Ein-Mann-Stück
Axel Auriants Roman Rue de la Gaîté (2025) verfolgt die Entwicklung eines jungen Mannes namens Baptiste, der in der Welt des Theaters nicht nur eine berufliche Bestimmung, sondern vor allem ein Vehikel zur Bewältigung seiner Kindheitstraumata und zur Neubewertung seines Ichs findet. Der Roman verwebt die inneren Kämpfe des Protagonisten mit den äußeren Erfahrungen im Cours Florent und im Théâtre Montparnasse.
Baptiste ist ein junger Mann, der von tiefer Angst und einer wiederkehrenden Übelkeit geplagt wird, insbesondere bei unbekannten Situationen. Diese Angstsymptome sind untrennbar mit seiner traumatischen Kindheit verbunden, die er als „Minenfeld“ beschreibt. Seine Mutter, die er konsequent als „sie“ oder „das Monster“ bezeichnet, misshandelte ihn körperlich und emotional. Die Philosophie, die er kurzzeitig studierte, bot ihm keine wirkliche Flucht.
Die entscheidende Wende in Baptistes Leben ereignet sich mit seiner Einschreibung am Cours Florent, einer renommierten Theaterschule. Hier, in der „Daniel Auteuil“-Klasse, beginnt er seine Annäherung an das Theater. Er nimmt eine Stelle als „Ouvreur“ (Platzanweiser) im Théâtre Montparnasse an, vermittelt durch seinen neuen Freund Marvin, zu dem er eine komplexe Anziehung verspürt. In diesem neuen Umfeld trifft er auf eine Reihe prägender Charaktere: die strenge, aber wohlmeinende Leiterin Madeleine, die zynische Kollegin Sophie, die freundliche Colette und nicht zuletzt den gefeierten Schauspieler Marcel André.
Baptiste beginnt eine Psychotherapie, in der er seine verdrängten traumatischen Erinnerungen an seine Mutter aufarbeitet, insbesondere die verstörende Erfahrung des „Kuschel-Sandwichs“. Parallel dazu fordern ihn die Theaterübungen heraus, sich auszudrücken und seine Emotionen zu kanalisieren. Eine zentrale Figur wird Marcel André, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihn für den schwierigen „Classe libre“-Wettbewerb vorbereitet. Diese Mentorenschaft ist von besonderer Bedeutung, da sich herausstellt, dass Marcel und Baptistes verstorbener Großvater, der Baptistes Leidenschaft für das Theater geweckt hatte, in ihrer Jugend nicht nur befreundet waren, sondern auch eine geheime romantische Beziehung führten und gemeinsam von der Bühne träumten. Diese Enthüllung verbindet Baptistes persönliches Streben untrennbar mit einem verdrängten Familienvermächtnis.
Der Roman thematisiert weiterhin Baptistes komplizierte Beziehung zu Marvin, geprägt von Anziehung, Missverständnissen und Verrat. Marvins manipulative Seite, die Colette später offenbart, führt zu seiner Entlassung aus dem Theater, was Baptiste paradoxerweise befreit. Am Ende scheitern Baptiste und Marvin zwar beide im „Classe libre“-Wettbewerb, doch Marvins Entschuldigung und seine Entscheidung für eine Therapie zeigen eine positive Entwicklung. Baptistes eigener, auf seinen Kindheitserfahrungen basierender Text wird von Marvin an Produzenten geschickt und zu einem „Seul en scène“ (Ein-Mann-Stück) namens „Rue de la Gaîté“.
Axel Auriant (geb. 1998) ist in Frankreich vor allem als Schauspieler bekannt, insbesondere durch seine Hauptrolle als Lucas Lallemant in der erfolgreichen TV-Serie Skam France. In dieser Rolle wurde er einem breiten Publikum bekannt und gewann große Popularität, da die Serie insbesondere mit der dritten Staffel zu einem der meistgesehenen Online-Formate in Frankreich wurde. Darüber hinaus hat er sich auch einen Namen als Theaterschauspieler gemacht und wurde 2018 mit dem Preis Étoile du Parisien für das Theaterstück Une vie sur mesure ausgezeichnet.
Kindheit und Theater
Bühne der Katharsis
Baptiste erlebt seine Kindheit als eine Zeit der ständigen Angst und des Missbrauchs durch seine Mutter, die er mit erschreckenden Metaphern wie „Vulkan“ oder „Monster“ beschreibt. Diese Erfahrungen manifestieren sich in physischen Symptomen wie häufigem Erbrechen und einer tiefen Angst vor Intimität und dem Verlust der Kontrolle. Das Theater bietet ihm von Kindesbeinen an einen Fluchtweg und einen Raum für „unbeschreibliche Freude“. Dort kann er Geschichten erfinden und die Rolle des „Dramaturgen“ übernehmen, was ihm ein Gefühl der „absoluten Freiheit“ vermittelt.
Der Übergang zur Schauspielerei in den Cours Florent und die begleitende Psychotherapie sind entscheidend für seine Heilung. Seine Psychologin Marie-Christine ermutigt ihn, seine verborgenen Emotionen durch das Theater zum Ausdruck zu bringen und seine eigene Geschichte zu erzählen. Übungen wie die „carte blanche“, bei der er seine eigene (erfundene) Lebensgeschichte präsentieren muss, zwingen ihn, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen. Die Bühne wird so zu einem sicheren Raum, in dem er seine „Ängste der Nächte“ in den Tag hineintragen und transformieren kann. Marcel André verstärkt diesen Prozess, indem er Baptiste lehrt, seine realen Emotionen – selbst seinen Groll auf Marvin – in seine schauspielerische Darbietung zu integrieren. Dieser Prozess des „Spielens mit sich selbst“ ermöglicht Baptiste, seine Gefühle zu kontrollieren und zu verstehen, anstatt von ihnen überwältigt zu werden. Das Theater ist somit nicht nur ein Ort der Darstellung, sondern ein therapeutischer Rahmen, der es dem Protagonisten ermöglicht, sich von der Last seiner Kindheit zu befreien und sich selbst neu zu definieren.
Jenseits sozialer Masken: Gegenwelt zur Inszenierung des Alltags
In seinem Alltag versteckt sich Baptiste hinter verschiedenen Masken und Lügen. Er raucht heimlich, fälscht medizinische Atteste für seine Größe, nutzt Taschentücher als Schuhsohlen, um größer zu wirken, und erfindet Ausreden, um seine finanzielle Not zu verbergen. Seine Unsicherheit und Angst vor Ablehnung führen dazu, dass er sich in Beziehungen verstellt und versucht, „die Liebe zu stimulieren“, indem er sich an die Interessen seiner Partner anpasst.
Im krassen Gegensatz dazu steht die Welt des Theaters, die paradoxerweise die wahre Authentizität fordert. Estelle, seine Lehrerin, betont die Bedeutung des Spiels „im Moment mit dem eigenen Gefühl. Niemals dagegen.“. Marcel André bekräftigt dies, indem er Baptiste ermutigt, nicht „gut oder richtig, sondern als er selbst“ zu spielen. Selbst die Übung, wahre und falsche Geschichten zu erzählen, dient dazu, das Bewusstsein für die eigene innere Wahrheit zu schärfen. Die Erfahrung der „Ouvreurs“ im Theater zeigt, wie Marcel André trotz seines betrunkenen Zustands eine makellose Aufführung liefert, die die „Magie des Theaters“ aufrechterhält und die Wahrheit hinter der Fassade verbirgt. Dies steht im Kontrast zu Sophie, die ihre „Sincerité“ in der Öffentlichkeit zur Schau stellt, aber im Privaten „ihre Jacke umdreht“ und zu „Hass“ fähig ist.
Baptiste lernt durch diese Erfahrungen, dass wahre Kunst nicht in der Perfektion liegt, sondern in der Fähigkeit, rohe Emotionen und persönliche Wahrheiten auf die Bühne zu bringen. Seine Panik bei der Durchsage vor dem Publikum und sein anschließendes Wiederfinden der Stimme in der EMDR-Sitzung, die er in seine Cyrano-Darbietung einfließen lässt, sind Beispiele dafür. Am Ende des Romans kann er seiner Mutter mit der von Marcel gelernten Kraft des Schweigens begegnen, was seine innere Befreiung und die Überwindung seiner falschen Masken symbolisiert. Das Theater wird zum Ort, an dem er sich „nackt angezogen“ fühlt, ein Zustand der verwundbaren Authentizität.
Wiederaneignung von Kindheitsträumen
Baptiste trägt das Theater in sich als ein Erbe, das ihm sein Großvater hinterlassen hat. Dieser träumte selbst davon, Cyrano zu sein, doch sein Traum wurde gewaltsam zerstört, als seine Eltern ihn in ein Internat schickten. Die alten Kostüme unter dem Bett des Großvaters und die gemeinsamen „pestacles“ waren Baptistes erste Berührungspunkte mit der Bühne. Die Theaterbücher des Großvaters sind für Baptiste „das Gold der Welt“ und seine Bewunderung für Marcel André, den Lieblingsschauspieler seines Großvaters, verknüpft die Generationen.
Anfangs hatte Baptiste diesen Traum begraben, da „Träume manchmal zu große Kostüme sind“, eine Metapher für die Last des unerfüllten Erbes und die Realität seiner schwierigen Lebensumstände. Doch die Cours Florent riechen nach „wiedergefundener Freiheit“, einer Rückkehr zum „Weg unserer Träume“. Der Wendepunkt ist die Mentorenschaft von Marcel André, die sich als eine tiefere Verbindung entpuppt: Marcel war der Liebhaber seines Großvaters und spielte mit ihm zusammen Christian in „Cyrano“. Der Großvater wurde von seinen Eltern wegen dieser Beziehung aus dem Haus verbannt und musste seine Liebe und seinen Traum aufgeben.
Marcel André wird für Baptiste zu einer Art Ersatzgroßvater, der ihm das Vertrauen in seine Fähigkeiten zurückgibt und ihm das Vermächtnis seines Großvaters offenbart. Marcel übergibt ihm das Cyrano-Kostüm des Großvaters und lehrt ihn die „unfassbaren“ Aspekte des Theaters, die über bloße Technik hinausgehen. Die Entdeckung der gemeinsamen Geschichte von Marcel und seinem Großvater macht Baptistes Theaterreise zu einer doppelten Erfüllung: Er lebt nicht nur seinen eigenen Traum, sondern auch den unerfüllten Traum seines Großvaters, und heilt damit eine alte Wunde der Familie. Das Theater wird zu einem Ort der Erinnerung, der Verbundenheit und der Weitergabe eines fast verlorenen Vermächtnisses.
Bühne als Raum der Befreiung
Der Epilog von Rue de la Gaîté markiert den Höhepunkt von Baptistes Transformationsprozess. Nach dem Scheitern im „Classe libre“-Wettbewerb, das er jedoch mit einer neu gewonnenen Reife hinnimmt („Das Ergebnis ist mir in diesem Moment unwichtig. Das Wesentliche liegt woanders.“), offenbart sich der wahre Erfolg seiner Reise: Marvin hat seinen Text über seine Mutter an Produzenten geschickt, und er wird nun als „Seul en scène“ unter dem Titel „Rue de la Gaîté“ aufgeführt. Dieser Moment ist die ultimative Manifestation seiner Heilung: Seine tiefsten, persönlichsten und schmerzhaftesten Erfahrungen werden zur öffentlichen Kunst.
Die Premiere ist gespickt mit symbolischen Begegnungen. Sein Vater, der erstmals seine Zigarette akzeptiert („Ich bin jetzt erwachsen.“), und der liebevolle Blick, der zwischen ihnen gewechselt wird, signalisieren eine neue Ebene der gegenseitigen Akzeptanz und des Verständnisses. Die Anwesenheit von Marie-Christine, seiner Psychologin, unterstreicht die therapeutische Dimension seines Werks. Vor allem aber ist es die finale Konfrontation mit seiner Mutter („elle“) vor dem Theater, die Baptistes Befreiung besiegelt. Ihre leere Drohung („Wenn du weiterhin sagst, dass ich gewalttätig war, wirst du von mir hören.“) prallt an seiner neu gewonnenen Stärke ab: „Ich habe keine Angst mehr vor dir. Ich weiß mich jetzt zu verteidigen.“ Indem er ihr mit dem von Marcel gelernten „stillen Mörderblick“ begegnet und sie schließlich zum ersten Mal mit „Mama“ anspricht, ohne Angst oder Groll, anerkennt er die Realität seiner Vergangenheit und löst sich emotional von ihr.
Der Roman schließt mit Baptistes Feststellung, dass er das Wort „Mama“ zum ersten Mal ausgesprochen hat und dass es sich gut anfühlt. „Sie zu nennen, bedeutet zu akzeptieren, dass all das existiert hat. Ich bin jetzt bereit, voranzukommen.“. Hier liegt die tiefere, ausblickartige Botschaft des Romans: Das Theater ist nicht nur ein Ort der Transformation individuellen Leidens, sondern auch ein Mittel, um dieses private Trauma in eine universelle Erzählung zu verwandeln.
Der Titel des Stücks, Rue de la Gaîté (Straße der Heiterkeit), birgt gleichermaßen Ironie und Hoffnung. Die Straße, die im Roman als Ort des „Sexes und des Spektakels“ beschrieben wird, wird zur Metapher für die Bühne des Lebens, wo Baptiste seine dunklen Erfahrungen in Licht verwandelt. Es ist eine Straße, die sowohl die „Anspannung“ als auch die „Ekstase“ repräsentiert. Indem Baptiste seine persönliche Leidensgeschichte öffentlich macht, überwindet er nicht nur seine eigene Scham und Angst, sondern schafft auch einen Raum der kollektiven Empathie und Anerkennung. Das Ein-Mann-Stück wird zu einem Akt der Selbstaneignung, in dem die Opferrolle abgelegt und die Rolle des Erzählers und Gestalters des eigenen Schicksals angenommen wird. Es ist die finale Geste, die den Kreislauf des Schweigens durchbricht und zeigt, dass wahre Heiterkeit und innere Freude nicht in der Verdrängung, sondern in der mutigen Konfrontation mit der eigenen Wahrheit liegen. Das Theater, das Baptiste einst als Fluchtweg diente, ist nun der Ort, an dem er sich selbst befreit und seine Geschichte als Zeugnis der Widerstandsfähigkeit und der Transformation mithilfe von Kunst teilt. Dies ist die Geburt einer neuen Erzählung – nicht nur für Baptiste.