Roman choral eines Tals im Périgord: Renaud de Chaumaray

Renaud de Chaumarays Roman Quitter la vallée (Gallimard, 2025) fügt sich in eine Tradition ein, die man im Französischen „roman choral“ oder als „polyphonen Realismus“ bezeichnen könnte: ein literarisches Projekt, das mehrere Stimmen, Lebensläufe und Perspektiven miteinander verschränkt, um daraus ein überindividuelles Bild einer Region, eines Milieus oder einer Epoche zu gewinnen. Mitten im Périgord, genauer in der Vallée de la Vézère, entfaltet Chaumaray drei zunächst voneinander unabhängige Erzählstränge, die sich allmählich berühren, verschränken und überlagern. Der Roman evoziert Landschaft, Geschichte und Gewalt, Erinnerung, Liebe und Flucht, sodass er nicht allein als Ensemble von Einzelschicksalen gelesen werden kann, sondern als eine Art Fresko, in dem sich individuelle Existenz und kollektive Erfahrung untrennbar verbinden. Der programmatische Titel „Quitter la vallée“ deutet bereits an, dass es nicht um ein einfaches Lokalkolorit geht, sondern um den universellen Wunsch, die Enge, die Last und die Gewalt einer Herkunft zu verlassen – und zugleich um die Unmöglichkeit, der Gravitation von Herkunft und Vergangenheit gänzlich zu entkommen.

Die Ausgangssituation des Romans scheint zunächst disparate Episoden zu versprechen: Clémence flieht mit ihrem Sohn Tom vor einem gewalttätigen Ehemann und sucht in einer abgelegenen Hütte Schutz; Fabien, ein technischer Angestellter bei Lascaux IV, träumt davon, in einer bisher unbekannten Höhle ein archäologisches Wunder zu entdecken, und unternimmt mit seiner Tochter Johanna eine riskante Expedition; Guilhèm, ein junger Landwirt mit einem auffälligen Muttermal im Gesicht, verliebt sich in Marion, eine Urlauberin, die als Fremde in die Region kommt. Drei Stränge, drei Milieus, drei existentielle Konstellationen. Doch sehr bald wird deutlich, dass diese Geschichten keine nebeneinander stehenden Novellen bilden, sondern dass sie durch Raum, Zeit, Begegnungen und Atmosphären miteinander verbunden sind. Das Tal, die „vallée“, wirkt wie eine unsichtbare Struktur, die alle Figuren miteinander vernetzt. Chaumaray schreibt keine lineare Chronik, sondern komponiert ein Mosaik, in dem die Bruchstücke nur in ihrer Gesamtschau Sinn ergeben. Der Roman ist damit ein realistisches Porträt eines Landstrichs und zugleich ein poetisches Experiment über die Verflechtungen von Leben, die sich gegenseitig berühren, ohne es immer zu wissen.

Sur la rive opposée, la végétation et la falaise se reflètent dans la Vézère, offrant l’image d’un roc suspendu entre deux ciels. Et pendant que le feu qui l’animait s’éteint lentement, il se demande s’il aime ou s’il déteste cette région. Il sait la force qu’il faut pour s’extraire de ces provinces dont la douceur vous endort. Les bras de cette vallée sont comme ceux d’une mère, réconfortants et étouffants à la fois.

Am gegenüberliegenden Ufer spiegeln sich die Vegetation und die Felsen in der Vézère und bieten den Anblick eines Felsens, der zwischen zwei Himmeln schwebt. Und während das Feuer, das ihn belebt hat, langsam erlischt, fragt er sich, ob er diese Region liebt oder hasst. Er weiß, wie viel Kraft es kostet, sich aus diesen Provinzen zu lösen, deren Sanftheit einen einschläfert. Die Arme dieses Tals sind wie die einer Mutter, tröstend und erstickend zugleich.

Das Leitmotiv der „Vallée“ wird in mehrfacher Hinsicht literarisch aufgeladen. Zunächst ist sie konkreter geografischer Raum, mit seinen Flüssen, Felsen, Wäldern, Feldern und Dörfern. Die Landschaft wird in malerischer Dichte beschrieben, sodass Natur und Stein selbst zu handelnden Akteuren werden. Zugleich ist die „Vallée“ ein topologisches Symbol: Sie steht für Enge, für Gefangenschaft, für die Determination durch Herkunft, Familie, Gewalt und Erinnerung. Die Figuren suchen in ihr zugleich Zuflucht und Ausweg. Clémence begreift die isolierte Hütte tief in der Combe als Schutzraum vor dem Zugriff des Vaters ihres Kindes. Fabien sieht in der unterirdischen Höhle, die er zu entdecken glaubt, eine quasi mythische Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen, seinem Leben und seiner Tochter eine neue Bedeutung zu geben. Guilhèm erlebt das Tal als Raum der sozialen Kontrolle, in dem sein Muttermal wie ein Stigma wirkt, und zugleich als Heimat, die er einer Fremden zu zeigen wagt. Die Vallée ist also zugleich Herkunft, Gefängnis und Spiegel. Und der Imperativ des Titels – Quitter la vallée – ist eine Aufforderung an die Figuren und an den Leser, den Versuch des Ausbruchs, der Distanzierung, der Emanzipation mitzudenken.

La maison se fondait parfaitement dans le paysage. Ses murs en pierres sèches, sa toiture en lauze et ses volets en chêne étaient l’agencement discret de ce qu’on retrouvait autour à l’état naturel. Même le lierre courait sur ses façades comme sur les arbres avoisinants. Clémence observait l’habitation depuis le fond de la combe. Il lui suffisait de poser les yeux ailleurs quelques secondes pour que la construction disparaisse dans le relief. Elle et son fils auraient pu traverser le vallon sans jamais l’apercevoir. C’était exactement ce qu’il leur fallait.

Das Haus fügte sich perfekt in die Landschaft ein. Seine Trockenmauern, sein Schieferdach und seine Eichenfensterläden passten sich unauffällig an die natürliche Umgebung an. Sogar der Efeu rankte an den Fassaden wie an den benachbarten Bäumen. Clémence betrachtete das Haus vom Ende der Schlucht aus. Sie musste nur wenige Sekunden lang wegschauen, und schon verschwand das Gebäude in der Landschaft. Sie und ihr Sohn hätten das Tal durchqueren können, ohne es zu bemerken. Es war genau das, was sie brauchten.

Die Figur Clémence, die mit ihrem Sohn Tom flieht, ist dabei vielleicht die unmittelbarste Verkörperung dieses Leitmotivs. Ihre Geschichte wird von Anfang an als Erzählung von Gewalt und Trauma markiert. Sie hat Bordeaux überstürzt verlassen, ihre Spuren verwischt, das Auto anonymisiert, sich in eine Zone ohne Netz und ohne Kontakte zurückgezogen. Die Hütte im Wald erscheint als Ort der Sicherheit, doch die Topographie des Rückzugs ist zugleich bedrückend: Dunkelheit, Feuchtigkeit, Vegetation, Tiere, Bedrohungen. Clémence schwankt zwischen dem Bedürfnis nach Schutz und der Angst, verfolgt zu werden. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn ist zärtlich, aber auch von einem unterschwelligen Misstrauen geprägt: Wird er den Vater vermissen? Wird er die Abwesenheit hinterfragen? Der Roman zeigt in diesen Passagen, wie Flucht nicht nur Befreiung bedeutet, sondern auch neue Abhängigkeiten, Paranoia und Isolation erzeugt. In Clémences Gestalt verdichtet sich ein ganzer Diskurs über weibliche Emanzipation und häusliche Gewalt: das Recht, sich der Gewalt zu entziehen, die Notwendigkeit der Lüge, die Ambivalenz der neu gewonnenen Freiheit. Ihr Weg ist nicht heroisch, sondern prekär. Und ihre Präsenz im Roman macht sichtbar, dass das Verlassen der „vallée“ weniger eine geographische Bewegung als ein innerer Kampf ist.

Quelques jours plus tôt, elle s’était réfugiée aux toilettes pour échapper à Vincent. Assise sur la cuvette rabattue, elle avait levé les yeux vers la carte de France affichée sur la porte. […] elle avait tiré un trait vers l’est en partant de Bordeaux et son index s’était arrêté sur le Périgord noir. De vacances passées à Tursac chez des amis de sa mère, elle avait gardé le souvenir de forêts denses et de hameaux séculaires perchés au-dessus des cours d’eau. Elle se rappelait en détail les reliefs de cette région, leur lisibilité. Elle qui avait grandi dans l’un des départements les plus plats du pays avait toujours été fascinée par les topographies tourmentées. Ici, les paysages racontaient sans ambages l’affrontement qui opposait l’eau à la pierre. En résultait un territoire tout en compromis : soit la Vézère prenait ses aises, élargissait les fonds de vallée et creusait la roche comme du beurre, soit le calcaire résistait et contraignait la rivière aux détours et aux cingles. Elle avait décidé que cet endroit ferait un refuge idéal pour Tom et elle.

Einige Tage zuvor hatte sie sich auf der Toilette versteckt, um Vincent zu entkommen. Sie saß auf der heruntergeklappten Toilettenbrille und blickte zu der Frankreichkarte an der Tür. […] Sie zog einen Strich von Bordeaux nach Osten und ihr Zeigefinger blieb im Périgord Noir stehen. Von den Ferien, die sie in Tursac bei Freunden ihrer Mutter verbracht hatte, waren ihr dichte Wälder und jahrhundertealte Weiler in Hanglage über Flüssen in Erinnerung geblieben. Sie erinnerte sich genau an die Reliefs dieser Region, an ihre Übersichtlichkeit. Sie, die in einem der flachsten Departements des Landes aufgewachsen war, hatte schon immer eine Faszination für zerklüftete Landschaften gehabt. Hier erzählten die Landschaften unverblümt vom Kampf zwischen Wasser und Stein. Das Ergebnis war ein Gebiet voller Kompromisse: Entweder breitete sich die Vézère aus, verbreiterte die Talsohle und grub den Fels wie Butter, oder der Kalkstein widerstand und zwang den Fluss zu Windungen und Schleifen. Sie hatte beschlossen, dass dieser Ort ein idealer Zufluchtsort für Tom und sie sein würde.

Fabien und seine Tochter Johanna repräsentieren eine andere Facette dieses Kampfes. Während Clémence versucht, das Tal zu verlassen, will Fabien in die Tiefe der Erde eindringen. Seine Obsession für die Prähistorie, seine Sehnsucht nach Entdeckung und Ruhm, sein Drang, in die Geschichte der Höhlenfunde einzugehen, machen ihn zur tragikomischen Figur eines Provinzlers, der vom „Glanz“ der Vergangenheit lebt. Seine Tochter Johanna, rational, modern, im Studium der Medizin, sieht ihn mit Skepsis und Zärtlichkeit zugleich. Die Expedition in die Höhle ist mehr als eine Familienepisode: Sie ist eine Allegorie für die Beziehung zwischen den Generationen. Fabien möchte seiner Tochter zeigen, dass er trotz seiner prekären Biographie (Entlassungen, wechselnde Berufe, Scheidung) ein „Held“ sein kann. Johanna schwankt zwischen Fürsorge und Ironie, zwischen Mitleid und Bewunderung. Die Höhle, die sie betreten, wird zu einem Raum der Projektionen, wo sich Hoffnung und Gefahr, Entdeckung und Todesangst überlagern. Chaumaray spielt hier mit dem Topos der Katabasis: der Abstieg in die Unterwelt als Prüfung, als Begegnung mit den Toten, als Suche nach Sinn. Auch in dieser Geschichte ist die „vallée“ nicht nur Landschaft, sondern mythischer Ort, in dem sich die Beziehung zwischen Vater und Tochter als Gleichnis für die Weitergabe von Träumen und die Mühen der Emanzipation entfaltet.

Au détour d’un virage, la Vézère apparut. Vue d’ici, la vallée semblait paisible. La rivière, en son sein, traçait ses arabesques, contournait les collines et les éperons rocheux. Rien ne trahissait les drames et les prodiges qui s’y jouaient depuis des millénaires. La vallée engloutissait les histoires et les vies, s’en gorgeait comme une éponge oublieuse.

Hinter einer Kurve tauchte die Vézère auf. Von hier aus sah das Tal friedlich aus. Der Fluss in seiner Mitte schlängelte sich in Arabesken um Hügel und Felsvorsprünge. Nichts deutete auf die Dramen und Wunder hin, die sich hier seit Jahrtausenden abgespielt hatten. Das Tal verschlang Geschichten und Leben und saugte sie auf wie ein vergesslicher Schwamm.

Der dritte Strang, um Guilhèm und Marion, fokussiert auf die Themen Liebe, Fremdheit und Identität. Guilhèm, gezeichnet durch ein Muttermal, das ihn seit Kindheit zum Objekt von Blicken und Spott gemacht hat, ist ein Mann, der gelernt hat, den Makel in Stärke umzuwandeln. Sein Stolz, sein Trotz, seine Art, den Blick der anderen zu erwidern, machen ihn zu einer ambivalenten Figur zwischen Verwundung und Selbstbehauptung. Als er Marion begegnet, einer Urlauberin, die mit neugierigen, aber nicht verurteilenden Augen auf ihn blickt, öffnet sich eine Möglichkeit des Anderen: Liebe, Anerkennung, Begegnung. Doch diese Beziehung bleibt prekär. Marion ist eine Fremde, sie kommt aus dem Baskenland, sie ist nur auf Zeit im Tal. Die Begegnung zwischen Guilhèm und Marion steht symbolisch für die Möglichkeit, dass die Vallée, so sehr sie stigmatisiert, auch Raum für neue Begegnungen sein kann – aber nur um den Preis der Fremdheit. Die Liebe erscheint hier als eine Art Transgression: Sie überschreitet Grenzen, aber sie ist auch vergänglich. Guilhèm verkörpert damit die Ambivalenz von Heimat und Fremdheit, von Stolz und Verletzlichkeit.

Comment dire à Marion que, de toutes ces couleurs énoncées, le vert est devenu celle qui le rebute le plus. Les forêts à perte de vue, les champs, les feuilles de tabac… Il en a parfois la nausée. Et depuis quelque temps, c’est encore plus prégnant, il sature. Il rêve d’asphalte, de briques, de béton et de verre, de formes strictes, de bruits de moteurs, d’agitation, de gens pressés, de musées et de cinémas de quartier. Un endroit où s’abrutir de culture et devenir anonyme.

Wie soll er Marion sagen, dass von all diesen Farben Grün ihm mittlerweile am meisten zuwider ist? Die Wälder, soweit das Auge reicht, die Felder, die Tabakblätter… Manchmal wird ihm davon ganz übel. Und seit einiger Zeit ist es noch ausgeprägter, er kann es nicht mehr ertragen. Er träumt von Asphalt, Ziegeln, Beton und Glas, von strengen Formen, von Motorengeräuschen, von Hektik, von Menschen in Eile, von Museen und Kinos in der Nachbarschaft. Von einem Ort, an dem man sich mit Kultur vollstopfen und anonym werden kann.

Hier wird Guilhèms tiefgreifende Abneigung gegen die „grüne“ Landschaft seiner Heimat deutlich. Die „Wälder bis zum Horizont, die Felder, die Tabakblätter“ lösen bei ihm Übelkeit und Sättigung aus. Dieser Überdruss am Ländlichen steht im krassen Gegensatz zu Clémences Suche nach Ruhe in der Natur. Guilhèms Wunsch nach „Asphalt, Ziegeln, Beton und Glas, nach strengen Formen, Motorenlärm, Hektik, eiligen Menschen, Museen und Kinos“ symbolisiert seinen „entschlossenen Wunsch, seiner eigenen Kondition zu entfliehen“, die durch das ländliche Leben in der Vézère-Talschaft geprägt ist. Er sehnt sich nach Anonymität und kultureller Bereicherung abseits der ihm vertrauten, aber als erdrückend empfundenen Landschaft.

Diese drei Stränge sind nicht einfach additiv nebeneinander gestellt, sondern durchzogen von subtilen Verschränkungen. Nebenfiguren tauchen in mehreren Geschichten auf. Der alte Mann, der Clémence und Tom im Wald begegnet, erscheint wie ein Gespenst der Vergangenheit, ein Echo der archaischen Zeit, die auch Fabien sucht. Die Atmosphäre der Wälder, der Felsen, der Flüsse ist in allen Episoden präsent. Immer wieder kehrt das Motiv der Spur zurück: eine Inschrift, ein Muttermal, ein Skelett, ein Geräusch. Es entsteht der Eindruck, dass das Tal selbst Subjekt der Erzählung ist, das die Figuren lenkt und verschränkt. Der Roman wird so zu einer „topographischen Poetik“: die Landschaft ist kein Hintergrund, sondern eine Art Protagonist, der die Menschen bindet und prägt.

Thematisch verdichten sich die Geschichten um einige zentrale Motive. Gewalt und Trauma prägen Clémence, aber auch Fabien, dessen Biographie von Enttäuschungen und sozialen Niederlagen gezeichnet ist. Erinnerung und Vergangenheit erscheinen nicht nur in der Archäologie, sondern auch in den persönlichen Biographien: jedes Leben ist eine Schichtung von Verletzungen, Hoffnungen und Versuchen des Neubeginns. Natur und Landschaft sind allgegenwärtig: Wälder, Flüsse, Höhlen, Felsen – sie spiegeln das Innere der Figuren, ihre Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte. Liebe und Begegnung schließlich, wie bei Guilhèm und Marion, sind seltene, fragile Momente, die dem Roman eine Hoffnungsgeste verleihen, ohne den Abgrund des Scheiterns zu verdecken.

Die Poetik Chaumarays trägt wesentlich zu diesem Effekt bei. Seine Sprache ist von malerischer Dichte, voller Detailgenauigkeit, besonders in den Beschreibungen von Landschaft und Natur. Zugleich ist sie elliptisch, suggestiv, von einer Spannung zwischen Realismus und Poetisierung geprägt. Die Gewalt wird nicht explizit ausgestellt, sondern durch Andeutungen, durch Atmosphären, durch den Druck des Unausgesprochenen erfahrbar. Die Liebe wird nicht pathetisch, sondern zögernd dargestellt. Chaumarays Prosa ist eine Poetik des Übergangs: zwischen Realismus und Lyrik, zwischen konkretem Milieu und mythischer Allegorie. Das macht den Roman zugleich sehr französisch – in der Tradition von Autoren, die ebenfalls Landschaften poetisieren, etwa Gracq (Vendée und Bretagne), Bosco (Luberon) oder Michon (Limousin, Dordogne) – und sehr zeitgenössisch: in seiner Vielstimmigkeit, in seiner Offenheit, in seiner feministischen und gesellschaftskritischen Dimension.

Nicht zu unterschätzen ist auch die politisch-kulturelle Dimension des Romans. Die Vallée de la Vézère ist historisch als „Vallée de l’Homme“ bekannt, Ort zahlreicher prähistorischer Höhlen und UNESCO-Weltkulturerbe. Chaumaray macht daraus einen Schauplatz, der zugleich von Ruhm und Vergessen gezeichnet ist: Ruhm, weil die Region als Wiege der Menschheit gilt, Vergessen, weil sie ökonomisch und sozial marginalisiert ist. Die Geschichten seiner Figuren sind auch Geschichten der Provinz, des Rückzugs, der Abwanderung, des ökonomischen Niedergangs. Clémences Flucht in die Hütte zeigt die Provinz als vermeintlich sicheren Raum, zugleich aber als Ort der Isolation. Fabien verkörpert den Stolz auf die prähistorische Vergangenheit und zugleich die Ohnmacht eines Mannes, dessen Leben von sozialen Brüchen durchzogen ist. Guilhèm ist ein Landwirt, ein Überlebender einer Landwirtschaft, die in Frankreich zwischen Tradition und Prekarität steht. Der Roman verweist damit auf eine aktuelle Debatte: die Frage nach den „marginalisierten Räumen“ Frankreichs, nach den „territoires oubliés“, die in Politik und Gesellschaft kaum mehr eine Rolle spielen. Die „vallée“ ist auch die „France périphérique“. Gewalt, soziale Ungleichheit, Abwanderung, Isolation sind individuelle, aber auch strukturelle Themen. Chaumaray entwirft mit literarischen Mitteln eine politische Landkarte.

Im Zentrum steht also der Versuch, die Enge der Herkunft zu verlassen. Doch „quitter la vallée“ bedeutet nicht, sie endgültig hinter sich zu lassen. Clémence kann der Gewalt entkommen, aber sie bleibt verfolgt von Erinnerungen und Angst. Fabien kann eine Höhle entdecken, aber er bleibt gefangen in seiner Biographie. Guilhèm kann sich verlieben, aber er bleibt der Mann mit dem Stigma im Gesicht. Die Vallée ist unausweichlich: sie ist in den Körpern, in den Biographien, in der Erinnerung eingeschrieben. Das Verlassen ist Sehnsucht, nicht Erfüllung. Und darin liegt eine Ambivalenz dieses Romans: er erzählt von Flucht und Hoffnung, von Liebe und Neubeginn, aber er verweigert das Happy End. Das Tal bleibt, und die Figuren bleiben seine Kinder.

Das Buch betont die scheinbare Ruhe und idyllische Schönheit der Landschaft („la vallée semblait paisible“), kontrastiert diese jedoch sofort mit der tiefen Geschichte von „Dramen und Prodigien“, die sich dort über Jahrtausende abgespielt haben. Die Metapher des Tals als vergesslicher Schwamm zeigt dieses als eine Entität, die Geschichten und Leben absorbiert und dabei paradoxerweise gleichzeitig bewahrt und vergisst. Dies spiegelt wider, wie die Vergangenheit – sowohl die prähistorische als auch die jüngere, tragische – in den Tiefen des Tals verborgen bleibt, aber immer noch präsent ist und die Charaktere beeinflusst.

Die Idee, „die Zeit zu durchgraben“ („creuser le temps, se faufiler par ses brèches et gagner ses profondeurs“), verweist direkt auf die Entdeckung der Höhle durch Fabien und Johanna, kann aber auch als metaphorische Aufforderung verstanden werden, die Schichten der Geschichte und die Geheimnisse des Ortes zu erkunden. Die lebendige Beschreibung der „jungen Frau mit den vom Frost geröteten Wangen“ und ihrer Kinder, deren Lachen und mit Ocker befleckte Hände, stellt eine direkte Verbindung zu den prähistorischen Bewohnern des Tals her. Es erinnert daran, dass das Tal ein „Territorium ist, wo Zeit und Felsen verschmelzen“, und macht die alte Vergangenheit fühlbar nah. Diese Gestalt könnte sogar eine der prähistorischen Künstlerinnen sein, deren Hände Johanna und Fabien in der Höhle entdeckten.

Das Buchende von Quitter la vallée ist geprägt von der Aufdeckung verborgener Verflechtungen und der unausweichlichen Macht der Vergangenheit: Der Roman enthüllt, dass die isolierte Hütte, in der Clémence und Tom Zuflucht suchen, von Guilhèm gebaut wurde und den Eingang zu der geheimen Höhle kaschiert, die Fabien und Johanna entdecken. Die Skelette in der Höhle entpuppen sich als Marion und Guilhèm selbst, was eine tragische Verbindung zwischen allen drei Hauptgeschichten herstellt. Die „ramifications invisibles“ treten zutage.

Der Périgord und insbesondere das Vézère-Tal sind mehr als nur eine Kulisse: Sie sind eine aktive Kraft, die Geheimnisse bewahrt und das Schicksal der Bewohner prägt. Guilhèm, der die Höhle aus Loyalität zu seiner Familie und aus Angst vor Enteignung versteckte, wird zu ihrem Hüter und endet dort sein Leben. Das Tal, das Clémence als Zufluchtsort wählte, wird zu einem Schauplatz des Dramas um ihren Sohn Tom und des Brandes des Hauses.

Clémence entkommt der Gewalt Vincents, findet aber in der Combe eine neue Bedrohung. Ihre Entscheidung, das Haus, das den Höhleneingang verbarg, zu verlassen und es möglicherweise anzuzünden, symbolisiert einen radikalen Bruch und den Versuch eines echten Neubeginns fernab dieses von Gewalt und Geheimnissen geprägten Ortes. Das Ende deutet an, dass sie und Tom eine neue Wahrheit erfinden werden, um die traumatischen Ereignisse zu verarbeiten und zusammenzuhalten.

Fabien und Johanna stehen am Ende vor der Herausforderung, ihre Entdeckung – die prähistorischen Malereien und die menschlichen Überreste – den Behörden zu melden. Die Höhle, die für Guilhèm ein intimes Refugium und eine private Schule war, wird nun der Öffentlichkeit und der Wissenschaft zugänglich gemacht. Dies löst ein jahrzehntelanges Geheimnis, könnte aber auch eine neue Welle von Untersuchungen und Konsequenzen auslösen.

Der Roman schließt mit der Feststellung, dass der „Wunsch, der eigenen Bedingung zu entkommen“, ein menschlicher Grundzug ist. Die Charaktere versuchen auf unterschiedliche Weise, sich von ihrer Vergangenheit oder ihren Lebensumständen zu lösen, doch das Tal und seine Geschichte holen sie immer wieder ein. Guilhèms Leben ist ein Beispiel für ein Schicksal, das durch eine einzige, verhängnisvolle Entscheidung und die Last eines Geheimnisses geformt wird. Die Höhle mit ihren prähistorischen Spuren und den modernen Skeletten wird zum ultimativen Ort der Zeitvermischung, wo die „unsichtbaren Verzweigungen“ menschlicher Schicksale sichtbar werden und die Epochen ineinander übergehen.

Chaumarays Roman ist ein Werk von bemerkenswerter Dichte. Er verbindet die Erzählung individueller Schicksale mit einer Reflexion über Landschaft, Geschichte und Gesellschaft. Er ist literarisch hochartifiziell in seiner Sprache und zugleich sozial engagiert in seiner Thematik. Er evoziert die Gewalt des Privaten, die Traumata der Familie, die Brüche der Generationen, die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, und er bindet all das in eine poetische Topographie. Quitter la vallée kann als Beitrag zu einer Literatur verstanden werden, die das Periphere, das Vergessene, das Marginale ins Zentrum rückt – und gerade darin eine universelle Dimension entfaltet. Der Roman erzählt vom Périgord, aber letztlich vom Menschsein überhaupt: von der Unmöglichkeit, die eigene Vergangenheit ganz zu verlassen, und vom Wunsch, es dennoch zu versuchen.


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