Geschlecht, Macht und Computerspiel: Pauline Gonthier

Polis, Maskulinismus und politischer Opportunismus

Pauline Gonthiers Parthenia ist ein seltenes Beispiel zeitgenössischer Literatur, das Soziologie des Digitalen, Geschlechtersemiotik und politische Psychologie in eine ästhetische Form bringt, die zugleich analytisch und poetisch ist. Der Roman beschreibt parabelartig eine Zeit, in der Sprache selbst zu Code wird und Geschlecht zu Interface. In diesem Sinn ist Parthenia nicht nur ein Ort, sondern ein Verfahren – eine Simulation des Mythos in der Syntax des Digitalen.

Gonthiers Parthenia (2025) ist ein Roman über die gefährliche Schönheit der Ordnung: Zwischen den leeren Bildschirmen eines arbeitslosen Gamers und den makellos beleuchteten Büros einer politischen Beraterin entfaltet sich das Doppelporträt einer Gesellschaft, die sich selbst in Mythen und Algorithmen spiegelt. Baptiste, gefangen in den toxischen Foren der maskulinistischen „redpill“-Kultur, und Léa, Attachée eines nationalistischen Politikers, bewegen sich in unterschiedlichen, aber gleichförmig codierten Welten: seine digitale Misogynie und ihr professioneller Zynismus sind zwei Seiten derselben Kommunikationslogik – kühl, effizient und körperlos. Zwischen ihnen entsteht Parthenia, eine virtuelle Stadt im Stil der Antike, die den Traum von Disziplin, Reinheit und männlicher Macht in ein Spiel verwandelt – und so die Grenze zwischen Simulation und Wirklichkeit zum Einsturz bringt. Beide Figuren sind Spiegel desselben ideologischen Klimas: der eine introvertiert, regressiv und narzisstisch; die andere extravertiert, funktionalistisch und opportunistisch – zwei Gesichter eines posthumanen Projekts, das Körper, Sprache und Moral virtualisiert. Der Roman konfrontiert Baptiste, den entwurzelten jungen Mann, der seine Affekte und seine Sexualität in Foren und Gamingwelten kanalisiert, mit Léa, der jungen Politikverwalterin, die sich zwischen Anpassung, Machtfaszination und moralischem Ekel bewegt.

Hier ist die Bemerkung angebracht, dass Pauline Gonthier Absolventin der École normale supérieure und der ENSAE Paris ist, sie arbeitet als Ökonomin in der französischen Verwaltung, sie wurde beispielsweise zur Finanzdirektorin von UNEDIC ernannt. Ihr erster Roman, Les Oiselles sauvages (Julliard, 2021) behandelt das Thema Feminismus anhand der kreuzenden Schicksale zweier junger Frauen in den 70er Jahren und in den 2010er/2020er Jahren. Parthenia ist Gonthiers zweiter Roman, der nun die Gegenwelt des Feminismus mit einbezieht.

Pauline Gonthiers Parthenia ist kein Roman über eine Stadt, sondern über die Idee einer Stadt als mythisch-technologische Allegorie auf Geschlechterkampf, Sprachverfall und ideologische Selbstvernetzung im 21. Jahrhundert. Die im Titel genannte Polis – eine fiktive griechisch-römische Cité im Inneren eines Online-Spiels – wirkt als architektonische Projektionsfläche kollektiver psychischer und politischer Deformationen. Schon der erste Satz („Au commencement, un lien posté dans une conversation World of Warcraft“) markiert das Paradox: das biblische In principio verschmilzt mit der Syntax des Digitalen. In der Spielwelt, deren Name auf das altgriechische παρθενία – „Jungfräulichkeit“ – verweist, werden Hierarchie, Reinheit und „virile“ Ordnung zu digitalen Dogmen. Parthenia ist zugleich Symbol und System, Mythos und Interface: eine politisch-sexuelle Matrix, in der die alten Geschlechtermythen der Antike (Athena, Parthenos, Tirésias) in algorithmische Strukturen übersetzt werden. Gonthier schreibt mit der Präzision einer Soziologin und der Imagination einer Mythenforscherin. Ihre Prosa ist klar, gläsern, durchdrungen von einer subtilen Ironie, die den ideologischen Ernst ihrer Figuren spiegelt und zugleich zersetzt. Parthenia ist gleichermaßen Gesellschaftssatire, Geschlechterstudie und digitale Tragödie: ein Roman über die Sprache als Waffe und über das Internet als mythischen Raum, in dem uralte Dämonen – Kontrolle, Reinheit, Ressentiment – in neuem Code wiederkehren.

Baptiste und Léa

Die Figur Baptiste wird eingeführt als ein Körper in Schweiß und Stagnation. Sein Bewegungsradius ist der Bildschirm; seine Sinnlichkeit erschöpft sich in der Gestik des Scrollens. Die Szene, in der er in Foren wie Blackpill oder Redpill hinabgleitet, bildet die Studie einer toxischen Sprachgemeinschaft.

Tout ce qu’une femme fait, dans n’importe quelle situation […] tout cela est un MENSONGE.

Alles, was eine Frau tut, in jeder Situation […] all das ist eine LÜGE.

Dieser Auszug aus einem Forumstext („[Redpill] La vérité sur les femmes“) inszeniert eine Text-im-Text-Struktur, in der der Hass-Diskurs selbst literarisch wird – rhythmisiert, typographisch kodiert, zur Litanei erstarrt. Die Formeln in Versalien („MENSONGE“, „TOUT EST INTÉRESSÉ“) erzeugen eine Pseudo-Bibel des Ressentiments. Baptiste liest diese Sätze nicht als Meinung, sondern als Offenbarung. Seine Transformation vom „gentleman“ zum Online-Jünger des Misogynen ist kein realistischer Entwicklungsbogen, sondern ein metonymischer Prozess der Infektion: Sprache wirkt hier viral. Wenn Baptiste Begriffe wie VSM, betabux, IRL dechiffriert, vollzieht der Roman eine linguistische Anthropologie der neuen Männlichkeit: die Verknappung des Vokabulars wird zur psychischen Ökonomie.

Die Kommunikation in den Foren ersetzt soziale Interaktion: Der Dialog degeneriert zur Kette von Slogans, Memes, pseudostatistischen Fragmenten. Gonthier zeigt, wie Kommunikation in Kommunikationstheorien kippt – das Gespräch wird Diskursanalyse, der Diskurs Selbstprogrammierung. Der Hass ist rationalisiert, die Syntax steril: „Il cherche à en traduire certains.“ Das „chercher à traduire“ ist das Leitmotiv eines Mannes, der die Welt nur noch in Übersetzungen, nie mehr in Begegnungen erlebt.

Dem digitalen Monolog Baptistes steht Léas poliertes Parlamentsmilieu gegenüber. Die Sprache hier ist nicht enthemmt, sondern kodifiziert. Wo Baptiste im Übermaß scheitert, überlebt Léa durch Kontrolliertheit – durch Beherrschung, Distanz, Ambiguität. Ihre Beziehung zu Bourgel, dem nationalpopulistischen Politiker, den sie als Attachée unterstützt, ist von der gleichen Kälte geprägt, die auch die Forenwelt strukturiert.

Elle n’a jamais ressenti ce truc dont se plaignent les autres attachées parlementaires de l’Assemblée, ce sentiment éreintant d’être obligée de paraître agréable.

Sie hat nie das empfunden, worüber sich die anderen parlamentarischen Mitarbeiterinnen in der Nationalversammlung beschweren, dieses erschöpfende Gefühl, nett sein zu müssen.

Dieser Satz offenbart eine subtile Verschiebung: Léa verkörpert das Ideal der Selbstoptimierung – weibliche Macht als Funktion männlicher Rhetorik. In ihrer Sprache schwingt das neoliberale Paradigma der „indispensabilité“. Die Kommunikationsform hier ist performativer Zynismus: Jede Aussage ist kalkuliert, jedes Wort ist Währung.

Bourgels Rhetorik – eine Mixtur aus Machiavelli, Maurras und Talkshow-Tirade – ist der politische Spiegel der misogynen Forensprache. Beide Systeme teilen dieselbe semantische Grammatik: Freund/Feind, Reinheit/Korruption, Rationalität/Emotion. Die politische Bühne ist Parthenia avant la lettre. Léa agiert darin als Priesterin der Simulation, so professionell in ihrer Kälte, dass die Unmenschlichkeit systemisch wirkt.

Elle commande une entrecôte ‘bien bleue’ qu’on lui sert à point.

Sie bestellt ein Entrecôte „bien bleue“ (sehr blutig), das ihr medium serviert wird.

In dieser unscheinbaren Verschiebung von Wunsch und Erfüllung bündelt sich die Dialektik des Romans: die Welt liefert nie das, was verlangt wird; der Körper bleibt ungehört.

Pauline Gonthier über ihren Roman Parthenia, Librairie Mollat, 2025.

Die virtuelle Polis als Metapher totaler Ordnung

Wenn Baptiste in die Spielwelt Parthenia eintritt, verschmilzt Sozialutopie und mythologische Allegorie.

Au centre de tout, la Cité. […] Autour d’une statue qu’on dit représenter le Duce, au cœur de la Cité, les initiés se rassemblent sur l’Agora.

Im Zentrum von allem steht die Cité. […] Um eine Statue herum, die angeblich den Duce darstellt, versammeln sich die Eingeweihten auf der Agora im Herzen der Cité.

Die Stadt ist eine ästhetisierte Diktatur, die römisch-griechisches Dekor mit faschistischer Symbolik verbindet. Sie ist die visuelle Umsetzung dessen, was die Foren theoretisieren: Hierarchien, Reinheit, männliche Disziplin. Das Spiel wird zur metaphysischen Droge.

Die symbolische Ordnung Parthenias folgt einer Logik der Reinheit: Parthenos (Jungfrau) bezeichnet hier nicht die Frau, sondern den Idealzustand der Macht – unberührt, unbefleckt, kontrolliert. Der Name ist also ironisch inversiv: „Jungfräulichkeit“ wird zum Namen eines Systems, das Frauen nur als Abwesende, als Zeichen ihrer eigenen Tilgung kennt. Die „Immortels“ in Parthenia sind die Endstufe dieses Ideals: Männer, deren Körper aufgehoben sind in der digitalen Unsterblichkeit. Gonthier spielt mit der religiösen Semantik des Unverweslichen: Parthenia ist der digitale Himmel des Ressentiments, eine Kirche ohne Gott, aber mit Algorithmus.

Die Kommunikation im Roman ist vielschichtig, zwischen digitaler Kommunikation (Chats, Foren, Spielinterface), fragmentarisch, repetitiv, pseudowissenschaftlich. Dann die politische Kommunikation (Reden, Statements, Medieninterviews), die rhetorisch geschlossen, affektiv steril, performativ männlich auftritt. Schließlich interpersonale Kommunikation – fast gänzlich abwesend, die ersetzt wird durch Zitate, Projektionen, Befehlssätze.

Die Sprachökonomie in Parthenia ist also nicht nur Stilmittel, sondern Weltmodell. Jeder Kommunikationsmodus erzeugt eine spezifische Ethik: In den Foren herrscht die Ethik der Entlastung („ce n’est pas ma faute“), in der Politik die Ethik der Instrumentalisierung („tout discours est capital“), im Privaten die Ethik des Rückzugs („il n’y a plus rien à dire“). Selbst die Zärtlichkeit wird funktionalisiert: Wenn Baptiste an seine Ex erinnert wird – „S comme salope“ –, ist das Graffiti auf der Mausmatte ein Zeichen von Sprache, die Fleisch ersetzt. Der Körper existiert nur noch als Oberfläche des Diskurses.

Parthenia ist ein Roman über die Rückkehr des Mythos im digitalen Zeitalter. Die Männer des Romans projizieren ihre Ohnmacht in antike Archetypen: Tirésias, der Mann, der Frau war; der Duce als digitaler Zeus; Parthenia als jungfräuliche Athena. Doch diese Mythen werden nicht belebt, sondern reanimiert – wie in einem Labor.

Elle repense à l’image de cette dagyde antique, une femme agenouillée et ligotée, percée de treize épingles […] Une sorte de poupée vaudou.

Sie denkt an das Bild dieser antiken Dagydé zurück, einer knienden und gefesselten Frau, die mit dreizehn Nadeln durchbohrt ist […] Eine Art Voodoo-Puppe.

Diese Szene – aus dem Prolog, in dem eine Frau einen gefesselten Mann „exorziert“ – ist ein Scharnier: weibliche Rache wird ikonographisch kodiert, aber unlesbar gemacht. Das Ritual, das wie eine Rachefantasie beginnt, ist zugleich eine Spiegelung männlicher Gewaltphantasie. Der Text erlaubt keine eindeutige Täter-Opfer-Umkehr. Das Geschlechterverhältnis in Parthenia ist nicht dual, sondern zyklisch: Jede Figur ist die Umkehrung der anderen. Léa instrumentalisierte die Macht, wie Baptiste die Sprache instrumentalisiert. Beide sind „produits d’un même code“. Ihre Gemeinsamkeit ist der Verlust von Körper und Empathie.

Parthenia ist eine virtuelle Stadt, die den realen Zustand der Gesellschaft nicht übersteigt, sondern spiegelt. Die Topographie der Stadt – Agora, Mine, Gymnasium – reproduziert soziale Hierarchien. Wer „mine“ arbeitet, spielt symbolisch den Arbeiter; wer „combat“ führt, wird Aristokrat. Baptistes Aufstieg im Spiel ist ein simulierter sozialer Aufstieg, der zugleich seine reale Stagnation betont.

Il descend, pioche, remonte, sans réfléchir, vide son chariot… La preuve qu’il sait bosser s’il le veut.

Er steigt hinab, hackt, steigt wieder hinauf, ohne nachzudenken, leert seinen Wagen … Der Beweis, dass er arbeiten kann, wenn er will.

Dieser ironische Beweis ist der Schlüssel: Parthenia wird zur Ersatzökonomie des Sinns. Arbeit, Kampf, Ordnung – all das sind Simulationen einer Männlichkeit, die außerhalb des Spiels keine Existenz mehr hat. Im größeren Kontext der Erzählstruktur arbeitet Parthenia als ideologische Transduktionsmaschine, als Instrument zur Übertragung und Umwandlung der Energien: Was in der Politik sagbar, in den Foren denkbar und in der Psyche fühlbar ist, verschmilzt hier zu einem „Systemsymbol“. Das Spiel ist nicht Flucht, sondern Ritual.

Der Romanschluss – Apokalypse der Simulation

Die Parallelmontage der Kapitel – Baptiste, Léa, Baptiste, Léa – erzeugt eine dialektische Struktur: Privat vs. Öffentlichkeit, digital vs. politisch, männlich vs. weiblich. Doch Gonthier löst diese Opposition nicht auf; sie zeigt, dass beide Stränge funktional isomorph sind. Bourgels politische Kampagne („réarmement démographique“) ist die offizielle Variante derselben Ideologie, die Baptiste in Foren konsumiert. Léa wird zur Komplizin, wie Baptiste zum Adepten. Beide Figuren sind Agenten desselben Mythos von Kontrolle. Die Erzähltechnik – Wechsel der Register, Montage der Sphären – erzeugt eine rhythmische Gleichschaltung: Der Text selbst wird zu Parthenia, einer Stadt aus Sprache, in der jedes Kapitel ein Bezirk ist.

Im letzten Teil kulminieren die Erzählstränge in einer gewaltsamen Konvergenz: Léa und Baptiste begegnen sich – vermittelt durch Parthenia, das inzwischen zum Ort realer Verschwörung geworden ist. Der Roman endet mit der Auflösung der Grenze zwischen Simulation und Welt: Die digitalen Strategien materialisieren sich im politischen Feld. Ohne zu moralisieren, stellt Gonthier eine eschatologische Pointe bereit: Der Untergang ist nicht Katastrophe, sondern Verschmelzung. Die Stadt Parthenia „verlässt“ die Server und „entre dans la chair du monde“. Der Schlusssatz schließt den Kreis zum Anfang, elliptisch, unheimlich ruhig. Das Licht der Gewalt, das in der ersten Szene auf dem Messer glänzt, kehrt wieder.

Le soleil, au zénith, se reflète sur la lame.

Die Sonne steht im Zenit und spiegelt sich auf der Klinge.

Der Schluss des Romans, insbesondere der ACTE 5: λύτρωσις (Erlösung/Befreiung), erfüllt die Funktion, Léas (nun Lya) Entwicklung abzuschließen und die zentralen Themen des Buches – Rache, virtuelle Realität und die Konsequenzen des Hasses – metanarrativ zu kommentieren.

Einige Zeit nach dem turbulenten Wahlkampf und dem gewalttätigen Zwischenfall wird Léa, die ihren Geburtsnamen Lya wieder angenommen hat, in Kapstadt auf der Africa Games Week gefeiert. Sie ist die gefeierte Schöpferin eines preisgekrönten Indie-Spiels. Ihr Spiel ist thematisch tief gespalten und politisch. Lya spricht über die politische Natur von Videospielen, die Gestaltung des kollektiven Imaginären und die Bedeutung der „kathartischen Gewalt“ („violence cathartique“), besonders für junge Frauen, die nicht gewohnt sind, sich damit auseinanderzusetzen. Sie dankt ihrem Team, an erster Stelle Baptiste, der sie auf die Bühne hätte begleiten sollen.

Der Text kehrt zur Prologszene zurück: Mister B. (Bourgel) liegt gefesselt im Bett. Lya enthüllt das lange Messer, die dreizehn glänzenden Nadeln (in Anlehnung an die antike Dagyde oder Voodoo-Puppe) und den Flakon. Lya spricht zum weinenden, gefesselten Mann: „Es scheint, dass Sie verloren haben, Mister B. … Aber Rache ist ein Gericht, das auf verschiedene Arten zubereitet wird…“. Die Erzählung friert ein und bietet dem Leser (oder Spieler) drei Optionen für das Ende der Geschichte: den Säbel für eine spektakuläre und blutige Vendetta; Nadeln für Spiritismus und Hexerei (eine Rache „à bas bruit“ – in der Stille); ein Flakon, um Mister B. in das „Land der Chimären“ („pays des Chimères“) zu versetzen. Der Cursor bewegt sich kurz zum Säbel, kreist um die Nadeln, tendiert aber schließlich in Richtung Flakon. Der Roman endet mit der Aufforderung: „Press ENTER to continue“.

Der Schluss dient als Erlösung (λύτρωσις) für die Protagonistin und als metanarrativer Kommentar zu den Themen des Romans: Lya entscheidet sich, die Rache nicht in physischer Gewalt (Säbel/Messer) oder mystischer Zerstörung (Nadeln) zu suchen, sondern in der Schöpfung einer neuen Realität (Flakon/Chimären, „tout un monde à construire“). Dies symbolisiert Lyas Sieg über Bourgel, indem sie dessen Welt (die Politik, die sie manipulierte) verlässt und die Macht der Narration und des Digitalen für sich beansprucht, um eine bessere Utopie zu schaffen, die dem patriarchalen Parthenia gegenübersteht.

Die Erlösung von Lya wird durch die Tragödie von Jérôme (DeathAngel) kontrastiert, der durch die Radikalisierung in Parthenia (unter der Führung von Anton42/Thibaut) zu einem sinnlosen Gewaltakt getrieben wird. Die unmittelbar folgende Postface liefert eine ernüchternde Aufzählung realer Incel-Attentate (wie Elliot Rodger), was die tödliche Realität des in Parthenia geschürten Hasses unterstreicht. Das offene Ende, präsentiert als Auswahlmenü, bindet den Leser direkt in die Thematik der moralischen Entscheidung ein und erinnert an das Spiel-Element, das den Roman durchzieht. Indem der Cursor auf die Option der Konstruktion deutet, wird nahegelegt, dass die wahre Befreiung darin besteht, aus dem Zyklus von Hass und Vergeltung auszubrechen und eine alternative Welt zu entwerfen. Lya nutzt Baptistes Talent für Trolling und Infiltration letztlich, um in ihrem neuen Leben als Entwicklerin erfolgreich zu sein.

Baptiste und Léa sind keine Charaktere im psychologischen Sinn, sondern Funktionsfiguren: Träger zweier Kommunikationsformen, die einander bedingen. Sein Hass-Diskurs und ihr Macht-Diskurs sind zwei Versionen derselben neoliberalen Grammatik: Konkurrenz, Effizienz, Selbstoptimierung. Beide bewegen sich in Systemen, die keine Empathie kennen – und beide verlieren am Ende ihre Körper an die Sprache.

Die Bedeutung der Stadt Parthenia liegt nicht in ihrer Topographie, sondern in ihrer funktionalen Struktur: Sie ist der digitale Tempel der neuen Religion – der Religion der Rationalisierung, des Algorithmus, der quantifizierten Angst. Dass Gonthier ihr Werk mit einem Zitat von Donna Haraway eröffnet – „Je préfère être cyborg que déesse“ – ist Programm. Das Cyborghafte ist hier nicht emanzipatorisch, sondern unheimlich: Der Cyborg ist nicht mehr der Körper, der die Grenzen überschreitet, sondern der Mensch, der sie nicht mehr erkennt. Parthenia ist somit die Tragödie der Polis unserer Zeit. Die Cité bleibt stehen, blendend hell, wie das Messer am Anfang und Ende des Romans – ein letztes Symbol für Erkenntnis, die tötet.


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