Die Menschen gebären das Morgen: Régis Jauffret und Hitlers Mutter

Toutes les familles ont une histoire. Certaines sont pareilles à celles qu’on se racontait autrefois au coin du feu dans les campagnes illettrées auxquelles j’ai eu naguère la vanité de comparer mes pauvres mots. Des contes brumeux dont chacun dévide sa version au fil des veillées. Les personnages se ressemblent chaque soir un peu moins, portent des noms en perpétuelle métamorphose, gagnant une syllabe, perdant une diphtongue et certains grossiers patronymes de sortir soudain de leur chrysalide pour devenir, comme celui qu’inventa Oncle, élégants comme des dandys.

Une tourbe, un magma, une mare d’ancêtres incertains.

Régis Jauffret, Le ventre de Klara.

Alle Familien haben eine Geschichte. Manche sind wie die Geschichten, die man sich früher am Kaminfeuer in den ungebildeten ländlichen Gegenden erzählt hat, mit denen ich einst die Eitelkeit besaß, meine armseligen Worte zu vergleichen. Es sind neblige Geschichten, jeder erzählt im Lauf der Nachtwache seine eigene Version. Die Figuren ähneln sich jeden Abend ein bisschen weniger, ihre Namen sind in ständiger Verwandlung, eine Silbe mehr, ein Diphthong weniger, und manche derbe Nachnamen schlüpfen plötzlich aus ihrer Puppe und werden wie der, den Onkel erfunden hat, elegant wie Dandys.

Ein Moor, ein Magma, ein Tümpel mit ungewissen Vorfahren.

Kann Adolf Hitlers Mutter ein ernstzunehmendes Thema von Literatur sein? Klara Pölzl (1860–1907), die erst Magd von Alois Schicklgruber wird (nach dem Namenswechsel: Alois Hitler), ihn 1885 heiratet (und weiterhin „Onkel“ nennt) und vier Jahre später Adolf zur Welt bringen wird, ist Gegenstand des neuen Buchs von Régis Jauffret, Le ventre de Klara (2024), Mathieu Lindon betitelt ihn doppeldeutig als „Geburtshelfer Hitlers“ 1. Übrigens nennt Jauffret den Namen Hitler nie, erwähnt nur die Namensänderung von Hiedler zu Hitler am Standesamt, auch der Name Adolf wird nicht ein einziges Mal genannt. 2 Die Historiker haben Hitlers Sorge darum, seine Herkunft zu verschleiern, längst umfassend dargestellt. Was wäre also Aufgabe eines Buchs über die Zeit der Schwangerschaft? Biographische Herleitung des Nationalsozialismus noch vor der Geburt? Entzauberung oder Mythisierung mithilfe eines Einblicks in das Leben einer Frau am Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts?

Das Buch endet mit einer Taufe am Ostermontag, das Kind wird mit allem Gewicht der Geschichte im letzten Satz als „Sohn Gottes“ bezeichnet – die Figur des Priesters Probst ist freilich antisemitisch durch und durch. Die Zeit von Klaras Schwangerschaft wird als Prequel des Holocaust in Bezug auf den noch Ungeborenen gedeutet:

Je n’avais pas le cœur ce soir-là de la soumettre à un interrogatoire vigoureux. Elle me tourmentait pour mon salut et celui du pécheur que je portais en moi et je suis grosse du prochain siècle et un coup de scalpel du docteur Bloch sauverait son peuple et il veille sur cet enfant comme s’il était le Messie que les siens attendent depuis deux mille ans et tout est grossesse et à chaque instant les humains accouchent de demain et ils jettent un regard vitreux à la catastrophe dont ils viennent de mettre un fragment au monde et ils espèrent n’être plus quand elle surviendra et le présent ne peut plus rien

et le passé ne savait pas

et vogue l’humanité sur l’éternel radeau fabriqué de bric et de broc avec les planches de l’arche de Noé et on n’expie jamais assez de vivre et d’avoir vécu et même simplement de nourrir le projet de naître et la joie d’exister et l’ivresse de multiplier la vie et cet enfant qui m’aimera et fera mon bonheur et qui à peine sorti de l’enfance versera d’un seul coup sur ma tombe toutes les larmes de son corps et il n’en aura plus pour pleurer le monde et nettoyer son âme sanglante et laver les pieds de ses victimes avec des sanglots et j’ai embrassé Johanna sur le front et elle a rougi et elle est partie en courant s’enfermer dans sa chambre et j’ai senti mes lèvres former un sourire et je me suis demandé si ce n’était pas l’enfant qui du fond de mon ventre l’avait propulsé pour montrer au Ciel notre confiance et notre amour.

Régis Jauffret, Le ventre de Klara.

Ich brachte es an diesem Abend nicht übers Herz, sie energisch zu verhören. Sie quälte mich für mein Heil und das des Sünders, den ich in mir trug, und ich trage das nächste Jahrhundert aus, und ein Skalpellschnitt von Doktor Bloch würde sein Volk retten, doch er behütet dieses Kind, als wäre es der Messias, auf den die Seinen seit zweitausend Jahren warten, und alles ist Schwangerschaft, und in jedem Augenblick gebären die Menschen das Morgen, und sie werfen einen glasigen Blick auf die Katastrophe, von der sie gerade ein Fragment in die Welt gebracht haben, und sie hoffen, nicht mehr zu leben, wenn diese hereinbricht, und die Gegenwart kann nichts mehr retten

und die Vergangenheit wusste nichts

und die Menschheit segelt auf dem ewigen Floß, das aus den Brettern der Arche Noah zusammengezimmert war, und man kann nie genug dafür büßen, dass man lebt und gelebt hat und sei es nur dafür, dass man den Geburtsvorgang und die Lebensfreude und den Rausch der Fortpflanzung nährt, und dieses Kind, das mich lieben und mein Glück sein wird und das, kaum dass es der Kindheit entwachsen ist, auf einmal alle Tränen seines Körpers an meinem Grab vergießen wird, und es wird keine mehr haben, um die Welt zu beweinen und seine blutige Seele zu reinigen und die Füße seiner Opfer schluchzend zu waschen, und ich küsste Johanna auf die Stirn und sie wurde rot und rannte weg, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen und ich spürte, wie meine Lippen ein Lächeln formten und ich fragte mich, ob es nicht dieses Kind war, das aus der Tiefe meines Mutterleibes der Antrieb war, um dem Himmel unser Vertrauen und unsere Liebe zu zeigen.

Die dem Buch angehängte Bibliographie zeigt Jauffrets Bemühen, die Geschichte in den Kanon der Weltliteratur (Dantes Komödie etwa mit den Höllenbildern seines eigenen Romans) und die Kontexte der einschlägigen Literatur (Jean Cayrol, Robert Antelme, Charlotte Delbo, Imre Kertész, Jorge Semprún, Elie Wiesel) einzuschreiben, auch wird auf historische Studien von Hannah Arendt bis in die Gegenwart verwiesen. Erwähnt werden diese Bücher im Text allerdings nicht. Klaras Arzt Doktor Bloch ist ein blonder, in Österreich mit der Familie lange integrierter Jude. Die Verknüpfung von biographischem Bericht und Fantasmagorien der Shoah in solchen Momenten wirft Fragen auf, welche Erzählposition hier eigentlich beabsichtigt ist, es kann schwerlich die von Klara selbst sein.

Je ne m’étais jamais rendue chez le docteur Bloch. Il s’était toujours déplacé car d’ordinaire quand nous avions recours à lui nous étions trop mal en point pour quitter notre lit. Je suis arrivée essoufflée et suante sous le cagnard d’août. Je me suis rafraîchie à la fontaine qui jouxtait le portail grand ouvert de sa maison en pierres blanches. J’ai traversé une allée plantée d’ormeaux et l’herbe parsemée de têtes tranchées champignons humains poussés dans la nuit et les éclats d’ossements blancs comme des coquillages quand on eut noyé les cendres dans la terre gorgée de sang de pleurs de hurlements et le calme et le silence et l’odeur de néant et quatre-vingts ans après la dernière crémation les chambres à gaz remontent des abîmes et apparaissent çà et là toujours brillantes comme les carreaux de faïence rouges et blancs qui recouvraient leurs parois et j’ai avancé en regardant devant moi pour demeurer dans l’axe de cette journée radieuse. L’espèce d’étui en bois dont les Juifs agrémentent leurs portes était vissé sur le chambranle de l’entrée. D’après Oncle chacun contient un parchemin où sont inscrites des formules tirées de la kabbale – un livre magique plus puissant encore que l’Apocalypse de saint Jean.

Régis Jauffret, Le ventre de Klara.

Ich war noch nie bei Dr. Bloch gewesen. Er war immer zu mir gekommen, weil es uns meist zu schlecht ging, um unser Bett zu verlassen, wenn wir ihn ansprachen. Ich kam atemlos und schwitzend in der Augusthitze an. Ich erfrischte mich am Brunnen, der neben dem weit geöffneten Tor seines Hauses aus weißem Stein stand. Ich ging durch eine mit Ulmen bepflanzte Allee, und das Gras war übersät mit abgetrennten Köpfen, menschlichen Pilzen, die in der Nacht gewachsen waren, und Knochensplittern, die weiß wie Muscheln waren, nachdem die Asche in der blutgetränkten, weinenden, schreienden Erde ertränkt worden war, und die Ruhe und die Stille und der Geruch des Nichts, und achtzig Jahre nach der letzten Einäscherung steigen die Gaskammern aus den Tiefen auf und erscheinen hier und da noch immer leuchtend wie die rot-weißen Kacheln, die ihre Wände bedeckten, und ich ging weiter und schaute nach vorne, um an diesem strahlenden Tag in der Spur zu bleiben. Am Türrahmen war eine Art hölzernes Etui angeschraubt, mit dem die Juden ihre Türen verzieren. Laut Onkel enthielt jedes eine Schriftrolle mit Formeln aus der Kabbala – ein magisches Buch, das noch mächtiger war als die Offenbarung des Johannes.

Wenn man weiß, wie intensiv sich Jauffret mit Gustave Flaubert beschäftigt, mag nahe liegen, Klara als neue Félicité zu lesen, die einfältige Hausangestellte aus Un coeur simple der Trois contes von Flaubert erhält mit ihrem ausgestopften Papagei einen eigenen Eintrag in Jauffrets Dictionnaire amoureux de Flaubert:

Une histoire de domestique complètement idiote, illettrée, naïve, aimant sa maîtresse qui lui verse un salaire de misère, aimant de surcroît les mioches de cette femme comme ceux qu’elle n’aura jamais. Une pauvre fille heureuse de sa condition abjecte à qui, même en rêve, ne viendrait pas à l’esprit de revendiquer meilleur sort – voilà bien de quoi abrutir convenablement le lecteur. […]

On n’a jamais écrit plus beau texte. La langue française atteignait là son acmé. Après Flaubert, il serait temps de la dévoyer comme le firent avec génie Proust et Céline. Elle connut par la suite une période de stagnation. Une période de glaciation. Les auteurs l’utilisaient comme un outil millénaire, un marteau, une chignole dont on se sert sans questionner l’origine ni imaginer l’améliorer.

Régis Jauffret, Dictionnaire amoureux de Flaubert, „Loulou et Félicité“.

Eine Geschichte über ein völlig idiotisches, ungebildetes, naives Dienstmädchen, das seine Herrin liebt, die ihr einen Hungerlohn zahlt, und darüber hinaus die Kinder dieser Frau liebt wie die, die sie selbst nie haben wird. Ein armes Mädchen, das sich seiner niederen Lage zufrieden gibt und nicht einmal im Traum auf die Idee käme, ein besseres Schicksal zu fordern – das ist eine gute Grundlage, um den Leser zu verdummen. […]

Ein schönerer Text wurde nie geschrieben. Die französische Sprache erreichte hier ihren Höhepunkt. Nach Flaubert war es an der Zeit, sie zu missbrauchen, wie es Proust und Céline auf geniale Weise taten. Danach erlebte sie eine Zeit der Stagnation. Eine Periode der Eiszeit. Die Autoren benutzten sie wie ein Jahrtausendwerkzeug, einen Hammer, eine Krücke, derer man sich bedient, ohne ihren Ursprung zu hinterfragen oder sich vorzustellen, wie man sie verbessern könnte.

Klara spricht selbst, das Buch fingiert ihr Tagebuch. Es ist also nicht möglich, Flauberts Strategien der Scheindistanz – impersonnalité, impassibilité, impartialité – direkt auf Le ventre de Klara anzuwenden. Vielmehr spricht aus Hitlers Mutter der Schrecken des 20. Jahrhunderts, wie soll sie den Horror der Massenvernichtung in dieser Fiktion tragen, der sie so immens übersteigt? Eine einfältige, missgebildete Schwester der hochschwangeren Klara erinnert auffällig an Flauberts Félicité, wird hier zugleich mit den Schicksalen ‚lebensunwerter‘ Behinderter im Nationalsozialismus überblendet:

Au mois de mars, à plusieurs reprises je fus la proie de malaises. Je parvenais difficilement à assurer la tenue du ménage, à faire les courses, la cuisine et à m’occuper sans relâche des enfants. Oncle engagea une souillon qui gâcha un rôti. Il écrivit alors à mon père pour qu’il lui envoie ma sœur. Quand elle arriva, il lui rappela que selon l’accord passé avec lui elle ne toucherait pas de gages et s’en retournerait à Spital après mes couches.

Mes parents rechignèrent à la récupérer après la naissance de Gustav. Son infirmité ne permettait pas de la marier et il était difficile de la faire engager comme domestique. Dans les campagnes beaucoup croient que les bossus portent malheur et les estropiés et les fous que des ambulances à rideaux blancs amènent sur les lieux de leur exécution dans les premières chambres à gaz du Reich et des camions bâchés emportent les cadavres et la population qui proteste et le Vatican qui trop tard condamne et à son arrivée chez nous Johanna avait quinze ans et on lui en aurait donné trois de moins car elle était malingre et pas encore formée et elle était triste d’avoir été exilée du jour au lendemain sans qu’on lui demandât son avis.

Oncle la rudoyait car elle avait un vocabulaire réduit, faisait des fautes d’allemand et ne comprenait pas toujours ce qu’on lui demandait. Elle n’a jamais été d’un tempérament docile mais il savait se faire craindre et elle courbait l’échine.

Elle ne s’était jamais occupée d’enfants. Elle s’est pourtant entendue avec eux dès le premier jour. Une proximité avec ces êtres en devenir dont elle connaissait mieux le langage que celui des adultes. Quant à eux, ils se frottaient à elle comme des chats, et puisqu’elle n’avait pas son pareil pour les consoler, Oncle décida qu’elle dormirait dans leur chambre.

Régis Jauffret, Le ventre de Klara.

Im März wurde ich immer wieder von Unwohlsein geplagt. Ich schaffte es kaum, den Haushalt zu führen, einzukaufen, zu kochen und mich unermüdlich um die Kinder zu kümmern. Onkel stellte eine alte Vettel ein, die einen Braten verdarb. Daraufhin schrieb er meinem Vater, er solle ihm meine Schwester schicken. Als sie ankam, erinnerte er sie daran, dass sie laut der Vereinbarung mit ihm kein Gehalt bekommen und nach meinen Geburten nach Spital zurückkehren würde.

Meine Eltern zögerten, sie nach Gustavs Geburt zurückzuholen. Aufgrund ihrer Behinderung war eine Heirat nicht möglich und es war schwierig, sie als Dienstmädchen einzustellen. Auf dem Land glauben viele, dass Bucklige Unglück bringen und Krüppel und Verrückte, die von Krankenwagen mit weißen Vorhängen an den Ort ihrer Hinrichtung in den ersten Gaskammern des Reiches gebracht werden und von Lastwagen mit Planen die Leichen abtransportiert, und die Bevölkerung protestiert, und der Vatikan verurteilt es zu spät, und als Johanna bei uns ankam, war sie 15 Jahre alt und man hätte sie für drei Jahre jünger gehalten, denn sie war kränklich und noch nicht entwickelt, und sie war traurig, von heute auf morgen, ohne sie nach ihrer Meinung gefragt zu haben, ins Exil geschickt zu werden.

Onkel schikanierte sie, weil sie einen kleinen Wortschatz hatte, Sprachfehler machte und nicht immer verstand, was man von ihr verlangte. Sie hatte nie einen fügsamen Charakter, aber er wusste, Furcht vor sich zu erzeugen, und sie kuschte.

Sie hatte sich noch nie um Kinder gekümmert. Dennoch verstand sie sich vom ersten Tag an mit ihnen. Eine Nähe zu diesen heranreifenden Wesen, deren Sprache sie besser verstand als die der Erwachsenen. Die Kinder, sie schmusten mit ihr wie Katzen, und da niemand sie beim Trösten übertraf, beschloss Onkel, dass sie in ihrem Zimmer schlafen sollte.

Der französische Buchmarkt fasst immer noch neue Fiktionen über Adolf Hitler und Figuren aus seinem Umfeld, etwa 2023 mit dem Roman von Guy Boley über Nietzsches Schwester Elisabeth Förster, A ma soeur et unique, oder aus dem Jahr 2022 Grégor Péan mit seinem Text La seconde vie d’Eva Braun, worin ihr Weiterleben nach 1945 imaginiert wird. Jonathan Littell kombinierte 2006 in Les Bienveillantes (dt. Die Wohlgesinnten) eine fiktive Biographie des SS-Offiziers Maximilian Aue mit historischen Fakten und Personen, die umfangreiche Debatte um das Buch kann hier nicht nachgezeichnet werden. Wir alle hätten Adolf Hitler werden können, war die zugrundeliegende These des Buchs von Éric-Emmanuel Schmitt in La Part de l’autre (2001), wo er zeigt, dass umgekehrt auch Hitler sich vollkommen anders entwickelt hätte, wenn er nicht von der Kunstakademie abgelehnt worden wäre, also eine kontrafaktische biographische Übung Schmitts, in der Hitler nicht weniger als Pazifist, Surrealist und anerkannter Maler wird. Norman Mailer hatte in seinem Roman The Castle in the Forest (2007, dt. Das Schloss im Wald, von Jauffret übrigens erwähnt) die Kindheit von Adolf Hitler erzählt. Diez‘ Besprechung in der Zeit sah auch hier letztlich die Übersteigerung des Realen statt einer wie auch immer adäquaten historischen Interpretation als Motivation des Autors: „Es geht um die ersten 16 Jahre des bösen Mannes, der hier Adi heißt, es geht aber vor allem um Bienen, Exkremente, den Teufel und um Adis Vater Alois, es geht um die Schönheit des Inzests, ums Vögeln für den Völkermord und um die Frage, was der spätere Hitlergruß mit der Tatsache zu tun hat, dass unser Adi nur einen Hoden hatte. Das sind so die Sachen, die Mailer Spaß machen – und weil das Ganze so grotesk ist und weil die Provokation so platt wäre, wäre sie ernst gemeint, kann man Mailers Buch eigentlich nur lesen als einen eigensinnigen Kommentar auf unsere Gegenwart, in der es ständig Verwirrungen im Reich der Fiktionen gibt und es manchmal so wirkt, als hätte Hitler den Krieg doch noch gewonnen.“ 3

Librairie Mollat: Régis Jauffret – Dans le ventre de Klara

Régis Jauffret hat im deutschsprachigen Raum bislang wenig Spuren hinterlassen, mit Ausnahme etwa des Buchs Claustria, einem Roman über den österreichischen Vater Josef Fritzl, der seine Tochter von 1984 bis 2008 unterirdisch gefangen hielt, missbrauchte und sieben Kinder mit ihr zeugte, wobei der Text in Deutschland wie Österreich nicht überzeugen konnte. Auch wenn sich Jauffrets Bücher so häufig auf nicht fiktive Ereignisse beziehen, auf faits divers, so betont Philippe Lançon in seiner Rezension des Buches doch: „Von Emmanuel Carrère bis Morgan Sportès wurde eine Generation durch Kaltblütig von Truman Capote in ihrer literarischen Verarbeitung von Tatsachen geprägt: Indem man der ‚Realität‘ möglichst genau folgt, nähert man sich der Wahrheit (eines Menschen, einer Epoche, warum nicht auch von sich selbst). Für Jauffret ist diese ‚Realität‘ unwichtig. Er nutzt sie, um die wildesten Ansprüche der Fantasie durchzusetzen. Wenn die Nachrichtenmeldung ein Spiegel ist, dann ist seiner ein Zerrspiegel. Es ist die Verbreitung von Fantasien, die ihn antreibt.“ 4

Klagen vor Gericht begleiteten Jauffrets Bücher mehrfach, so bezüglich des Romans Sévère von 2010 über die Ermordung des Bankiers Édouard Stern im Latex-Anzug durch seine Geliebte Cécile Brossard im Jahr 2005, hier erstattete die Familie Sterns Anzeige. 5 Die Hauptfigur von Jauffrets Roman La Ballade de Rikers Island ähnelt sehr dem Politiker und Chef des Internationalen Währungsfonds Dominique Strauss-Kahn, dieser verklagte den Autor wegen Verleumdung, bspw. seien hier Gespräche vollkommen erfunden worden. Hintergrund waren Vergewaltigungsvorwürfe eines Zimmermädchens, die aber zivilrechtlich nach einer Zahlung nicht weiter aufrechterhalten wurden. 6 Der Autor und Kritiker Chevillard charakterisierte Jauffrets Schreibweise: „Dieser Schriftsteller, der seine zähen Charaktere packt und sie durch Schütteln, Kneten und Wenden auf seinem Schneidebrett zart wie Fleisch werden lässt, ist brutal. Aber er ist auch ein harter Kerl, der mit einer echten Feinfühligkeit beim Schreiben gesegnet ist.“ 7

Leyris betont in ihrer Rezension von Le ventre de Clara die zeitgenössische Perspektive der Fiktion: „Als Schriftsteller seiner Zeit nimmt er Klara seit der Zeit nach der Shoah wahr, dieser Katastrophe, deren Vorahnung die Erzählerin in halluzinatorischen Bruchstücken wahrnimmt, die sich in den Text einschleichen, ohne dass sie es weiß. Macht er sie dafür verantwortlich, was aus ihrem Sohn geworden ist? Sicherlich nicht: Auch in dieser Hinsicht ist er ein Autor von heute, der diese fromme Frau als Opfer der patriarchalischen Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde, der Kirche und ihres Mannes darstellt, dieses brutalen, größenwahnsinnigen Mannes ohne Format, der wie geschaffen dafür ist, sich in die Galerie der (genialen) Bastarde einzureihen, die Jauffret im Laufe der Bücher anprangert.“ 8 Garcins Besprechung von Jauffrets fiktivem Tagebuch der Klara Hitler endet mit dem Brechtzitat „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ aus dem Epilog zum epischen Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, das ja die Karriere Hitlers als Parabel aus dem Gangstermilieu von Chicago berichtet. 9 So nahe das Zitat liegen mag, verfehlt es doch die spezifische Poetik von Jauffrets Buch, die zwar Fiktionsbrüche einbaut, aber nicht als episches Lehrstück gelesen werden kann. Im Gespräch mit Victor Dumiot berichtet Jauffret davon, wie er in der Zeit der Corona-Epidemie fast alleine in KZ-Gedenkstätten Fremdheit und Horror erfuhr. 10 Das Journal der bigotten Hitler-Mutter, Opfer der katholischen Kirche und missbraucht und unterdrückt vom brutalen Onkel-Ehemann Alois zündet die Lunte einer Bombe, die das 20. Jahrhundert sprengen wird. Das Buch endet doch illusionsbrechend mit einer Art Moral von der Gschicht im Sinne Brechts:

Il tente à nouveau sa chance d’atteindre l’âge d’homme et je le livre au destin comme ce bébé par sa mère jeté comme un paquet de langes à un voyageur stupéfait sur un quai de gare avant que les policiers ne la pousse dans un wagon à bestiaux où flotte l’odeur des humains morts debout lors du précédent voyage et à la traîne de Jésus en ce samedi saint le fruit est descendu visiter l’enfer et je suis la rampe de lancement du massacre et à l’instant de la ponte s’est déclenché le compte à rebours de la bombe que j’abritais dans mes entrailles

un bébé un bambin un chérubin

et grâce à mes soins attentifs mes câlins mes baisers mes caresses il ne fera que croître et embellir et je serai morte au moment de la déflagration et ce sera le plus grand attentat de l’Histoire jamais perpétré contre le peuple élu et les Tziganes et les handicapés et les homosexuels et les témoins de Jehova et les oubliés des listes et à tout moment j’aurais pu l’étouffer l’empoisonner le poignarder dans son sommeil au lieu de le couvrir d’amour le couver le veiller la nuit quand il avait pris froid et je demeurerai à jamais coupable de l’avoir porté fabriqué créé et les flammes des fours jettent leur clarté sur mon visage et je la prends pour celle de la bougie parfumée que vient d’allumer Johanna pour purifier l’atmosphère et sur le parking une nuée d’enfants multiethniques vêtus d’habits multicolores sautent des cars scolaires bien alignés sur le macadam et la joie d’avoir évité une matinée de cours et les moniteurs les professeurs les parents qui les chaperonnent en causant et la marche enthousiaste vers le Mémorial et les cris et les rires et les bousculades et les chahuts

et l’illuminé qui bave hilare en se voyant dans le miroir bleu du ciel

et sur son fauteuil un beau gosse auquel manquent les jambes fait la course avec un petit crépu en claquettes qui porte la kipa et une jeune fille noire comme un soleil joue les funambules sur les rails qui menaient à l’abattoir et là-bas un guide haut-parleur sur le dos s’empare de la troupe et les mots s’échappent trop vite de sa bouche et son commentaire poursuit la réalité sans jamais parvenir à la rattraper et Arbeit macht frei et on passe sous le portail et on court devant les petites maisons inertes jadis bruissant de soupirs de plaintes de cris et le laboratoire avec la rigole pour évacuer le sang des opérés torturés mutilés moribonds devenus infirmes débiles simples cadavres pauvre fumée et l’heure avance et on court le long de l’interminable vitrine où sont exposés des quintaux de lunettes de bagages de longues chevelures et les papillotes des hassidim et on traverse au pas de course les chambres à gaz maintenues dans la pénombre par de maigres néons et la muraille griffée et imbibée de sang noir et le lent retour vers le parking et ceux qui ont subi la plus éprouvante épreuve de leurs quinze années d’existence

Régis Jauffret, Le ventre de Klara.

Er versucht erneut, das Mannesalter zu erreichen, und ich übergebe es dem Schicksal, wie das Baby, das von seiner Mutter wie ein Bündel Windeln einem fassungslosen Reisenden auf einem Bahnsteig zugeworfen wurde, bevor die Polizei sie in einen Viehwaggon stieß, in dem der Geruch von Menschen hängt, die auf der vorherigen Fahrt stehend gestorben sind, und in Jesu Gefolge an diesem Karsamstag ist die Frucht hinabgestiegen, um die Hölle zu besuchen, und ich bin die Startrampe des Massakers und im Augenblick der Ei-Befruchtung wurde der Countdown für die Bombe ausgelöst, die ich in meinem Inneren beherbergte

ein Baby ein Kleinkind ein Cherubim

und dank meiner sorgfältigen Pflege, meiner Umarmungen, meiner Küsse, meiner Streicheleinheiten wird er immer weiter wachsen und schöner werden und ich werde tot sein, wenn die Explosion stattfindet und es wird das größte Attentat der Geschichte sein, das jemals auf das auserwählte Volk und die Zigeuner und die Behinderten und die Homosexuellen und die Zeugen Jehovas und die Vergessenen der Listen verübt wurde, und ich hätte ihn jederzeit ersticken können, ihn vergiften können, ihn im Schlaf erstechen können, anstatt ihn mit Liebe zu überschütten, ihn auszubrüten, ihn nachts zu bewachen, wenn er sich erkältet hat, und ich werde für immer schuldig bleiben, weil ich ihn erschaffen habe, und die Flammen der Öfen werfen ihr helles Licht auf mein Gesicht, und ich halte es für das Licht der Duftkerze, die Johanna gerade angezündet hat, um die Atemluft zu reinigen, und auf dem Parkplatz springt ein Schwarm multiethnischer Kinder in bunten Kleidern aus den Schulbussen, die auf dem Asphalt aufgereiht sind, und die Freude darüber, dass sie einen Vormittag lang keinen Unterricht hatten, und die Betreuer, die Lehrer, die Eltern, die sie beaufsichtigen und sich unterhalten, und der begeisterte Marsch zur Gedenkstätte und das Schreien und das Lachen und das Schubsen und das Toben

und der Erleuchtete, der hilflos sabbert, wenn er sich im blauen Spiegel des Himmels sieht

und auf seinem Sessel sitzt ein schöner junger Mann, dem beide Beine fehlen, und er rennt mit einem kleinen krausen Kerl mit Kippah und in Flip-Flops um die Wette, und ein junges Mädchen, schwarz wie eine Sonne, spielt Seiltänzerin auf den Schienen, die zum Schlachthof führten, und dort drüben ist ein Reiseführer, der seine Stimme erhebt, und die Worte entweichen zu schnell aus seinem Mund und sein Kommentar folgt der Realität, ohne jemals an sie heranzukommen, und Arbeit macht frei, und wir gehen unter dem Tor hindurch und laufen an den kleinen unbelebten Häusern vorbei, die einst von Seufzern, Klagen und Schreien erfüllt waren, und am Labor mit der Rinne, durch die das Blut der gefolterten, verstümmelten, moribunden, zu Krüppeln gewordenen bloßen Leichen abfloss, armer Rauch, und die Stunde schreitet voran, und man läuft entlang der endlosen Vitrine, in der Zentner von Brillen, Gepäck, lange Haare und die Locken der Chassidim ausgestellt sind, und man durchquert im Laufschritt die Gaskammern, die von spärlichen Neonröhren im Halbdunkel gehalten werden, und die zerkratzte und mit schwarzem Blut getränkte Wand und den langsamen Rückweg zum Parkplatz und zu denen, die die schlimmste Prüfung ihrer fünfzehnjährigen Existenz durchgemacht haben

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. Mathieu Lindon, „Comment ça s’écrit: Régis Jauffret, obstétricien de Hitler“, Libération, 12. Januar 2024>>>
  2. Vgl. dazu auch Alice Develey, „«Dans le ventre de Klara», de Régis Jauffret: enquête sur les parents de Hitler“, Le Figaro, 6. März 2024.>>>
  3. Georg Diez, „Adi unser“, Die Zeit, 27. September 2007, 77.>>>
  4. „D’Emmanuel Carrère à Morgan Sportès, une génération a été marquée par De sang-froid, de Truman Capote, dans son traitement littéraire du fait divers : c’est en suivant la «réalité» au plus près qu’on approche de la vérité (d’un homme, d’une époque, pourquoi pas de soi-même). Pour Jauffret, cette «réalité» est sans importance. Il en use pour imposer les droits les plus sauvages de l’imagination. Si le fait divers est un miroir, le sien est déformant.“ Philippe Lançon, „Livres : la fiction déplace la réalité“, Libération, 7. Januar 2012; Jürg Altwegg, „Das richtige Strafmaß: Inzest“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2012.>>>
  5. Vgl. Pierre Assouline, „Régis Jauffret retourne au tribunal“, Le Monde, 13. Januar 2011.>>>
  6. Vgl. Mohammed Aïssaoui, „DSK : pourquoi Régis Jauffret pourrait perdre son procès“, Le Figaro, 16. Januar 2014 und Christine Marcandier, „La Ballade de Rikers Island: de l’affaire DSK à l’affaire Jauffret“, Diacritik, 1. September 2017.>>>
  7. „Il y a de la brutalité chez cet écrivain qui empoigne ses personnages coriaces et les attendrit comme de la viande à force de les secouer, de les malaxer, de les retourner sur sa planche à découper. Mais c’est un dur doué d’une vraie délicatesse d’écriture.“ Eric Chevillard, „« La Ballade de Rikers Island », le livre contre lequel DSK se bat“, Le Monde, 16. Januar 2014.>>>
  8. „Ecrivain de son temps, il perçoit Klara depuis l’après-Shoah, cette catastrophe dont la prémonition arrive par bribes hallucinatoires à la narratrice, éclairs qui s’immiscent dans le texte comme à l’insu de celle-ci. La tient-il pour responsable de ce qu’est devenu son fils ? Assurément pas : auteur d’aujourd’hui en cela aussi, il présente cette femme pieuse en victime de la société patriarcale où elle est née, de l’Eglise et de son mari, cet homme brutal, mégalomane sans envergure qui semble avoir été taillé pour rejoindre la galerie des salauds (génialement) épinglés par ­Jauffret au fil des livres.“ Raphaëlle Leyris, „« Dans le ventre de Klara » : comment Régis Jauffret ausculte la matrice de la Shoah“, Le Monde, 27. Januar 2024.>>>
  9. Jérôme Garcin, „L’incompréhensible histoire de « Stella » et Régis Jauffret face au fœtus de Hitler“, Le Nouvel Observateur, 15. Januar 2024.>>>
  10. Vgl. Victor Dumiot, „Régis Jauffret : « Laisser le cri de la Shoah se faire entendre »“, Zone critique, 30. Januar 2024.>>>