Inhalt
- Der Weg zum Selbstporträt im Alter
- Kapitelübersicht
- Scham, Armut und die Wiederaneignung der Sprache
- Metaroman
- Die Legitimation des Selbst
- Don Quijote mit Sancho und Lydie mit Albane
- Die Zeit-Struktur und die späte Transformation des „Grand Méchant“
- Kampf gegen die geistige Knechtschaft
- Quevedo und Intertextualität als intellektuelle Rüstung
- Das ironische Happy End (mit Rabelais)
Der Weg zum Selbstporträt im Alter
Et moi qui croyais qu’à mon âge la boucle était bouclée et que j’avais dit tout ce que j’avais à dire,
moi qui étais persuadée que je ne pouvais plus me surprendre,
que rien d’inouï ne pouvait survenir qui me bousculerait et me donnerait la force et la soif d’écrire quelque chose de neuf,
moi qui pensais mon portrait achevé, figé à tout jamais : parents espagnols réfugiés politiques, famille prolo, père colérique et méchant, enfance pourrie, sentiment d’infériorité, expérience transfuge, blablabla blablabla, tout le baratin rabâché, toutes les salades habituelles mornement répétées et usées jusqu’à l’os, la pièce cent fois rejouée avec quelques variantes et qui ne me réservait plus aucune surprise, n’ouvrait plus aucun horizon,
j’allais désormais remettre en jeu cette image de moi derrière laquelle je me planquais et que je pensais à tout jamais constituée,
j’allais la rendre plus complexe, plus nuancée, plus instable, plus changeante et nocturne, il était temps,
j’allais partir à la découverte de mon âme innombrable,
j’allais me recommencer, me redessiner moi et tous mes moi, sachant pertinemment qu’il y a des moi plus moi que d’autres.
j’allais me réinventer, être la même et une autre,
j’allais revenir sur ma vie, comme on le fait d’un livre qu’on réouvre des années après l’avoir lu distraitement,
j’allais être mon propre Eckermann
et devenir de mon cœur le vampire.
Pour cela, je devrais remonter non seulement vers ce que je croyais être les événements marquants de ma vie et dont le souvenir s’altérait avec le temps, mais aussi vers les faits anodins, minuscules, ceux que j’avais crus sans conséquence, ceux tapis dans l’ombre et presque imperceptibles, ceux, honteux, qui gisaient tout au fond de moi, muets, ceux que j’avais gardés jalousement secrets et qui piétinaient devant la porte murée de mon cœur en attendant leur délivrance.
Cependant, quelques doutes me retenaient encore quant à la validité du projet.
Und ich dachte, in meinem Alter hätte sich der Kreis geschlossen und ich hätte alles gesagt, was ich zu sagen hatte.
Ich war überzeugt, dass mich nichts mehr überraschen könnte,
dass nichts Unerhörtes mehr passieren würde, das mich erschüttern und mir die Kraft und den Durst geben würde, etwas Neues zu schreiben.
ich, die ich mein Porträt für vollendet hielt, für immer festgeschrieben: spanische Eltern als politische Flüchtlinge, Arbeiterfamilie, jähzorniger und gemeiner Vater, verkorkste Kindheit, Minderwertigkeitsgefühle, Erfahrung als Überläuferin, blablabla blablabla, das ganze abgedroschene Geschwätz, all die üblichen Phrasen, die sich langweilig wiederholten und bis auf die Knochen abgenutzt waren, das hundertmal wiederholte Stück mit ein paar Variationen, das mir keine Überraschungen mehr bot, mir keine neuen Horizonte mehr eröffnete,
ich würde nun dieses Bild von mir, hinter dem ich mich versteckte und das ich für immer als festgelegt betrachtete, wieder ins Spiel bringen,
Ich würde es komplexer, nuancierter, instabiler, wechselhafter und nächtlicher machen, es war an der Zeit,
ich würde mich aufmachen, meine unzähligen Seelen zu entdecken,
ich würde neu anfangen, mich und alle meine Ichs neu entwerfen, wohl wissend, dass es Ichs gibt, die mehr ich sind als andere.
Ich würde mich neu erfinden, dieselbe und eine andere sein,
ich würde mein Leben Revue passieren lassen, wie man es mit einem Buch tut, das man Jahre nach seiner flüchtigen Lektüre wieder aufschlägt,
ich würde mein eigener Eckermann sein
und zum Vampir meines Herzens werden.
Dazu musste ich nicht nur zu den Ereignissen zurückkehren, die ich für die prägenden meines Lebens hielt und deren Erinnerung sich mit der Zeit veränderte, sondern auch zu den unbedeutenden, winzigen Begebenheiten, die ich für belanglos gehalten hatte, die im Schatten verborgen und fast nicht wahrnehmbar waren, die beschämenden, die tief in mir schlummerten, stumm, die ich eifersüchtig geheim gehalten hatte und die vor der verschlossenen Tür meines Herzens auf ihre Befreiung warteten.
Allerdings hatte ich noch einige Zweifel an der Durchführbarkeit des Vorhabens.
Lydie Salvayre (geboren 1948) verabscheut ihren Geburtsnamen Arjona, einen Namen, der symbolisch für die sombre histoire der unglücklichen Flüchtlinge steht, die der Gewalt des Bruderkriegs entflohen waren. Scham veranlasste Salvayre dazu, den Namen schnellstmöglich gegen einen dezidiert französischen Namen einzutauschen. Diese frühe Ablehnung des eigenen Erbes – die Abwehr der dunklen Tinte der Vergangenheit – ist der existenzielle Ursprung, aus dem das literarische Schreiben bei Salvayre hervorgeht.
Salvayre ist als formal innovative Stimme der französischen Gegenwartsliteratur etabliert. Ihr Werk ist untrennbar mit den biografischen Erfahrungen des Exils, des Kriegstraumas und durch ihren spanischen Hintergrund mit der sprachlichen Dualität verwoben. Ihre literarische Bedeutung wurde durch herausragende Auszeichnungen bestätigt, insbesondere den Prix Novembre für La Compagnie des spectres (1997) und den Prix Goncourt für Pas pleurer (2014), einen Roman über den Spanischen Bürgerkrieg.
Salvayres besonderer literarischer Stil ist direkt auf ihre multidisziplinäre Ausbildung und ihren beruflichen Werdegang zurückzuführen. Nach einem Studium der Lettres modernes in Toulouse absolvierte sie ein Medizinstudium und eine Qualifikation in Psychiatrie. Diese doppelte Fundierung – in Sprache und Seelenheilkunde – ist der primäre Generator ihrer narrativen Ästhetik. Die Prosa Salvayres zieht den Leser in die rohen Geschichten ihrer Erzähler, so wie diese sich in einer psychoanalytischen Sitzung präsentieren würden. Die Erzählungen ähneln dem psychoanalytischen Prozess, in dem ungefilterte, von Affekten gesättigte Zeugnisse freigesetzt werden. Die Erzählungen können als lange Monologe gelesen werden, die ebenso gut gehört wie gelesen werden könnten. Die bewusste Verwischung der Grenzen zwischen dem sprechenden Subjekt (der Erzählerin) und dem besprochenen Subjekt (den Zeugen) ist die literarische Umsetzung einer klinischen Ästhetik.
Der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman Pas pleurer stellte die Verarbeitung von Trauma, Gedächtnis und Sprache im Kontext des Exils dar. Er thematisiert die Anfänge des Spanischen Bürgerkriegs, ein historisches Ereignis, das die Existenz der Erzählerin als Tochter spanischer Flüchtlinge fundamental bedingte. Die Erzählerin setzt sich mit zwei diametral entgegengesetzten Zeugnissen auseinander: dem ihrer Mutter und dem des Schriftstellers Georges Bernanos und seiner Streitschrift Grands cimetières sous la lune, in der er als „zerrissener Zeuge“ die Gräueltaten der Nationalisten auf Mallorca beschreibt. Die Konfrontation dieser unvereinbaren Diskurse, die Dichotomie zwischen revolutionärer Utopie und grausamem Massaker, macht das Erzählen des Traumas für die Erzählerin zu einem „unmöglichen“ Unterfangen.
Intertextualität ist in Pas pleurer durch Zitat ohne Anführungszeichen umgesetzt. Der Roman beginnt mit einer Hinrichtungsszene, die Bernanos als Quelle zitiert, wobei das Zitat in die Erinnerung der Erzählerin zurückgerufen wird – so wird der gesamte Roman in einem einzigen Atemzug entfaltet. Das Buch verschränkt den intellektuellen, dokumentarischen und hochsprachlichen Diskurs (Bernanos) mit der mündlichen, affektiven Sprache der Mutter, die als „librement espagnolisée“ und „désentravée“ (ungezügelt) beschrieben wird. Die Subjektivität der Erzählerin ist nicht autonom, sondern eine Synthese der kollektiven Narrative. Die zerrissene Identität kann nicht in einer einzigen Sprache oder einer einzigen Wahrheit ausgedrückt werden, sondern muss durch die Spannung zwischen den gegensätzlichen Diskursebenen entstehen. Salvayres literarische Position ist damit von Anfang an als Ort der Vermittlung von Geschichte und Affekt definiert, was ihre Distanz zur narzisstischen Ein-Stimmen-Autofiktion begründet.
Mit Autoportrait à l’encre noire (2025) vollzieht die 77-jährige Lydie Salvayre eine riskante metatextuelle Wende, indem sie ausgerechnet die Form des Selbstporträts wählt, die sie intellektuell verachtet. Das Werk wird zur Bühne einer radikalen Selbstbefragung und einer Polemik gegen die zeitgenössische Literatur. Es entwirft eine Bilanz („inventaire“), indem es die grundlegenden biografischen und ästhetischen Obsessionen Salvayres sammelt und resümiert. Es legt die emotionalen und intellektuellen Grundlagen ihres Schaffens offen. Gleichzeitig ist es ein Metaroman (oder eine Meta-Autobiografie), da es ständig die Bedingungen und die Moralität des Erzählens selbst thematisiert. Die Erzählerin kämpft mit der abscheulichen Egozentrik des Selbstporträts und fragt sich, ob sie ihre Geschichte beschönigen soll oder schonungslos die Wahrheit über die eigenen „veuleries“ und „contradictions“ offenbaren. Sie stellt das Konzept des souveränen Autors infrage, indem sie betont, wie sehr sie von anderen inspiriert wurde und dass die Wahrheit oft durch fiktive Elemente besser erfasst werden kann, eine Erkenntnis, die die Grenzen zwischen faktischer Autobiografie und literarischer Kreation verschwimmen lässt. Das Autoportrait ist der Versuch, das eigene, als „fertiggestellt“ betrachtete Bild („cette image de moi derrière laquelle je me planquais“) neu zu verhandeln und sich selbst neu zu erfinden. Salvayre nutzt das Genre, um ihre ästhetischen Prinzipien zu manifestieren und eine literarische Verteidigungslinie gegen eine von ihr abgelehnte, kommerzialisierte Kultur aufzubauen, während sie die Rolle der Autorin in der Öffentlichkeit ständig hinterfragt.
Ein zentrales, polarisierendes Element des Autoportrait ist Salvayres Bekenntnis zu ihrer tiefen Verabscheuung und ihrem Ekel gegenüber einer zeitgenössischen Literatur, die sie als zügellos und obszöne Nabelschau („nombriliste effrénée et obscène“) empfindet. Sie kritisiert diesen Selbstkult, der jedem Idioten zugänglich ist („culte de soi à la portée du premier imbécile venu“), der lediglich dazu diene, ein Publikum anzuwerben und das Vakuum des Lebens zu kompensieren. Die Autorin ist sich der Widersprüchlichkeit bewusst, selbst ein Autoporträt zu verfassen, während sie diese Form verachtet. Sie löst dieses Dilemma, indem sie ihr Werk als eine Anti-Narzissmus-Übung anlegt. Das Schreiben wird durch eine übermäßige Aufrichtigkeit („sincérité excessive“) getragen und durch eine gute Portion Humor, Komik und Spott gebrochen. Indem Salvayre die Eitelkeit des autobiografischen Unterfangens mit Selbstironie demontiert, etabliert sie eine Ethik der Autofiktion: Das Schreiben des Selbst ist nur dann legitim, wenn es als kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Unvermögen und nicht als Selbstverklärung dient.
Zentral für den Text ist der Konflikt zwischen dem Akt der Selbstdarstellung und Salvayres tief empfundenem Ekel vor dem zeitgenössischen Narzissmus. Diese innere Zerrissenheit findet ihr Pendant im satirischen Dialog mit der Nachbarin Albane, einer enthusiastischen Verfechterin der marktgängigen New Romance-Literatur. Albane drängt die Erzählerin, eine erfolgreiche, leicht verdauliche Geschichte mit love story, mit „méchant“ (Bösewicht) und happy end zu liefern. Parallel zu dieser metafiktionalen Debatte entfaltet Salvayre ihre Identitätsachsen, geprägt von der Scham der Armut und dem Sprachtrauma des Fragnol, das zum frühkindlichen Schweigen führte.
Salvayre beginnt ihr Selbstporträt, indem sie ihren körperlichen Verfall und die damit einhergehenden Verheerungen der Zeit („outrages du temps“) vor ihrer eigentlichen Biografie thematisiert („J’ai vieilli. J’ai mochi.“ – „Ich bin alt geworden. Ich bin unansehnlich geworden.“). Die Poetik des Alters („vieillesse“) im Buch wird direkt am Anfang etabliert, nicht nur als physiologischer Zustand, sondern auch als existenzielle und literarische Herausforderung. Die Erzählerin beklagt dünnes Haar („cheveu rare“), schlaffe Haut („chairs flasques“) und ein müdes Gesicht („visage las“). Obwohl das Alter sie erreicht und degradiert („me fane et, de toute évidence, me dégrade“), versucht die Erzählerin, den Schein zu wahren. Sie unternimmt Anstrengungen, „weniger hässlich zu erscheinen“. Dies beinhaltet das Schminken der Augenlider, das Rougieren der Wangen und das Auftragen von rotem Lippenstift. Diese Bemühungen bergen das Risiko, wie eine „alte Kokotte“ auszusehen. Die Erzählerin akzeptiert ihre veränderte Erscheinung und stellt fest, dass sie dasselbe von sich sagen könnte wie ihre Mutter, die beim Blick in den Spiegel lachend sagte, sie sei „fea“ (hässlich) geworden.
Die Poetik des Alters ist stark von einem trotzigen Widerstandsgeist geprägt, der sich weigert, dem biologischen Ende nachzugeben. Die Erzählerin betont, dass das Alter sie nicht unterwirft („elle ne me soumet pas“). Sie fährt fort zu lesen, zu lieben, zu träumen, zu genießen und zu leiden. Das Alter ist mit Kummer verbunden, verursacht durch das Verschwinden von Freunden, das Schwinden einer verbleibenden Zukunft mit Bernard und der Gewissheit der Vereinsamung („l’esseulement“). Trotz der nahenden Endlichkeit ist die Erzählerin entschieden gegen den Tod („résolument réfractaire“) und möchte nicht von Bernard und ihrer Hündin Nana getrennt werden. Die Erzählerin zieht gleichwohl aus ihrem fortgeschrittenen Alter eine gewisse Freiheit. Sie ist „trop avancée en âge“ (zu weit fortgeschrittenen Alters), als dass Verurteilungen ihrer radikalen Äußerungen sie noch erreichen könnten. Dies ermöglicht ihr, sich ohne Angst vor Konsequenzen indesirabel oder skandalös zu zeigen, was sie als Zeichen eines freien Geistes sieht. Das aktuelle literarische Projekt (der Autoporträt) wird als potenzieller „chant du cygne“ (Schwanengesang), „crépuscule“ (Dämmerung) oder „fin de partie“ (Ende der Partie) betrachtet.
Im Alter wird die Reflexion über das eigene Leben vertieft und die früher als abgeschlossen betrachtete Identität wieder in Frage gestellt. Obwohl die Erzählerin dachte, „die Schleife sei geschlossen“ („la boucle était bouclée“) und ihr Porträt fertiggestellt, erkennt sie, dass das Leben ein instabiler, beweglicher Boden ist. Sie muss ihr Selbstbild, hinter dem sie sich versteckt hatte, neu definieren und es komplexer, nuancierter, veränderlicher machen. Die Erfahrung von Krebs im Alter (2014) verschärfte ihre existenzielle Einsicht: Sie erkannte, dass sie „endgültig allein vor dem Tod“ stand, frei von falschen Tröstungen. Trotz des Verlusts der Gesundheit („chauve, moche et triste“), führte die Krankheit literarisch zu einer neuen Jugend und der Neuentdeckung des satirischen Humors. Die Erzählerin fragt sich, was von ihrem Leben bleiben wird und wünscht sich, dass ihre Leser sich an sie als „einen schelmischen Wind“ („un vent fripon“) erinnern. Das Alter ist im Text auch durch eine anhaltende Schlaflosigkeit („insomnie“) gekennzeichnet, die sie als „Hundeleben“ („chiennerie“) bezeichnet und die sie als einen Trick ihres Vaters ansieht, um in ihr weiterzuleben. Sie kommt zu dem Schluss: „Es ist für nichts gut, alt zu werden“ („il ne sert à rien de vieillir“).
Kapitelübersicht
Présentation
Die Erzählerin beginnt ihr Autoportrait mit der schonungslosen Beschreibung ihrer Alterserscheinungen und der Ablehnung des konventionellen biographischen Einstiegs über Geburtsnamen und –ort, da sie stattdessen die Ablehnung ihres Namens Arjona und ihre komplizierte Herkunftsgeschichte betonen möchte. Das Eröffnungskapitel etabliert die grundlegenden Konfliktlinien des Textes – Alter, Identität, Sprache, Scham und das dysfunktionale Elternhaus spanischer Flüchtlinge – als Grundlage für die nachfolgende Selbstbetrachtung.
Perplexités
Die Autorin drückt tiefe Bedenken gegenüber ihrem eigenen Projekt aus, da sie die Selbstdarstellung und den „égotisme“ („abomination égotique“) in der zeitgenössischen Gesellschaft, insbesondere in sozialen Netzwerken, verabscheut. Diese kritische Selbstbefragung dient als intellektueller Rahmen für das gesamte Werk, indem sie das Autoportrait als eine notwendige kritische Auseinandersetzung mit den voyeuristischen Tendenzen der Zeit und dem Risiko der eigenen Obszönität positioniert.
Notes égotiques
In diesem Kapitel notiert die Erzählerin eine Reihe von rohen, zusammenhanglosen Bekenntnissen, die ihre widersprüchliche Natur offenbaren, darunter ihre tiefsitzende Scham, ihre Angst, öffentlich zu sprechen, ihre Abneigung gegen „große Gefühle“ und ihre unerschütterliche Hartnäckigkeit beim Schreiben. Diese ungefilterten Notizen erfüllen die Funktion, die versprochene „exzessive Aufrichtigkeit“ (nach Zwetajewa) zu demonstrieren und die Komplexität und Verletzlichkeit des Selbst jenseits der öffentlichen Persona zu beleuchten.
Sésame, ouvre-moi
Inspiriert durch die Wiederentdeckung eines in ihrem unsauberen Fragnol-Dialekt verfassten Briefes ihrer Mutter, bekräftigt die Erzählerin ihren Wunsch, das bisherige, klischeehafte Bild ihres Lebens zu demontieren. Die Wiederbelebung der mütterlichen Figur und ihrer Sprache markiert den Entschluss, die bisher fixierte Identität aufzubrechen und die verborgenen, unbedeutend oder schambesetzt geglaubten Aspekte ihrer Vergangenheit literarisch neu zu verhandeln.
Les grands principes
Albane argumentiert mit großer Geduld für die Übernahme der „großen Prinzipien“ der New Romance (Liebesgeschichte, Bösewicht, spektakuläres Ende), was die Erzählerin jedoch in Wut versetzt, da sie die Forderung nach einer „weniger verkopften“ und unschuldigeren Schreibweise als Angriff auf ihre Kunst betrachtet. Dieser Dialog dient als polemische Abgrenzung von der Trivialliteratur und bekräftigt den kompromisslosen, elitären Anspruch der Erzählerin an die Literatur, die per Definition „gefährlich“ sein müsse, um als Schöpfung zu gelten.
Une étoile dans la nuit
Albane fasst die Handlung des New Romance-Romans Une étoile dans la nuit zusammen, in dem die maskenbildnerin Cynthia in den distinguierten TV-Moderator Adelin verliebt ist, dessen Glück durch Cynthias Vater (aufgrund eines anarchistischen Tattoos) bedroht wird. Das Kapitel dient als karikaturhafte Darstellung der literarischen Konventionen, die Albane vorschlägt, wodurch Salvayre indirekt die mangelnde intellektuelle Tiefe und die klischeehaften sentimentalen Motive dieser Art von Bestseller kritisiert.
La love story
Die Erzählerin versucht, Albanes Forderung nach einer Liebesgeschichte zu erfüllen, indem sie ihre erste große Jugendliebe zu Pablo, einem „extrem trotzkistischen“ Führer, beschreibt, die jedoch scheiterte, als sie in seinem autoritären und belehrenden Tonfall eine Wiederholung der Tyrannei ihres verhassten Vaters erkannte. Das Kapitel demonstriert die Unvereinbarkeit der Erzählerin mit dogmatischer Politik und romantischen Klischees, indem die angestrebte Love Story am tief sitzenden Widerstand gegen die väterliche Autorität scheitert, was der Erzählerin selbst erst nachträglich klar wird.
Le grand méchant
In Erfüllung von Albanes Wunsch, einen Bösewicht zu präsentieren, porträtiert die Erzählerin ihren Vater als einen jähzornigen, tyrannischen und hasserfüllten Mann, dessen Wut gegen die gesamte Welt (außer der Sowjetunion) und vor allem gegen seine Familie gerichtet war. Dieses Kapitel legt die psychologische Grundlage für die lebenslangen Ängste und Schlaflosigkeit der Erzählerin dar, welche sie als eine Überlebensstrategie des Vaters in ihr begreift, und beleuchtet die mit Armut verbundene Scham, die die Familie durch ihn erlitt.
Le grand méchant – Suite
Die Beschreibung des Vaters wird vertieft, indem seine zeitweise Besänftigung durch Gartenarbeit und das Hören von Flamenco-Liedern seiner verlorenen Heimat Andalusien sowie sein fanatischer, unerschütterlicher Glaube an Stalin und den Kommunismus hervorgehoben werden. Die Erzählerin verdeutlicht, dass die starre Ideologie des Vaters jegliche politische Diskussion verunmöglichte und in familiäre Gewalt umschlug, wodurch die Töchter ihn abgrundtief hassten und sich wünschten, er würde sterben.
Mes colères spéculatives
Nachdem sie den familiären „Malheur“-Bericht auf Albanes Anraten hin kürzte, reflektiert die Erzählerin, dass sie die väterliche Neigung zur Wut geerbt hat, diese sich bei ihr aber in abstrakte, „spekulative Wutanfälle“ verwandelt hat, die nur noch in beißenden, zornigen literarischen Sätzen zum Ausdruck kommen. Dieses Kapitels analysiert die Sublimierung der Wut in literarische Irreverenz und bekräftigt Salvayres politische und ästhetische Haltung gegen die Heuchelei, die „Schönrednerei des Unglücks“ und den Zwang zur „Positivität“.
Le malheur d’enfance
Die Erzählerin beschreibt, dass das größte Unglück ihrer Kindheit die tiefe Scham über den „Fragnol“-Dialekt ihrer Eltern war, da sie in der Schule die grammatikalischen Fehler reproduzierte. Diese Erfahrung führte zu einem verzweifelten Schwur des Schweigens, was paradoxerweise ihren frühen Zugang zur Literatur und die Entwicklung ihres literarischen Geschmacks als Trost und Ausweg förderte.
La gloire de ma mère
Das Kapitel ist ein feierliches Porträt der Mutter Montserrat, die in der euphorischen libertären Aufbruchszeit 1936 in Barcelona zu sich selbst fand, später aber als Exilantin ein Leben voller Mühen und unerschütterlicher, selbstloser Güte und Geduld an der Seite ihres tyrannischen Mannes führte. Die Mutter dient als moralische Ankerfigur, deren unbedingte Liebe die Erzählerin vor „traurigen Leidenschaften“ bewahrte und deren unerwarteter Ausbruch von Mut gegenüber einem aufdringlichen Vermieter die Komplexität ihrer Güte beweist.
Mes lectures
Die Autorin legt ihre literarische Sozialisation dar, beginnend mit Hectors Malots Sans famille und Sartres Le Mur (das ihre Sexualität weckte), gefolgt von der Entdeckung des barocken Quevedo und der asketischen Eleganz der klassischen französischen Sprache. Das Kapitel legt die Wurzeln ihres einzigartigen Schreibstils offen, der durch die „liebevolle Kriegsführung“ zwischen barocker Übertreibung und klassischer Reinheit sowie durch Philosophen wie Nietzsche (als Schutz gegen Groll) und La Boétie (gegen freiwillige Knechtschaft) genährt wird.
L’épanouissement ou comment je suis née à moi-même
Die Erzählerin reflektiert über die Notwendigkeit, erst mit über vierzig Jahren zu schreiben, um ihre Sprachhemmungen zu kompensieren und die Scham und das Trauma der Kindheit zu bewältigen. Das Schreiben in ihrer „Zwischensprache“ zwischen Spanisch und Französisch wird als ein Akt der Selbsterkenntnis beschrieben, der eine beunruhigende Distanz zu sich selbst schafft und ihr die Unmöglichkeit der vollständigen Befreiung von familiären Prägungen (Vater) aufzeigt, selbst wenn sie diese im Text angreift.
Le rebondissement
Ein unkontrollierbarer, tief sitzender emotionaler Ausbruch beim Hören von Flamenco in Mont-de-Marsan zwang die Erzählerin zur Reflexion über das Verhalten ihres Vaters, den sie lebenslang verachtet hatte. Dieses zentrale Ereignis fungiert als eine „Offenbarung“, die ihre bisherige Lebensgeschichte ins Wanken bringt, indem sie die Wut des Vaters plötzlich als Ausdruck seiner unheilbaren Melancholie und seines Exil-Schmerzes versteht, anstatt sie als reine Bosheit abzutun.
Mes illusions perdues
Die Erzählerin beschreibt, wie ihre anfängliche, naive Faszination für das Pariser literarische Milieu schnell der Ernüchterung wich, als sie den oberflächlichen Klassendünkel, die Eitelkeit und die Intrigen der „schönen Geister“ erkannte. Das Kapitel leistet eine kritische Analyse der literarischen Gesellschaft, die sie schließlich zur Flucht aus Paris und zum Rückzug in die Einsamkeit bewegt, wodurch sie ihre Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Mechanismen des Erfolgs und der Schmeichelei manifestiert.
Le cancer
Im Jahr 2014 wurde bei der Erzählerin kurz vor der Verleihung des Prix Goncourt Brustkrebs diagnostiziert, was sie in Verzweiflung stürzte und sie zur Konfrontation mit ihrer Sterblichkeit zwang. Die Krebserfahrung dient als literarischer Katalysator, da sie der Erzählerin eine neue Perspektive auf ihre Beschwerden gibt und sie dazu inspiriert, satirische, „fröhliche“ Texte zu schreiben (z.B. Irréfutable essai de successologie), um mit schwarzem Humor dem Gefühl der Ausweglosigkeit und der Melancholie zu begegnen.
Journée perdue
Die Erzählerin definiert einen „verlorenen Tag“ als einen Tag, der ohne die Fragen, den Zweifel und das „Feuer“ des Schreibens vergeht. Dieses kurze, metatextuelle Kapitel rechtfertigt das Autoportrait, indem es auf Montaignes Sentenz verweist, dass das Selbst die gesamte menschliche Natur in sich trägt, und somit das „Ich“ im Text für ein universelles „Du“ stehen kann.
Nouvelle journée perdue
Albane fragt nach dem Fortschritt und drängt die Erzählerin erneut, eine „wohltuende Note“ oder einen Abschnitt über Glück einzufügen, um dem Text „Pepp“ zu verleihen. Der wiederkehrende Dialog dient dazu, die Erwartungshaltung des Massenmarktes zu wiederholen und die Erzählerin zur Suche nach einem unerwartet positiven Aspekt ihrer Vergangenheit zu bewegen.
La touche bienfaisante
Die Erzählerin benennt ihre vier Jahre als Ärztin in der psychiatrischen Klinik La Lauranne als eine wohltuende Zeit, in der sie von den obsessiven gesellschaftlichen Zwängen des Prestiges und der Produktivität befreit war. Die therapeutische Wirkung der Begegnung mit psychisch Kranken wird dargestellt, deren Indifferenz gegenüber materiellen Statussymbolen und deren „Wahnsinn“ sie als weniger beunruhigend empfand als die engstirnige Vernunft der „Normalen“.
Ma love story humanimale
Die Erzählerin versucht Albanes Wunsch nach einer Liebesgeschichte zu erfüllen, indem sie ihre tiefe, „humanimale“ Liebe zu ihrer Hündin Nana beschreibt, einem spinozistischen Wesen ohne Groll oder Scham, das ihre geheimsten Gefühle und Abneigungen erspürt. Das Kapitel dient als ironischer Abschluss des Themas Liebe, indem es die Beziehung zu einem Tier als tiefer und ehrlicher darstellt als viele menschliche Beziehungen, obwohl die Erzählerin feststellt, dass Nanas bürgerliche Existenz keinen „romanhaften“ Wert besitzt.
Happy end
Am Ende ihres Autoportrait gesteht die Erzählerin, dass die „absolute Wahrheit“ unmöglich mitzuteilen ist und sie viele Aspekte (wie etwa lebende Freunde) bewusst verschwiegen hat, da sie die Indiskretion des Genres vermeiden wollte. Das Schlusskapitel bekräftigt ihre Weigerung, sich dem Alter und dem Schmerz zu unterwerfen, und endet mit einem feierlichen Wunsch an die Leser, sie als „einen schelmischen Wind“ in Erinnerung zu behalten, was ihren anhaltenden Geist der Irreverenz unterstreicht.
Scham, Armut und die Wiederaneignung der Sprache
Ein tief verwurzelter roter Faden in Salvayres Schaffen ist die Scham in Verbindung mit der sozialen Herkunft und der Sprache. Die Erzählerin Lydie Arjona bekennt, dass die Scham über die Armut der Kindheit und das „lamentable“ Charabia aus Französisch und Spanisch eine lebenslange Sprachangst verursachte. Dieses frühe Schamgefühl wird rückblickend als Motor für ihr politisches Bewusstsein und ihren Wunsch, sich durch das Schreiben zu befreien, identifiziert. Dieser Fokus auf die soziale Stigmatisierung und die Notwendigkeit, Herkunft zu verschleiern, spiegelt sich bereits in früheren Werken, etwa in der Beschreibung der eigenen „basse extractions“ in Portrait de l’écrivain en animal domestique oder in der Scham über die billige Jacke des Charakters BW.
Die erzählte Identität Salvayres ist untrennbar mit der Erfahrung des Exils, der Armut und der daraus resultierenden Scham verbunden. Ihre Eltern, spanische Flüchtlinge, die 1939 in das Konzentrationslager Argelès-sur-Mer kamen, prägten ihr Leben durch Entbehrung und die Hybridität des Fragnol. Die Armut war eine Quelle tiefer Demütigung, die sie als Kind voll erlebte: „Wer ist der Idiot, der gesagt hat, Armut zähle nicht für Kinder?“ („Quel est l’imbécile qui a dit que la pauvreté ne comptait pas pour les enfants ?“) Die sichtbare Armut, etwa in der Kleidung, führte zu öffentlichen Demütigungen, deren Erinnerung an diese Demütigung („souvenir de cette humiliation“) sie bis in den Tod begleiten wird.
Die Darstellung der hybriden, von den spanischen Exil-Eltern gesprochenen Sprache, wird als die zentrale Quelle kindlicher Scham und Isolation inszeniert. Salvayre beschreibt das Fragnol als eine hinkende, aufgewühlte, raue Sprache („langue boiteuse, bousculée, rugueuse“), die voller Barbarismen, Sprachschnitzer, Neologismen, Grammatikfehler („der barbarismes, de solécismes, de néologismes, de fautes de grammaire“) ist und die akademische Sprache unverschämt („effrontément“) sabotiert.
Alors, après trois ou quatre expériences humiliantes où je me fais reprendre par mon institutrice, je décide, dans une sorte d’orgueil désespéré, de coudre ma bouche et de ne plus émettre un son.
Nach drei oder vier demütigenden Erfahrungen, bei denen ich von meiner Lehrerin zurechtgewiesen werde, beschließe ich in einer Art verzweifeltem Stolz, meinen Mund zuzunähen und keinen Ton mehr von mir zu geben.
Für das Kind ist diese unreine Sprache („langue impure“) zutiefst beschämend, insbesondere wenn die Erzählerin in der Schule die Fehler ihrer Eltern reproduziert. Als direkte Reaktion auf die demütigenden Erfahrungen („expériences humiliantes“) mit der Lehrerin beschließt das Kind in einer Art verzweifeltem Stolz, seinen Mund zuzunähen und keinen Ton mehr von sich zu geben („dans une sorte d’orgueil désespéré, de coudre ma bouche et de ne plus émettre un son“). Dieses Schweigegelübde („vœu de me taire“) ist so tiefgreifend, dass die Befürchtung, sich schlecht auszudrücken und die Scham auf sich zu ziehen („appréhension de mal dire et d’encourir la honte“) die Erzählerin noch siebzig Jahre später verfolgt und ihre öffentlichen Äußerungen als klägliches sprachliches Gestammel („piètres balbutiements vocaux“) erscheinen lässt. Diese frühkindliche Sprachlosigkeit wird jedoch zur paradoxen Geburtsstunde der Autorschaft, da die Erzählerin festhält: „Ich schreibe, weil ich nicht sprechen kann. Dessen bin ich mir sicher.“ („J’écris parce que je ne sais pas parler. De cela, je suis sûre.“), wobei die Literatur schließlich zur Rache der eigenen Scham und Schüchternheit („venger de ma honte et de ma timidité“) dient.
Ihr Schweigegelübde ist die Umkehrung des Schreibdrangs. Salvayre identifiziert diesen Akt als den Ursprung ihres späteren literarischen Daseins: „Ich schreibe, weil ich nicht sprechen kann. Dessen bin ich mir sicher.“ („J’écris parce que je ne sais pas parler. De cela, je suis sûre.“) Das Schreiben wird zur Wiederaneignung dieser abenteuerlichen Sprache („ langue aventureuse“). Die Überwindung der Scham ist für Salvayre nicht nur persönlich, sondern auch politisch: „der Wunsch, mich davon zu befreien, indem ich ihre sozialen Ursachen ans Licht brachte, ermöglichte mir, recht früh ein politisches Bewusstsein zu entwickeln“ („le désir de m’en délivrer en mettant au jour ses causes sociales m’avait permis d’avoir, assez tôt, une conscience politique“). Sie zitiert Nietzsche: „Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? — Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“ („Quel est le sceau de la liberté conquise ? – Ne plus avoir honte de soi-même.“)
Metaroman
Autoportrait à l’encre noire (2025) ist weniger ein traditioneller Roman als vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit und Obszönität des Selbstporträts, die Salvayres Leben, ihre Poetik und ihre Haltung zur zeitgenössischen Literatur verhandelt. Der Text bündelt Salvayres Werk, in dem die Autorin die zentralen Triebkräfte und ästhetischen Prinzipien ihres Schaffens schonungslos verarbeitet und verteidigt. Das Buch wurzelt thematisch in der lebenslangen Notwendigkeit, die Scham der armseligen Herkunft und die daraus resultierende Sprachangst zu überwinden, sowie in der Verarbeitung der väterlichen Dominanz, die als Motor für ihren Schreibakt dient, während sie die libertäre Haltung ihrer Mutter Montserrat feiert. Auf poetischer Ebene manifestiert sich das Autoportrait als radikale Kampfschrift, die die voltairesche Schnelligkeit und Konzisheit gegen die new romance und die „klebrige Weitschweifigkeit“ des Literaturbetriebs in Stellung bringt, verkörpert durch die kritische Auseinandersetzung mit der Kontrastfigur Albane.
Je réplique d’un air supérieur que c’est un genre qui cartonne mondialement précisément parce qu’il est médiocre. Les portes sont toujours grandes ouvertes à la médiocrité, pour la bonne raison qu’elle est bien moins dangereuse que l’excellence et que, depuis que le monde est monde, les hommes s’en repaissent. Au demeurant, je soutiens mordicus ceci : une création qui n’est pas dangereuse ne mérite en aucun cas d’être appelée création ! Et son corollaire : seuls les courageux sont aptes à la création ! Envoyé !
Ich erwidere mit überheblicher Miene, dass es ein Genre ist, das weltweit gerade deshalb einschlägt, weil es mittelmäßig ist. Die Türen stehen der Mittelmäßigkeit immer offen, aus dem einfachen Grund, dass sie viel ungefährlicher ist als die Exzellenz und sich die Menschen seit Anbeginn der Welt daran laben. Im Übrigen behaupte ich vehement: Eine Kreation, die nicht gefährlich ist, verdient in keinem Fall, Kreation genannt zu werden! Und die logische Folge davon: Nur die Mutigen sind zur Kreation fähig! Abgeschickt!
Salvayre kehrt Albanes Argument, der weltweite Erfolg der new romance sei ein Beweis für die Qualität, ins Gegenteil um. Sie postuliert, dass der Erfolg dieser Literatu direkt auf ihrer Mittelmäßigkeit beruht, da diese ungefährlicher sei als wahre Exzellenz. Für Salvayre muss wahre Kunst „gefährlich“ sein, die new romance hingegen ist ein Produkt, das die Gesellschaft mit dem Status quo zufriedenstellt. Hier vertritt Salvayre einen elitär-radikalen Kunstanspruch, der Mut und Risiko der Exzellenz über die Konformität stellt.
Indem Salvayre explizit fragt, ob ihre fiktiven Doppelgänger (wie in La Puissance des mouches) ihr Porträt nicht schon wahrhaftiger gezeichnet haben, und sich auf literarische Vorbilder wie Zwetajewa beruft, verwischt sie bewusst die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, um das Schreiben als existenzielle Notwendigkeit und als unaufhörlichen Akt der Selbstneuerfindung in schwarzer Tinte zu begreifen. Das Buch ist eine Bündelung der literarischen Ahnenreihe („Mes lectures“) von Salvayre. Sie zählt Autoren auf, die sie „als Schriftstellerin hervorgebracht haben“. Dazu gehört neben Zwetajewa, deren Forderung nach „exzessiver Aufrichtigkeit“ zu Salvayres Leitlinie werden, auch Sylvia Plath, die sie für die Fähigkeit bewundert, das Trivialste und Hässlichste des Alltags („casseroles sales et les pantoufles“) in das Poetische zu integrieren. Schließlich wird Don Quijote, dessen Wiederentdeckung sie in Rêver debout feierte, erneut als „Träumer, Subversiver, Großzügiger, Feminist“ und als Beispiel für den unbeugsamen Kampf gegen eine ungerechte Realität gewürdigt.
Salvayres jüngstes Buch präsentiert sich nicht nur als Autobiografie, sondern zugleich als eine umfassende Bündelung des eigenen literarischen Werks, gekennzeichnet durch eine intensive metaromanhafte Selbstbefragung und ästhetische Standortbestimmung. Es fungiert als ein Palimpsest, in dem zentrale Themen, Figuren und Poetiken ihrer früheren Romane und Essays wieder aufgegriffen, analysiert und neu bewertet werden, oft in expliziter Auseinandersetzung mit der Künstlichkeit des autobiografischen Genres selbst.
Lydie Salvayres Roman La Déclaration (1990) nennt die Erzählerin in Autoportrait à l’encre noir als ihren ersten Roman, der eine Art Rache für ihre Wortkargheit im Leben bildet. – La Puissance des mouches (1995) erzählt aus der Zelle eines Mörders, der als Museumsführer in Port-Royal arbeitete und dessen sarkastische, zitatenreiche Sprache durch sein Verbrechen befreit wurde, um seine schwierige Kindheit und seine Beziehung zu seiner Frau zu reflektieren. In Autoportrait fragt sich die Erzählerin, ob sie selbst hinter der parrizidalen Museumsführerfigur steckte, und zählt das Werk zu jenen, in denen die Wut gegen die bornierte Autorität seiner Chefs und seines verhassten Vaters gerichtet ist. – La Compagnie des spectres (1997) handelt von einer Frau, die ihre Gegenwart mit dem Jahr 1943 gleichsetzt, dem Jahr, in dem ihr Bruder von Milizionären gefoltert wurde, was in ihr Hass, Wahnsinn und die Konfrontation mit einem Gerichtsvollzieher auslöst. Die Erzählerin in Autoportrait führt dieses Werk als ein Beispiel dafür an, dass sich ihre fiktive Figur Rose Mélie gegen den Horror des Pétainismus auflehnt. – Les Belles Âmes (2000) Der Roman beschreibt die „Reality Tour“ einer Gruppe aufgeklärter Touristen und ihres priesterähnlichen Begleiters durch die „Fäulnis“ europäischer Städte, wo sie mit Elend und Apathie konfrontiert werden, was ihre künstlerische Empfindlichkeit in Frage stellt. In Autoportrait erwähnt die Erzählerin den Titel sarkastisch, indem sie die Rückkehr ihrer „Bösen“ fordert, da die Liebe in Liebesromanen dazu führt, dass man sich auf die Seite der schönen Seelen schlägt. – Bei Contre (2002) handelt es sich um einen radikalen, wütenden Text, der sich gegen Heuchelei, tote Ideale, Denkmäler und gegen jene richtet, die sich auf Reinheit („pureté“) berufen. Die Erzählerin in Autoportrait erklärt, dass all ihre diversen Wutanfälle in diesem Text konvergierten und zusammenflossen, den sie 2002 beim Festival d’Avignon las. – La Méthode Mila (2005) handelt von einem Mann, der sich um seine alternde Mutter kümmert, Descartes‘ kalte Vernunft in Frage stellt und schließlich bei der extravaganten Mila Rat sucht, die ihn in die Liebe und das Verstehen der illogischen Wahrheiten des Lebens („fables“) einführt. In Autoportrait wird Mila als eine fiktive Figur der Erzählerin genannt, deren Zorn sich gegen die kalte kartesische Vernunft richtet, welche die Vernunft des Herzens ignoriert. – Pas pleurer (2014) kombiniert die Erzählung von Montse, der Mutter der Erzählerin, über die glückseligen libertären Aufstandstage 1936 in Spanien mit den erschreckenden Chroniken von Georges Bernanos über den nationalistischen Terror auf Mallorca. – In Marcher jusqu’au soir (2019) nennt die Erzählerin ihren Vater erstmals beim Namen. Die Erzählerin in Autoportrait bestätigt, dass sie hier zum ersten Mal das langjährige Schweigen der Familie über seine psychiatrische Internierung gebrochen hat. – In Rêver debout (2021) feiert die Erzählerin in 15 Briefen an Cervantes den Don Quijote als den Inbegriff des Rebellen, dessen Verlangen darin besteht, die Ungerechtigkeit der Realität auf die Größe seiner Träume von Gerechtigkeit auszudehnen. Die Erzählerin in Autoportrait erklärt, dass sie nach der Wiederentdeckung des Quijote dieses Buch schrieb und ihre eigene Liebesgeschichte nach dem Vorbild von Goethes Die Leiden des jungen Werther thematisierte.
Salvayres Autoportrait stellt in seiner radikalen Selbsterforschung und mit seinen Polemiken eine literaturwissenschaftliche Herausforderung dar. Der Text entfaltet seine literarische Bedeutung maßgeblich durch eine Reihe von teils aggressiven, teils subtilen polemischen Strategien, die darauf abzielen, zeitgenössische literarische Konventionen, soziale Haltungen und den kulturellen Markt anzugreifen und gleichzeitig die eigene Ästhetik und Haltung zu legitimieren. Dies ist das zentrale Strukturprinzip des Textes, oft als humorvolle, aber unerbittliche intellektuelle Kriegsführung inszeniert.
Die dunkle Figur des Vaters und die toxischen Familienbeziehungen, die Salvayre in Romanen wie La Puissance des mouches und Marcher jusqu’au soir erkundete, finden im Autoportrait eine direkte autobiografische Verarbeitung. Sie beschreibt die „schmerzhafte Dominanz“ des Vaters, dessen Jähzorn und Wut sie zur „boussole“ für ihren Kampf gegen jegliche Unterdrückung formten. Die Notwendigkeit, das „väterliche Joch zu überwinden“ und das familiäre Unglück in ein literarisches Objekt zu verwandeln, wird als eine treibende Kraft für ihr Schreiben bestätigt. Parallel dazu wird die Mutter Montserrat, bekannt aus dem Goncourt-gekrönten Pas pleurer, unter dem Kapitel „La gloire de ma mère“ erneut gefeiert. Ihre Erinnerungen an die anarchistische Insurrektion von 1936 in Spanien, die Montse als „pure Verzauberung“ und als die intensivste Zeit ihres Lebens empfand, bleiben ein zentrales Ideal der Freiheit, dem das Autoportrait seine Existenz verdankt.
Auch Figuren aus Salvayres fiktivem Kosmos werden re-integriert. Explizit wird etwa Bernard, der titelgebende Charakter des Romans BW, als ihr Partner und ihr lebendiges Gedächtnis genannt. Die Erzählerin reflektiert, ob ihre fiktiven Schöpfungen – wie der Museumsführer in La Puissance des mouches – nicht längst ihr heimliches Porträt gezeichnet haben, da all ihre Bücher aus ihrem „engsten eigenen Leben“ schöpfen.
Die literarische Ästhetik, die Salvayre in früheren manifestartigen Texten wie Contre entwickelte, wird im jüngsten Buch bekräftigt und verteidigt. Sie plädiert für die Poetik der Kürze und des Angriffs und stellt diese der schleimige Weitschweifigkeit der modernen Literatur entgegen. Ihre „abstrakten Wutausbrüche“ („colères spéculatives“) werden als treibende Kraft des Schreibens und als notwendige Antwort auf Ungerechtigkeit und soziale Verlogenheit präsentiert.
Die Legitimation des Selbst
Je je je, moi moi moi, « de tous les pronoms, les plus abjects », avait écrit mon admiré Carlo Emilio Gadda.
Ich, ich, ich – „von allen Fürwörtern die abscheulichsten“, schrieb einst mein verehrter Carlo Emilio Gadda.
Das Autoportrait à l’encre noire versteht sich als reflexives und selbstkritisches Unterfangen, das sich bewusst gegen die Auswüchse der zeitgenössischen Autobiografie stellt. Salvayre beginnt mit einer Verurteilung des Narzissmus: Sie verabscheut die Individuen, die täglich, in den Netzwerken und anderswo, die Zurschaustellung ihres kleinen Lebens, ihrer kleinen Liebschaften, ihrer kleinen Neurosen („journellement, sur les réseaux et ailleurs, l’étalage de leur petite vie, leurs petites amours, leurs petites névroses“) betreiben. Dieses Phänomen wird als egoistische Abscheulichkeit („abomination égotique“) und Obszönität („obscénité“) verurteilt. Die Erzählerin gesteht ihre eigene Verwirrung, als sie bemerkt, dass sie Gefahr läuft, die Masse dieser Exhibitionisten nachzuahmen („à imiter la foule de ces exhibitionnistes“).
Die Selbstverurteilung wird zur ethischen Voraussetzung des Schreibens. Salvayre entgeht dem Vorwurf des Narzissmus nur durch die Berufung auf eine fast asketische, radikale Aufrichtigkeit. Sie beruft sich auf Zwetajewa, um ihren inneren Konflikt bezüglich des Schreibens eines Selbstporträts zu lösen, das sie als eine potenziell narzisstische „masturbation publique“ empfindet. Die Erzählerin sucht nach einem Weg, der Eitelkeit des zeitgenössischen Egotismus zu entgehen.
Salvayre strebt kein aufreizendes, verführerisches, wenn nicht gar hurenhaftes Bild („image racoleuse, aguicheuse, sinon putassière“) an. Das Genre des Selbstporträts wird durch Selbstzweifel legitimiert: „Würde meine Selbstachtung mein Urteilsvermögen trüben und meine Unvoreingenommenheit beeinträchtigen? Würde ich distanziert genug sein, um ein gerechtes Bild von mir zu vermitteln?“ („Mon amour-propre n’allait-il pas fausser mon jugement et troubler mon impartialité ? Serais-je assez détachée pour donner de moi une image juste ?“) Sie zieht sogar die Möglichkeit in Betracht, dass ihre fiktiven Werke ein ehrlicheres Negativporträt („Portrait en creux“) ihrer selbst gezeichnet haben könnten. Im Rahmen ihrer polemischen Verteidigung der kompromisslosen Literatur und des Widerstands gegen Konformität und Zensur wird Zwetajewa als historische Figur des literarischen Trotzes zitiert. Salvayre stellt sie in eine Reihe mit anderen revolutionären oder verfemten Dichtern und Denkern (Voltaire, Flaubert, Baudelaire, Mandelstam), die einen hohen Preis für ihre Unbeugsamkeit zahlten.
Im Kapitel über Mes colères spéculatives verteidigt Salvayre die Freiheit des Geistes gegen alle Formen der Unterwerfung: „Marina Zwetajewa, die niemand und nichts unterwerfen konnte, denn man hält den Vesuv nicht mit Weinreben fest“ („Marina Tsvetaeva, que rien ni personne ne put soumettre, puisqu’ on n’immobilise pas le Vésuve par des vignes“). Dieses Zitat, das als Anmerkung zu einem Werk von Zwetajewa ( Tentative de jalousie) verweist, etabliert sie als Archetyp der unbezwingbaren Künstlerin. Sie symbolisiert die radikale Autonomie der Literatur, die sich weder den politischen Diktaten (im Gegensatz zu Zwetajewas Zeitgenossen in der Sowjetunion) noch den Konventionen der Moral oder des Marktes (im Gegensatz zu Albanes Forderungen) unterwirft. Zwetajewa verkörpert jenen esprit libre (freien Geist), der sich nicht in irgendeiner Schule reglementieren ( „enrégimentée dans une quelconque école“ ) lässt. Darüber hinaus ist Zwetajewa eine der sieben Frauen, denen Salvayre einen Essayband gewidmet hat (Emily Brontë, Marina Zwetajewa, Virginia Woolf, Colette, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann, Djuna Barnes). Dies unterstreicht die tiefe und andauernde intellektuelle Bewunderung Salvayres für Tsvetaeva und bestätigt ihre Stellung als Schlüsselfigur in Salvayres persönlichem Pantheon der Autorschaft.
Don Quijote mit Sancho und Lydie mit Albane
Ein besonderes Merkmal des Buches ist die dialogische Begegnung mit einer jungen Nachbarin, einer enthusiastischen Anhängerin der New Romance und bedingungslosen Adeptin der Plattform BookTok. Diese Konfrontation führt zu Gefechten („joutes malignes“) über literarische Meinungsverschiedenheiten. Diese Dialoge dienen als metatextuelles Mittel, um Salvayres tiefe Verwurzelung in der klassischen Literatur (Rimbaud, Baudelaire, Sartre, Spinoza, Beckett) und ihre Abneigung gegen die schnelllebige Konsumkultur zu verteidigen. Obwohl die literarischen Positionen scharf voneinander abweichen, mildert die am Ende stets siegende Freundschaft die Gegensätze. Die Dichotomie zwischen den Generationen erdet Salvayres risikoreichen Ansatz der intimen Selbstbefragung, da sie das Ich in Beziehung zu einer pluralistischen, wenn auch kritisch betrachteten, Gegenwart setzt.
Die Figurenkonstellation aus der intellektuellen, melancholischen Ich-Erzählerin (Lydie) und der pragmatischen, marktorientierten Albane ist die zentrale kommunikative Achse des Textes. Albane, die junge Nachbarin, ist Fan der new romance, die von Bestsellern diktiert wird, und Verfechterin des feel good. Sie ist die Anti-Muse, die Salvayre unablässig zu literarischer und sozialer Anpassung auffordert. Albane kritisiert Lydies kompromisslosen Stil als zu anstrengend und altmodisch: „eine Schreibweise, die den Kopf nicht anstrengt, wohlgemerkt. Sie beharrte darauf: die den Kopf nicht anstrengt!“ („une écriture qui prend pas la tête, quoi. Elle a insisté : qui prend pas la tête !“). Albane diagnostiziert Lydies literarische „déficiences“, darunter Schüchternheit, Ablehnung sozialer Medien und die Kürze ihrer Bücher. Die Erzählerin antwortet mit einer vehementen Polemik zur Ästhetik der Kürze und Gefahr:
La concision, la fulgurance, le tranchant, la dureté lapidaire, la vitesse voltairienne, l’art de la flèche, l’attaque frontale, incisive et abrupte, le coup de fouet qui cravache la phrase en éliminant les peaux mortes et tout ce qui s’étiole et meurt… exigent bien plus de talent que la prolixité poisseuse et les tours, détours, circonvolutions et boursouflures de tes romances aussi bavardes qu’interminables. Quand le comprendra-t-on, putain !
Die Prägnanz, das Aufblitzen, die Schärfe, die lapidare Härte, die voltairianische Geschwindigkeit, die Kunst des Pfeils, der frontale, einschneidende und abrupte Angriff, der Peitschenhieb, der den Satz antreibt, indem er abgestorbene Haut und alles, was verkümmert und stirbt, eliminiert … all das erfordert viel mehr Talent als die klebrige Weitschweifigkeit und die Schleifen, Umwege, Umschweife und Aufgeblasenheit deiner romances, die ebenso geschwätzig wie endlos sind. Wann wird man das endlich verstehen, verdammt!
Salvayre idealisiert die Kürze und Prägnision als Zeichen von großem Talent und Raffinesse. Im krassen Gegensatz dazu stehen die romances, die sie mit Wörtern wie „klebrige Weitschweifigkeit“ und „Aufgeblasenheit“ beschreibt. Die Ablehnung der romance ist hier eine tief verwurzelte ästhetische Verurteilung eines Schreibstils, den sie als geschwätzig und talentfrei erachtet. Die Kürze wird hier als ästhetischer Akt des Widerstands in der Quintessenz gefeiert und dem schlaffen Verwässern der romances gegenübergestellt. Die Erzählerin setzt ihren Grundsatz davon ab: „eine Schöpfung, die nicht gefährlich ist, verdient es auf keinen Fall, Schöpfung genannt zu werden!“ („une création qui n’est pas dangereuse ne mérite en aucun cas d’être appelée création !“) Albane ist dabei nicht nur Antagonistin, sondern auch literarischer sparring partner, der Salvayre dazu zwingt, ihre poetischen grands principes gegen die Mittelmäßigkeit zu verteidigen. Ihre Beziehung ist, trotz Meinungsverschiedenheiten, von Freundschaft und schroffer Zuneigung geprägt.
Lydie Salvayre interpretiert Don Quijote und Sancho Panza als ein fundamentales, komplementäres Gegensatzpaar („sol y sombra“), das die universelle conditio humana abbildet. Don Quijote verkörpert den radikalen Idealisten und Dichter, der Anarchist bis ins Mark („anar jusqu’à la moelle“) ist, beseelt von einer unheilbaren Güte und dem Glauben an die Gerechtigkeit. Er sieht die Realität vom Vorgebirge des Traumes („promontoire du songe“) und versucht, Literatur in reales Handeln umzusetzen, wobei er jedoch häufig scheitert, da er die Machtverhältnisse ignoriert. Sancho Panza hingegen repräsentiert den gesunden Menschenverstand („bon sens“) und die bodenständige Realität. Er dient seinem Herrn als Garde-Fou und Band zur menschlichen Gemeinschaft, wird aber im Gegenzug durch DQ aus einer „eingegrenzten und furchtbar häuslichen“ Existenz gerissen und zu Wahlfreiheit und Sprache befähigt.
In Autoportraits à l’encre noire nutzt Salvayre dieses Duo, um ihr eigenes existentielles und literarisches Dilemma zu erforschen. Sie sieht sich selbst im Widerstreit mit dem „alten Kehrreim“ der Unvereinbarkeit von Traum und Tat („réconcilier le rêve et l’agir“), da Don Quijote bei diesem Versuch „hundertmal scheiterte“. Die Autorin identifiziert sich mit seiner Neigung zur Auflehnung und verwendet das Paar als Metapher für ihre Beziehungen, beispielsweise wenn ihre Freundin Albane die Rolle des Sancho einnimmt, die besonnen auf Salvayres „donquijotische Reden“ reagiert. Salvayre bewundert Cervantes‘ Kunstfertigkeit, die Güte Don Quijotes nicht direkt durch Lobeshymnen, sondern indirekt darzustellen, wodurch sie ihre eigene literarische Herausforderung beleuchtet, wahre Güte und Aufrichtigkeit in der Satire zu ehren.
Die folgende Stelle findet sich im Kontext der Reflexion über die fehlgeschlagene love story mit dem trotzkistischen Aktivisten Pablo, die abrupt endet, weil der strenge, dogmatische Ton des Aktivisten die Erzählerin zu sehr an ihren despotischen Vater erinnert.
En bon Sancho qu’elle est pour moi, Albane réagit toujours très posément à mes discours donquichottesques sur l’anticonformisme, le courage de déplaire, l’art de l’impertinence et autres dadas chers à mon cœur.
Als der gute Sancho, der sie für mich ist, reagiert Albane immer sehr gefasst auf meine donquijotischen Reden über den Antikonformismus, den Mut, zu missfallen, die Kunst der Impertinenz und andere Steckenpferde, die meinem Herzen lieb sind.
Die Erzählerin ordnet ihre eigenen leidenschaftlichen und polemischen Äußerungen gegen die Mittelmäßigkeit des Marktes und die freiwillige Knechtschaft („servitude volontaire“) als idealistisch im Sinne Don Quijotes ein. Albane hingegen erfüllt die Funktion des Sancho Panza, indem sie „très posément“ (sehr gefasst/ruhig) darauf reagiert. Sie erdet die Erzählerin in der Realität der Marktmechanismen und des gesunden Menschenverstands, ähnlich wie Sancho Panza Don Quixotes ritterliche Wahnvorstellungen mit pragmatischen Notwendigkeiten konfrontiert. Die Bezeichnung Albane als „der gute Sancho, der sie für mich ist“ („bon Sancho qu’elle est pour moi“) deutet darauf hin, dass die Erzählerin Albanes Rolle nicht nur als antagonistisch, sondern auch als notwendig und unterstützend für die Selbstreflexion und die poetische Verteidigung ansieht. Die Figurenkonstellation funktioniert somit als literarische Dialektik zwischen idealistischer Kunstfreiheit (Quichotte/Salvayre) und marktkonformer Realität (Sancho/Albane).
Don Quijote dient Lydie Salvayre als ein zentrales, radikales Vorbild, das sowohl in ihrem essayistischen Werk Rêver debout (Aufrecht träumen) als auch in ihrem autobiografischen Autoportrait à l’encre noir die Haltung der unerschütterlichen Insubordination verankert. In Rêver debout wird Don Quijote als der „Rebell par excellence“ gefeiert, dessen Antrieb der „ferne Wunsch“ ist, eine „enge und ungerechte Realität“ auf die Dimensionen seines Traums von Gerechtigkeit auszudehnen. Dieses idealistische Projekt, das sich gegen „crapuleuse injustice“ und „mépris social“ wendet, bildet das Fundament für Salvayres eigenes Schaffen. Ähnlich wie Quijote die Waffe ergreift, um die Ungebühr abzustellen, ergreift Salvayre in Autoportrait die Feder, um ihre lebenslange Scham und Wut zu sublimieren und literarische Rache zu nehmen. Don Quijote ist dadurch der „Bruder Aufruhr“ („frère insurgé“), dessen „radikale Insubordination“ in einer „brutalen Welt“ die literarische Legitimation für Salvayres unzeitgemäße und zornige Stimme bietet.
Die Wiederbelebung eines verlorenen, idealistischen Kampfes ist ein gemeinsamer Nenner beider Werke, was sich in der Konfrontation mit literarischen Konventionen manifestiert. Don Quijote, verzaubert von den Ritterbüchern, versucht, den „bereits vergessenen Beruf der abenteuernden Ritterschaft“ in einer Welt wiederzuerwecken, die diesen Idealismus längst hinter sich gelassen hat. In ähnlicher Weise lehnt Salvayres Erzählerin in Autoportrait die Forderungen des zeitgenössischen Verlagsmarktes vehement ab, insbesondere die Trivialität, die die Nachbarin und Lektorin Albane unter dem Deckmantel der „großen Prinzipien“ der New Romance einfordert. Don Quijotes Kampf zur Wiederherstellung der Ehre und des Rittertums ist äquivalent zu Salvayres Kampf zur Verteidigung einer „gefährlichen“ Literatur, die per Definition „gefährlich“ sein muss, um als Schöpfung zu gelten. Don Quijote dient als Vorbild für die „große Kühnheit“, die nötig ist, um einem literarischen Regime, das „unschuldige“ und „weniger verkopfte“ Werke fordert, die Stirn zu bieten.
Diese „gefährlichen“ Ritterromane („romans de chevalerie“), die Don Quijote verschlingt und verherrlicht, stehen in einem komplexen Verhältnis zur New Romance-Literatur, welche Salvayre in Autoportrait kritisiert. Im Spanien des 17. Jahrhunderts wurden die Ritterromane von den Gebildeten als „gefährlich anachronistisch und verderblich für ernsthafte Gemüter“ empfunden, weil sie voller „ungeheuerlicher Abgeschmacktheiten“ waren. Kritiker wie der Domherr argumentierten, dass sie „Lüge und leichtfertige Torheit“ seien und „sich ganz außerhalb der Verhältnisse bewegen, die der Menschennatur gemäß sind“. Salvayres Kritik zielt jedoch nicht auf die Unwahrscheinlichkeit, sondern auf die geistige Beschränkung des modernen Trivialromans. Die New Romance erfordert eine „love story“, einen „Bösewicht“ und ein „spektakuläres Ende“, was im Gegensatz zu Quijotes platonischer, unerreichbarer Liebe zu Dulcinea steht. Don Quijote widersetzt sich der „langweiligen Vernunft“, während Salvayre die „großen Prinzipien“ der New Romance als banale Vereinfachung der menschlichen Komplexität polemisch ablehnt.
Die Gegenüberstellung von Sancho Panza mit der Nachbarin Albane bzw. den literarischen Kritikern Salvayres beleuchtet das Spannungsfeld zwischen Idealismus und prosaischer Realität. Sancho repräsentiert die „Prosa“ des Lebens, den groben, aber loyalen Schildknappen. Er ist der Mann der Sprichwörter, der nach Essen und Inseln strebt. Wenn Don Quijote von Dulcineas „balsamischem Hauch“ spricht, erinnert Sancho ihn daran, dass sie vielmehr nach „übernächtigem Fleischsalat“ oder Schweiß roch. Dieser prosaische Realismus Sanchos kontrastiert scharf mit Albane, die in Autoportrait Salvayre dazu drängt, einen Roman zu schreiben, der „weniger verkopft“ und mit „lieblichen Gesten“ gefüllt sei. Während Sancho die Realität aus praktischen Gründen sieht (Prügel, Essen), reduziert Albane die Realität aus kommerziellen Gründen auf konventionelle, verdauliche Fiktion. Damit dient Albane als Karikatur der literarischen Konvention, die Salvayre ablehnt, wohingegen Sancho als ehrlicher, wenn auch ungeschlachter, Korrektor des Idealismus des Don Quijote wirkt.
Dennoch sieht Salvayre in Rêver debout, dass der „wackere Sancho“ durch die Nähe zu seinem Herrn eine Chance erhält. Ihre Gespräche finden auf „hoher Flughöhe“ statt, was Sancho „in Würde“ zu Quijotes Ebenbild macht. Salvayre betont, dass die Dualität von Don Quijote (dem Poeten) und Sancho (dem Prosaiker) im Leser koexistiert. Die Erzählerin selbst schwankt zwischen dem Wunsch nach „absoluter Wahrheit“ und der „Verabscheuung der eigenen Obszönität“. Don Quijote und Sancho bilden ein „Spiegelbild“ für uns alle, und Salvayre findet in diesem quijotischen Ringen zwischen Ideal und Realität, Poesie und Pragmatik, die notwendige Form für ihr komplexes, offenes Selbstporträt, das sich selbst als „schelmischer Wind“ sehen möchte.
Die Zeit-Struktur und die späte Transformation des „Grand Méchant“
Die Erzählerin ringt mit dem Bild ihres jähzornigen Vaters, bis ein kathartisches Erlebnis beim Flamenco zu einer späten, mitfühlenden Neubewertung seiner Wut als Melancholie des Exils führt. Der Text reflektiert fortwährend die „illusions perdues“ (verlorenen Illusionen) des Literaturbetriebs und die Spannung zwischen sozialem Engagement und radikaler Freiheit der Literatur. Im Schlussteil verweigert Salvayre die totale Offenlegung und formuliert ein Abschiedsbekenntnis zur Beweglichkeit und Ungebundenheit.
Die chronologische Linearität wird zugunsten einer assoziativen und emotiven Zeitstruktur aufgegeben, in der die Kindheit zwar die Quelle des Traumas ist, aber nachträglich neu interpretiert werden kann. Der Vater, „le grand méchant“, ist die Inkarnation der Wut in Person („colère en personne“), tyrannisch, stürmisch, jähzornig („tempétueux, irascible“). Die Kinder hassen ihn bis zum Wunsch, ihn abzumurksen („zigouiller“) und ihn als Ursache ihrer Armut und Scham zu verfluchen. Der Wendepunkt („rebondissement“) geschieht unerwartet durch die unwiderstehliche emotionale Erschütterung beim Flamenco. Dies zwingt die Erzählerin zur radikalen Relektüre der Vaterfigur:
Et si ses colères, supputai-je soudain, si ses colères qui m’avaient tant effrayée dans l’enfance n’étaient chez lui que l’autre nom de sa mélancolie?
Und wenn seine Wut, spekulierte ich plötzlich, wenn seine Wut, die mich in der Kindheit so sehr erschreckte, bei ihm nur der andere Name seiner Melancholie war?
Die Wut des Vaters wird als Ersatzhandlung für die verbotenen Tränen des Exilanten identifiziert: „ Mein Vater hatte es nicht gewusst, nicht weinen können, weinen wollen. Weil ein richtiger Mann … ein hombre verdadero nicht weint.“ („Mon père n’avait pas su, pas pu, pas voulu pleurer. Puisqu’un homme, un vrai… un hombre verdadero no llora.“). Seine Wut war der einzige Weg, sein namenloses Leid („chagrin sans nom“) und den Verlust (perte) seiner Heimat und seiner bourgeoisen Jugend auszudrücken. Lydies Tränen beim Flamenco sind somit ein stellvertretender Akt des Weinens für ihren Vater, der ihn vom méchant zum Opfer des Exils macht, dessen Bösartigkeit… ein anderer Name seines Kummers war („méchanceté était… l’autre nom de son chagrin“). Diese Offenbarung ist eine Erschütterung („déflagration“), die Salvayres Identität – die sich gegen jene aufgebaut hatte – destabilisiert und die Unabgeschlossenheit des Selbst beweist: „wir sind niemals fertig, sondern immer, immer in Bewegung“ („ nous ne sommes jamais finis mais toujours, toujours en mouvement.“).
Kampf gegen die geistige Knechtschaft
Salvayres Ablehnung des Narzissmus korrespondiert mit ihrer Ablehnung jeglicher geistiger Knechtschaft („servitude volontaire“). Ihr Selbstbild wird durch die ständige introspektive Befragung der eigenen Motive geschärft, etwa in den Notes égotiques. Sie kritisiert die eigene Neigung, Manifeste zu unterschreiben, „obwohl es sich in meinen Augen nur darum handelt, meine schöne Seele billig zur Schau zu stellen“ („bien qu’il ne s’agisse à mes yeux que de faire montre de ma belle âme à peu de frais“).
Salvayre ist sich ihrer Widersprüche und Unvollkommenheiten bewusst. Sie fragt, ob sie den Mut haben wird, ihre Kleinigkeiten, Ausflüchte, Feigheiten und Widersprüche („petitesses, mes dérobades, mes veuleries et mes contradictions“) nicht auszulöschen, und ob sie die sowohl lachende als auch traurige Distanz („distance à la fois rieuse et désolée“) der Ironie bewahren kann. Ihre Selbstverteidigung gegen die Kritik des Literaturbetriebs ist die Behauptung, ihre Schüchternheit sei das Äquivalent zur Kühnheit ihres Geistes („audace de mon esprit“).
Das Engagement wird als notwendige Freude am Widerstand formuliert. Sie setzt ihre Wut in spekulative, literarische Wut um („colères spéculatives“), gerichtet gegen das hässliche Lachen, das die Güte verspottet („le rire hideux qui moque la bonté“) und den flachen Gedanken, die austrocknende Vernunft, die Logiken, die töten („la pensée rase, la raison qui dessèche, les logiques qui tuent“). Sie entzieht sich den mondanités des Pariser Literaturbetriebs, den sie als von Dandy-Allüren und Zeitungs-Sophismen („dandynements“, „journasophes“) dominiert ansieht, um die Freiheit des Geistes („liberté de l’esprit“) zu wahren, auch wenn dies Isolation und den Verlust von Ruhm bedeutet.
Quevedo und Intertextualität als intellektuelle Rüstung
Wie oben zu Don Quijote ausgeführt: Romane werden zum primären Zufluchtsort („refuge“) vor der trivialen und bedrohlichen Realität. Salvayre liest wie eine Wilde, wie eine Ausgehungerte, wie eine Ogerin („en sauvage, en affamée, en ogresse“). Die Literatur wird zur Leckerei („gourmandise“) und zum Laster („vice“), was ihr ermöglicht, neu für sich selbst geboren („née à moi-même“) zu werden. Das Schreiben ist in der Folge die Dringlichkeit, sich von der Bindung an diesen Vater des Unglücks zu befreien („urgence de m’affranchir du lien à ce père de désastre“).
Lydie Salvayre äußert sich über Francisco de Quevedo y Villegas hauptsächlich in ihren Werken Autoportrait à l’encre noire, Rêver debout und Pas pleurer, wobei sie seinen Stil und sein berühmtestes Werk, El Buscón, hervorhebt. In 7 femmes verwendet Salvayre außerdem den Ausdruck „die Welt von innen“ („el Mundo por de dentro“) und merkt an, dass Quevedo dies so gesagt hätte („comme aurait dit Quevedo“). Salvayre bezeichnet El Buscón als einen der brillantesten und satirischsten Romane der spanischen Literatur („l’un des romans les plus brillants et les plus satiriques de la littérature espagnole“ , Rêver debout). Sie merkt dabei an, dass Quevedo, ein Zeitgenosse von Cervantes, die vagabundierenden Drangsale („tribulations vagabondes“) der picaros beschreibt. In einer Diskussion in Pas pleurer über die intrinsische Vulgarität des iberischen Volkes („vulgarité intrinsèque du peuple ibérique“) wird Quevedo als Beispiel für die spanische Literatur genannt, die den schlüpfrigen Dingen („choses égrillardes“) einen großen Raum gibt. Im Vergleich dazu wirke Quevedos französischer Zeitgenosse wie ein Katechismuslehrer („prof de catéchisme“). Salvayre vergleicht den Quijote, der vom Weg abkommt und umherirrt („dérive“), mit den Pícaros, der Quijote ist allerdings ohne die List, ohne die Gaunerei und die Schurkerei („sans la ruse, sans la filouterie et la coquinerie“), zu der die Not diese Letzteren oft zwingt, und ohne die berühmte „hidalguía“ ( Rêver debout). Don Quijote vermeidet anzügliche Bemerkungen und überlässt diese Vulgaritäten den Picaros („il laisse ces vulgarités aux picaros“).
Salvayre beschreibt Quevedo in Autoportrait à l’encre noire als den barocksten aller Barockschriftsteller („le plus baroque des écrivains baroques“). Quevedo wird als in allem exzessiv („excessif en tout“) charakterisiert. Dieser Exzess zeigt sich in der Respektlosigkeit, der Satire, der Groteske, dem schlechten Geschmack. Salvayres literarische Poetik ist tief im Konflikt verankert. Sie beschreibt ihren Stil als Ergebnis eines „guerre incessante, mais une guerre amoureuse“ (unaufhörlichen, aber liebevollen Krieges) zwischen zwei extremen Modalitäten: der klassischen Strenge – die Perfektion, Reinheit, Ökonomie und Eleganz der klassischen französischen Sprache; der barocke Exzess – die Übertreibung, Irreverenz, das Groteske und die „großartigste Unreinheit“ („plus grande ordure“) von Autoren wie Quevedo. Ihr Ziel ist es, in ihrer eigenen Formulierung der klassische Karpfen („carpe classique“) mit dem barocken Kaninchen („lapin baroque“) zu vermählen, um eine einzigartige und freie Melodie zu erschaffen, die der sprachlichen Mittelmäßigkeit entgegensteht. Sie hält daran fest: Eine Kreation, die nicht gefährlich ist, verdient es nicht, Kreation genannt zu werden.
Die ästhetische Grundlage von Salvayres Stil ist der Konflikt und die Vereinigung von Extremen. Sie bewundert die outrance (Maßlosigkeit), das grotesque (Groteske) und die irrévérence (Respektlosigkeit) des barocken Quevedo, die sie als adäquate Repräsentation der derb ausgelassenen spanischen Exilgemeinschaft sieht. Gleichzeitig verehrt sie die Perfektion, Reinheit, Ökonomie, rassige Eleganz der klassischen Sprache („perfection, la pureté, l’économie, l’élégance racée de la langue classique“).
Une langue dans laquelle je m’évertuerai à marier la carpe classique… au lapin baroque… les mots les plus châtiés aux plus insolemment vulgaires…
Eine Sprache, in der ich mich bemühen werde, den klassischen Karpfen … mit dem barocken Kaninchen zu vermählen … die geschliffensten Wörter mit den unverschämtesten vulgären …
Dieser stilistische widernatürliche Vermählung („mariage contre nature“) ist Salvayres Signatur und ihre Waffe gegen die langue moyenne (Durchschnittssprache). Sébastien Lapaque schreibt in seiner Rezension: „Trotz seines bildhaften Titels ist Autoportrait à l’encre noire erneut ein Text, der, bevor er einen Stil bewundern lässt, eine Stimme zu Gehör bringt, rau, zornig, umgangssprachlich, würzig, gemischt, manchmal vorgetäuscht locker, selten und kostbar, die „die Hässlichkeit dieser Welt“ und „die pharisäische Frömmigkeit der Gegenwart“ mit ebenso viel Abscheu ausspuckt wie Léon Bloy, ein Pilger, der in La Salette wie ein Bettler voller Gebete ankam und mit den Worten der Weinenden, ein Brandmal, das eine heuchlerische Gesellschaft und eine korrupte katholische Kirche anprangert.“ 1
Die Intertextualität dient als moralische und intellektuelle Stütze gegen traurige Leidenschaften („passions tristes“). Nietzsche schützt sie vor Ressentiment, Spinoza lehrt sie, dass jede Traurigkeit eine Minderung des Selbst ist. Und dass nur die Freude zählt („Toute tristesse est un amoindrissement de soi. Et seule vaut la joie.“). Salvayre nutzt Zitate, um Albane einzuschüchtern und polemisiert gegen gefällige Literatur. Nach der Krebsdiagnose findet sie Heilung im satirischen Lachen des Swift, um freudig („joyeusement“) Widerstand zu leisten.
Das ironische Happy End (mit Rabelais)
Der Schlussteil des Textes, ironisch Happy end betitelt, widersetzt sich Albane und den Erwartungen des Marktes nach einem definitiven, romantischen Abschluss. Salvayre bekennt sich zur Unmöglichkeit der vérité absolue (absoluten Wahrheit) und zur moralischen Verpflichtung des Verschweigens. Sie verweigert die Enthüllung privater Details, besonders über diejenigen, die sie liebt und die noch leben:
Puisque j’ai refusé qu’on entrât chez moi comme dans un moulin et qu’on y lorgnât de la façon la plus malsaine les gens que j’aime et qui m’aiment et qui sont des gens réels et encore de ce monde.
Da ich es ablehnte, dass man bei mir ein- und ausging wie in einer Mühle und dort auf ungesundeste Weise die Menschen beäugte, die ich liebe und die mich lieben und die reale und noch auf dieser Welt weilende Menschen sind.
Dies ist ein expliziter ethischer Bruch mit der von Albane befürworteten voyeuristischen Kultur. Die Essenz könnte sogar gerade das sein, worüber sie nicht sprechen konnte.
Die literarische Feindschaft mit Albane endet in einem friedlichen Unentschieden („match nul“). Beide erkennen an, dass Literatur keine règles und dogmes (Regeln und Dogmen) duldet. Salvayre erkennt, dass sie beide irren, wenn sie versuchen, die Literatur in Abstammungen, Programme, Codes und Regeln („des filiations, des programmes, des codes et des règles“) einzusperren. Stattdessen solle man sich darüber freuen, dass Werke uns aus der Fassung bringen, uns bewegen, uns erheitern, uns entflammen („nous déroutent, nous émeuvent, nous égayent, nous enflamment“).
Trotz des Kummers des Alterns und der Dürftigkeit der Zukunft („minceur de l’avenir“) bekräftigt Salvayre ungebrochen: „Das Alter unterwirft mich nicht.“ („La vieillesse ne me soumet pas.“) Das finale Bild ist die Negation der Statik und des Monumentalen:
Mes chers lecteurs, si j’ai un vœu à formuler en terminant cet autoportrait, c’est que vous vous souveniez de moi comme d’un vent fripon.
Meine lieben Leser, wenn ich am Ende dieses Selbstporträts einen Wunsch äußern darf, dann den, dass Sie sich an mich als einen schelmischen Wind erinnern.
Die Figur des „vent fripon“ steht im Kontrast zu dem schweren Schlamm der Geschichte („boue de l’histoire“), in dem ihr Herz bei der Vorstellung zu verschwinden drohte. Der Wind ist flüchtig, aber auch belebend und nicht zu fassen. Der schelmische Wind symbolisiert Leichtigkeit, Subversion und Unfassbarkeit. Er ist die ultimative Ablehnung der Vereinnahmung durch Genre, Markt oder das Trauma der Vergangenheit. Salvayre möchte als Bewegung und Freiheit in Erinnerung bleiben, was die Freude als ihren höchsten Wert bestätigt. Der „schelmische Wind“ suggeriert eine Bewegung, die leichtfüßig ist, aber dennoch aufrührerisch und subversiv wirkt, ohne dabei die Schwere der Melancholie oder Verzweiflung zu tragen.
Dieser metaphorische Wind findet thematische Parallelen in Salvayres Beschreibungen anderer aufrührerischer Figuren, die den Geist beleben und Konventionen stören. In Tout homme est une nuit wird die Wut (die Salvayre in Autoportrait als literarischen Treibstoff charakterisiert) als ein starker Wind, der die toten Äste abreißt und die wackeligen Mauern umwirft („un vent fort qui arrache les branches mortes et renverse les murs branlants“) beschrieben, eine wohltuende Böe, die den Geist belebt und revitalisiert. Salvayre beschreibt in 7 femmes, dass die Freude und schöpferische Kraft Virginia Woolfs so wild wie der Wind, diese wandernde, unberechenbare und plötzliche Kraft („aussi sauvage que le vent, cette force errante, incalculable et soudaine“) ist, die sie beim Schreiben überkommt und sie „im Galopp“ schreiben lässt. Die metaphorische Kraft des Windes ist hier direkt mit kreativer Freiheit und Wildheit verbunden. In Rêver debout wird Don Quijote selbst als eine Figur beschrieben, die eine große Bewegung auslöst: „Überall, wo er vorbeikommt, mein Herr, erhebt sich ein großer Wind.“ („Partout où il passe, Monsieur, un grand vent se soulève.“) Dieser Wind bricht mit den Routinen, beunruhigt, weckt die Neugier und „schüttelt die Gewissheiten“ („secoue les évidences“). Der vent fripon ist eine persönliche, „schelmische“ Variante dieses großen subversiven Windes. So bedeutet der „vent fripon“ die Verkörperung des unabhängigen, ironischen und subversiven Geistes Salvayres, der die „großen Prinzipien“ und Konventionen der Gesellschaft ablehnt, ihre eigenen Widersprüche nicht scheut und sich am Ende als eine schwer fassbare, aber vitalisierende literarische Kraft positioniert.
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Die Besonderheit von Salvayres Autoportrait à l’encre noire liegt in seiner kompromisslosen literarischen Hybridität und seiner doppelten gattungskritischen Brechung. Es ist kein Selbstporträt, das eine Identität feiert, sondern eines, das die Bedingungen seiner eigenen Entstehung und die ethischen Fallstricke der Selbstdarstellung unaufhörlich verhandelt.
Or le rire aujourd’hui a perdu de sa superbe, il ne rugit plus dans les gorges, il ne secoue plus les poitrines, il ne mord plus, il n’attaque plus. Le rire est devenu modeste. Le rire est devenu prudent. Le rire a peur de faire peuple. Il met d’un air gêné sa main devant la bouche, il demande pardon, il s’excuse d’entrer avec ses gros souliers dans les salons charmants où l’on sait dézinguer, mais sans bruit, et rire, mais sans joie. Le rire, le grand rire, serait-il devenu de nos jours chose à craindre ?
Nun aber hat das Lachen heute seine Erhabenheit verloren, es brüllt nicht mehr in den Kehlen, es schüttelt nicht mehr die Brüste, es beißt nicht mehr, es greift nicht mehr an. Das Lachen ist bescheiden geworden. Das Lachen ist vorsichtig geworden. Das Lachen hat Angst, ‚Volk‘ zu machen. Es legt verlegen die Hand vor den Mund, es bittet um Verzeihung, es entschuldigt sich dafür, mit seinen großen Schuhen in die charmanten Salons einzutreten, in denen man zwar weiß, wie man herzieht, aber geräuschlos, und lacht, aber ohne Freude. Wäre das Lachen, das große Lachen, heutzutage zu einer Sache geworden, die man fürchten muss?
Salvayre erwähnt in Autoportrait à l’encre noire Rabelais im Kontext ihrer persönlichen Leseerfahrungen und ihrer Wertschätzung für die literarische Respektlosigkeit und Übertreibung. Der zitierte Absatz folgt unmittelbar auf die Beschreibung von Rabelais’ Stil und dient als Kontrastfolie zur Gegenwart. Salvayre beklagt den Verfall des Lachens, das seine „Erhabenheit“ und seine befreiende, aggressive Kraft verloren habe. Das „große Lachen“ („le grand rire“), wie es Rabelais pflegte, ist demnach heute bescheiden und vorsichtig geworden und hat Angst, „Volk zu machen“ – der Rabelais’sche Humor existiert im modernen, kultivierten Literaturbetrieb kaum noch oder wird gefürchtet.
Salvayre listet Rabelais in einer Reihe von Autoren auf, deren Werke sie bewundert, die sie in gewisser Weise als Schriftstellerin geboren („enfantée“) haben, mit Jonathan Swift, Cervantes, Gracián, La Bruyère, Chamfort, Ambrose Bierce, Julien Gracq und Thomas Bernhard nennt Salvayre Rabelais als Autor „fröhlich-satirischer Texte“ („textes allègrement satiriques“), deren Lektüre sie vor Melancholie bewahrte. Salvayre spricht explizit von ihrem „ausgesprochenen Hang zur Respektlosigkeit eines François Rabelais oder eines Jonathan Swift“, weil deren Respektlosigkeit fröhlich („joyeuse“) sei. Sie schätzt Bücher, die „grausame Wahrheiten lachend verkünden“, da dies der einzige Weg sei, sie hörbar zu machen, ohne getadelt zu werden. Sie erklärt ihre Nostalgie für eine Zeit, in der die Übertreibung, die Maßlosigkeit und das Enorme nicht als vulgär oder zu simpel angesehen wurden, sondern als eine Art, frech eine Verachtung der Mäßigung auszudrücken. Dies sei eine Art gewesen, „die Sprache vom größten Raffinement zur größten Gemeinheit übergehen zu lassen“ („de faire aller la langue du raffinement le plus grand à la plus grande ordure“), und „die Heiterkeit durch eine Fülle von schrecklichen Derbheiten zu entfachen“ („d’allumer la gaieté par une profusion d’horribles truculences“), nachdem man sich den zarten Freuden der Philosophie hingegeben hatte, und ohne Rücksichtnahme donnernde Possen über sehr züchtige Übeltäter zu schreiben“.
Rabelais wird in Pas pleurer in einer Diskussion über die Vulgarität der iberischen und französischen Literatur erwähnt, die von einem jungen andalusischen Philosophen im Kontext des Spanischen Bürgerkriegs geführt wird. In dieser Diskussion wird festgestellt, dass die französische Literatur nach der Gründung ihrer Akademie im Jahr 1635 „den Zoten, wie Rabelais sie auf geniale Weise schuf, ein Ende setzt“ („met fin à la gaudriole telle que Rabelais la pratiquait avec génie“). Der Philosoph erklärt, dass Rabelais Spanier war, einer der Genossen („camaradas“), Spanier im Geiste („espagnol en esprit, claro“) und ein Bruder („hermano“) von Cervantes („hermano de Cervantes, claro“), und darüber hinaus ein Freigeist („libre-penseur“). Die Diskussionsteilnehmer stoßen dann auf Rabelais‘ Wohl an („A la salud de Rabelais!“).
Salvayre nutzt Ironie und das Rabelais’sche groteske Lachen als primäres Instrument zur Abwehr von Traurigkeit („tristesse“) und Ressentiment, und als Schutzschild gegen die narzisstische Verführung des Genres. Die späte, durch den Flamenco ausgelöste Umdeutung der väterlichen Wut als Melancholie des Exils ist ein narrativer Höhepunkt des Buchs. Er demonstriert, dass das Schreiben die Vergangenheit nicht heilt, sondern sie neu konfiguriert und die Identität als dynamischen, sich stets bewegenden Prozess versteht. Die Ästhetik der Concision erweist sich als politischer Akt: Die Verteidigung der Kürze, Prägnanz und Gefährlichkeit der Literatur gegen die klebrige Weitschweifigkeit („prolixité poisseuse“) der Marktliteratur ist eine tiefgreifende politische und ästhetische Haltung gegen die Mittelmäßigkeit und die freiwillige Knechtschaft („servitude volontaire“) des Geistes. Salvayres Text ist somit ein Manifest der geistigen Unabhängigkeit, das das Ich nur freilegt, um es sogleich wieder in die Freiheit des „vent fripon“ zu entlassen. Er ist eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit der Verbindung von sozialer Demütigung, Trauma und der Notwendigkeit des Schreibens als Akt der Rache und der Befreiung.
Der letzte Wunsch ist ein Akt der poetischen Rebellion. Sie bittet ihre Leser: „Mes chers lecteurs, si j’ai un vœu à formuler en terminant cet autoportrait, c’est que vous vous souveniez de moi comme d’un vent fripon.“ („Meine lieben Leser, wenn ich einen Wunsch äußern darf, dann den, dass Sie sich an mich als einen schelmischen Wind erinnern“). Diese letzte Geste ist die ultimative Ablehnung der literarischen Monumentalität. Salvayre weigert sich, als Heilige, Heldin oder Märtyrerin des Exils in die Geschichte einzugehen. Sie wählt die Leichtigkeit der Frechheit und die Irreverenz, eine Hommage an Rabelais und Swift, die einzigen, die in der Lage sind, „grausame Wahrheiten lachend zu verkünden“.
Salvayre distanziert sich von der „politique politicienne“, dem solide eindeutigen Diskurs („discours solidement univoque“) der militanten Linken (Pablo) und jedem Einheitsdenken („pensée unique“). Ihr Schreiben ist jedoch zutiefst politisch in einem philosophischen Sinne: es ist ein „acte silencieusement politique“ im Widerstand gegen die sehr nützlichen Börsen-, Ministeriums- oder Arbeitgeberverbände („les très utiles instances boursières, ministérielles ou patronales“). Sie bekennt sich zu „colères spéculatives“ und verteidigt die „verdächtige, meine Liebe, sogar beunruhigende, ja sogar unerwünschte und sogar skandalöse Haltung“ („suspecte, ma louloute, et même dérangeante, et même indésirable et même scandaleuse“), die Zeichen eines freien Geistes („d’un esprit libre“) sei. Sie kritisiert scharf die Heulsusen („pleurnichards“) und die literarische Ausbeutung des Elends, die nur Freude im Angesicht des Elends der Welt („la jouissance devant la détresse du monde“) biete, ohne die sozialen Ursachen zu hinterfragen.
Am Ende des Werkes stellt Salvayre fest, dass das literarische Projekt des Autoporträts unweigerlich gescheitert ist, da die volle Wahrheit nicht gesagt werden kann („la vérité absolue, la vérité-toute, est impossible à dire“). Sie hat absichtlich Teile ihres Lebens und die Menschen, die sie liebt, verschwiegen. Sie hat stattdessen ihr Selbstporträt als „loques de ma mémoire“ (Lumpen meiner Erinnerung) genäht. Die endgültige Auflösung des Konflikts mit Albane ist ein „match nul“. Beide akzeptieren, dass die Literatur „ne supportait pas d’être enrégimentée dans une quelconque école“ und weder „maîtres, ni églises, ni dogmes“ duldet. Der abschließende Wunsch Salvayres an ihre Leser ist die ultimative Geste der poetischen Freiheit. Sie lehnt die Monumentalisierung der Schriftstellerfigur ab und bekennt sich zur Leichtigkeit der Frechheit und der fortwährenden Bewegung des Geistes, ungebunden von der Schwere des Konformismus.
Anmerkungen- „Malgré son titre pictural, Autoportrait à l’encre noire est à nouveau un texte qui, avant de faire admirer un style, fait entendre une voix, rugueuse, colérique, argotique, épicée, métissée, faussement relâchée par moments, rare et précieuse, vomissant « la hideur de ce monde » et « la pharisaïque piété contemporaine » avec autant de dégoût que Léon Bloy, pèlerin débarqué à la Salette comme un mendiant plein de prières et redescendu dans la vallée portant les mots de Celle qui pleure, un brûloir dénonçant une société hypocrite et une Église catholique corrompue.“ Sébastien Lapaque, „Autoportrait à l’encre noire, de Lydie Salvayre : celle qui pleure“, Le Figaro, 25. September 2025.>>>