Edouard Louis stellt in Changer : méthode (Seuil, 2021) die Kindheit als fundamentales Ursprungsmilieu des Schmerzes, der Ausgrenzung und des unaufhaltsamen Drangs nach Flucht dar; die Erfahrungen von Armut, die Rauheit des sozialen Umfelds und insbesondere die ständige Demütigung und Schmähung aufgrund wahrgenommener Weiblichkeit und Homosexualität schaffen beim Erzähler eine tiefe Wunde und das Bewusstsein für ein vorbestimmtes, zu meidendes Schicksal. Dieser existenzielle Zwang zur Flucht wird zum Motor einer lebenslangen und radikalen Selbsttransformation, die nicht als natürliche Entwicklung, sondern als bewusste, disziplinierte und methodische „Arbeit“ am eigenen Körper und Sein begriffen wird, die oft durch Rollenspiel und Nachahmung erlernt wird. Die Kindheit liefert nicht nur die Motivation für den Wandel, sondern auch – durch frühe Überlebensstrategien – die ersten Ansätze dieser „Methode“, während spätere kindliche und jugendliche Begegnungen (z.B. mit Bibliothekaren und Elena) als Katalysatoren und Wegbereiter für den Bruch mit der Herkunftswelt dienen. Auch im Erwachsenenalter bleibt die Kindheit eine ständige, oft schmerzhafte Referenz, die die fortlaufende Notwendigkeit der Veränderung antreibt und das Ringen um Identität und Zugehörigkeit prägt. Der deutsche Aufbau-Verlag gibt dieser Geschichte eine positive Deutung: „Mit Mitte zwanzig hat er schon mehrere Leben hinter sich: Eine Kindheit in extremer Armut, die Scham über die eigene Herkunft, die Flucht vom Dorf in die Stadt, den Aufbruch nach Paris. Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, nimmt einen neuen Namen an, liest und schreibt wie ein Besessener, probiert sich aus, will alle Leben leben. Immer neue Welten erschließen sich ihm. Mit unbändiger Energie erfindet er sich wieder und wieder, schließt Freundschaften und hinterfragt doch die radikale Selbstveränderung, die sich nie ganz vollendet. Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, was man zurücklässt, wenn man bei sich selbst ankommt.“
J’avais connu la misère, la pauvreté dans mon enfance, les scènes répétées de ma mère qui me demandait d’aller frapper à la porte des voisins ou de ma tante, la voix implorante, pour qu’ils nous donnent un paquet de pâtes et un pot de sauce tomate, parce qu’elle n’avait plus d’argent et qu’elle savait qu’un enfant susciterait plus facilement la pitié qu’un adulte. J’avais connu la violence… mon père ; mon père malade d’une vie de travail à l’usine, à la chaîne, puis dans les rues à balayer les ordures des autres, mon grand-père malade de la même vie, malade du fait que sa vie était la reproduction quasi exacte de la vie de son arrière-grand-père, de son grand-père, de son père et de son fils : privation, précarité, arrêt de l’école à quatorze ou quinze ans, vie à l’usine, maladie. Quand j’avais six ou sept ans je regardais ces hommes autour de moi et je pensais que leur vie serait la mienne, qu’un jour j’irais à l’usine comme eux et que l’usine me ferait ployer le dos à moi aussi.
Edouard Louis, Changer : méthode, Seuil, 2021.
Ich hatte das Elend gekannt, die Armut in meiner Kindheit, die wiederholten Szenen, in denen meine Mutter mich bat, mit flehender Stimme an die Tür der Nachbarn oder meiner Tante zu klopfen, damit sie uns eine Packung Nudeln und ein Glas Tomatensauce gäben, weil sie kein Geld mehr hatte und wusste, dass ein Kind leichter Mitleid erregen würde als ein Erwachsener. Ich hatte die Gewalt gekannt … meinen Vater; meinen Vater krank von einem Leben voller Fabrikarbeit, am Band, dann auf den Straßen, den Müll anderer zusammenkehrend, meinen Großvater krank von demselben Leben, krank davon, dass sein Leben die fast exakte Reproduktion des Lebens seines Urgroßvaters, seines Großvaters, seines Vaters und seines Sohnes war: Entbehrung, Prekarität, Schulabbruch mit vierzehn oder fünfzehn Jahren, Leben in der Fabrik, Krankheit. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, schaute ich auf diese Männer um mich herum und dachte, dass ihr Leben meins sein würde, dass ich eines Tages wie sie in die Fabrik gehen würde und dass die Fabrik auch meinen Rücken krümmen würde.

Im Auszug wird die Kindheit des Erzählers als eine Zeit dargestellt, die unweigerlich von Armut und Entbehrung geprägt war. Die Mutter nutzt die „Mitleidswürdigkeit“ des Kindes aus, um das Überleben der Familie zu sichern. Dies zeigt die extreme materielle Prekarität und den Mangel an Grundlegendem in der kindlichen Erfahrungswelt des Erzählers. Die Armut war so tiefgreifend, dass selbst alltägliche Bedürfnisse wie Essen nicht gesichert waren. Ein noch stärkeres Gefühl der Vorbestimmung vermittelt die Beschreibung der Männer in seiner Familie – Vater, Großvater, Urgroßvater. Ihre Leben folgen einem scheinbar unabwendbaren Muster: frühe Bildungslosigkeit, schwere körperliche Arbeit in der Fabrik und daraus resultierende Krankheit. Dieses Muster wird als eine Kette der Reproduktion von Leid und Prekarität dargestellt, die sich über Generationen fortsetzt. Die „Krankheit“ wird hier nicht nur als physisches Leiden verstanden, sondern auch als existenzielle Bürde eines entbehrungsreichen Lebens. Der Erzähler erkennt als Sechs- oder Siebenjähriger diese Muster bereits bewusst. Er sieht die Männer um sich herum und identifiziert ihr Schicksal als sein eigenes. Der Gedanke, selbst eines Tages in der Fabrik zu enden und körperlich gebrochen zu werden („que l’usine me ferait ployer le dos“), ist eine frühe, beängstigende Erkenntnis der sozialen Fatalität. Die Kindheit ist somit nicht nur eine Zeit des Erlebens von Armut und Gewalt (angedeutet durch den kranken Bruder und den verstorbenen Cousin), sondern auch des Erkennens einer vorbestimmten, leidvollen Zukunft. Diese frühe Einsicht in die eigene soziale Herkunft und das damit verbundene Schicksal ist der fundamentale Ausgangspunkt für den Wunsch nach Flucht und Veränderung, der das gesamte Werk durchzieht. Die Kindheit ist hier also weniger eine unbeschwerte Zeit als vielmehr ein Gefängnis der Herkunft und eine Quelle tiefer Angst vor der Zukunft.
Auch in Louis‘ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) wird die Kindheit primär als das prägende Milieu der Ausgrenzung, des Schmerzes und der zugeschriebenen Andersartigkeit („Manieren“, Homosexualität) dargestellt, die zu einem tiefsitzenden Gefühl der Scham und der Ablehnung führen. Der anfängliche Wille zur Transformation richtet sich hier zunächst auf die Anpassung und Konformität mit den Normen des Herkunftsmilieus, insbesondere auf die Darstellung von Männlichkeit („ein harter Kerl sein“, Versuche, Mädchen zu mögen), um der Gewalt und den Beleidigungen zu entkommen. Diese Bemühungen scheitern jedoch aufgrund der als tief verwurzelt empfundenen Andersartigkeit („so geboren“, „Gefühl im eigenen Körper gefangen zu sein“). Die Flucht und damit die eigentliche Selbstveränderung werden erst als letzter Ausweg und Reaktion auf das fortgesetzte Scheitern der Anpassung begriffen. Sie wird anfangs als ungelenk („ungeschickt und lächerlich“), erlernbar und nicht von Anfang an als bewusster Plan („musste lernen, wie man vorgeht“) beschrieben. Im Vergleich zu Changer : méthode, wo die Transformation von Anfang an als bewusste, strategische und methodische Arbeit an sich selbst zur Flucht, Rache und Eroberung einer neuen Identität inszeniert wird, konzentriert sich En finir avec Eddy Bellegueule stärker auf die schmerzhafte Erfahrung der Ablehnung, die verfehlten Versuche der Anpassung und die Notwendigkeit der Flucht als Konsequenz, bevor die methodische Neuschöpfung des Selbst im Vordergrund steht.
In Louis‘ Histoire de la violence (2016) ist die Kindheit vor allem durch die Erzählungen über das Herkunftsmilieu, Gewalt und Vorurteile präsent, die oft im Zusammenhang mit dem Trauma der sexuellen Nötigung und deren Nachwirkungen auf die Gegenwart des Erzählers aufgerufen werden. Die Kindheit und das familiäre Umfeld sind in diesem Text weniger der primäre Motor für einen bewussten Willen zur Selbsttransformation im Sinne einer Neugestaltung der Identität als vielmehr ein Kontext, der durch das traumatische Erlebnis neu beleuchtet und verhandelt wird. Der Wille des Erzählers scheint hier stärker darauf gerichtet zu sein, das Trauma zu überleben, zu verstehen und zu erzählen, auch wenn dies mit unbeabsichtigten Veränderungen im Verhalten einhergeht („mein Verhalten hat sich geändert“, „gleichgültige Müdigkeit“). Die Auseinandersetzung mit der Herkunftswelt erfolgt retrospektiv durch die Brille des Traumas und dessen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und die Beziehungen. Im Gegensatz zu Changer : méthode, wo die Methode der Transformation als aktives, strategisches Vorgehen im Zentrum der Erzählung steht und direkt auf die Kindheit als Ursache des Leidens reagiert, thematisiert Histoire de la violence die Kindheit eher als eine Quelle von Mustern (wie Gewalt und Schweigen), die im Erwachsenenleben wiederkehren und sich in der Reaktion auf das Trauma manifestieren, ohne dass der bewusste, methodische Wille zur Neuschöpfung des Selbst die strukturierende Achse der Erzählung bildet.
Der Titel Changer : méthode qualifiziert den Text als eine Geschichte der radikalen Selbstveränderung, die nicht durch äußere Umstände allein, sondern durch einen disziplinierten, methodischen und willentlichen Einsatz, oft durch Nachahmung und Überwindung innerer Widerstände, erreicht wird. Es ist die Geschichte eines „gemachten“ Wandels, eines Wandels, der erlernt und trainiert wurde, wie eine Technik oder ein Handwerk. Die „Methode“ ist dabei die Strategie, um dem vorherbestimmten Schicksal zu entkommen und eine „gestohlene“ oder „eroberte“ Freiheit zu erreichen. Die Hauptfigur sieht die Veränderung als Rache an denen, die ihn verachtet hatten, und als Weg, Freiheit zu erlangen, nicht nur durch eine Flucht weg aus dem Dorf, aus Amiens, aus Frankreich, in ständiger Bewegung. Sondern auch durch sein Eintauchen in die Welt der Kunst, Literatur, des Kinos und der Bildung, Übernahme der Codes und Referenzen einer anderen sozialen Klasse. Auch durch seinen Namenswechsel, Veränderung des Aussehens (Haare, Brille), der Manierismen (Gehen, Sprechen, Lachen), des Körpers (Gewicht, Zähne), der Kleidung.
Je voulais partir du village et devenir riche, puissant et célèbre parce que je pensais que ce pouvoir que j’aurais acquis par la richesse ou par la célébrité aurait pu être une revanche contre toi et contre le monde qui m’avait rejeté. J’aurais pu regarder tous ceux que j’avais connus dans la première partie de ma vie, toi et tous les autres, et vous dire, Regardez où je suis maintenant. Vous m’avez insulté mais aujourd’hui je suis plus puissant que vous, vous vous êtes trompé en me traitant de faible et en me méprisant et maintenant vous allez souffrir de vos erreurs. Vous allez souffrir de ne pas m’avoir aimé. Je voulais réussir par vengeance.
Edouard Louis, Changer : méthode, Seuil, 2021.
Ich wollte das Dorf verlassen und reich, mächtig und berühmt werden, weil ich dachte, dass diese Macht, die ich durch Reichtum oder Berühmtheit erworben hätte, eine Rache gegen dich und gegen die Welt hätte sein können, die mich zurückgewiesen hatte. Ich hätte all jene ansehen können, die ich im ersten Teil meines Lebens gekannt hatte, dich und alle anderen, und euch sagen: Seht her, wo ich jetzt bin. Ihr habt mich beleidigt, aber heute bin ich mächtiger als ihr, ihr habt euch geirrt, als ihr mich als schwach bezeichnet und mich verachtet habt, und jetzt werdet ihr unter euren Fehlern leiden. Ihr werdet leiden, weil ihr mich nicht geliebt habt. Ich wollte aus Rache erfolgreich sein.
Louis benennt hier eine schmerzhafte, aber treibende Motivation für den Wunsch des Erzählers, seine Herkunft zu verlassen: Rache. Schon in der Kindheit entwickelt er den Gedanken, das Dorf zu verlassen und einen hohen sozialen Status zu erreichen – reich, mächtig und berühmt zu werden. Dies ist keine einfache jugendliche Vorstellung von Erfolg oder Glück; ihr Kern ist ein tief sitzendes Verlangen nach Vergeltung für die erfahrene Ablehnung und Demütigung. Der Erfolg soll nicht primär für sich selbst gesucht werden, sondern als Waffe gegen die, die ihn abgelehnt haben, insbesondere gegen seinen Vater („contre toi“) und die Gemeinschaft des Dorfes („contre le monde qui m’avait rejeté“). Die Vorstellung ist konkret: Er stellt sich vor, ihnen in seiner neuen Position gegenüberzutreten und ihnen zu sagen, wie falsch sie lagen und wie sie nun unter ihren Fehlern leiden werden. Die ultimative Strafe, die er sich ausmalt, ist, dass sie darunter leiden werden, ihn nicht geliebt zu haben („Vous allez souffrir de ne pas m’avoir aimé“). Dies zeigt die tiefe emotionale Wunde, die die fehlende Anerkennung und Liebe in seiner Kindheit hinterlassen hat. Die „Rache“ („vengeance“) wird explizit als Motor für seinen Erfolg genannt. Dieses Verlangen nach Vergeltung ist so stark, dass es seine frühen Ambitionen formt und ihn antreibt, „Regardez où je suis maintenant“ sagen zu können. Es ist eine Poetik der negativen Motivation: Das Leiden und die Ablehnung der Kindheit werden in eine aggressive Energie umgewandelt, die auf soziale Anerkennung und Überlegenheit abzielt. Diese Ambition ist nicht nur ein Traum, sondern ein bewusster Plan, um die Vergangenheit zu überwinden, indem er die Machtverhältnisse umkehrt und diejenigen, die ihn verachtet haben, nun aus einer Position der Stärke heraus konfrontiert. Die Kindheit ist hier der Nährboden für ein lebenslanges Projekt der Selbstermächtigung durch sozialen Aufstieg, dessen Wurzeln tief in der erlittenen Ungerechtigkeit vergraben sind.
Die Veränderung ist für den Erzähler kein passiver, sondern ein bewusster, strategischer und oft mühsamer Prozess. Es ist eine „Methode“, sich selbst neu zu erschaffen und die zugeschriebene Identität zu überwinden. Von Kindheit an lernte der Erzähler, Rollen zu spielen, um sich zu schützen. Später nutzte er das Theater und die bewusste Nachahmung anderer (z. B. Elena, Didier) als Methode, um ein neues Verhalten und eine neue Identität zu erlernen und zu verinnerlichen. Er sah sein ganzes Leben als eine Anstrengung der Konzentration, um eine Rolle zu lernen, als würde er sie auf der Bühne spielen. Die Veränderung erforderte harte Arbeit, sei es beim Erlernen neuer Manierismen, beim Studium oder beim Schreiben. Der Erwerb von Wissen wurde zu einer „Methode“ des Aufholens und des Erlangens von „Macht“. Die Transformation wird als ein „Arbeit“ am eigenen Körper und an der eigenen Person beschrieben. Der Erzähler erstellte ganze Listen mit Dingen, die er ändern wollte. Er suchte gezielt nach Orten (Bibliothek, Theater) und Personen (Pascale Boulnois, Stéphanie Morel, Aude Detrez, Martine Coquet, Elena, Babeth, Didier, Ludovic, Philippe), die ihm bei seiner Transformation helfen oder ihm Zugang zu neuen Welten verschaffen konnten.
C’est par le théâtre que je me suis enfui. Tu le sais. Tu as tout de suite senti que le théâtre allait nous séparer… La vérité c’est que le théâtre a été étonnamment facile pour moi. Je crois que c’est parce que je savais jouer un rôle. J’avais appris à le faire malgré moi depuis ma naissance, j’avais joué des rôles pour essayer de cacher qui j’étais, pour me protéger. J’avais essayé depuis ma naissance de cacher mon désir pour les autres garçons, je m’étais acharné à être plus masculin, à correspondre aux images les plus caricaturales de la masculinité… j’avais fait tout ça pour que les coups et les insultes cessent à l’école, pour atténuer le plus possible la présence de l’insulte dans ma vie. Depuis ma naissance j’avais essayé de prétendre être quelqu’un que je n’étais pas, et à cause de tout ça, grâce à tout ça, le théâtre a été une évidence, justement pas une vocation artistique mais tout simplement la continuité de ma vie. j’ai vu les yeux des autres s’agrandir, leur surprise, leur admiration pendant que je parlais et que je jouais. Je ne m’étais jamais senti admiré avant. Quand j’ai fini, ils ont tous applaudi… et c’était comme si tout à coup le bruit des applaudissements recouvrait le bruit de toutes les insultes… quand elle m’a félicité pour mon talent je me suis senti aimé. Et j’ai su, j’ai compris que c’était peut-être par là que je pourrais fuir. Après ce jour-là je me suis accroché au théâtre de toutes mes forces. Je voulais que le théâtre me sauve de la pauvreté, de la violence, du village.
Edouard Louis, Changer : méthode, Seuil, 2021.
Durch das Theater konnte ich enfliehen. Das weißt du. Du hast sofort gespürt, dass das Theater uns trennen würde … Die Wahrheit ist, dass das Theater für mich erstaunlich einfach war. Ich glaube, das liegt daran, dass ich wusste, wie man eine Rolle spielt. Ich hatte es unfreiwillig seit meiner Geburt gelernt, ich hatte Rollen gespielt, um zu versuchen, zu verstecken, wer ich war, um mich zu schützen. Ich hatte seit meiner Geburt versucht, mein Verlangen nach anderen Jungen zu verbergen, ich hatte mich bemüht, männlicher zu sein, den karikiertesten Bildern von Männlichkeit zu entsprechen … all das hatte ich getan, damit die Schläge und Beleidigungen in der Schule aufhörten, um die Präsenz der Beleidigung in meinem Leben so weit wie möglich zu mildern. Seit meiner Geburt hatte ich versucht, so zu tun, als sei ich jemand, der ich nicht war, und wegen all dem, dank all dem, war das Theater eine Offensichtlichkeit, gerade nicht eine künstlerische Berufung, sondern ganz einfach die Fortsetzung meines Lebens. ich sah die Augen der anderen größer werden, ihre Überraschung, ihre Bewunderung, während ich sprach und spielte. Ich hatte mich nie zuvor bewundert gefühlt. Als ich fertig war, applaudierten sie alle … und es war, als ob plötzlich das Geräusch des Applauses das Geräusch all der Beleidigungen überdeckte … als sie mich für mein Talent lobte, fühlte ich mich geliebt. Und ich wusste, ich verstand, dass dies vielleicht der Weg sein könnte, auf dem ich fliehen könnte. Nach diesem Tag klammerte ich mich mit aller Kraft ans Theater. Ich wollte, dass das Theater mich vor der Armut, der Gewalt, dem Dorf rettet.
Bezeichnenderweise empfindet der Erzähler das Theaterspielen als erstaunlich leicht. Die Erklärung dafür ist zutiefst mit seiner Kindheitserfahrung der Ausgrenzung verbunden: Er hat bereits seit seiner Geburt gelernt, Rollen zu spielen, um sich zu verstecken und zu schützen. Das Verbergen seiner Homosexualität und der Versuch, eine übersteigerte Maskulinität anzunehmen („être plus masculin“, „correspondre aux images les plus caricaturales de la masculinité“) – das Erlernen von Fußballernamen, das Trinken mit Jungen, das Vortäuschen von Interesse an Mädchen – waren alles Akte des Theaters, des Rollenspiels, motiviert durch die Angst vor Schlägen und Beleidigungen. Das Theater ist somit keine neue, „künstlerische“ Fähigkeit, sondern eine direkte Fortsetzung und Manifestation seiner Überlebensstrategien aus der Kindheit. Die Bühne wird zum Ort, an dem diese erzwungene Fähigkeit, jemand anderes zu sein, plötzlich nicht mehr zur Verbergung dient, sondern zur Anerkennung führt. Der emotionale Höhepunkt dieser Passage ist die erste Theateraufführung. Die Reaktion des Publikums – Überraschung, Bewunderung, Applaus – ist eine Offenbarung. Der Applaus wird metaphorisch als etwas beschrieben, das den Lärm der jahrelang erlittenen Beleidigungen übertönt („recouvrait le bruit de toutes les insultes“). Zum ersten Mal fühlt sich der Erzähler bewundert und, noch wichtiger, geliebt („je me suis senti aimé“). Dieses Gefühl der Liebe und Anerkennung, das aus dem Theaterspielen resultiert, ist der Schlüsselmoment, in dem er erkennt, dass dies ein konkreter Weg zur Flucht sein könnte. Von diesem Tag an wird das Theater zu einem Werkzeug, zu einem Mittel zum Zweck, um die Armut, die Gewalt und das Dorf hinter sich zu lassen. Die Kindheit, die ihn zum Verstecken und Rollenspielen zwang, lieferte ihm paradoxerweise die Fähigkeiten, die ihm später die Flucht ermöglichten.
Die Begegnung mit Didier Eribon und seinem Buch Retour à Reims (2009) warf den Erzähler bei Louis auf seine Kindheit zurück und führte zu einer weiteren, noch radikaleren Fluchtbewegung. Er erkannte, dass sein bisheriger Wandel nicht ausreichte, um sich wirklich von seiner Herkunft zu lösen, und dass er, wie Eribon, nach Paris gehen und eine intellektuelle Identität annehmen musste, um die Rache an seiner Kindheit zu vollenden. In Retour à Reims thematisiert Didier Eribon die Kindheit als das fundamentale Ursprungsmilieu von Schmerz, Ausgrenzung und vor allem tief sitzender sozialer und sexueller Scham, die einen lebenslangen Prozess der Abgrenzung und Selbsttransformation notwendig machen. Diese Transformation wird zunächst nicht als planvolles Handeln, sondern als existenzieller Zwang zur Flucht und spätere, oft schmerzhafte intellektuelle Aufarbeitung der eigenen Herkunft und Identität dargestellt. Konkrete Kindheitserfahrungen wie die Scham beim Anblick des Großvaters als Fensterputzer und die Angst, mit ihm gesehen zu werden, die Reaktion der Mutter auf das Erlernen von Englisch, die seine beginnende kulturelle Abgrenzung als Affront empfindet, oder die ständige Bedrohung und Verletzung durch homophobe „Insulte“ wie „pédé“, prägen die als unabänderlich empfundene Illegitimität der eigenen Existenz. Edouard Louis knüpft in Changer : méthode stark an diese Deutung der Kindheit als Ausgangspunkt für Schmerz und den daraus resultierenden Drang zur Flucht an, wobei er insbesondere die Erfahrungen von Armut und die extrem frühe und allgegenwärtige homophobe Ausgrenzung hervorhebt. Während Eribon den Wandel als ein vielschichtiges, oft inneres Ringen mit dem verinnerlichten „habitus“ und den Schamgefühlen beschreibt, inszeniert Louis die Selbsttransformation stärker als eine bewusste, disziplinierte und nahezu performative „Arbeit“ am eigenen Körper und Verhalten („apprendre un nouveau corps“, „jouer des rôles“), die auf unbewusst in der Kindheit erlernten Überlebensstrategien des Verbergens und Nachahmens aufbaut. Bei Louis liefert die Kindheit nicht nur die tief sitzende Motivation (Flucht, Rache, Neuschöpfung des Selbst), sondern auch die ersten Ansätze der späteren „Methode“, wobei spezifische Begegnungen mit prägenden Personen (wie Bibliothekaren, Elena, Didier) als entscheidende Katalysatoren und Wegweiser für den sozialen Aufstieg und die Neudefinition des Selbst fungieren. Beide Autoren nutzen die Erzählung der Kindheit somit als zentrale Folie zur Reflexion über Identität, soziale Determinismen und die (Un-)Möglichkeit radikaler Selbstveränderung.
Der Wunsch von Edouard Louis, Schriftsteller zu werden, entsprang nicht primär einer literarischen Berufung, sondern dem Bedürfnis, sich endgültig vom Hass seiner Kindheit zu befreien. Das Schreiben wurde zu einem weiteren Werkzeug des Wandels und der Flucht. Doch auch in Paris, im Milieu der École normale supérieure, fühlte er sich zunächst fremd und unzulänglich, konfrontiert mit den unbewussten Klassenmarkierungen der anderen. Die Kindheit und ihre Spuren im Körper („mes complexes de classe et d’origine“) blieben eine Quelle der Angst und Scham. Sogar physische Merkmale wie seine Zähne wurden zum Symbol seiner Herkunft, das es zu „reparieren“ galt.
Die Kindheit manifestierte sich nicht nur in materiellen oder sozialen Unterschieden, sondern auch in tiefgreifenden Unterschieden in den Lebensweisen und Codes (z.B. die Bedeutung des gemeinsamen Essens, das Verhältnis zum Körper). Diese Kontraste zwischen der Welt seiner Kindheit und den Welten, in die er eintrat, wurden ihm in jeder Begegnung bewusst. Der Erzähler reflektiert, dass seine „Geschichte“ nicht die lineare Entwicklung einer einzelnen Person ist, sondern eine „Abfolge von Charakteren, die nichts miteinander gemein haben“. Jede neue Umgebung, jede neue Begegnung schuf eine neue Version von ihm, angetrieben vom Wunsch, die Kindheit hinter sich zu lassen und sich durch die Anhäufung von Erfahrungen und Wissen zu „retten“. Die Kindheit blieb jedoch als Messlatte für die Radikalität seiner Flucht präsent. Jeder Schritt in eine neue, privilegierte Welt warf die Frage auf, wie weit er sich von seinem Ursprung entfernt hatte. Nach vielen Anstrengungen und Rückschlägen im Schreiben, gelingt es ihm schließlich, sein erstes Buch zu vollenden, das seine Kindheit zum Thema macht. Die Veröffentlichung dieses Buches, so empfindet er, rettet ihn endgültig. Die Kindheit, die er so verzweifelt zu verbergen und zu fliehen versuchte, wird zur Grundlage seines literarischen Erfolgs und ermöglicht ihm das Leben, von dem er geträumt hat (internationale Reisen, Anerkennung, finanzieller Wohlstand). Er kann nun ein Leben führen, das seine Kindheit unmöglich gemacht hätte. Er entfernt sich „endgültig von [seiner] Kindheit, von Eddy Bellegueule“.
Der Epilog fügt eine weitere Ebene hinzu: Trotz des erreichten Ziels und der Flucht, die gelungen ist, bleibt ein Gefühl der Unruhe und des Bedauerns. Die Kindheit, die er hasste und von der er sich rettete, fehlt ihm nun manchmal. Nicht die Armut, aber die Gerüche, die Bilder, die Möglichkeit des gegenwärtigen Moments, unbeschwert vom Zwang zur Veränderung. Die Kindheit war auch eine Zeit des Leidens, der Demütigung und der Angst, aber in der Erinnerung überlagern die Momente der Freude oder der Einfachheit manchmal das Leid. Es ist ein komplexes Gefühl, eine Ambiguität, die die Kindheit als nicht nur zu fliehendes Trauma darstellt, sondern auch als verlorenen Zustand, der trotz allem eine Art „Gegenwart“ und „Möglichkeit des Gegenwärtigen“ enthielt, die im rastlosen Streben nach Veränderung verloren ging. Die Kindheit ist somit in diesem Text nicht nur Ursprung des Leidens und Grund zur Flucht, sondern auch ein Reservoir an Erinnerungen, die selbst nach der erfolgreichen Metamorphose nachklingen. Die „Poetiken der Kindheit“ in diesem Werk meinen hier eine Logik des Bruchs, des Hasses, der Rache, der Flucht und der Neuerfindung, die paradoxerweise auch Empfindungen des Verlusts und der nostalgischen Sehnsucht nach dem Vergangenen einschließt – selbst wenn dieses Vergangene voller Schmerz war. Die Kindheit bleibt als Teil des Erzählers bestehen, auch wenn er nicht mehr der ist, der sie durchlebt hat.