1968 – das Ende der Utopie und der Beginn des Selbst: Bernard Pellegrin und Maren Sell

Plutôt la vie: zwei Perspektiven auf die Revolution

Die Ereignisse des Jahres 1968 haben in Frankreich eine ganze Generation geprägt und bilden bis heute einen komplexen Bezugspunkt für individuelle und kollektive Selbstverständnisse. Bernard Pellegrins Roman Printemps fragile und Maren Sells memoirenartige Erzählung Tout est là inszenieren je eine persönliche Geschichtsschreibung von 1968, die durch die Wahl ihrer Perspektiven, Erzählstile und letztlich ihrer Buchschlüsse grundlegend unterschiedliche Interpretationen des „Mai 68“ zutage fördert: Pellegrins Printemps fragile ist ein fiktionales Werk, das die Lebenswege mehrerer Charaktere über ein halbes Jahrhundert hinweg verfolgt und reflektiert, wie sich ihre Hoffnungen und Ideale aus dem Jahr 1968 entwickelt haben. Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Bilanz der 68er-Generation: Er zeichnet 1968 als einen kollektiven, aber schließlich desillusionierenden Aufbruch, dessen anfängliche „linguistische Revolution“ und „unüberwindlicher Horizont der Revolte“ von den Protagonisten im späteren Leben verraten, trivialisiert oder als „unnötiger Umweg“ abgetan wurden, was in einem Gefühl des „post-politischen Traumas“ und der gescheiterten „cérémonie des adieux“ kulminiert. Demgegenüber interpretiert Maren Sell, eine deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Verlegerin, die seit den 1960er Jahren in Paris lebt, in Tout est là die Zeit nach 1968 als eine persönliche Befreiung von der Last des deutschen Schweigens über den Holocaust und eine Abkehr von der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus. Sell hat die politischen und kulturellen Bewegungen der französischen Linken aus erster Hand miterlebt und war unter anderem in der maoistischen Gruppe Gauche prolétarienne aktiv. Sie findet ihre „Revolution“ in der Sprache und Kultur Frankreichs, als Verlegerin und durch die Pflege menschlicher Verbindungen, wodurch 1968 für sie zu einem „fruchtbaren Grund“ für eine reiche, wenn auch stets von Traumata durchzogene, „vie grande“ wird. Beide Werke zeigen nochmals, dass 1968 entweder als tiefgreifende Ernüchterung über gesellschaftliche Utopien oder als individuelle Neuerfindung angesichts historischer Belastungen wahrgenommen wurde.

Ce qui a caractérisé ma génération, ce ne sont pas ses idéaux, mais sa capacité à les trahir en y voyant une nécessaire adaptation aux conditions du moment. (Pellegrin, Printemps fragile.)

Was meine Generation charakterisiert hat, sind nicht ihre Ideale, sondern ihre Fähigkeit, sie zu verraten, indem sie in ihnen eine notwendige Anpassung an die Bedingungen des Augenblicks sieht.

Diese zynische Selbstreflexion, zugeschrieben Jean-Pierre, einem ehemaligen Maoisten, ist eine zentrale These Pellegrins zur ’68er-Generation. Sie stellt 1968 nicht als Grundlage für nachhaltige gesellschaftliche Veränderung dar, sondern vielmehr als eine Episode, deren Ideale einer vermeintlich „notwendigen Anpassung“ – und somit einem Verrat – zum Opfer fielen. Der Autor suggeriert, dass die Generation ihre eigenen Überzeugungen für persönliche Karrieren und die Integration in das etablierte System aufgab, was 1968 als gescheitertes Projekt erscheinen lässt, das von einem „post-politischen Trauma“ und enttäuschten Erwartungen geprägt ist.

Pellegrins Printemps fragile ist ein vielschichtiges Porträt der französischen Generation von 1968, das die Lebenswege einer Gruppe ehemaliger Aktivisten über mehrere Jahrzehnte hinweg verfolgt. Im Zentrum stehen Charaktere wie Jean-Pierre (JP), Karl, Richard, Anne-Laure, Gégé und Bernadette, die von ihren jugendlichen revolutionären Idealen bis hin zu späteren Anpassungen, Enttäuschungen oder neuen Formen des Engagements begleitet werden. Der Roman beleuchtet die Kluft zwischen den anfänglichen revolutionären Bestrebungen und den Realitäten des Erwachsenenlebens, die sich in Karrierewegen, persönlichen Schwierigkeiten und der Verwässerung radikaler Überzeugungen manifestieren. Der Akt des Erinnerns und der Interpretation der Geschichte des Mai ’68 ist ein zentrales Motiv, wobei oft die subjektive und fragmentierte Natur dieser Erinnerungen hervorgehoben wird. Die Erzählung beschreibt JPs Erfahrungen, von seiner desillusionierenden Fabrikarbeit in Meulan – die er als den einzig wahren revolutionären Moment seines Lebens betrachtet – bis zu seiner späteren Rolle als erfolgreicher Geschäftsmann. Richard, dessen Tagebuch als wichtige Primärquelle dient, schildert den studentischen Aktivismus in Nanterre und die „Nacht der Barrikaden“. Anne-Laures Weg führt vom Aktivismus über die Gründung einer feministischen Buchhandlung und eines Verlags (P&V Éditions) zu einer politischen Beraterin. Gégé, ein einfacher Arbeiter, der zum Aktivisten und später zum Sprecher für Obdachlose wird, erlebt tiefe Enttäuschungen durch die Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Bruno, ein ehemaliger Marxist-Leninist, wandelt sich zum Öko-Terroristen. Pellegrin verwendet Pierrick, einen jungen Filmemacher, als Figur, die versucht, die Bedeutung von 1968 für die heutige Generation zu entschlüsseln und neu zu interpretieren.

J’écris un poème en français. Ça résonne. J’en écris un autre. Ma nouvelle langue m’accueille dans son être-là, sonore. ‚On n’est autorisé que par soi-même‘, a écrit Lacan. C’est une invitation au courage. Une gageure, un défi, un gage : on paie une dette en déposant un objet, un livre. La mort de mes camarades, bien que qualifiés de terroristes, fut aussi des vies sacrifiées. Je voudrais quand même leur rendre hommage, essayer de faire comprendre aux lecteurs français comment l’étau de l’Histoire s’est refermé sur eux, comment la spirale de la violence les a enchaînés. N’est-ce pas le silence de nos parents, l’absence des mots qui les ont poussés au passage à l’acte meurtrier ? (Maren Sell, Tout est là.)

Ich schreibe ein Gedicht auf Französisch. Es hallt nach. Ich schreibe ein weiteres. Meine neue Sprache empfängt mich in ihrem Da-Sein, klanglich. ‚Man ist nur durch sich selbst autorisiert‘, schrieb Lacan. Das ist eine Aufforderung zum Mut. Ein Wagnis, eine Herausforderung, ein Pfand: Man bezahlt eine Schuld, indem man einen Gegenstand, ein Buch, hinterlegt. Der Tod meiner Kameraden, obwohl sie als Terroristen bezeichnet wurden, waren auch geopferte Leben. Ich möchte sie dennoch ehren und versuchen, den französischen Lesern verständlich zu machen, wie sich der Schraubstock der Geschichte um sie geschlossen hat, wie die Spirale der Gewalt sie in Ketten gelegt hat. War es nicht das Schweigen unserer Eltern, die Abwesenheit von Worten, die sie zu mörderischen Taten getrieben haben?

Dieses Zitat verdeutlicht die zentrale Rolle des Schreibens und der französischen Sprache als Akt der persönlichen Befreiung und der aktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte. Das Französische wird zu ihrer „neuen Sprache“, die es ihr erlaubt, die „Schuld“ ihrer Herkunft und das „Schweigen“ ihrer Eltern zu durchbrechen. Durch das Schreiben versucht sie, die komplexe Dynamik der Baader-Meinhof-Gruppe zu verstehen und zu humanisieren, indem sie deren Radikalisierung als Folge der „Absence des mots“ (des Fehlens von Worten) der Vorgängergeneration deutet. 1968 wird so als ein Zeitraum konstruiert, der nicht nur politischer Aktion, sondern vor allem einer tiefen, sprachlichen Aufarbeitung und dem „Mut“ zur Selbstbefragung bedarf.

Maren Sells Tout est là ist eine persönliche, memoirenartige Erzählung, die sich mit Identität, Erinnerung und historischem Trauma auseinandersetzt, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer in Deutschland geborenen und in Frankreich lebenden Existenz. Das Werk beleuchtet ihre persönliche Geschichte, die stark vom Schatten des Holocaust und der komplexen Vergangenheit ihrer Familie geprägt ist. Die Erzählung betont die transformative Kraft von Sprache, Literatur und menschlicher Verbindung bei der Bewältigung dieser tiefgreifenden Erfahrungen. Maren ringt mit ihrer deutschen Identität und der damit verbundenen kollektiven Schuld und sucht Versöhnung und Sinn durch ihre angenommene französische Kultur und Sprache. Sell erzählt von ihrer Kindheit im Nachkriegsdeutschland, inklusive der verstörenden Entdeckung eines Fotos, das NS-Gräueltaten zeigt. Ihre Jugend ist geprägt von Begegnungen mit Literatur, Musik (Wagner, Brahms, Jazz, Poesie) und ersten Lieben, die alle zu ihrem sich entwickelnden Selbstverständnis beitragen. Ihr Umzug nach Frankreich und ihr Engagement in der Mai-68-Bewegung sowie im linken Aktivismus (einschließlich der Beherbergung von Andreas Baader und Gudrun Ensslin) markieren eine wichtige Periode ihrer persönlichen und politischen Entwicklung. Später als Verlegerin setzt sie sich für europäische Literatur und vielfältige Stimmen ein, um kulturelle Gräben zu überbrücken und konventionelle Normen herauszufordern. Ihre Reflexionen erstrecken sich auch auf Themen wie Liebe, Verlust, Mutterschaft und Alter, wobei sie Trost in ihrer Familie und der Suche nach Verbindung findet.

Historisches Erzählen

Pellegrins Printemps fragile entfaltet ein Panorama der „Mai-68-Generation“, indem es die individuellen Schicksale zu einer kollektiven Geschichte verwebt. Der Roman ist multiperspektivisch angelegt und folgt einer Vielzahl von Charakteren, die unterschiedliche politische Strömungen und soziale Hintergründe repräsentieren. Von Maoisten (JP, Karl) über Trotzkisten (Édith) und Situationisten (Paul) bis hin zu Öko-Terroristen (Bruno) wird die Bandbreite des damaligen Engagements abgebildet. Diese Vielfalt ermöglicht es Pellegrin, die Ambivalenzen, die Transformationen und die oft enttäuschenden Entwicklungen der damaligen Ideale zu beleuchten. Viele Charaktere vollziehen einen Wandel vom radikalen Aktivisten zum etablierten Bürger, der seine Vergangenheit mit Scham oder Zynismus betrachtet. Die Figur des jungen Journalisten Pierrick dient als Brücke zur Gegenwart und als Metareflexion über die Geschichtsschreibung. Er versucht, die Geschichte seines Großvaters Richard, eines Teilnehmers an der „Nacht der Barrikaden“, zu verstehen und für eine neue Generation zu interpretieren. Dies schafft eine kritische Distanz zu den Ereignissen, die sowohl die Bewunderung als auch die Ernüchterung gegenüber den „Ereignissen“ von 1968 widerspiegelt.

Maren Sells Tout est là hingegen wählt eine zutiefst persönliche, autofiktionale Perspektive, die das historische Geschehen untrennbar mit der inneren Welt der Erzählerin verbindet. Sells „1968“ beginnt nicht nur mit den Studentenunruhen, sondern ist bereits in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands und den Traumata des Holocaust verankert, die ihre Identität als 1945 geborene Deutsche prägen. Ihr Engagement in der Gauche Prolétarienne in Paris und die Begegnung mit Figuren wie Andreas Baader und Gudrun Ensslin werden aus der introspektiven Sicht einer Frau geschildert, die sich der Gewalt spiralförmig entzieht und stattdessen die „Revolution“ in kulturellen und sprachlichen Akten sucht. Für Sell ist 1968 ein Katalysator für eine persönliche Befreiung von der deutschen „Kultur des Schweigens“ und eine Suche nach einer neuen, bikulturellen Identität zwischen Deutschland und Frankreich. Ihre Perspektive ist weniger auf die äußeren Erfolge oder Misserfolge der Bewegung gerichtet, sondern auf die interne Verarbeitung von Geschichte, Schuld und der Bedeutung von Sprache und Kunst.

Erzählstile

Pellegrins Stil in Printemps fragile ist stark romanhaft, mit einem klaren narrativen Bogen, der die Entwicklung der Charaktere über die Zeit verfolgt. Er wechselt zwischen direkter Erzählung, Dialogen und Zitaten aus Richards Tagebuch. Die Sprache ist oft deskriptiv und detailliert, wenn es um die Schilderung von Aktionen geht (z.B. Barrikadenbau) oder um die Beschreibung der physischen Anstrengung von JPs Fabrikarbeit. Meta-Erzählungen, wie Pierricks Filmprojekt, brechen die Linearität auf und fügen eine Ebene der Reflexion über die Darstellung von Geschichte hinzu. Die „linguistische Revolution“ des Mai ’68 wird zwar erwähnt, doch der Fokus liegt eher auf der Ambivalenz der Worte, die damals gesprochen wurden und deren spätere „Verrat“.

Maren Sells Stil in Tout est là ist assoziativ, essayistisch und poetisch, stark von ihrer Identität als Verlegerin und Liebhaberin der Literatur geprägt. Sie verwebt persönliche Anekdoten mit philosophischen Überlegungen, literarischen Zitaten und Reflexionen über die Macht der Sprache. Die Sprache ist oft sinnlich und metaphernreich (z.B. die „Symphonie photographique“ von Paul, Rilkes „Panther“, Kafkas „Axt“). Sells Auseinandersetzung mit ihren „zwei Sprachen“ (Deutsch und Französisch) wird zu einem zentralen Motiv, das die Komplexität ihrer bikulturellen Identität und ihre Fähigkeit, zwischen verschiedenen Welten zu vermitteln, unterstreicht. Ihr Stil ist intim und introspektiv, sie lässt den Leser tief in ihre Gedanken und Gefühle eintauchen, was die „Rumeurs de mai“ zu einem zutiefst emotionalen und existenziellen Erlebnis macht.

Nachträgliche Selbstkritik?

Beide Werke bieten eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der ’68er-Generation und ihren Nachwirkungen, die jeweils von einer spezifischen Form der Selbstkritik und dem Eingeständnis nachträglicher Irrtümer geprägt ist.

In Printemps fragile entfaltet sich die Selbstkritik hauptsächlich durch die retrospektiven Reflexionen der Charaktere, die ihre jugendlichen Ideale und Handlungen im Lichte späterer Erfahrungen bewerten. Jean-Pierre (JP), ein ehemaliger Maoist, artikuliert eine harsche Kritik an der Ideologisierung seiner Jugend: „JP, dass du trotzdem ein Idiot warst“, flüstert Jean-Pierre, der sich wieder beruhigt hat. Was ist von der GRCP übrig geblieben? Und Mao? Seine Warze enthielt den ganzen Eiter seiner Kulturrevolution. Was haben wir uns nur dabei gedacht, diesen fast pädophilen Typen zu vergöttern?“ 1 Hier wird der „Verrat“ an den Idealen als eine pragmatische, wenn auch moralisch fragwürdige Anpassung an die Realität verstanden. Dominique Hurel, ebenfalls ein ehemaliger Linker, geht noch weiter, indem er den Mai ’68 als einen „détour inutile“ bezeichnet, der die Entwicklung hin zu einer komplexeren politischen Reflexion verzögert habe: „Verstehst du, wir haben zwanzig Jahre länger gebraucht, um den Marxismus wirklich zu töten. […] Mai 68 war ein Moment der verschobenen Romantik, in dem eine Generation wie in jeder Generation glaubte, den Hebel zu besitzen, der die Welt aus den Angeln heben würde, ohne zu sehen, dass der Punkt der Anwendung … im weichen Sand verstaubter Theorien versank.“ 2 Er kritisiert die dogmatische Einfachheit früherer Überzeugungen und die Ablehnung komplexen Denkens als ideologische Haltung. Bernadette wiederum durchlebt eine radikale Abkehr von revolutionärer Gewalt: „Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass ihre Sicht, die sie für klar hielt, jahrelang von den trügerischen Feuern eines Kampfes getrübt worden war, der nur aus der Ferne schön war. […] Sie sah keinen Unterschied mehr zwischen den Feuern der Revolution und den Scheiterhaufen des Obskurantismus.“ 3 Sie erkennt die moralische Äquivalenz von revolutionärer und repressiver Gewalt. Schließlich beschreibt Éliette, eine weitere Ex-Maoistin, die ideologischen Verirrungen als von Anfang an angelegt: „Von Anfang an war der Wurm in der Frucht und diejenigen, die Sie hier für äußerst schwerwiegende Taten verurteilen, waren bereits schuldig, als sie Mao wie die Heilige Schrift zitierten … Wir waren blind und taub für alles, was nicht zu unserem Katechismus gehörte, und diese Lähmung der Sinne … führte die Schwächsten unter uns […] zum höchsten Grad der Blindheit und Taubheit, zu einer totalen Schizophrenie.“ 4 Sie sieht die Wurzel der späteren „Wahnsinns“ und des „Terrorismus“ in der dogmatischen Verblendung und der unkritischen Mao-Verehrung der frühen Jahre. So zeigt Pellegrins Buch eine Generation, die rückblickend ihre revolutionären „Frühlingsgefühle“ als zerbrechlich, idealistisch und letztlich oft verraten oder in pragmatische Anpassung umgewandelt empfindet.

In Tout est là ist die Selbstkritik der Erzählerin Maren Sell, die aus einer persönlichen, von deutschem Trauma geprägten Perspektive spricht, eher existenzieller und ethischer Natur. Sie verknüpft ihr Engagement in den 70er Jahren direkt mit der Last ihrer Herkunft. Sells grundlegender Irrtum oder vielmehr ihr lebenslanger Kampf ist die Akzeptanz der Gewalt als Mittel zum Zweck, die sie konsequent ablehnt. Ihre zentrale Selbstbefragung lautet: „Et toi ? As-tu tué ? […] La réponse est Non. Je n’ai pas tué.“ Diese Abgrenzung vom Terrorismus der RAF, deren Mitglieder sie beherbergte, ist eine moralische Selbstvergewisserung, die auf fundamentalen ethischen Prinzipien („Tu ne tueras pas“) und der psychologischen Erkenntnis („Tuer ne guérit pas“) beruht. Sie reflektiert über die „pulsion de mort“ der RAF und deren „hallucination du néant“ als verfehlten Weg. Sells Kritik richtet sich auch gegen ihre eigene anfängliche Naivität als „überdrehte Ausländerin“, die die französische politische Geschichte ignorierte: „Eine ziemlich überdrehte Ausländerin, die die politische Geschichte Frankreichs nicht kennt.“ 5 Sie gesteht zudem ein, mit der Revolution „getrickst“ zu haben, indem sie tagsüber revolutionäre Parolen sang, abends aber zu ihren Klassikern zurückkehrte: „Nachdem der Mao-Wahnsinn vorbei ist, denke ich mir, dass vielleicht nicht alles auf unserem alten Kontinent verdorben ist. Im Grunde habe ich mich immer durch die Revolution gemogelt. Tagsüber summte ich im Chor mit den Genossen: ‚Von der Vergangenheit wollen wir reinen Tisch machen …‘, und abends kehrte ich zu meinen Klassikern zurück: Stendhal, Montaigne, Flaubert, Thomas Mann, Robert Musil und Barockmusik.“ 6 Dies ist eine Form der Selbstkritik an ihrer eigenen nicht konsequenten Haltung. Besonders scharf kritisiert sie die „outrance de la transgression“ und die „libido“ einiger 68er-Figuren, die sie als „Prédateurs“ identifiziert, deren Handlungen weitreichende „ravages“ verursachten. Sie sieht im „jouir sans entraves“ einen Weg, der zu Ausbeutung und Missbrauch führte, und bedauert: „On ne soupçonnait pas que cette libido ferait de tels ravages.“ Sells „1968“ ist eine Auseinandersetzung mit persönlicher Integrität, der Überwindung historischer Traumata durch gewaltfreie Mittel und einer kritischen Distanz zu den destruktiven Auswüchsen des radikalen Freiheitsversprechens. Pellegrin hebt die kollektive Desillusionierung und den Verrat politischer Ideale der 68er-Generation als Hauptfehler hervor, während Sell die individuellen moralischen Irrtümer, die Verführung durch Gewalt und die negativen, teils zerstörerischen Konsequenzen einer unreflektierten „Befreiung“ thematisiert.

Was bleibt?

Die Schlüsse beider Bücher konstruieren aufschlussreiche, jedoch grundverschiedene Interpretationen des Erbes von 1968:

In Printemps fragile findet die von Isa geplante „cérémonie des adieux“ – ein Versuch, die ehemaligen Genossen zu versammeln, um sich bewusst von ihren jugendlichen Idealen und der Vergangenheit zu verabschieden – nicht statt. Dieser Misserfolg symbolisiert die Unfähigkeit der Generation, kollektiv Frieden mit ihrer Geschichte zu schließen und eine gemeinsame narrative Linie zu finden. Die Ideale sind entweder verraten, vergessen oder in zynische Formen überführt worden, wie die Werbeagentur der Lambert-Brüder, die mit Mao-Motiven Profit macht, oder die politische Karriere Karls. Pierricks Filmprojekt, das 1968 als „romantischen Frühling“ darstellen soll, wird von der chinesischen Produzentin Wan in eine kommerzielle Musical-Produktion umgewandelt. Wan interpretiert Mai ’68 als „Zirkus“ und ein „Ablenkungsmanöver für ein vor Langeweile sterbendes Volk“, was die Trivialisierung und Entpolitisierung der Bewegung im globalen Kapitalismus verdeutlicht. Das Zitat Richards, dass ihre „gewaltsame Abneigung, gewalttätig zu sein, siegen würde“, kontrastiert mit der späteren Gewaltbereitschaft einiger Charaktere (Bruno) und unterstreicht die interne Zerrissenheit. Die pointierteste Schlussbemerkung über 1968 kommt von einem Abgeordneten der neuen Rechten, der es als „Raub“ der französischen Gesellschaft und Ursprung eines tiefgreifenden „Laxismus“ in Bildung und Moral verurteilt. Pellegrins Roman endet mit einem Gefühl der bleibenden Ambivalenz, der ungelösten Konflikte und der Skepsis gegenüber dem, was von 1968 geblieben ist. Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen, sondern wirkt als „unüberwindlicher Horizont der Revolte“ fort, der jedoch von Zynismus und Kommerzialisierung bedroht ist.

Maren Sells Tout est là hingegen mündet in einer Form der Versöhnung und Integration. Der Titel selbst suggeriert, dass alles – Traumata, Freuden, Fehler, Erfolge – Teil einer größeren Existenz ist und „da“ ist. Sells Buch endet mit ihrer Entscheidung, nach Indien zu reisen und dort eine „größere Lebensweise“ zu suchen, eine Abwendung von der westlichen Obsession mit Konsum und Erfolg und eine Hinwendung zu spirituellen Werten. Die „große Liste“ von Persönlichkeiten, die sie auf dem Flug nach Paris als Beispiele für „Männer und Frauen guten Willens“ zusammenstellt, darunter Mandela, Simone Veil, Gorbatschow und der Dalai Lama, zeigt ihren fortgesetzten Glauben an humanistische Werte und eine positive Gestaltung der Zukunft. Ihr „Mensch-Sein“ ist eine Antwort auf die Schrecken der Vergangenheit. Trotz der Anerkennung von Fehlern, wie dem „Wahnsinn Maos“ oder der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus, betont Sell die Bedeutung von Empathie, Kultur und persönlicher Verantwortung. Sie hat nicht getötet, sondern Bücher geschrieben und verlegt, um die „Abwesenheit“ der Erinnerung zu bekämpfen und das Unsagbare zu benennen. Ihr Schluss ist ein Plädoyer für das Leben selbst, für die Fähigkeit, neue Anfänge zu finden und die „Verletzung, die sich nicht schließen kann“, zu akzeptieren, während sie gleichzeitig die Schönheit und Freiheit der französischen Kultur feiert.

Die beiden Werke offenbaren somit zwei fundamental unterschiedliche Konstruktionen. Pellegrins „1968“ ist ein „zerbrechlicher Frühling“, dessen zarte Blüten schnell verwelkten. Es ist eine kollektive Erinnerung an eine revolutionäre Aufbruchszeit, die in weiten Teilen in Kompromiss, Karrierismus und Desillusionierung mündete. Das Erbe ist belastet, die Ideale sind „verraten“, und die Bewegung wird von der nachfolgenden Generation wahlweise romantisiert, zynisch abgetan oder als Ursprung gesellschaftlicher Missstände interpretiert. Es ist ein 1968, das sich nicht versöhnen lässt, dessen Wunden offenbleiben und dessen Bedeutung in der Gegenwart immer wieder neu verhandelt wird, ohne zu einem eindeutigen Schluss zu kommen. – Sells „1968“ hingegen ist ein „fruchtbarer Grund“ für eine tiefgreifende persönliche und intellektuelle Entwicklung. Es ist ein ambivalentes, aber essenzielles Kapitel, das zur Befreiung von historischen Traumata und zur Formung einer Identität beitrug, die in der Kultur und in der menschlichen Verbindung verankert ist. Für Sell ist 1968 nicht primär eine politische Erfolgsgeschichte, sondern eine Quelle des Mutes und eines lebenslangen Engagements für Humanismus und Kultur. Es ist ein Fundament für ein reichhaltiges und engagiertes Leben, in dem die Revolution nicht gewaltsam vollendet, sondern durch Sprache, Empathie und kreatives Schaffen fortgesetzt wird.

Anmerkungen
  1. „JP, que t’étais con quand même, murmure Jean-Pierre revenu au calme. Qu’est-ce qu’il en reste de la GRCP ? et Mao ? Sa verrue contenait tout le pus de sa révolution culturelle. Qu’est-ce qui nous a pris d’idolâtrer ce type quasi pédophile ?“>>>
  2. „Tu comprends, nous avons mis vingt ans de plus à vraiment tuer le marxisme. […] Mai 68 a été un moment de romantisme décalé où une génération a cru, comme à chaque génération, posséder le levier qui soulèverait le monde, sans voir que le point d’application… s’enfonçait dans le sable mou de théories poussiéreuses.“>>>
  3. „Soudain, elle eut le sentiment que sa vue, qu’elle croyait claire, avait été brouillée pendant des années par les incendies illusoires d’une lutte qui n’était belle que de loin. […] elle ne voyait plus de différence entre les feux de la révolution et les bûchers de l’obscurantisme.“>>>
  4. „dès l’origine, le ver était dans le fruit et que ceux que vous jugez ici pour des faits d’une extrême gravité étaient déjà coupables quand ils citaient Mao comme les Écritures… Nous avons été aveugles et sourds à tout ce qui ne relevait pas de notre catéchisme et cette paralysie des sens… a conduit les plus faibles d’entre nous […] au degré suprême de l’aveuglement et de la surdité, à une schizophrénie totale.“>>>
  5. „Une étrangère assez survoltée, ignorant l’histoire politique de la France.“>>>
  6. „Une fois la folie Mao passée, je me dis que tout n’est peut-être pas pourri sur notre vieux continent. Au fond, j’ai toujours triché avec la révolution. Le jour, je chantonnais en chœur avec les camarades : ‚Du passé faisons table rase…‘, et le soir, je revenais à mes classiques, Stendhal, Montaigne, Flaubert, Thomas Mann, Robert Musil et la musique baroque.“>>>

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