Der Prix du Roman News wurde 2011 von der Modekultur-Zeitschrift Stiletto und Publicisdrugstore, einer Drogerie, die teils Brauerei, teils Buchhandlung und teils Kiosk ist, ins Leben gerufen. Journalistische Recherche, Dokumentation und Phantasie sind die Grundlagen des News-Roman. Mit dem Preis wird ein Werk ausgezeichnet, das aktuelle Ereignisse (eine Situation, eine Geschichte oder Protagonisten, die es gegeben hat) wie einen Roman behandelt. 2 Man kann sich fragen, ob dies wirklich eine Gattung und ein Korpus bezeichnet, wenn man die zehn vorherigen Preisträger/innen betrachtet:

  • 2020 – Saturne von Sarah Chiche
  • 2019 – La Maison von Emma Becker
  • 2018 – Le Lambeau von Philippe Lançon
  • 2017 – Désorientale von Négar Djavadi
  • 2016 – Celle que vous croyez von Camille Laurens
  • 2015 – Vernon Subutex, tome 1, von Virginie Despentes
  • 2014 – L’emprise, tome 1, von Marc Dugain
  • 2013 – Rue des voleurs von Mathias Enard
  • 2012 – Rue Darwin von Boualem Sansal
  • 2011 – Six mois, six jours von Karine Tuil
True Story – Spiel um Macht, Psychothriller um einen Gefängnisreporter aus dem Jahr 2015 von Rupert Goold mit Jonah Hill, James Franco und Felicity Jones.

Palain schließt mit der Szene einer früheren Beauftragung an eine klassische Gefängnisreporterszene an.

Je n’avais pas conscience de ce que je faisais. La prison me fascinait parce que j’en ignorais tout et, naïf comme on l’est quand on commence dans ce métier, j’imaginais qu’à force de creuser, j’allais finir par me trouver une injustice à dénoncer. Je rêvais du détenu parfait, celui qui a été condamné à tort. Je devais le chercher, je suppose, car, juste après ce reportage en nurserie, j’ai entendu parler d’un boxeur américain, Dewey Bozella, qui venait d’être libéré après avoir passé vingt-six ans dans une cellule de la prison de Sing Sing, au nord de New York, pour un meurtre qu’il n’avait pas commis. Libération a refusé de m’envoyer — « Trop cher. Tu peux pas faire son portrait au téléphone ? » –, alors je suis allé voir la revue XXI, née sur la promesse d’envoyer des journalistes sur le terrain et de leur laisser le temps suffisant pour avoir des histoires à raconter. Le rédacteur en chef, Patrick de Saint-Exupéry, m’a donné rendez-vous dans un petit bureau qui puait le tabac froid et, pendant plus d’une heure, m’a cuisiné en fumant clope sur clope, se demandant à haute voix si c’était une bonne idée de faire confiance à un gamin comme moi. À la fin, il m’a dit « Vas-y, prends les billets, je m’engage à te les rembourser », et comme ça, je suis monté dans un avion pour New York.

Mathieu Palain, Ne t’arrête pas de courir

Ich war mir nicht bewusst, was ich da tat. Das Gefängnis hat mich fasziniert, weil ich nichts darüber wusste, und naiv, wie man ist, wenn man in diesem Beruf anfängt, habe ich mir vorgestellt, dass ich durch Nachforschen eine Ungerechtigkeit finden würde, die ich anprangern könnte. Ich träumte von dem perfekten Gefangenen, der zu Unrecht verurteilt worden war. Ich muss wohl auf der Suche nach ihm gewesen sein, denn kurz nach dieser Kindergeschichte hörte ich von einem amerikanischen Boxer, Dewey Bozella, der gerade aus der Haft entlassen worden war, nachdem er sechsundzwanzig Jahre in einer Zelle des Gefängnisses Sing Sing im Norden von New York verbracht hatte, und zwar wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte. Libération weigerte sich, mich zu schicken – „Zu teuer. Kannst du sein Porträt nicht am Telefon machen?“ – Ich wandte mich also an die Zeitschrift XXI, die mit dem Versprechen gegründet worden war, Journalisten ins Feld zu schicken und ihnen genügend Zeit zu geben, damit sie Geschichten erzählen können. Der Chefredakteur, Patrick de Saint-Exupéry, empfing mich in einem kleinen, nach kaltem Tabak stinkenden Büro und fragte mich über eine Stunde lang aus, während er eine Kippe nach der anderen rauchte und sich laut fragte, ob es eine gute Idee sei, einem Kind wie mir zu vertrauen. Am Ende sagte er: „Nimm die Tickets, ich zahle sie dir zurück“, und schon saß ich im Flugzeug nach New York.

Protagonist im Roman des Gefängnisreporters Palain ist das fünfte von acht Kindern, der Leichtathlet Toumany Coulibaly, der 2015 nach einer Einbruchsserie festgenommen und in der Folge mehrfach verurteilt wurde. „Die Zahl der Verurteilungen übersteigt inzwischen die Zahl der Titel, die er in der Leichtathletik gewonnen hat“, schrieb Le Parisien 2019, mit Komplizen hatte der 400 Meter-Läufer u.a. eine Tabakbar, Apotheken, Telefonläden in größerer Zahl überfallen, in ARTE wird von „l’énigme Coulibaly“ 3 gesprochen.

Autor Mathieu Palain und sein Protagonist Toumany Coulibaly in ARTE, 28 minutes, 23.9.2021

Mit einer gewissen Sozialromantik schreibt Le Temps, der Autor sei in derselben Banlieue geboren wie Coulibaly und selbst ein verhinderter Sportler. Aber statt des klassischen Abstiegsberichts fragt sich Palain, wie wir dahinkommen, wo wir sind? Als Journalist berichtet Palain häufiger über Häftlinge, bis zur Situation in US-Gefängnissen. France Culture erklärt seinen Roman also „mit dem Blick eines Kenners“, der uns „in die Enge der Gefängnisse und die Intimität der Besuchsräume“ führt.

Dieser Gefangene wurde ein Freund, so erläutert Palain im Interview: „Er konnte mit seiner Strafe etwas anfangen, während das Gefängnis ein leeres Loch sein kann, aus dem man in der Regel beschädigter herauskommt, als man hineingegangen ist. Toumany befand sich nicht in einem Gefängnis, d. h. in einer Einrichtung, in der man 24 Stunden am Tag mit anderen Gefangenen eingeschlossen ist, weil man auf ein Verfahren wartet oder eine kurze Strafe verbüßt. Da er zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, konnte Toumany in das Centre pénitentiaire du 77 gehen, wo er eine Einzelzelle hatte und Zugang zu Arbeit und sportlichen Aktivitäten … Auch wenn ich sonst den Eindruck hatte, dass das Gefängnis den Menschen schadet, habe ich bei ihm den Eindruck, dass es ihm geholfen hat, nachzudenken und vielleicht besser zu werden.“ 4

Parce qu’il a vingt ans et qu’il se sent invincible, Toumany s’inscrit aux Foulées vigneusiennes, quinze kilomètres en trois boucles à travers sa ville. C’est la fin juin, il fait un temps magnifique, le départ est donné à 20 h 30 pour que les coureurs ne souffrent pas trop de la chaleur. Toumany rameute le quartier. « Venez me voir gagner ! Je vais tout écraser, vous verrez ! » Ces derniers temps, il a remporté plusieurs courses de rue : un contre un, le premier au poteau prend 50 euros. Il est si sûr de lui qu’il se renseigne sur le record de l’épreuve, 52 minutes. Il me rappelle Éric Cantona, qui avait répondu à un journaliste : « Moi, douter ? Jamais. Mais moi, c’est spécial, je me sens capable de tout. Quand je vois un vélo, je suis sûr que je peux battre le record de l’heure et gagner le tour de France. »

Mathieu Palain, Ne t’arrête pas de courir

Weil er zwanzig Jahre alt ist und sich unbesiegbar fühlt, meldet sich Toumany für die Foulées vigneusiennes an, fünfzehn Kilometer in drei Schleifen durch seine Stadt. Es ist Ende Juni, das Wetter ist schön, der Start ist um 20.30 Uhr, damit die Läufer nicht zu sehr unter der Hitze leiden. Toumany versammelt die Nachbarschaft. „Kommt und seht mich gewinnen! Ich werde alles zertrümmern, du wirst schon sehen! In letzter Zeit hat er mehrere Straßenrennen gewonnen: Einer gegen einen, der Erste im Ziel erhält 50 Euro. Er ist so zuversichtlich, dass er nach dem Rekord für die Veranstaltung fragt: 52 Minuten. Er erinnert mich an Eric Cantona, der einem Journalisten antwortete: „Ich, Zweifel? Niemals. Aber ich bin etwas Besonderes, ich fühle mich zu allem fähig. Wenn ich ein Fahrrad sehe, bin ich sicher, dass ich den Rekord der Stunde brechen und die Tour de France gewinnen kann.

Der Roman News ist dem Roman vrai sehr verwandt, der Recherche vor die eigene Fiktionalität stellt und Verbindungen mit True Crime oder Autofiktion eingehen kann.

Toumany récupère son dossard, accroche la puce GPS à sa chaussure, et prend place dans la foule. Il n’y a que deux cent soixante inscrits mais, tassés ainsi sur une ligne de départ, ça fait un paquet de cuisses musclées et de baskets neuves. Toutes ces montres qui bipent. Ces corps entraînés. Certains ont la silhouette effilée des Kényans qu’on voit à la télé. Toumany part en sprint. Il sourit aux potes qu’il reconnaît sur le trottoir et fait ce qu’il a promis, il prend la tête. Mais le rythme est trop élevé, au premier kilomètre il sent un point de côté. Il se fait doubler par un groupe. Puis un deuxième. Son cœur s’emballe. Il ralentit. Des wagons de coureurs le dépassent. Des jeunes. Des vieux. Des femmes. Troisième kilomètre. Quatrième kilomètre. À la fin du premier tour, Toumany, noyé dans le peloton, lance à ses amis : « Vous inquiétez pas, je produirai mon effort dans la dernière boucle ! » mais, cent mètres plus loin, l’évidence lui intime de s’arrêter. Il profite d’un segment déserté par le public, marche quelques mètres, s’écarte du parcours et rentre à la maison. Une heure plus tard, ses potes hurlent à la porte : « T’es nul, tu te fais doubler par des gamins, t’as pas honte ? J’aurais dû parier, t’as même pas franchi l’arrivée ! » Toumany bredouille qu’un point de côté l’a foudroyé, mais personne n’est dupe, c’est la honte qui l’a stoppé.

Mathieu Palain, Ne t’arrête pas de courir

Toumany holt seine Nummer ab, bringt den GPS-Chip an seinem Schuh an und nimmt seinen Platz in der Menge ein. Es sind zwar nur zweihundertsechzig Personen angemeldet, aber wenn man sie an der Startlinie versammelt, sind das eine Menge muskulöser Oberschenkel und neue Trainer. All diese piependen Uhren. Diese trainierten Körper. Einige von ihnen haben die schlanke Silhouette der Kenianer, die man im Fernsehen sieht. Toumany beginnt zu sprinten. Er lächelt die Freunde an, die er auf dem Bürgersteig wiedererkennt, und tut, was er versprochen hat: Er übernimmt die Führung. Doch das Tempo ist zu hoch, und schon auf dem ersten Kilometer spürt er ein Stechen in der Seite. Er wird von einer Gruppe überholt. Dann eine zweite. Sein Herz beginnt zu rasen. Er wird langsamer. Scharen von Läufern ziehen an ihm vorbei. Junge Menschen. Alte Menschen. Frauen. Dritter Kilometer. Vierter Kilometer. Am Ende der ersten Runde sagt Toumany, der im Pulk untergeht, zu seinen Freunden: „Keine Sorge, ich werde mich in der letzten Runde anstrengen!“, aber hundert Meter weiter fordert ihn das Evidente auf, aufzuhören. Er nutzt einen von der Öffentlichkeit verlassenen Abschnitt, geht ein paar Meter, weicht von der Strecke ab und kehrt nach Hause zurück. Eine Stunde später riefen seine Kumpel an der Tür: „Du bist ein Loser, du wirst von Kindern überholt, schämst du dich nicht? Ich hätte wetten können, dass du es nicht einmal bis ins Ziel geschafft hast!“ Toumany stammelt, dass ihn ein Seitenstechen getroffen hat, aber niemand fällt darauf rein, es war Scham, die ihn aufgehalten hat.

Der heroisierende Titel scheint dem Läufer Toumany zu gelten, allerdings stellt die Entlassung aus dem Gefängnis am Schluss des Romans die Verbindung zum Verbrecher Toumany her, nicht ohne Pathos, nachdem der Erzähler einen Liedtext von Lluís Llach über das Ankommen und immer weiter neue Routen Finden gehört hat:

„[…]
Y cuando estaréis liberados
volved a empezar nuevos pasos.
Más lejos, siempre mucho más lejos,
más lejos, del mañana que ya se acerca.
Y cuando creáis que habéis llegado, sabed encontrar nuevas sendas.

[…]“ 5

D’ordinaire je ne saisis rien à la poésie. Vraiment rien. Cette fois, je crois avoir compris. Il ne faut jamais s’arrêter de courir. C’est au bout du chemin qu’on trouve la liberté.

Mathieu Palain, Ne t’arrête pas de courir

Ich verstehe normalerweise nichts von Gedichten. Wirklich nichts. Dieses Mal glaube ich, dass ich es verstehe. Du darfst nie aufhören zu laufen. Erst am Ende des Weges findet man die Freiheit.

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. „Un Fil à la page reçoit Cécile Coulon et Mathieu Palain“, Ouest-France, mardi 8 octobre 2019>>>
  2. Vgl. https://www.babelio.com/prix/152/du-Roman-News.>>>
  3. 28 minutes, ARTE, 23 septembre 2021.>>>
  4. « Il a pu faire quelque chose de sa peine, alors que la prison peut être un trou vide, ce qui fait que généralement on en sort plus abîmé qu’on y est rentré. Toumany n’était pas dans une maison d’arrêt, c’est-à-dire dans un établissement où l’on est enfermé 24h/24 avec d’autres détenus parce que l’on est en attente de jugement ou en peine courte. Comme il a eu une peine longue, Toumany a pu aller au Centre pénitentiaire du 77, où il avait une cellule individuelle et accès au travail, aux activités sportives… Alors que j’avais l’impression que la prison abîmait les gens, pour lui, j’ai l’impression que cela l’a aidé à réfléchir et peut-être à aller mieux. » France Culture, L’Invité du matin, 24.9.2021.>>>
  5. „Und wenn Du befreit wirst / wieder beginnen, neue Schritte zu machen. / Weiter, immer weiter weiter, / immer weiter weg vom Morgen, der schon naht. / Und wenn du glaubst, angekommen zu sein, weißt du, wie du neue Wege finden kannst.“ – Katalanisch eigentlich: „I quan sereu deslliurats / torneu a començar els nous passos. / Més lluny, sempre molt més lluny, / més lluny del demà que ara ja s’acosta. / I quan creieu que arribeu, sapigueu trobar noves sendes.“>>>