Die Farbe Schwarz: Justine Bo

Justine Bos Roman „Eve Melville, Cantique“ (Grasset, 2024) taucht tief in die Traumatisierungen der amerikanischen Geschichte ein und beleuchtet dabei, wie sich alte Wunden in der Gegenwart neu manifestieren. Der Ausgangspunkt des Dramas ist ein scheinbar alltäglicher Akt des Vandalismus: Die Hausfassade von Eve Melvilles Nachbarin in Brooklyn wird über Nacht schwarz gestrichen. Doch diese äußere „Verunstaltung“ wird für Eve, deren Familie seit Generationen eng mit diesem Haus und seiner Umgebung verbunden ist, zu einem schmerzhaften Auslöser. Es reißt eine Wunde in ihr auf und führt sie zurück zu den Ursprüngen ihrer Familie, die untrennbar mit der Sklaverei in den Südstaaten verbunden sind. Das Haus, einst von ihrem Urgroßvater Solomon Melville als Bollwerk der Freiheit und des Besitzes erworben, wird zu einem Brennpunkt, an dem sich die Vergangenheit und die Gegenwart Amerikas in ihrer ganzen Brutalität begegnen. „Cantique“ ist ein Verweis auf das biblische Hohelied – ein poetisches, aber auch rebellisches Bild. Dieses Motiv führte sie zu einem Roman, der die Erinnerung an Sklaverei, Gentrifizierung, AIDS, schwarze Geschichte und urbane Gewalt in New York zusammenführt – ausgehend von der dramatischen Metapher eines Hauses, nachts schwarz gestrichen als Angriff auf Identität und Besitz.

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Boualem Sansals Werk heute: Rebecca Hohnhaus

Zum Sachstand: Ausschluss aus den nationalen Begnadigungen Die Situation des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal bleibt weiterhin kritisch. Am 1. Juli 2025 bestätigte ein algerisches Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz und verurteilte den 80-jährigen, schwer kranken Autor erneut zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung. Ihm wird vorgeworfen, die „nationale Einheit“ Algeriens verletzt zu haben. Diese …

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Die Welt vervollständigen: Alice Zeniter

Alice Zeniters Werk „Toute une moitié du monde“ (Flammarion, 2022, deutsch: „Eine ganze Hälfte der Welt“, aus dem Französischen von Yvonne Eglinger, Berlin-Verlag, 2025) ist eine stimulierende Reflexion über die Fiktion, die sich aus ihren persönlichen Erfahrungen als Leserin und Autorin speist und eine umfassende Revision unserer Art, Geschichten zu lesen und zu erzählen, anregt. Das vorliegende Buch versteht sich explizit nicht als streng wissenschaftlicher Essay, sondern vielmehr als eine gedankliche Exkursion oder eine meditative Reflexion, die persönliche Reflexionen, literaturtheoretische Überlegungen und gesellschaftliche Kritik frei miteinander verknüpft.

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Davids Stern zurückgeben: Nathacha Appanah

Der Roman „Le dernier frère“ (Éditions de l’Olivier, 2007, deutsch: Unionsverlag, 2012) der mauritischen Autorin Nathacha Appanah ist ein Werk von großer poetischer Dichte und erzählerischer Komplexität. Im Zentrum steht eine kindliche Freundschaft zwischen Raj, dem Erzähler, und David, einem jüdischen Jungen, der mit dem Internierungsschiff „Atlantic“ nach Mauritius kam. Der Roman kreist um die Frage, wie sich individuelle Identität durch Erinnerung, Verlust und Erlebnisse von Gewalt herausbildet. Der Text ist dabei zugleich historische Aufarbeitung und intime Erzählung. Appanah verknüpft die individuelle Geschichte eines mauritischen Jungen mit dem größeren historischen Kontext der Internierung jüdischer Geflüchteter durch britische Kolonialbehörden auf Mauritius während des Zweiten Weltkriegs. Damit entsteht ein erzählerisches Gewebe aus historischen Fakten, psychologischer Innenschau und poetischer Reflexion, das für den Leser nicht nur eine literarische, sondern auch eine ethische Erfahrung darstellt.

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Erbe der Wunden: Traumata und ihre literarische Vermittlung

Zum Handbuch Traumatisme et mémoire culturelle von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow Das französischsprachige Sammelwerk Traumatisme et mémoire culturelle: France et espaces francophones (herausgegeben von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow, De Gruyter, 2024, 558 Seiten) widmet sich der Darstellung kollektiver Traumata in der französischsprachigen Literatur und Kultur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, …

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Geschichten hinter der Wahrheit: Yasmina Reza

Yasmina Rezas Sammlung von Kurzgeschichten, „Récits de certains faits“ (Flammarion, 2024, deutsch bei Hanser, 2025), ist eine Erkundung der menschlichen Natur, der Vielschichtigkeit von Wahrheit und der oft flüchtigen Erscheinungen der Realität, die sich jenseits oberflächlicher Wahrnehmungen verbirgt. Die Autorin wirkt dabei als Beobachterin von Gerichtsdramen und Alltagsbegegnungen, die sie mit einem einzigartigen Mix aus distanzierter Ironie, psychologischer Präzision und tiefem menschlichem Mitgefühl festhält. Der Titel der Sammlung ist selbst ein zentraler Schlüssel zu Rezas literarischem Ansatz: Er verweist auf die selektive, subjektive und oft unvollständige Natur der Realität und ihrer Darstellung.

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François Truffaut und die Literatur

Der Sammelband Correspondance avec des écrivains (1948-1984) (Gallimard, 2022) bietet einen gebündelten Einblick in die Gedankenwelt François Truffauts und seine tief verwurzelte Beziehung zur Literatur, die sein gesamtes filmisches Schaffen durchdrungen hat. Herausgegeben von Bernard Bastide, versammelt dieses Werk eine Fülle von Briefen, die Truffaut von 1948 (er war 16 Jahre alt) bis 1984 (er …

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Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

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Hommage erweisen: Julien Perez

Julien Perez’ Roman „Hommages“ (P.O.L, 2025) ist ein auf den ersten Blick fragmentarisches, in Wahrheit aber äußerst konsistentes Werk, das aus einer Vielzahl von Stimmen besteht – Briefe, Reden, Erinnerungen, Innenschauen –, die sich allesamt auf die in den Bergen verschwundene (mutmaßlich verstorbene) Künstlerfigur Gobain Machín beziehen. Der Leser erfährt nichts direkt aus dessen Perspektive, sondern erhält Informationen ausschließlich über die Erinnerungen von Angehörigen, Freunden, Mitstreitern, Kritikerinnen und Familienmitgliedern. Die literarische Konstruktion bedient sich der rhetorischen Form des Nachrufs – daher der Titel Hommages –, um über das Leben, die Persönlichkeit und das Werk eines fiktiven Künstlers zu sprechen, der offenbar nicht zuletzt durch seine Ambivalenzen so stark nachwirkt. – Was wie ein kollektives Erinnerungsprojekt erscheint, ist zugleich ein poetologisch raffiniertes Vexierspiel über Wahrheit und Fiktion, Nähe und Distanz, über das Ich und den Anderen. Die Vielzahl der Stimmen verschmilzt zu einem Chor, der sich weniger durch faktische Konsistenz als vielmehr durch emotionale und metaphorische Verdichtungen auszeichnet. Die Erzählung entsteht dabei durch Differenz: Aus dem Nebeneinander von Widersprüchen, sich überlagernden Perspektiven, Leerstellen und Brüchen ergibt sich ein Bild von Gobain – und zugleich ein poetologisches Selbstporträt des Romans.

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Gegen die Empathiemode: Dominique Rabaté

Der Pariser Literaturwissenschaftler Dominique Rabaté, durch zahlreiche Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur ausgewiesen, bietet mit Limites de l’empathie eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen, oft unreflektierten Verherrlichung von Empathie und Identifikation. Rabaté, selbst als Professor auch Lehrender an der Universität, stellte fest, dass seine Studenten Identifikation häufig als die primäre Qualität eines Textes ansehen und sogar …

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Theorie im kolonialen Dilemma: Onur Erdur

Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb Onur Erdurs Monografie Schule des Südens: die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie widmet sich einem bisher im Großen erstaunlich vernachlässigten Aspekt der französischen Geistesgeschichte: den tiefgreifenden biografischen und intellektuellen Prägungen, die führende Denkerinnen und Denker der Nachkriegszeit durch ihre Erfahrungen in den französischen Kolonien Nordafrikas erfuhren. Das Buch …

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Geplante Obsolenz: Guillaume Poix

Im Roman „Les fils conducteurs“ (2017), ausgezeichnet mit dem Prix Wepler-Fondation La Poste, konfrontiert uns Guillaume Poix mit den Widersprüchen des westlichen Idealismus, den verheerenden Folgen der globalen Konsumgesellschaft und der moralischen Korruption, die sich einstellt, wenn wohlmeinende Absichten auf komplexe Realitäten der Ausbeutung treffen. Der Roman, der uns in die gefährliche Welt der Elektroschrottdeponie Agbogbloshie in Ghana entführt, erzählt die parallelen Geschichten des französisch-schweizerischen Fotojournalisten Thomas und des jungen ghanaischen Jungen Jacob. Die zentrale Problemstellung des Romans ist die Demontage westlicher Überheblichkeit und Naivität, die sich in der Figur Thomas‘ manifestiert. Der Fotograf Thomas, getrieben von seinem Idealismus und dem Wunsch nach Relevanz, will die ökologische Katastrophe und illegale Recyclingpraktiken in Agbogbloshie aufdecken. Doch seine Reise wird zu einem moralischen Abstieg, der ihn zur Mitschuld an einer Tragödie werden lässt. Die Erzählung problematisiert, wie der westliche Blick, der zwischen Dokumentation und Voyeurismus schwankt, letztlich zur Komplizenschaft beiträgt.

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Der Architekt und sein Führer, contre-fiction: Jean-Noël Orengo

In seinem Roman „Vous êtes l’amour malheureux du Führer“ setzt sich Jean-Noël Orengo fiktional mit der Figur Albert Speers auseinander. Dabei beleuchtet er dessen komplexe Beziehung zu Adolf Hitler, seine strategische Selbstdarstellung nach dem Krieg und die Macht von Erzählungen im Umgang mit historischer Wahrheit kritisch. Der Roman dekonstruiert Speers eigenes Narrativ – als Versuch, die eigene Verantwortung zu negieren – und offenbart die Mechanismen seiner Apologie. So setzte beispielsweise Speers Ministerium Millionen von Sklavenarbeitern ein, darunter viele Juden, und war für den Ausbau von Auschwitz zur größten Todesfabrik mitverantwortlich. Orengos Roman ist jedoch mehr als eine bloße historische Nacherzählung: Er ist eine Untersuchung der Konstruktion von Wahrheit und Fiktion in der Geschichtsschreibung – insbesondere im Kontext von Verbrechen und Erinnerung. Orengo entlarvt Speers „Erinnerungen“ als meisterhaft konstruierte Erzählung, die die Wahrheit manipuliert und Speer als „Star der deutschen Schuld“ etabliert, indem er sich als „verantwortlich, aber nicht schuldig“ darstellt. Diese „Autofiktion“ ist so wirkmächtig, dass sie selbst historische Fakten überstrahlen kann. Der Roman stellt die Geschichtsschreibung als einen Kampf von Erzählungen dar, in dem Speer durch seine narrative Geschicklichkeit oft die Oberhand behält, selbst gegenüber widerlegenden Dokumenten. Orengo zeigt, wie schwierig es ist, die „Wahrheit“ über eine so dunkle Periode zu finden, wenn die Hauptakteure ihre eigene Geschichte meisterhaft fiktionalisieren.

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Ein Kind der deutsch-französischen Geschichte: Sylvain Prudhomme

Der Roman „L’enfant dans le taxi“ von Sylvain Prudhomme (2023, dt. „Der Junge im Taxi“, Unionsverlag, Juli 2025) ist eine Auseinandersetzung mit den Schatten der deutsch-französischen Geschichte, insbesondere der Nachkriegszeit, und deren Auswirkungen auf individuelle Schicksale und Familienbeziehungen. Das Werk verwebt die persönliche Suche des Erzählers Simon nach einem verdrängten Familiengeheimnis mit der komplexen Historie der französischen Besatzung in Deutschland. Im Zentrum steht die Entdeckung der Existenz von M., dem deutschen Sohn des französischen Soldaten Malusci und der Deutschen Liselotte H., der während der Besatzung am Bodensee gezeugt wurde. Seine Existenz wurde über Jahrzehnte hinweg aktiv verleugnet, um idealisierte Familiennarrative aufrechtzuerhalten, deren Brüchigkeit durch Simons Recherchen offengelegt wird. Dabei wird der Bodensee selbst zu einem zentralen Symbol des Geheimnisses und der verborgenen Tiefen, während das Taxi, in dem M. als Teenager zu seinem Vater reist, seine verzweifelte, aber naive Hoffnung auf Verbindung symbolisiert. Die Geschichte zeigt, wie Kommunikation durch Schweigen und Missverständnisse blockiert wird, bis die Wahrheit schließlich durch Figuren wie Franz und Louis ans Licht kommt. Der Roman geht über eine bloße Familiengeschichte hinaus, indem er die kollektive Verdrängung als aktive, performative Praxis darstellt, in der „Frieden“ oft den „anderen Namen der Verleugnung“ trägt. Der Text betont, dass die Enthüllung der Wahrheit nicht zu einer objektiven Realität, sondern zu einer kontinuierlichen, durch Wünsche und Emotionen geformten Konstruktion von Wahrheit führt. Zudem ist der Roman eng mit der Kolonialgeschichte Algeriens verbunden, denn die erste Spur zu dem verborgenen Familiengeheimnis – M.s Existenz – kommt über Bahi ans Licht. Bahi ist ein algerischer Arbeiter auf Maluscis Farm in Oran. Letztlich deutet der Roman eine Möglichkeit zur Heilung historischer Traumata an, die auf Empathie und der Akzeptanz der komplexen menschlichen Geschichte beruht.

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Poetiken der Kindheit: Clothilde Salelles, Nos insomnies (2025)

Der Roman „Nos insomnies“ (2025) erzählt die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Ende der 1990er Jahre in einem ländlichen Vorort aufwächst. Das zentrale und streng gehütete Familiengeheimnis ist die chronische Schlaflosigkeit, die „wie ein böser Zauber“ von einem Familienmitglied zum nächsten gleitet. Die Protagonistin ist eine aufmerksame Beobachterin, die ihren Vater, seine mysteriöse Arbeit im Labor und seine Reaktionen auf die Außenwelt (insbesondere Lärm und die Bedrohung durch die sich ausbreitende „Lotissement“-Bebauung) mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Sie führt „sehr ernsthafte Ermittlungen“ durch, um die unausgesprochenen Wahrheiten zu entschlüsseln, empfindet dabei aber Neid auf die „Probleme“ ihrer Freundin Julie, die benennbar sind und ihrer Existenz eine „Konsistenz“ verleihen. Sommerurlaube auf einem Campingplatz bieten eine temporäre Auszeit von der heimischen Beklemmung; hier scheint der Vater aufzublühen, und die Insomnie tritt in den Hintergrund, auch wenn der Sommer schließlich selbst von ihr „kontaminiert“ wird.

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Sohn der Toten: Asya Djoulaït

Der Roman „Ibn“ erzählt die erschütternde Geschichte des fünfzehnjährigen Issa, dessen Welt zusammenbricht, als seine Mutter Leïla während des Nachmittagsgebets stirbt. Die fünf täglichen Gebete – Fajr, Dhuhr, ’Asr, Maghrib und ’Icha – strukturieren dabei nicht nur die Zeit, sondern spiegeln auch Issas emotionale Odyssee wider und markieren die zunehmende Verzweiflung und Entschlossenheit des Protagonisten. Getrieben von seiner Trauer und der Ablehnung, seine Mutter (nach dem Tod seines Vaters) erneut in die Hände fremder Bestattungsrituale zu geben, unternimmt Issa den mutigen, aber aussichtslosen Versuch, die Bestattungsrituale selbst zu inszenieren. Er plant, für seine Mutter ein persönliches Mausoleum zu bauen und die rituelle Waschung sowie die Totengebete eigenhändig durchzuführen, selbst wenn er dabei gegen traditionelle Normen verstößt. Diese eigenmächtigen Handlungen stehen im starken Kontrast zu den Erwartungen und der Sorge seiner Mutter Leïla, die sich stets bemüht hatte, ihm ein Ankommen und eine stabile Position in Frankreich zu ermöglichen, sei es durch Bildung, die bewusste Wahl des Wohnorts in Montreuil, um Ghettobildung zu vermeiden, oder die Teilnahme an der Koran-Schule, um ihn in der muslimischen Gemeinschaft zu verankern und zu verhindern, dass er sich „verloren“ fühlt. Issa navigiert dabei zwischen religiösen Regeln, persönlichen Überzeugungen und der harten Realität des Todes, der ihn mit seiner eigenen Identität als „Sohn der Toten“ konfrontiert.

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Briefroman im Datennetz: Sandra Lucbert

Sandra Lucberts Roman „La Toile“ (zu Deutsch: „Das Netz“) ist eine Reflexion über Literatur im Zeitalter der digitalen Kommunikation und künstlichen Intelligenz. Durch seine spezifische Form und die komplexe Verflechtung von Technologie, Macht, Beziehungen und Identität beleuchtet der Text fundamentale Fragen von Autorschaft und Authentizität in einer zunehmend vernetzten Welt. Der Buchumschlag von Sandra Lucberts Roman „La Toile“ spielt auf „Les Liaisons dangereuses“, den kanonisierten Briefroman von Choderlos de Laclos aus dem 18. Jahrhundert, an. Dieser Vergleich erweist sich als fruchtbar für die Interpretation, da er La Toile als eine Transformation des Briefromans ins digitale Zeitalter kennzeichnet und die klassischen Themen Macht, Manipulation und Verletzlichkeit in den Kontext vernetzter Kommunikation überträgt.

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Non serviam. Politische Literatur heute: Alexandre Gefen

Alexandre Gefen möchte mit seinem Buch „La littérature est une affaire politique“ („Literatur ist eine politische Angelegenheit“) aufzeigen, dass Literatur – entgegen der oft verbreiteten Annahme, sie diene lediglich der Unterhaltung – grundsätzlich eine politische Angelegenheit ist. Ein zentrales Anliegen Gefens ist ein Fokus darauf, dass zeitgenössische französische Schriftsteller, obwohl sie die klassische Vorstellung von „engagierter Literatur“ ablehnen, keineswegs ästhetisch gleichgültig gegenüber den politischen Problemen ihres Landes sind. Vielmehr nutzen diese Autoren ihre Erzählungen sehr oft als Werkzeug zur Analyse von Ungleichheiten. Sie bedienen sich dabei Elementen der Autobiografie oder des Reportage, um soziale Diskurse zu hinterfragen und versuchen manchmal sogar, gesellschaftliche Krisen zu verlängern oder vorherzusehen. Damit weisen sie die Idee eines „Elfenbeinturms“ zurück, in den man sie einsperren möchte und den sie nicht länger ertragen. Sie erfüllen soziale Anforderungen, indem sie an literarischen Residenzen teilnehmen, zum Beispiel in Regionen, Krankenhäusern, Altenheimen oder mit Jugendlichen und Migranten. Das Buch enthüllt somit ein beeindruckendes Panorama einer „kämpferischen und modernen Literatur, die unsere Gesellschaft verändern möchte“.

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Umzäunte Gärten: Karim Kattan

Karim Kattans Gedichtband „Hortus conclusus“ ist eine poetische Erkundung des Gartens als Ort der Erinnerung, des Begehrens und der kolonialen Überformung. Zwischen Bethlehem und Babylon, Knossos und Glastonbury entfaltet sich eine dichte Topographie aus mythischen und geopolitisch aufgeladenen Motiven. Der titelgebende „eingeschlossene Garten“ – ein reales Kloster in Artas bei Bethlehem – wird zum verdichteten Bild eines poetischen Raums, in dem sich Schönheit und Ausschluss, Heilung und Trauma überlagern. Die Gedichte sind durchzogen von lyrischer Sinnlichkeit und historischer Schwere; sie sprechen von Checkpoints, Körpern, Märtyrerinnen, Hexen und Göttern, und sie kreisen immer wieder um die Frage: Wo ist ein Ort, an dem man atmen, lieben, überleben darf? Zentral ist dabei das wiederkehrende Bild des Tals der Rosen – Wadi al-Ward, einer historischen Landschaft nahe Jerusalem, in der einst Frauen Rosen pflückten, um daraus Konfitüre zu machen. In Kattans Lyrik wird dieses Tal zur verschwundenen Utopie, zum versunkenen Gedächtnisraum und zugleich zur poetischen Chiffre für eine andere Palästina-Erzählung: nicht als bloßer Ort der Gewalt, sondern als Garten der möglichen Rückkehr, der sanften Magie und der widerständigen Zärtlichkeit. „Hortus conclusus“ ist so ein Buch der Durchlässigkeit – zwischen Erde und Mythos, zwischen Sarha (dem ziellosen Umhergehen) und Verwurzelung –, das sich der gängigen Opferästhetik verweigert und stattdessen ein palästinensisches Imaginarium von großer Dichte schafft.

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rentrée littéraire
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