Inhalt
Le lendemain matin, dès 8 heures et demie nous étions au point de départ du sentier, au niveau de cet Hospice de France devant lequel jadis avaient été exhibés les oursons (tandis qu’aujourd’hui ne s’y voyaient que quatre grandes poubelles débordantes). Divers supports attiraient l’attention des marcheurs, de nouveau, sur les précautions à prendre en cas de rencontre avec l’ours (les mêmes que pour le port de Lers ou le port d’Arinsal), ou célébraient tant les « évadés de France » que les réfugiés espagnols qui quelques années plus tôt que les précédents, après la défaite du camp républicain, avaient emprunté le même chemin, mais en sens inverse. En revanche aucun monument, ni aucun panneau, ne commémorait l’entreprise héroïque et vaine des Espagnols « rouges » qui en octobre 1944 avaient passé le col de Venasque, avec l’objectif d’occuper le val d’Aran et de provoquer à plus ou moins long terme la chute du régime franquiste. De penser que nous empruntions le même chemin qu’eux, sans les mêmes impedimenta et sans la menace d’une mort imminente, ne nous a pas rendu l’ascension plus facile.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Am nächsten Morgen waren wir bereits um 8.30 Uhr am Ausgangspunkt des Wanderwegs, dem Hospice de France, vor dem früher die Bärenbabys zur Schau gestellt worden waren (während heute nur noch vier große, überquellende Mülltonnen zu sehen sind). Verschiedene Materialien machten die Wanderer erneut auf die Vorsichtsmaßnahmen aufmerksam, die bei einer Begegnung mit dem Bären zu treffen sind (dieselben wie am Hafen von Lers oder am Hafen von Arinsal), oder feierten sowohl die „aus Frankreich Geflohenen“ als auch die spanischen Flüchtlinge, die einige Jahre früher als die vorigen nach der Niederlage des republikanischen Lagers denselben Weg genommen hatten, allerdings in umgekehrter Richtung. Im Gegensatz dazu erinnerte kein Denkmal oder Schild an das heldenhafte und vergebliche Unterfangen der „roten“ Spanier, die im Oktober 1944 den Venasque-Pass überquert hatten, um das Val d’Aran zu besetzen und über kurz oder lang den Sturz des Franco-Regimes herbeizuführen. Der Gedanke, dass wir denselben Weg wie sie gingen, ohne dieselben Hinternisse und ohne die Bedrohung durch den unmittelbaren Tod, machte den Aufstieg nicht leichter.
Jean Rolins Tous passaient sans effroi ist weit mehr als eine bloße historische Rekonstruktion der Fluchtbewegungen über die Pyrenäen während der deutschen Besatzung Frankreichs. Es ist ein literarischer Streifzug durch Landschaften, Erinnerungen und individuelle Schicksale, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt. Rolin nähert sich der Thematik auf seine typische, fast beiläufige Weise – nicht als Historiker, sondern als literarischer Flaneur, der sich von den Spuren der Geschichte treiben lässt. Rolin sucht die Orte auf, durchstreift die Landschaften und rekonstruiert einzelne Fluchten, jedoch ohne den Pathos eines klassischen Erinnerungswerks. Seine Erzählweise ist geprägt von einer Mischung aus Neugier, ironischer Distanz und tiefem Respekt für die Menschen, deren Wege er nachvollzieht. Dabei sind es vor allem einzelne Schicksale, die das Buch durchziehen und ihm emotionale Tiefe verleihen. Walter Benjamin, der sich in Portbou das Leben nahm, Jean-Pierre Melvilles Bruder Jacques Grumbach, der von seinem eigenen Fluchthelfer ermordet wurde, oder der amerikanische Pilot Bud Owens, der erschöpft im Schnee starb – ihre Geschichten zeigen die existenzielle Dramatik dieser Fluchtversuche. Doch Rolin bleibt kein distanzierter Beobachter: Indem er selbst die Berge besteigt, sich mit der körperlichen Herausforderung des Aufstiegs konfrontiert, wird er zum stillen Zeugen dieser vergangenen Fluchten.
La balsamine de l’Himalaya envahissait les berges, provoquant l’érosion et transformant le paysage.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Das Drüsige Springkraut (Impatiens glandulifera) breitete sich an den Ufern aus, verursachte Erosion und veränderte die Landschaft.
Die invasive Pflanze wird hier zur Metapher für die Veränderungen, die die Geschichte in der Landschaft bewirkt. Gleichzeitig zeigt Rolin, wie die Natur ihre eigenen Geschichten erzählt, die sich mit den menschlichen Schicksalen verflechten. Jean Rolins Tous passaient sans effroi ist auch eine literarische Reflexion über Landschaften, ihre Wahrnehmung und ihre ästhetische Wirkung. Die Pyrenäen sind in diesem Text nicht bloße Kulisse, sondern ein lebendiges, erzählendes Element. Sie formieren einen Speicher historischer Spuren. In einer Szene beschreibt Rolin eine Fluchtgruppe, die sich durch ein zerklüftetes Hochgebirge bewegt, wo sie „einen Mondsee, völlig von Schnee umgeben“, erreicht. Dieser „lac lunaire“ evoziert nicht nur eine außerweltliche Landschaft, sondern auch die Entfremdung der Flüchtenden, die sich auf unsicheren Wegen befinden. Die Höhe und Kälte der Berge sind nicht nur physische Herausforderungen, sondern wirken wie ein metaphysischer Raum der Unsicherheit und des Übergangs. Die Landschaft wird so zu einem Gedächtnisraum, in dem sich die Schichten der Vergangenheit überlagern. Dies zeigt sich besonders in Rolins Rekonstruktionen alter Fluchtwege: Oft muss er sich auf widersprüchliche Berichte stützen, denn „der angebliche Durchgangspunkt, das ‚Trou d’Espagne‘, existiert heute nicht mehr auf Karten“. Die Landschaft erscheint damit als ein Ort des Verschwindens – von Wegen, Erinnerungen und Menschen.
Rolin geht über eine rein geografische Beschreibung hinaus, indem er die Pyrenäen in ihren atmosphärischen Nuancen einfängt. Seine Landschaftsbeschreibungen sind oft an Wetterphänomene, Lichtstimmungen und akustische Eindrücke geknüpft. In einer Passage zitiert er einen Eintrag des flüchtenden Philippe Raichlen einen Sonnenuntergang über den Bergen: „‚An diesem Abend‘ – dem Abend seiner Ankunft in Toulouse Ende Juni 1943 -, so notiert er in seinem Tagebuch, ’sah ich im Süden zum ersten Mal die Pyrenäen: und es war eine Herrlichkeit, denn die untergehende Sonne schnitt sie gegen einen unwirklichen goldenen Himmel, der noch sehr weit entfernt war‘.“ 1 Die Formulierung „une gloire“ deutet auf eine fast sakrale Wahrnehmung der Landschaft hin. Der Sonnenuntergang verleiht den Bergen eine unwirkliche, erhabene Qualität. Zugleich bleibt die Distanz spürbar: Die Berge sind noch sehr weit entfernt, was die Unüberwindlichkeit und Ungewissheit betont, die für Flüchtende eine existenzielle Dimension hatte.
Beim Abstieg auf der spanischen Seite wird die Vegetation in Hitze und Trockenheit Metapher für die Bedrohlichkeit auf den Fluchtwegen:
[…] une plante d’autant plus rébarbative si, comme c’est le cas sur toute une partie du chemin, le feu a imprimé à ses raquettes l’aspect du caoutchouc brûlé, et parfois des formes grotesquement humaines (au crédit du figuier de Barbarie, il faut porter le fait que, même noirci des pieds à la tête par l’incendie, même à demi fondu, il lui repousse aussitôt de nouvelles raquettes d’un vert tendre et déjà couvertes d’épines).
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
[…] eine Pflanze, die umso widerwärtiger ist, wenn, wie es auf einem ganzen Teil des Weges der Fall ist, die Feuerhitze ihren Gliedern das Aussehen von verbranntem Gummi und manchmal grotesk menschliche Formen geformt hat (dem Feigenkaktus ist zugute zu halten, dass er, selbst wenn er von Kopf bis Fuß durch das Feuer geschwärzt und sogar halb geschmolzen ist, sofort neue Glieder von zartem Grün nachwachsen lässt, die bereits dornenbedeckt sind).
Die verkohlten Pflanzen erinnern an menschliche Körper, wodurch die Natur selbst zum Zeugen von Gewalt und Zerstörung wird. Die Pyrenäen sind für Rolin auch eine metaphorische Grenze zwischen Leben und Tod, Flucht und Verfolgung, Vergangenheit und Gegenwart. Ein ähnlich anschauliches Bild für diese Zweideutigkeit ist die Beschreibung einer Schafherde, die nach ihrer Sommerweide plötzlich ohne erkennbaren Grund ziellos wieder in die Berge läuft. Dieses Bild erinnert an das Schicksal vieler Flüchtender, die nie ankamen oder an der Grenze scheiterten. Die Landschaft bietet keinen Schutz, sondern verstärkt die Orientierungslosigkeit.
Rolin erreicht mit seinem Begleiter den Col de Rumpissar, wo die französisch-spanische Grenze verläuft. Doch statt einer klaren Linie findet er eine Ansammlung von Graffiti, die sich teils gegen Grenzen, teils für eine Autonomie Kataloniens aussprechen. Diese Szene verdeutlicht, dass die Pyrenäen nicht nur eine historische Grenze waren, sondern bis heute politisch umkämpft sind. Die Landschaft wird so zum Spiegel zeitgenössischer Debatten über Nationalstaaten, Migration und Identität:
Et c’est ainsi que le mardi 26 septembre, vers 9 heures et demie du matin, nous nous trouvions déjà, Bruno le photographe et moi-même, après environ deux heures de marche à travers des vignes malheureusement vendangées dans les jours précédents, au niveau de ce pylône électrique qui marque à peu près le milieu de l’ascension vers le col. Ce pylône marque également la limite inférieure, sur ce parcours, du graffiti et de l’autocollant, le sentier Walter Benjamin, du fait de ses origines, étant en France l’un des rares à accueillir une telle proportion de marcheurs militants (de marcheur-euse-s militant-e-s). « No antifascism without feminism », enjoint l’un de ces graffitis, un autre, mais peut-être de la même main, rappelant que si c’est le chemin de Walter Benjamin – « It’s the path of Walter Benjamin » –, c’est à Lisa Fittko qu’il doit d’exister – « But Lisa Fittko made it possible » – et invitant à ne pas oublier l’histoire particulière de celle-ci : « Tell her story, not only history. »
Puis c’est la fontaine dont j’ai noté déjà que l’eau en était claire mais couverte de feuilles, et plus haut, après l’interminable traversée de ces éboulis qui forment la principale difficulté de la marche, on atteint le col de Rumpissar où passe la frontière avec le pays voisin, dont on ne sait plus, désormais, s’il convient de l’appeler l’Espagne ou la Catalogne.
Sans doute la vue que l’on découvre du col de Rumpissar, surtout sur le versant français de la montagne, est-elle digne d’intérêt, mais elle n’est pas à la hauteur, malgré tout, de l’émerveillement que Lisa Fittko dit avoir ressenti en atteignant pour la première fois la ligne de crête, et qui, d’après sa description, correspond plutôt à ce que l’on doit éprouver non loin de là depuis la tour de Querroig. Ce qui déçoit aussi, dans ce col de Rumpissar, c’est peut-être que tout, y compris les mouches, nombreuses, y appelle les vaches, et que celles-ci en soient absentes. En revanche, on observe une recrudescence de tags – « Nik la frontière », « Nik l’État-nation », « Vive l’autodétermination des peuples » (et qu’importe si celle-ci entraîne une prolifération de ces « États-nations » flétris dans l’inscription précédente) – et d’autocollants émanant principalement, en ce début d’automne, d’un groupuscule allemand dont le nom d’« Antifaschistische Aktion » se détache sur un fond noir et rouge. Sans doute est-ce la vision de ces autocollants qui m’incitera à presser le pas, dans la descente, pour éviter un fort parti de pèlerins germaniques qui doit se trouver à environ une heure de marche derrière nous, en dépit des assurances prodiguées par Bruno qu’il s’agit de paisibles universitaires benjaminiens (à la réflexion, je pense que ce qui me poussait à les fuir, c’était qu’ils soient derrière nous, à une distance tendant à se réduire, tandis que s’ils nous avaient précédés j’aurais peut-être été tenté de les rattraper).
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Und so standen Bruno, der Fotograf, und ich am Dienstag, dem 26. September, gegen 9.30 Uhr morgens nach einer etwa zweistündigen Wanderung durch Weinberge, die in den Tagen zuvor leider abgeerntet worden waren, bereits an dem Strommast, der ungefähr die Mitte des Aufstiegs zum Pass markiert. Dieser Mast markiert auch die untere Grenze für Graffiti und Aufkleber auf dieser Strecke, da der Walter-Benjamin-Weg aufgrund seiner Ursprünge einer der wenigen in Frankreich ist, der einen so hohen Anteil an militanten Wanderern (von militanten Wanderern) beherbergt. „No antifascism without feminism“, fordert eines dieser Graffiti, ein anderes, aber vielleicht von derselben Hand, und erinnert daran, dass, wenn dies der Weg von Walter Benjamin ist – „It’s the path of Walter Benjamin“ -, es Lisa Fittko zu verdanken ist, dass es ihn gibt – „But Lisa Fittko made it possible“ -, und fordert dazu auf, ihre besondere Geschichte nicht zu vergessen: „Tell her story, not only history.“
Dann kommt der Brunnen, von dem ich schon bemerkt habe, dass das Wasser klar, aber mit Blättern bedeckt ist, und weiter oben, nach der endlosen Überquerung der Geröllhalden, die die Hauptschwierigkeit der Wanderung darstellen, erreicht man den Rumpissar-Pass, wo die Grenze zum Nachbarland verläuft, von dem man nun nicht mehr weiß, ob es Spanien oder Katalonien heißen soll.
Die Aussicht vom Rumpissar-Pass, vor allem auf der französischen Seite des Berges, ist zweifellos sehenswert, aber sie reicht trotz allem nicht an das Staunen heran, das Lisa Fittko laut eigener Aussage empfand, als sie zum ersten Mal die Kammlinie erreichte, und das ihrer Beschreibung zufolge eher dem entspricht, was man in der Nähe vom Turm von Querroig aus empfinden muss. Enttäuschend an diesem Rumpissar-Pass ist vielleicht auch, dass alles, einschließlich der zahlreichen Fliegen, nach Kühen ruft und dass diese abwesend sind. Stattdessen ist eine Zunahme von Tags zu beobachten – „Scheiß auf die Grenze“, „Scheiß auf den Nationalstaat“, „Es lebe die Selbstbestimmung der Völker“ (und es ist egal, ob dies zu einer Vermehrung dieser „Nationalstaaten“ führt, die in der vorherigen Inschrift verunglimpft wurden) – und von Aufklebern, die zu Beginn des Herbstes hauptsächlich von einer deutschen Gruppierung stammen, deren Name „Antifaschistische Aktion“ auf einem schwarz-roten Hintergrund hervor sticht. Zweifellos ist es der Anblick dieser Aufkleber, der mich dazu veranlasst, beim Abstieg schneller zu gehen, um einer starken Gruppe deutscher Pilger auszuweichen, die sich etwa eine Stunde hinter uns befinden muss, obwohl Bruno versichert, dass es sich um friedliche benjaminianische Akademiker handelt (wenn ich es mir recht überlege, ich denke, dass ich vor ihnen flüchtete, weil sie hinter uns waren, mit abnehmendem Abstand, während ich, wenn sie vor uns gewesen wären, vielleicht versucht gewesen wäre, sie einzuholen).
Rolin verneigt sich vor den Flüchtenden, ohne sie zu glorifizieren, und führt uns mit seiner literarischen Eleganz durch ein dramatisches Kapitel der Geschichte. Das Buch ist sowohl eine Hommage an die „Évadés de France“ – jene Widerstandskämpfer, Juden, Zwangsarbeiter und alliierte Soldaten, die sich zwischen 1940 und 1944 über die Berge nach Spanien retteten – als auch eine Reflexion über die Bedeutung dieser Routen im heutigen Bewusstsein. Dies tangiert u.a. die Beziehungen zwischen Spanien und Frankreich: Rolin thematisiert u.a. die strengen Kontrollen und das Misstrauen der spanischen Behörden gegenüber den Flüchtlingen, die oft als „rojos“ (Rote) bezeichnet wurden. Franco und seine Regierung nahmen während des Krieges eine ambivalente Haltung gegenüber den Alliierten ein, was zu einem schwierigen Umfeld für Flüchtlinge führte.
De Vigny und Roncesvalles
Jean Rolin wählt Alfred de Vignys Gedicht Le Cor (1825) als Motto und Titel seines Buches. Diese elegische Reflexion über Heldentum, Verlust und Erinnerung ist inspiriert von der mittelalterlichen Legende um Roland und die Schlacht von Roncesvalles im Jahr 778. De Vigny hatte zunächst eine Tragödie Roland geplant; bei seiner Ankunft in den Pyrenäen im Jahr 1823 plant er das Gedicht und stellt es 1825 in Pau fertig. Das Gedicht verwebt Naturbilder mit epischer Erzählung und romantischer Melancholie. Der Klang des Horns steht dabei symbolisch für die unvergängliche Erinnerung an vergangene Helden und deren Untergang. Die vier Teile des Gedichts bauen eine dramatische Steigerung auf: Zunächst wird der Klang des Horns als melancholische Naturstimmung eingeführt, die Erinnerungen an eine mythische Vergangenheit wachruft. Danach schildert Vigny den heldenhaften Widerstand Rolands gegen die übermächtige sarazenische Armee. Während Karl der Große das Signal zunächst missdeutet und ignoriert, ist es am Ende zu spät – Roland stirbt in der Einsamkeit der Berge, während der Klang seines Horns verklingt. Die letzte Zeile verdichtet die Thematik des Gedichts: den tragischen Untergang eines Helden, dessen Echo jedoch in der Geschichte weiterlebt.
Alfred de Vignys Gedicht Le Cor, IV
Sur le plus haut des monts s’arrêtent les chevaux ;
L’écume les blanchit ; sous leurs pieds, Roncevaux
Des feux mourants du jour à peine se colore.
À l’horizon lointain fuit l’étendard du More.« Turpin, n’as-tu rien vu dans le fond du torrent ?
— J’y vois deux chevaliers : l’un mort, l’autre expirant.
Tous deux sont écrasés sous une roche noire ;
Le plus fort, dans sa main, élève un Cor d’ivoire,
Son âme en s’exhalant nous appela deux fois. »Dieu ! que le son du Cor est triste au fond des bois !
Auf dem höchsten Gipfel des Berges halten die Pferde an, sie sind vom Schaum gebleicht, unter ihren Hufen liegt Roncesvalles, das kaum von den letzten lodernden Flammen des Tages berührt wird. Am fernen Horizont entwischt das Banner des Mauren. Jemand fragt: „Turpin, hast du im Grund des Baches gar nichts bemerkt?“ Darauf entgegnet Turpin: „Ich sehe dort zwei Ritter – einer liegt tot, der andere schier im Sterben. Beide sind unter einem schwarzen Felsen zerquetscht, und der Stärkere hebt in seiner Hand ein Horn aus Elfenbein empor; sein entweichender Geist rief uns gleich zweimal.“ Gott, wie traurig erklingt das Horn tief im Wald!
Jean Rolins Buchtitel Tous passaient sans effroi nimmt Bezug auf eine Verszeile aus Le Cor: „Roland gardait les monts ; tous passaient sans effroi.“ Der Autor erzählt in seinem Werk von Versuchen, die Pyrenäen zu überqueren, insbesondere im historischen Kontext der Résistance, der Flucht vor den Nazis und der Erinnerung an vergangene Kämpfe: Wie Roland die Pyrenäen gegen die Eindringlinge verteidigte, wurden sie im 20. Jahrhundert für Flüchtlinge, Widerstandskämpfer und verfolgte Intellektuelle zur letzten Hoffnung auf Rettung. Rolin thematisiert die Wege, die genutzt wurden, um vor der deutschen Besatzung nach Spanien zu entkommen. Während Vigny Rolands Tod als tragische, aber heroische Tat stilisiert, entlarvt Rolin die oft prosaischen, chaotischen und nicht immer ruhmreichen Fluchtgeschichten des 20. Jahrhunderts. Der heroische Mythos von Roland wird durch reale Berichte über Fluchthelfer, Schmuggler und gescheiterte Fluchtversuche konterkariert. Vignys Motiv des verhallenden Horns, das den Tod Rolands ankündigt, wird bei Rolin zu einem vielschichtigen Symbol für die Erinnerung an diejenigen, die versuchten, die Pyrenäen zu überqueren – oft unter Lebensgefahr oder mit tödlichem Ausgang. Die Berge bewahren das Echo dieser Schicksale, ähnlich wie das Horn in Vignys Gedicht. Rolin nutzt Le Cor also, um eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen. Während allerdings Vigny den Heldenmythos beschwört, zeigt Rolin die realen und oft unheroischen Aspekte von Flucht und Widerstand auf.
Jean Rolins Landschaftsbeschreibungen in Tous passaient sans effroi setzen sich mit der Ästhetik des Erhabenen auseinander, das seit Edmund Burke und Immanuel Kant als eine Erfahrung des Schrecklichen, Unermesslichen und Überwältigenden definiert wird. Die Pyrenäen, durch die Rolin reist, bieten auf den ersten Blick eine klassische Kulisse für eine solche Ästhetik: zerklüftete Gipfel, extreme Wetterbedingungen und eine Natur, die die menschliche Existenz herausfordert. Doch statt die Berge als grandiose, transzendente Kulisse zu inszenieren, dekonstruiert Rolin die Ästhetik des Erhabenen auf verschiedene Weise: In vielen Passagen seines Romans nimmt Rolin den Pyrenäen ihre übersteigerte Erhabenheit, indem er sie mit konkreten, allzu menschlichen Details versieht. Ein Beispiel dafür ist seine Ankunft im Dorf Oô:
Ce nom d’Oô, qui sonne comme un appel lancé dans le brouillard par un voyageur égaré, le lac le partage avec un village situé à 980 mètres d’altitude et, par la route, à une dizaine de kilomètres de Luchon. Quand on l’atteint, en cette même journée du lundi 27 mai, tout le village sent l’étable, ou la bergerie, et toutes ses voies, il est vrai peu nombreuses, sont constellées de crottes de moutons.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Den Namen Oô, der wie ein Ruf klingt, den ein verirrter Reisender im Nebel ausstößt, teilt der See mit einem Dorf, das auf 980 Metern Höhe liegt und über die Straße etwa zehn Kilometer von Luchon entfernt ist. Als wir ihn an diesem Montag, dem 27. Mai, erreichen, riecht das ganze Dorf nach Stall oder Schafstall, und alle seine Wege, die zugegebenermaßen nicht sehr zahlreich sind, sind mit Schafskot übersät.
Anstatt eine heroische, unberührte Natur zu schildern, beginnt Rolin seine Beschreibung mit dem Geruch von Ställen und dem Anblick von Schafskot. Diese Alltagsdetails brechen mit der Erhabenheit der Landschaft und verleihen ihr eine prosaische, fast komische Dimension. Das Erhabene wird so nicht negiert, aber mit einer Materialität versehen, die es dem romantischen Naturbild entzieht.
Rolin feiert die Pyrenäen nicht als beeindruckende, übermenschliche Naturmacht, sondern er zeigt, dass sie für viele Flüchtende eine tödliche Falle waren. Besonders eindrücklich ist die Geschichte des antifaschistischen Priesters Francesco Bonfiglio Stella:
Toujours est-il que vers la fin du mois d’octobre 1943, l’abbé Stella, de concert avec plusieurs dizaines d’autres candidats à l’exil, se lance dans une périlleuse randonnée en direction du port d’Oô, un point de passage vers l’Espagne particulièrement malaisé, à près de 3 000 mètres d’altitude, au pied du pic des Spijeoles et au-dessus d’un lac qui porte le nom peu engageant de ‘lac Glacé’.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Gesichert ist, dass sich gegen Ende Oktober 1943 Pater Stella zusammen mit mehreren Dutzend anderen Exilkandidaten auf eine gefährliche Wanderung in Richtung des Hafens von Oô begibt, einem besonders schwierigen Übergang nach Spanien auf fast 3.000 Metern Höhe, am Fuße des Pic des Spijeoles und über einem See, der den wenig einladenden Namen ‚Eissee‘ trägt.
Die karge, eisige Landschaft, in der Stella ums Leben kommt, verweist auf eine andere, abgründige Dimension des Erhabenen: die unbarmherzige Natur, die den Menschen nicht als staunenden Beobachter empfängt, sondern ihn auslöscht. Rolin beschreibt, wie Stellas Leiche Monate später gefunden wird, die Augen von Vögeln ausgehöhlt. Die Szenerie erinnert an Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer, in dem die erhabene Natur nicht mehr Bewunderung auslöst, sondern menschliche Existenz vernichtet.
In einer weiteren Szene erreicht Rolin den Col de Rumpissar, einen historischen Grenzpass, doch wie oben bereits zitiert, statt einer erhabenen Grenzerfahrung stößt er auf Graffiti, die sich teils gegen Grenzen, teils für eine Autonomie Kataloniens aussprechen. Dieser Moment negiert, dass Landschaften eine ewige, unberührte Bedeutung besitzen. Die Pyrenäen als heroische Fluchtroute sind nicht nur ein Ort vergangener Tragödien, sondern auch ein Schauplatz aktueller politischer Kämpfe. Rolin verweigert hier jegliche nostalgische Verklärung der Landschaft und zeigt, dass selbst die Natur Teil ideologischer Kämpfe ist. Statt einer Feier des Sublimen zeigt Rolin die Pyrenäen als ambivalenten Raum: als ein Archiv des Leids, ein politisch aufgeladenes Terrain, ein Ort, der viele Opfer fordert. Damit rückt Rolin das Erhabene aus der Sphäre der romantischen Idealisierung in eine kritisch-historische Perspektive.
Autopoetologisches und Autofiktionales
Jean Rolins Tous passaient sans effroi reflektiert auch über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Darstellung von Geschichte. Der Roman ist somit nicht nur eine historische Recherche über Fluchtbewegungen in den Pyrenäen, sondern zugleich eine Metareflexion über das Schreiben selbst. Rolin inszeniert sich als eine Art literarischer Wanderer, der die Pyrenäen durchstreift, um den Spuren vergangener Flüchtender zu folgen. Ähnlich wie der Autor körperlich durch die Landschaft wandert, bewegt er sich auch in einem Labyrinth aus Texten, Archiven und Erinnerungen. Geschichte ist nie linear oder kohärent, sondern besteht aus Fragmenten, die zusammengesetzt oder neu interpretiert werden müssen. Die Recherche des Autors verläuft nicht nach einem festgelegten Plan. Vielmehr stolpert Rolin von einem Hinweis zum nächsten, spricht mit Zeitzeugen, verirrt sich oder findet unerwartete Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Verfahren macht das Schreiben selbst zum zentralen Thema des Buches: Es gibt keine objektive Wahrheit, sondern nur subjektive Annäherungen an die Vergangenheit. Rolin entzieht sich damit der Rolle des allwissenden Erzählers. Stattdessen zeigt er sich als fragender, tastender Autor, der sich der Begrenztheit seines eigenen Wissens bewusst ist.
Anstatt eine illusionistische Darstellung der Vergangenheit anzustreben, betont Rolin immer wieder die Künstlichkeit des Erzählens. Er unterläuft wiederholt die Erwartungen des Lesers, indem er an scheinbar bedeutenden historischen Orten Banalitäten beschreibt oder seine eigene Unsicherheit betont. Dadurch wird deutlich, dass die Vergangenheit nicht objektiv rekonstruiert werden kann, sondern stets vom Blickwinkel des Erzählers abhängt. Rolin hinterfragt nicht nur die Erinnerung anderer, sondern auch seine eigene Wahrnehmung. Immer wieder zweifelt er an der Authentizität von Quellen oder verweist auf Lücken im Archiv. Diese selbstreflexive Haltung macht den Roman zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle des Autors: Ist es überhaupt möglich, die Vergangenheit „richtig“ zu erzählen? Oder bleibt jede Erzählung notwendigerweise ein „Work in progress“?
An vielen Stellen bringt Rolin Beobachtungen, die mit der eigentlichen historischen Recherche nichts zu tun haben – etwa das Verhalten von Tieren, das Wetter oder zufällige Begegnungen. Diese Abschweifungen unterstreichen, dass das Schreiben nicht nur der Rekonstruktion der Vergangenheit dient, sondern auch ein kreativer, subjektiver Prozess ist. Rolin vermeidet bewusst große dramatische Erzählbögen. Stattdessen lässt er Leerstellen, macht Andeutungen oder endet eine Passage, bevor eine Frage beantwortet wird. Diese offene Form steht im Gegensatz zu geschlossenen historischen Narrativen und verweist darauf, dass jede Erzählung immer nur eine Annäherung an die Wahrheit ist.
Die Reisen von Jean Rolin und Jean-Pierre Melville weisen bemerkenswerte Parallelen auf, die über bloße geografische Überschneidungen hinausgehen. Beide überqueren die Pyrenäen, allerdings unter völlig unterschiedlichen historischen Bedingungen und mit unterschiedlichen Motivationen. Während Melville (damals noch Jean-Pierre Grumbach) 1942 als Flüchtling und künftiger Widerstandskämpfer eine lebensgefährliche Flucht unternimmt, reist Rolin viele Jahrzehnte später als Schriftsteller, der sich mit der historischen Erinnerung dieser Fluchtrouten auseinandersetzt. Doch gerade in dieser Gegenüberstellung zeigt sich eine tiefere Verbindung: Beide Reisen sind von Improvisation, Zufällen und Momenten des Ungewissen geprägt.
Rolin schildert Melvilles Entscheidung, sich der Résistance anzuschließen, als Teil eines bürokratischen Vorgangs: In einem Dokument zur Anmeldung bei den Freien Französischen Streitkräften trägt er handschriftlich seinen künftigen Namen „Jean-Pierre Melville“ ein – ein Akt der Selbsterschaffung, der sowohl pragmatische als auch symbolische Bedeutung hat. In einem anderen Moment reflektiert Rolin über ein Interview, in dem Melville beschreibt, wie er während der alliierten Offensive in Italien 1944, umgeben von Kanonendonner, zum ersten Mal daran dachte, nach Kriegsende Filmemacher zu werden. Für Melville war die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpft – seine Flucht war nicht nur eine Bewegung in den Raum, sondern auch in eine künstlerische Identität hinein.
Rolin rekonstruiert Melvilles Flucht anhand historischer Dokumente, aber auch durch die eigene körperliche Erfahrung. Er überquert Pässe, speist in denselben Städten, möglicherweise sogar im selben Restaurant, in dem Melville vor seiner Flucht mit einem betrunkenen Arzt zu Abend gegessen hatte. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese Reise tatsächlich eine Annäherung an Melvilles Erlebnisse ermöglicht oder ob sie vielmehr eine Reflexion über die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion darstellt. Während Melville von dubiosen Passeuren und betrügerischen Mittelsmännern abhängig war, begegnet Rolin Figuren, die die Erinnerung an diese Fluchten in festliche Zeremonien oder übertriebene Heldenerzählungen verwandeln. So wird die Flucht durch die Pyrenäen einmal als todernste Angelegenheit, einmal als ironisch gebrochene Erinnerungslandschaft inszeniert. Letztlich stellt Rolin Melville nicht als unantastbaren Helden dar, sondern als eine Figur, die sich selbst mythologisiert hat – ein Muster, das Rolin mit distanzierter Ironie aufgreift und auf seine eigene Reise überträgt. So stehen beide Reisen nicht nur für eine physische Bewegung, sondern auch für ein Spiel mit der Konstruktion und Dekonstruktion von Bedeutung.
Der Text changiert zwischen der dokumentarischen Stimme, die historische Fakten präsentiert, und einem subjektiven, fast romanhaften Erzählen. Rolin stellt nicht nur historische Erinnerungen infrage, sondern auch seine eigenen Wahrnehmungen. Er zweifelt an der Authentizität von Quellen, hinterfragt Zeugenaussagen und reflektiert darüber, wie Geschichte immer wieder umgeschrieben wird. Diese Unsicherheiten sind ein zentrales Merkmal autofiktionalen Erzählens. Rolin beschreibt nicht nur die Schicksale realer Flüchtlinge, sondern projiziert auch eigene Ängste und Unsicherheiten in die Erzählung. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen persönlicher Erfahrung und historischer Recherche. Die Reise durch die Pyrenäen ist nicht nur eine dokumentarische Recherche, sondern auch eine symbolische Selbstsuche. Diese metaphorische Dimension verstärkt die autofiktionale Komponente des Buches.
Erinnerungskritik
Lorsque je me suis rendu pour la première fois au musée du Chemin de la Liberté, dont j’ai déjà signalé qu’il occupait une partie du bâtiment de l’ancienne gare, j’ai été frappé par le désordre des objets et documents, mais aussi par leur ferveur.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Als ich das Museum Chemin de la Liberté, das, wie ich bereits erwähnt habe, einen Teil des Gebäudes des ehemaligen Bahnhofs einnimmt, zum ersten Mal besuchte, war ich beeindruckt von der Unordnung der Gegenstände und Dokumente, aber auch von ihrer Inbrunst.
In verschiedenen historischen Epochen boten die Pyrenäen Fluchtwege – sei es für die Katharer im Mittelalter, für französische Royalisten nach der Revolution oder für jüdische Flüchtlinge und Mitglieder der Résistance während des Zweiten Weltkriegs. Rolin beschreibt die Berge als einen Erinnerungsraum, in dem Geschichten sedimentiert sind, aber nicht immer in einer einheitlichen Erzählung aufgegangen sind. Erinnerung ist ein umkämpftes Feld, auf dem Geschichte, Politik und individuelle Narrative miteinander ringen. Jean Rolins Buch reflektiert die Art und Weise, wie Erinnerung über Generationen hinweg weitergegeben, umgedeutet oder vereinnahmt wird, von nationaler Mythenbildung bis hin zu individuellen Erinnerungspraxen.
Rolins Erinnerungskritik differenziert unterschiedlichen Formen der Erinnerung, zum einen offizielle Gedenkorte, die Fluchtgeschichten mit Pathos und nationaler Identität aufladen, dann private Erinnerungen, die oft der offiziellen Erzählung widersprechen oder in Vergessenheit geraten sind, schließlich eine Kommerzialisierung von Geschichte, etwa durch touristische Aufbereitung oder populäre Geschichtsnarrative. Rolin dekonstruiert die Vorstellung, dass Erinnerung kohärent sei. Vielmehr zeigt er, wie sie fragmentiert und abhängig von politischen, sozialen und kulturellen Interessen ist.
Eine zentrale Kritik richtet sich gegen die Heroisierung von Widerstand und Flucht. Offizielle französische Erinnerungsdiskurse stilisieren die Résistance häufig als einheitliche Bewegung tapferer Patrioten, die gegen die deutsche Besatzung kämpften. Doch Rolin zeigt die Widersprüche und Ambivalenzen dieser Geschichte auf: Viele Fluchten waren nicht heroische Akte des Widerstands, sondern chaotische, oft improvisierte Entscheidungen. Manche, die überlebten, hatten schlicht Glück oder verfügten über Kontakte, während andere trotz Mut und Planung scheiterten. Während ein offizieller Widerstandskult die Résistance als moralisch überlegen darstellt, thematisiert Rolin auch französische Kollaborateure, korrupte Fluchthelfer und die Rolle der Vichy-Regierung. Rolin zeigt, wie bestimmte Fluchtgeschichten – etwa die von berühmten Intellektuellen oder politischen Figuren – in den Vordergrund gerückt werden, während anonyme oder weniger „repräsentative“ Erlebnisse aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Über diese Dekonstruktion hinterfragt Rolin, inwiefern nationale Erinnerung mehr über die Bedürfnisse der Gegenwart aussagt als über die Vergangenheit selbst.
Rolins Stil schwankt zwischen dokumentarischer Präzision und poetischer Abschweifung. Er untersucht alte Karten, sucht in Archiven, befragt Einheimische, aber lässt sich ebenso von der Natur ablenken – von Vögeln, Pflanzen und der Atmosphäre der Orte. 2 Dies verleiht dem Buch eine meditative, fast melancholische Grundstimmung. Während die Erzählung der Résistance glorifiziert wird, wird die Rolle der Kollaborateure und Denunzianten oft ausgeblendet. Rolin verweist darauf, dass viele Flüchtlinge nicht nur von den Nazis, sondern auch von ihren eigenen Landsleuten verraten wurden. Doch diese unheroischen Aspekte der Geschichte finden sich selten in offiziellen Gedenknarrativen. Auch handelten viele Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs die Pyrenäen überquerten, nicht aus patriotischem Widerstand, sondern aus nacktem Überlebenswillen. Sie hatten oft keine andere Wahl, wurden von Angst, Chaos und Verzweiflung getrieben. Der Autor entlarvt so ein idealisiertes Bild der maquisards, wie sie angeblich mutig und entschlossen gegen die deutsche Besatzung kämpften.
Rolin beleuchtet zudem die Ambivalenz der Kollaborationsprozesse, indem er zeigt, dass nicht alle Täter aus reiner Überzeugung handelten: Manche Denunzianten agierten aus Angst, andere aus Opportunismus oder persönlichem Vorteil. Rolin vermeidet eine moralisch eindeutige Verurteilung und verzichtet auf klassische Schuldzuweisungen. Stattdessen rekonstruiert er die historischen Kontexte mit dokumentarischer Präzision, indem er Archive durchforstet und Augenzeugenberichte einbindet. Die Kollaborationsprozesse erscheinen in seinem Werk nicht als juristische Tribunale, sondern als Teil einer vielschichtigen Nachkriegsaufarbeitung, in der Täter- und Opferrollen oft schwer zu trennen sind. Letztlich zeigt der Roman, dass die Fluchtrouten nicht nur von mutigen Helfern, sondern auch von Verrat und Gefahr durchsetzt waren – ein Aspekt, der die Dramatik der Fluchtversuche noch verstärkt und die Grauzonen zwischen Widerstand und Kollaboration deutlich macht.
Viele der ehemaligen Fluchtrouten sind heute Wanderwege mit Gedenktafeln, die an die Vergangenheit erinnern. Doch Rolin zeigt, dass diese Erinnerungsorte oft kommerzialisiert werden, sodass die existenzielle Dramatik der historischen Fluchten in eine konsumierbare Erzählung umgewandelt wird. Er beschreibt beispielsweise, wie historische Stätten als Sehenswürdigkeiten vermarktet werden, wobei der Fokus eher auf dem Erlebnis für Touristen als auf der Auseinandersetzung mit der realen Geschichte liegt. Während die Résistance einst eine aktive Bewegung gegen den Faschismus war, wird sie heute oft nostalgisch verklärt. Rolin zeigt, dass viele Gedenkveranstaltungen eher eine romantisierte Vergangenheit beschwören als eine tatsächliche politische Auseinandersetzung mit den Mechanismen von Faschismus und Unterdrückung zu leisten.
Neben der nationalen Instrumentalisierung untersucht Rolin auch die Mechanismen, durch die individuelle Erinnerungen von nachfolgenden Generationen umgedeutet oder vereinnahmt werden. Viele Fluchtgeschichten werden in Familien mündlich tradiert und über die Jahrzehnte verändert. Rolin zeigt, dass sich Erinnerungen oft dem gesellschaftlichen Kontext anpassen – etwa, indem sie nachträglich heroisiert oder politisch gedeutet werden. An manchen Orten werden Fluchtrouten touristisch aufbereitet, wobei die existenziellen Erfahrungen der Flüchtenden in konsumierbare Erzählungen verwandelt werden. Rolin kritisiert dies als eine Form der Entpolitisierung, bei der Geschichte zu einer nostalgischen Folklore wird. Während berühmte Flüchtlinge wie Walter Benjamin in der Erinnerung fortleben, bleiben viele andere namenlose Existenzen unaufgearbeitet. Rolin hebt diesen Kontrast hervor, indem er gezielt nach vergessenen oder kaum dokumentierten Geschichten sucht.
Et c’est ainsi que le mardi 26 septembre, vers 9 heures et demie du matin, nous nous trouvions déjà, Bruno le photographe et moi-même, après environ deux heures de marche à travers des vignes malheureusement vendangées dans les jours précédents, au niveau de ce pylône électrique qui marque à peu près le milieu de l’ascension vers le col. Ce pylône marque également la limite inférieure, sur ce parcours, du graffiti et de l’autocollant, le sentier Walter Benjamin, du fait de ses origines, étant en France l’un des rares à accueillir une telle proportion de marcheurs militants (de marcheur-euse-s militant-e-s). « No antifascism without feminism », enjoint l’un de ces graffitis, un autre, mais peut-être de la même main, rappelant que si c’est le chemin de Walter Benjamin – « It’s the path of Walter Benjamin » –, c’est à Lisa Fittko qu’il doit d’exister – « But Lisa Fittko made it possible » – et invitant à ne pas oublier l’histoire particulière de celle-ci : « Tell her story, not only history. »
Puis c’est la fontaine dont j’ai noté déjà que l’eau en était claire mais couverte de feuilles, et plus haut, après l’interminable traversée de ces éboulis qui forment la principale difficulté de la marche, on atteint le col de Rumpissar où passe la frontière avec le pays voisin, dont on ne sait plus, désormais, s’il convient de l’appeler l’Espagne ou la Catalogne.
Sans doute la vue que l’on découvre du col de Rumpissar, surtout sur le versant français de la montagne, est-elle digne d’intérêt, mais elle n’est pas à la hauteur, malgré tout, de l’émerveillement que Lisa Fittko dit avoir ressenti en atteignant pour la première fois la ligne de crête, et qui, d’après sa description, correspond plutôt à ce que l’on doit éprouver non loin de là depuis la tour de Querroig. Ce qui déçoit aussi, dans ce col de Rumpissar, c’est peut-être que tout, y compris les mouches, nombreuses, y appelle les vaches, et que celles-ci en soient absentes. En revanche, on observe une recrudescence de tags – « Nik la frontière », « Nik l’État-nation », « Vive l’autodétermination des peuples » (et qu’importe si celle-ci entraîne une prolifération de ces « États-nations » flétris dans l’inscription précédente) – et d’autocollants émanant principalement, en ce début d’automne, d’un groupuscule allemand dont le nom d’« Antifaschistische Aktion » se détache sur un fond noir et rouge. Sans doute est-ce la vision de ces autocollants qui m’incitera à presser le pas, dans la descente, pour éviter un fort parti de pèlerins germaniques qui doit se trouver à environ une heure de marche derrière nous, en dépit des assurances prodiguées par Bruno qu’il s’agit de paisibles universitaires benjaminiens (à la réflexion, je pense que ce qui me poussait à les fuir, c’était qu’ils soient derrière nous, à une distance tendant à se réduire, tandis que s’ils nous avaient précédés j’aurais peut-être été tenté de les rattraper). Toujours est-il que cette descente sur le versant espagnol n’a rien d’une partie de plaisir, ne serait-ce que parce que ce versant est inévitablement beaucoup plus ensoleillé, donc aussi beaucoup plus chaud, ce qui peut encore être considéré comme un défaut en cette fin de saison, et couvert d’une végétation aride dans laquelle c’est le figuier de Barbarie qui prévaut : une plante d’autant plus rébarbative si, comme c’est le cas sur toute une partie du chemin, le feu a imprimé à ses raquettes l’aspect du caoutchouc brûlé, et parfois des formes grotesquement humaines (au crédit du figuier de Barbarie, il faut porter le fait que, même noirci des pieds à la tête par l’incendie, même à demi fondu, il lui repousse aussitôt de nouvelles raquettes d’un vert tendre et déjà couvertes d’épines). D’autre part le chemin, sur ce versant espagnol (catalan), n’est pratiquement plus balisé, si ce n’est par des taches de peinture jaune bombées de loin en loin, lors d’une précédente expédition, par Bruno, à l’intention non des randonneurs mais des migrants qui auraient échoué à passer en France par des voies plus faciles. Arrivé dans le fond de la vallée, le léger ennui que distille le chemin, désormais, n’est rompu que par un écriteau « Precaución perros », dont on ne sait au juste quel genre de précaution il invite à prendre avec les chiens, affiché sur le portail d’une propriété, puis par le long tunnel que l’on doit emprunter pour passer sous cet écheveau de voies ferrées en quoi la ville de Port-Bou, comme sa voisine française de Cerbère, consiste principalement. Alors que nous entrions dans Port-Bou, poussiéreux et fourbus, Bruno, qui connaissait la ville comme sa poche, eut l’idée d’aller acheter dans une supérette chinoise des shorts de bain surdimensionnés et des serviettes-éponges hydrophobes, munis de quoi nous nous hâtâmes jusqu’à la plage, à peu près exempte de touristes en cette fin de saison, pour y nager en silence dans une eau miraculeusement propre et transparente. Après cela, ayant repris notre sérieux, nous sommes montés jusqu’au cimetière marin où devrait se trouver la tombe de Walter Benjamin si ses restes n’avaient pas disparu, et non loin duquel le tunnel métallique de l’artiste Dani Karavan, débouchant sur la mer et le vide, dément l’idée qu’un monument commémoratif doive nécessairement être une chose vaine et laide. En redescendant vers la ville, au dernier étage d’un petit immeuble donnant sur un carrefour dont je venais de remarquer l’aspect étrangement beyrouthin, Bruno connaissait une personne, artiste et militante, si tels sont les mots convenables pour la présenter, à laquelle nous avons été rendre visite. Presque aussitôt j’eus le sentiment de l’énerver, mais peut-être était-ce simplement dû au fait qu’elle venait d’arrêter de fumer. La nuit précédente elle avait donné asile dans sa voiture à un toxicomane rencontré sur la plage – où elle avait constaté avec plaisir, d’autre part, que les poissons étaient de retour, avec le départ des touristes – et la veille, semble-t-il, elle avait effectué un long voyage, au volant de cette même voiture, pour conduire un jeune clandestin vers un lieu disposé à l’accueillir : deux actions qui amenaient à s’interroger sur ce qu’il y avait de commun entre cette démarche et celle de Lisa Fittko, et sur le point de savoir s’il entrait ou non de la bonté, si malaisée que soit la définition de celle-ci, dans une telle démarche.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Und so standen Bruno, der Fotograf, und ich am Dienstag, dem 26. September, gegen 9.30 Uhr morgens nach einer etwa zweistündigen Wanderung durch Weinberge, die in den Tagen zuvor leider abgeerntet worden waren, bereits an dem Strommast, der ungefähr die Mitte des Aufstiegs zum Pass markiert. Dieser Mast markiert auch die untere Grenze für Graffiti und Aufkleber auf dieser Strecke, da der Walter-Benjamin-Weg aufgrund seiner Ursprünge einer der wenigen in Frankreich ist, der einen so hohen Anteil an militanten Wanderern (ann militanten Wanderer*innen) beherbergt. „No antifascism without feminism“, fordert eines dieser Graffiti, ein anderes, aber vielleicht von derselben Hand, und erinnert daran, dass, wenn dies der Weg von Walter Benjamin ist – „It’s the path of Walter Benjamin“ -, es Lisa Fittko zu verdanken ist, dass es ihn gibt – „But Lisa Fittko made it possible“ -, und fordert dazu auf, ihre besondere Geschichte nicht zu vergessen: „Tell her story, not only history.“
Dann kommt der Brunnen, von dem ich schon bemerkt habe, dass das Wasser klar, aber mit Blättern bedeckt ist, und weiter oben, nach der endlosen Überquerung der Geröllhalden, die die Hauptschwierigkeit der Wanderung darstellen, erreicht man den Rumpissar-Pass, wo die Grenze zum Nachbarland verläuft, von dem man nun nicht mehr weiß, ob es Spanien oder Katalonien heißen soll.
Die Aussicht vom Rumpissar-Pass, vor allem auf der französischen Seite des Berges, ist zweifellos sehenswert, aber sie reicht trotz allem nicht an das Staunen heran, das Lisa Fittko laut eigener Aussage empfand, als sie zum ersten Mal die Kammlinie erreichte, und das ihrer Beschreibung zufolge eher dem entspricht, was man in der Nähe vom Turm von Querroig aus empfinden muss. Enttäuschend an diesem Rumpissar-Pass ist vielleicht auch, dass alles, einschließlich der zahlreichen Fliegen, nach Kühen ruft und dass diese abwesend sind. Stattdessen ist eine Zunahme von Tags zu beobachten – „Scheiß auf die Grenze“, „Scheiß auf den Nationalstaat“, „Es lebe die Selbstbestimmung der Völker“ (und es ist egal, ob dies zu einer Vermehrung dieser „Nationalstaaten“ führt, die in der vorherigen Inschrift verunglimpft wurden) – und von Aufklebern, die zu Beginn des Herbstes hauptsächlich von einer deutschen Gruppierung stammen, deren Name „Antifaschistische Aktion“ auf einem schwarz-roten Hintergrund hervor sticht. Zweifellos ist es der Anblick dieser Aufkleber, der mich dazu veranlasst, beim Abstieg schneller zu gehen, um einer starken Gruppe deutscher Pilger auszuweichen, die sich etwa eine Stunde hinter uns befinden muss, obwohl Bruno versichert, dass es sich um friedliche benjaminianische Akademiker handelt (wenn ich es mir recht überlege, Ich denke, dass ich vor ihnen flüchtete, weil sie hinter uns waren, mit abnehmendem Abstand, während ich, wenn sie vor uns gewesen wären, vielleicht versucht gewesen wäre, sie einzuholen ). Wie dem auch sei, der Abstieg auf der spanischen Seite ist alles andere als ein Vergnügen, nicht zuletzt, weil diese Seite zwangsläufig viel sonniger ist, also auch viel wärmer, was am Ende der Saison immer noch als Mangel angesehen werden kann, und mit einer trockenen Vegetation bedeckt ist, in der der Feigenkaktus vorherrscht: eine Pflanze, die umso abschreckender ist, wenn, wie es auf einem ganzen Teil des Weges der Fall ist, das Feuer ihren Schneeschuhen das Aussehen von verbranntem Gummi und manchmal grotesk menschliche Formen eingeprägt hat (dem Feigenkaktus ist zugute zu halten, dass er, selbst wenn er von Kopf bis Fuß durch das Feuer geschwärzt und sogar halb geschmolzen ist, sofort neue Schneeschuhe von zartem Grün nachwachsen lässt, die bereits mit Dornen bedeckt sind). Außerdem ist der Weg auf dieser spanischen (katalanischen) Seite praktisch nicht mehr markiert, außer durch gelbe Farbkleckse, die Bruno bei einer früheren Expedition von weitem aufgesprüht hat, nicht für Wanderer, sondern für Migranten, die es nicht geschafft haben, auf leichteren Wegen nach Frankreich zu gelangen. In der Talsohle angekommen, wird die leichte Langeweile des Weges nur durch ein Schild mit der Aufschrift „Precaución perros“ (Vorsichtsmaßnahmen für Hunde) unterbrochen, von dem man nicht weiß, welche Art von Vorsichtsmaßnahmen es vorsieht, und das an einem Tor eines Anwesens angebracht ist, sowie durch den langen Tunnel, den man durchqueren muss, um unter dem Gewirr von Eisenbahnschienen hindurchzukommen, aus denen die Stadt Port-Bou, wie ihr französischer Nachbar Cerbère, hauptsächlich besteht. Als wir staubig und erschöpft in Port-Bou einfuhren, kam Bruno, der die Stadt wie seine Westentasche kannte, auf die Idee, in einem chinesischen Supermarkt übergroße Badeshorts und wasserabweisende Schwammtücher zu kaufen, mit denen wir dann zum Strand eilten, der am Ende der Saison weitgehend frei von Touristen war, um dort in einem wundersam sauberen und klaren Wasser zu schwimmen. Nachdem wir wieder ernst geworden waren, stiegen wir zum Seefriedhof hinauf, wo sich das Grab von Walter Benjamin befinden sollte, wenn seine Überreste nicht verschwunden wären, und nicht weit davon entfernt der Metalltunnel des Künstlers Dani Karavan, der auf das Meer und die Leere hinausgeht und die Vorstellung widerlegt, dass eine Gedenkstätte notwendigerweise etwas Sinnloses und Hässliches sein muss. Auf dem Weg zurück in die Stadt, im obersten Stockwerk eines kleinen Gebäudes mit Blick auf eine Kreuzung, deren seltsam beirutinisches Aussehen mir gerade aufgefallen war, kannte Bruno eine Person, die wir besuchten, eine Künstlerin und Aktivistin, wenn man sie mit diesen Worten beschreiben kann. Fast sofort hatte ich das Gefühl, sie zu verärgern, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie gerade mit dem Rauchen aufgehört hatte. In der Nacht zuvor hatte sie einem Drogenabhängigen, den sie am Strand getroffen hatte, in ihrem Auto Unterschlupf gewährt – wo sie mit Freude festgestellt hatte, dass die Fische wieder da waren, nachdem die Touristen weg waren – und am Tag zuvor hatte sie anscheinend eine lange Reise mit demselben Auto unternommen, um einen jungen illegalen Einwanderer zu einem Ort zu bringen, der bereit war, ihn aufzunehmen: zwei Handlungen, die die Frage aufwarfen, was dieses Vorgehen mit dem von Lisa Fittko gemeinsam hatte und ob es sich dabei um Güte handelte, so schwer diese auch zu definieren sein mag.
Jean Rolins Tous passaient sans effroi ist wie angedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen, durch die Erinnerung geformt, genutzt und vereinnahmt wird. Seine Reise entlang der Fluchtrouten der Pyrenäen offenbart die Spannungen zwischen nationalen Mythen und individuellen Erfahrungen, zwischen offizieller Geschichtsschreibung und vergessenen Existenzen. Rolin zeigt, dass Erinnerung nie abgeschlossen ist – sie wird immer wieder neu erzählt, umgedeutet und für unterschiedliche Zwecke genutzt. In einer Zeit, in der politische Diskurse zunehmend auf historische Narrative zurückgreifen, um nationale Identität zu formen, ist seine Arbeit eine notwendige Mahnung.
Komik und Ironie
Trotz des ernsten Themas durchzieht ein feiner Humor den Text, der sich sowohl in komischen Szenen als auch in ironischen Brechungen zeigt. Diese Elemente tragen wesentlich zur Gesamtinterpretation des Buches bei, indem sie die Komplexität von Erinnerung, Geschichtsschreibung und persönlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sichtbar machen. Die komischen und ironischen Elemente im Text sind dabei keine bloßen Stilmittel, sondern zentrale Bestandteile dieser Reflexion. Sie entlarven Pathos und Heldenmythen, zeigen die Widersprüche von Erinnerungspraktiken und machen deutlich, dass die Vergangenheit niemals eindeutig ist. Jean Rolin nutzt den Humor nicht, um Geschichte zu trivialisieren, sondern um sie als lebendiges, vielschichtiges und oft paradoxes Geflecht sichtbar zu machen.
Jean Rolin zeichnet den Colonel von Seix als eine schillernde Figur mit einer gewissen Selbstinszenierung. Dieser lebt in einem hohen, schmalen Haus im Dorf Seix, das Rolin zusammen mit einem Klempner besucht, der auch an der Organisation der Gedenkmärsche beteiligt ist. Diese Szene ist durch einen subtilen Humor geprägt, insbesondere durch die fast groteske Schilderung der Formalitäten rund um eine Gedenkkranzniederlegung. Während der Zeremonie zeigt sich der Colonel in einem einwandfreien militärischen Habitus. Seine Uniform ist überladen mit Medaillen, mehr als bei jedem anderen Veteranen der anwesenden Gruppe.
Intervenant en second, après le colonel, la sous-préfète prononça un discours dans lequel elle rendait hommage aux « trente mille évadés de France » à travers les Pyrénées, et au millier de passeurs, toujours d’après son propre décompte, peut-être excessivement généreux, qui avaient payé de leur vie, ou d’une longue captivité, leur rôle dans ces évasions (le discours de la sous-préfète fit sur la jeune femme sympathique une si forte impression qu’elle demanda par la suite s’il en existait une version écrite). Quand vint le moment du recueillement et des hymnes, à défaut de musique live le colonel avait prévu une série d’enregistrements – sonnerie aux morts, Marseillaise, Chant des partisans – mais le préposé au magnétophone se trompant régulièrement, envoyant un air au moment où c’était un autre qui s’imposait, le colonel, figé dans un garde-à-vous impeccable, lui signalait son erreur, avec une nuance presque imperceptible d’agacement, par de rapides mouvements de deux doigts seulement de sa main droite, sans rompre le parfait alignement de celle-ci sur la couture du pantalon.
Jean Rolin, Tous passaient sans effroi.
Als zweite Rednerin nach dem Oberst hielt die Unterpräfektin eine Rede, in der sie die „30.000 aus Frankreich über die Pyrenäen Geflohenen“ und die nach ihrer eigenen, vielleicht übermäßig großzügigen Zählung immer noch 1.000 Schlepper würdigte, die ihre Rolle bei diesen Fluchten mit dem Leben oder einer langen Gefangenschaft bezahlt hatten (die Rede der Unterpräfektin machte auf die sympathische junge Frau einen so starken Eindruck, dass sie später fragte, ob es eine schriftliche Version davon gebe). Als der Moment der Andacht und der Hymnen kam, hatte der Oberst in Ermangelung von Live-Musik eine Reihe von Aufnahmen geplant – Totenglocke, Marseillaise, Partisanenlied -, doch der Verantwortliche am Kassettenrekorder irrte sich regelmäßig und brachte eine Melodie, wenn eine andere gerade angesagt war. Der Oberst, der in einer makellosen Haltung verharrte, machte ihn mit einer fast unmerklichen Andeutung von Ärger auf seinen Fehler aufmerksam, indem er seine rechte Hand mit nur zwei Fingern schnell bewegte, ohne die perfekte Ausrichtung der Hand an der Hosennaht zu stören.
Rolin bedient sich der Ironie insbesondere in seiner Darstellung von Gedenkritualen und offiziellen Zeremonien. Während einer formellen Zeremonie mit Kranzniederlegung und patriotischen Reden ruiniert Rolin seine eigene Kleidung durch die orangefarbenen Pollen einer Lilienkranzspende, die er für einen Offiziellen transportiert. Der ironische Kommentar, dass seine Kleidung nun so aussähe, als hätte ihn ein großer Vogel beschmutzt, unterstreicht die absurde Komik dieser feierlichen Inszenierung. Diese vermeintliche Nebensächlichkeit verleiht der Situation eine absurde Komik und lenkt den Blick auf die Diskrepanz zwischen der feierlichen Inszenierung und der zufälligen Banalität des Moments. Der tragische Ernst der Fluchtgeschichten wird hier nicht ins Lächerliche gezogen, sondern subtil hinterfragt: Wie viel Bedeutung steckt wirklich in solchen Ritualen, wenn ihre Durchführung von so profanen und unbeabsichtigten Zwischenfällen geprägt ist?
Die Ironie zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Rolin über seine eigene Reise reflektiert. Seine Wanderung entlang der historischen Fluchtrouten ist mit einer gewissen selbstironischen Distanz beschrieben, wenn er etwa feststellt, dass er bereits nach kurzer Zeit völlig außer Atem ist und sich von den eigentlichen Teilnehmern der Gedenkwanderung absetzen muss. Diese Darstellung des Autors als körperlich überforderten und eher unfreiwilligen Teilnehmer eines historischen Nachvollzugs unterläuft jede heroische oder pathetische Dimension des Unternehmens. Sie zeigt zugleich, wie schwierig es ist, sich der Vergangenheit auf authentische Weise zu nähern, wenn man sie nur aus der sicheren Distanz einer dokumentarischen Nachstellung erlebt. Auch sein Treffen mit einem Autor von „Romanen ohne Fiktion“, der eine Geschichte erzählt, die so voller überraschender Wendungen und unwahrscheinlicher Figuren ist, dass Rolin bedauert, diese Geschichte nicht selbst geschrieben zu haben, gehört in diese Kategorie. Diese Passagen schaffen nicht nur humorvolle Momente, sondern hinterfragen auch das Verhältnis von Realität und Erzählung: Wann wird Geschichte zur Fiktion, und wie sehr ist unser Verständnis der Vergangenheit durch narrative Strukturen geprägt?
Die Komik im Buch dient letztlich nicht dazu, die Dramatik der historischen Ereignisse zu verharmlosen, sondern sie in einer Art von Doppelperspektive neu zu beleuchten. Sie zeigt, wie Erinnerung funktioniert – mit all ihren Verzerrungen, Vereinfachungen und Konstruktionen. Rolin macht mit seinem ironischen Blick deutlich, dass jede Form der Vergangenheitsbewältigung auch ein narratives Konstrukt ist, das ebenso von Anekdoten, Zufällen und subjektiven Wahrnehmungen geprägt wird wie von tatsächlichen Ereignissen. Sein Humor ist dabei nicht zynisch, sondern vielmehr ein Mittel, um die Komplexität der Geschichte zu erfassen, ohne sie in eine starre, mythische Erzählung zu pressen.
Topographien von Oô
Jean Rolins Beschreibung des Dorfes Oô ist weit mehr als eine bloße atmosphärische Darstellung. Das Dorf wird in Tous passaient sans effroi zu einem Brennpunkt verschiedener narrativer und poetischer Strategien: Es ist zugleich ein realer Ort, ein historisches Archiv und ein Schauplatz der Dekonstruktion romantischer Landschafts- und Erinnerungsbilder.
Rolin ironisiert seine Beschreibung von Oô durch die künstliche Nähe zur Natur, die Reisende oder Besucher dort empfinden könnten. Das Dorf ist konsumierbar für Touristen, die sich in vermeintlicher Wildnis wähnen, ohne ihren Sitzplatz verlassen zu müssen, ein Ort, an dem die Landschaft zur Kulisse degradiert wird. Die Darstellung von Oô folgt einer offenen, suchenden Struktur, die typisch für Rolins Erzählweise ist. Der Erzähler kommt nicht als allwissender Historiker, sondern als Suchender, der auf Unsicherheiten und Lücken stößt. Der Name Oô evoziert ein Echo, doch es bleibt unklar, wer ruft und wer antwortet. Die Landschaft erscheint als unbestimmtes Terrain zwischen natürlicher Wildnis und landwirtschaftlicher Nutzung. Die Geschichte des Abbé Stella wird nacherzählt, bleibt aber voller Ungewissheiten.
Neben Oô, das als entzauberter, historisch aufgeladener Ort fungiert, wählt Jean Rolin weitere markante Räume, die die Verbindung von Landschaft, Geschichte und Erinnerung auf unterschiedliche Weise reflektieren. Die wichtigsten darunter sind: Port-Bou als Ort des Verschwindens und der Erinnerung an Walter Benjamin; der Col de Rumpissar als symbolische und politische Grenze, Saint-Girons als logistisches Zentrum der Flucht, das zur funktionalen Leerstelle wird. Dies verweist auf ein wiederkehrendes Muster in Rolins Schreibweise: Orte, die eher als „Durchgangsräume“ dienen, verlieren ihre materielle Greifbarkeit und werden stattdessen zu abstrakten, unsicheren Punkten in der Bewegung der Flucht.
Die Episode um Oô ist für Tous passaient sans effroi von zentraler Bedeutung, weil sie Rolins literarische und erinnerungspolitische Strategie in verdichteter Form zeigt: Das Dorf wird als banal und allzu menschlich beschrieben, um eine romantische Naturästhetik zu unterlaufen. Oô ist ein unscheinbarer Ort mit einem verdrängten, komplexen historischen Narrativ. Die Unsicherheit über die Vergangenheit spiegelt sich in einer offenen, suchenden Schreibweise wider. Oô wird damit zum Brennpunkt von Rolins zentralen Themen: der Verschränkung von Landschaft und Geschichte, der Unzuverlässigkeit von Erinnerung und der Dekonstruktion heroischer Erzählungen.
Anmerkungen