Éliette Abécassis, selbst normalienne und agrégée der Philosophie, kehrt in 45 rue d’Ulm (Flammarion, 2025) im Rahmen der intimen literarischen Buchreihe „Retour chez soi“ in ihre ehemalige Studentenbude (thurne) der École normale supérieure (ENS) zurück. Das Buch ist ihr erstes autobiografisches Werk in der ersten Person und verdichtet die Erfahrung einer Nacht und eines Tages zu einer zugespitzten Bilanz ihrer intellektuellen Generation. Ausgelöst wird die Zeitreise durch einen Karton alter Korrespondenz und insbesondere durch einen seit dreißig Jahren ungeöffneten Brief, dessen Enthüllung den narrativen Rahmen bildet und die Erzählung über Freundschaft, Scheitern und intellektuelle Freiheit befeuert.
Der Bogen der Erinnerung
Das Buch entwickelt eine klar konturierte Erzählung des Zurückschauens, in der die physische Rückkehr zur 45 Rue d’Ulm als Ankerpunkt für eine existenzielle „Zeitreise“ („voyage dans le temps„) dient. Die Handlungsstruktur ist kreisförmig und zyklisch angelegt: Sie beginnt mit dem Triumph der Aufnahme (1989) und dem Trauma der harten Vorbereitung (khâgne), führt über die romantische Turbulenz und das akademische Scheitern (zweimalige Nicht-Erreichung der Agrégation) zur emotionalen Konfrontation mit der eigenen Tochter und gipfelt in der symbolischen Wiedervereinigung mit den Kommilitonen.
Die Zeitstruktur lebt vom ständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Erinnerung. Die Gegenwart (die Nacht in der thurne BF250) wirkt teils „irréel“, während die Vergangenheit eine geradezu halluzinatorische Intensität annimmt. Dieses Vorgehen wird philosophisch legitimiert durch das Konzept des Palimpsestes: Die Autorin erkennt, dass das aktuelle Buch unbewusst eine Neuauflage ihres ersten, vergessenen und abgelehnten Manuskripts Le Bassin aux Ernests von 1991 ist. Die Rückkehr ist somit nicht nur Erinnerung, sondern ein neues Schreiben der eigenen Identität.
Die Autorin positioniert ihre Kohorte (Promotion 1989) als eine „Schlüsselgeneration“ („génération charnière“): Diese Generation erlebte den Zusammenbruch des Ostblocks (Fall der Berliner Mauer) und die existenzielle Bedrohung durch die AIDS-Krise. Zentral für das Generationen-Paradigma der normaliens ist der Begriff des „die Tangente Nehmens“ („prendre la tangente“), der von Emmanuel Breen formuliert wird. Dies impliziert eine bewusste Abkehr von etablierten Macht- und Karrierewegen (ENA, großer Reichtum) zugunsten der reinen Wissenssuche, intellektueller Unabhängigkeit und Freiheit. Die Lebenswege der Freunde – von der Afrikaforschung (Catherine) und dem Open-Data-Aktivismus (Henri Verdier) bis hin zur techno-avantgardistischen Informatik (Jean-Paul Smets) – illustrieren dieses Ethos der Abweichung.
Die Erzählung setzt die traumatische Erfahrung der Vorbereitungsklassen (khâgne am Lycée Henri-IV) als eine Zeit der „Demütigung“ und der „unvorstellbaren Anstrengung“ in Szene, deren Ziel nicht Ehrgeiz, sondern der Wunsch nach Unabhängigkeit war. Die ENS selbst wird als ein utopischer, „monastischer“ Ort der liberté und der reinen Forschung beschrieben. Die normaliens werden als „fonctionnaires-stagiaires“ bezahlt, was jegliche Anwesenheitspflicht erübrigt und philosophische rêverie ermöglicht. Das höchste Gut ist die leidenschaftliche Beziehung zur Erkenntnis („relation à la connaissance passionnelle“) und die kritische Denkfähigkeit.
Die Figuren sind sowohl real existierende Personen als auch literarische Archetypen. Die ENS-Freunde (Henri, Catherine, Rose, Manu, Marc, Smets) bilden eine „Geistesfamilie“ („famille d’esprit“), deren Zusammenhalt ideologische Gräben überwindet.
Die Rolle der Frau ist ambivalent. Als ulmienne (Teil der fünften Frauengeneration nach der Fusion von 1985) kämpft die Erzählerin gegen männliche akademische Geringschätzung und identifiziert sich mit Ikonen der Befreiung (Simone de Beauvoir, Gilda). Gleichzeitig gesteht sie: ihre Jugend war „volage“ und sie eine manipulative Célimène-Figur, deren romantische Exzesse ihr akademisches Scheitern verursachten. Der Erfolg als Schriftstellerin wird indirekt durch diese frühe Distanzierung von der ENS-Blase legitimiert. Der Dialog mit der Tochter dient als Generationsspiegelung, in dem die akademische Askese der Mutter mit dem Pragmatismus und der emotionalen Verletzlichkeit der heutigen Jugend kontrastiert wird.
Die thematische Bandbreite ist bemerkenswert. Wichtige gesellschaftspolitische Themen sind Aktivismus und Erinnerung, etwa der erfolgreiche Kampf gegen die negationistische Buchhandlung La Vieille Taupe und das kollektive Trauma der Shoah, auch die Lektüre von Primo Levis Si c’est un homme und die Auseinandersetzung mit dem devoir de mémoire prägten die Generation. Die Erzählerin verortet ihr Schreibideal in der jüdischen Familientradition, wo das Schreiben heilig ist. Sie beklagt die „Wiederkehr der antisemitischen Schleife“ und kritisiert das bizarre Phänomen, dass der Antisemitismus der extremen Linken toleriert werde, während andere Diskriminierungen rigoros bekämpft würden. Die Autorin argumentiert, dass die philosophische Dekonstruktion (Foucault, Derrida, Barthes) zu Idealismus (LGBT-Rechte, Feminismus) und Aktivismus (VSS-Fragebogen bei der ENS-Party) führte, dass sie aber unbeabsichtigt in die „Technisierung der Welt“ und die „Gouvernance par l’algorithme“ geriet, ein zentrales Paradox ihrer Generation.
Fazit
Die Poetik des Textes speist sich aus der Verbindung von hohem akademischem Anspruch und intimer Bekenntnisliteratur. Literarische und philosophische Referenzen (Valéry, Flaubert, Stendhal, Proust, Sirinelli, Bourdieu, Foucault) durchdringen den Text. Die Erzählerin nutzt Selbstironie, Nostalgie und die metaphorische Kraft des Ortes (thurne als „Zeitkapsel“, das unveröffentlichte Bassin aux Ernests) und poetischer Gesten (Rezitation von Valérys „Les pas“ für die Tochter). Der Stil ist pointiert, oft exzessiv und von „lyrischem Überfluss“ getragen, der die exaltierte Haltung der Jugend widerspiegelt.
45 rue d’Ulm ist auch ein nostalgisches Alumni-Porträt, aber mehr noch, eine akademisch fundierte Abrechnung mit dem intellektuellen Erbe einer „Schlüsselgeneration“. Das Buch leistet eine ehrliche Auseinandersetzung mit den unbeabsichtigten Folgen der Dekonstruktion und des Idealismus (vom Kampf gegen das AIDS-Trauma zur technologischen Überwachung des Zustimmungsprinzips). Durch die Auflösung des Rätsels um den ungeöffneten Brief als „schönstes Scheitern“ transformiert Abécassis die individuelle Geschichte in ein universelles Plädoyer für die Freiheit des Geistes und beweist, dass die wahre ENS-Tangente die unaufhörliche Suche nach dem Buch des Lebens selbst ist.