Aufblühen der Bedeutung selbst: Jean-Michel Maulpoix
Goncourt-Preisträger 2022 für Poesie ist Jean-Michel Maulpoix, mit dem jüngsten Gedichtband „Rue des fleurs“
Französische Literatur der Gegenwart
Goncourt-Preisträger 2022 für Poesie ist Jean-Michel Maulpoix, mit dem jüngsten Gedichtband „Rue des fleurs“
Mit Joëlle Aubron (1959–2006) in Vanessa Schneiders „La fille de Deauville“ (Grasset) und mit Nathalie Ménigon (geb. 1957) in Monica Sabolos „La vie clandestine“ (Gallimard) werden zwei Mitglieder der linksradikalen Action directe 2022 zu Romanfiguren.
Der Roman nimmt Putins Berater Wladislaw Surkow als Vorbild für seine Politfiktion, die es auf die erste Auswahlliste des Goncourtpreises geschafft hat, als Roman über das gegenwärtige Russland.
Stillstand und Vollendung: Jean-Philippe Toussaint, „La disparition du paysage“ und „L’instant précis où Monet entre dans l’atelier“. Die beiden Kurztexte sind explizite Auseinandersetzungen mit dem Sterben und dem aufgeschobenen Abschluss des eigenen Werks.
„En salle“ ist der Bereich, in dem niemand aus dem Team arbeiten möchte. Es ist der Essensbereich der Systemgastronomie – und der Titel des ersten Romans von Claire Baglin, geboren 1998. Die zwei Teile des Textes gehören auf desillusionierende Weise zusammen: Verheißung und Entfremdung, die Kindheit als Tochter eines Arbeiter-Vaters und die Jahre in einer Restaurantkette.
Aus kindlicher Perspektive ein Leben zwischen zwei Sprachen zu erzählen, diese per se poetische Erfahrung bietet uns Polina Panassenko in ihrem autofiktional grundierten Text Tenir sa langue.
Die beiden Bücher „Voguer“ (2019) und „Aby“ (2022) von Marie de Quatrebarbes lesen den Tanz der Körper poetisch. Der Beitrag deutet insbesondere den Roman über Aby Warburg als Poetisierung seiner theoretischen Arbeit als Kunstgeschichtler und Kulturwissenschaftler.
Am 12. Dezember 2021 wurde der 200. Geburtstag von Gustave Flaubert begangen. Ganz im Sinne von Robbe-Grillet erscheint unser Autor in einer ganzen Zahl an Romanen als „Textfigur“.
Die Vielfalt Europas literarisch darzustellen hat sich die von Olivier Guez besorgte Anthologie Le Grand Tour: autoportrait de l’Europe par ses écrivains vorgenommen, ihrerseits ein Nebenprodukt der französischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022.
Pierre Sautreuil arbeitet seit 2014 als Journalist im Bereich der Russland- und Ukraine-Berichterstattung, zunächst für den Nouvel Observateur, später bei Le Figaro und La Croix. Der Text beruht auf Sautreuils realer Begegnung mit einem russischen Söldner im ostukrainischen Gebiet Donbass.
„Donbass“ (2020) ist ein roman noir über die gleichnamige ostukrainische Kriegsregion, wo sich pro-russische Separatisten seit 2014 gegen die neue Macht in Kiew wendeten. – Im neuesten Roman „Les loups“ von 2022 zeigt uns Benoît Vitkine die Ukraine der Oligarchen, einige Monate vor der Maidan-Revolution und der Einsetzung einer pro-europäischen Regierung.
Eine beiderseitige Verquickung gilt es zu untersuchen zwischen politischer Macht und kulturell-ästhetischer, hier fiktionaler Repräsentation in Form von Dichterlob, Mäzenatentum, copinage oder eben eines französischen Präsidialromans der letzten Amtszeiten und bereits für 2027 (in Houellebecqs neuestem Roman „Anéantir“).
Vuillard traut sich an die tabuisierte Darstellung „einer der größten militärischen Niederlagen Frankreichs, von den in der Senke von Điện Biên Phủ eingeschlossenen Truppen, vom Zusammenbruch einer Strategie, vom Chaos, vom Schrecken der Soldaten […].“ Dieses nationale Trauma incl. seiner Vorbereitung wie auch der Konsequenzen ist ein Erzählzentrum des Buchs.
Constance Debrés „Nom“ formuliert ein politisches Programm, die radikale Moderne einer Welt ohne Abstammung, Familiennamen, ohne Kindheit und elterliche Autorität, ohne Erbschaft, Vermögen oder Staatsangehörigkeit.
Die aus Marokko stammende Goncourt-Preisträgerin von 2016, Leïla Slimani, legt 2022 mit Regardez-nous danser den zweiten Band ihrer Trilogie „Le pays des autres“ vor, die nach Abschluss Marokkos Geschichte von 1945 bis 2015 behandeln wird.
Sébastien Berlendis nimmt in „Seize lacs et une seule mer“ Berlins Geschichte im Spiegel seiner Landschaft zum Thema. Das Sommerbuch folgt den Spuren einer Frau von See zu See und zeichnet dabei ein geradezu bukolisches Berlin. Weißer See. Langer See. Müggelsee. Wannsee. Teufelssee.
Maylis de Kerangals „Canoës“ bündelt einige der Dimensionen musikalischer Bezüge bei Pinget, Garcia und Reza, zum einen die semiotisch-formale Strukturierung und Arbeit der intertextuellen Bezüge, dann aber auch die tiefe Verbindung von Musikalität und Körperlichkeit, eigener Identität und musikalischer Erlebnisdimensionen. Resonanz meint, wenn ein Körper mit einem anderen mitschwingt oder mittönt, etwa bei den Bordunsaiten von Lauten.
Reverdys „Climax“ führt im Norden Norwegens zerstörte Natur bei einem Fischerdorf vor, mit sterbenden Bären und Fischen, schmelzenden Gletschern und einem Unfall auf der Ölplattform. Wie in der nordischen Legende findet ein Kampf zweier Prinzipien statt. Das Ende der Welt wird in dem so düsteren wie schönen dystopischen Roman eingeläutet.
Der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr legt mit seinem fünften Buch einen weiteren Baustein seiner politischen Literatur vor, neben Themen bisheriger Bücher wie Migration nach Sizilien (Silence du chœur), Homosexualität im Senegal (De purs hommes), Dschihadismus in der Sahelzone (Terre ceinte) tritt nun mit „La plus secrète mémoire des hommes“ die Literatur selbst in seinen Fokus.
Célia Houdart liefert ein gegenseitiges Doppelporträt zweier Fotografen, die das Buch „Journée particulière“ motivieren. Houdart reflektiert die ästhetischen Zugänge zur Welt, die mit der Fotografie möglich geworden sind. Ein flüchtiger Blick, der den kurzen Szenen ihres Schreibens entsprechen mag.